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The Will to Power
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Frühjahr-Sommer 1878 27 [1-97]

27 [1]

Hesiod’s Kunstmittel der Fabula.
Museninspiration, der Prozeß.
[Vgl. Hesiod, Die Werke und Tage des Hesiodos. Nach ihrer Composition geprüft und erklärt von August Steitz. Leipzig: Teubner, 1869.]

27 [2]

Über ganz leere Ereignisse wie das Attentat, wird Lärm gemacht. Die Presse ist der permanente falsche Lärm.

27 [3]

Ich sagte als Student “Wagner ist Romantik, nicht Kunst der Mitte und Fülle, sondern des letzten Viertels: bald wird es Nacht sein.” Mit dieser Einsicht war ich W[agnerianer], ich konnte nicht anders, aber ich kannte es besser.

27 [4]

Der starke freie Mensch ist Nicht-Künstler. (Gegen Wagner.)

27 [5]

Ob Wagner im Stande ist, über sich selbst Zeugniß abzulegen??

27 [6]

Die Energie der griechischen Musik im Unisono-Gesang. Ihre feinere Entwicklung in Ton und Rhythmus—wodurch Harmonie uns schadet. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

27 [7]

8 Puncte, über die ich mich zu entscheiden habe.

27 [8]

Zur überhandnehmen[den] Frömmigkeit: Treitschke und die Franzosen auch: “Gott müssen alle Dinge zum besten dienen.”

27 [9]

Leidenschaften—Schluss: Überzeugung.

Letztes Stück: Allein mit sich selbst. Anfang: Und so vorwärts, auf der Weisheit. Schluss davon: Genua.

27 [10]

Von den Leidenschaften.
Religion.
Im Verkehre.
Weib und Kind.
Künstler und Schriftsteller.
Zukunft der Bildung. (Phase isoliren)
Der Mensch mit sich allein.

27 [11]

Wir stehen der Musik zu nahe, wir deuten nur hin, spätere Zeiten werden unsere Schriften über Musik gar nicht verstehen.

27 [12]

Ich weiss es, dass die Unabhängigkeit des Denkens auf der Erde vermehrt ist und dass wer gegen mich sich erklärt—v. Emerson Goethe p. 9. [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Über Goethe und Shakespeare. Deutsch von Hermann Grimm. Hannover: Rümpler, 1857.]

27 [13]

Was ist Frivolität? Ich verstehe sie nicht. Und doch ist Wagner im Widerspruch zu ihr erwachsen.

27 [14]

Der Tadel eines Werks mit grossem Genuss verbunden.

Überdiess mit Nutzen (selten für den Urheber), weil er die Bewunderer nöthigt, sich Gründe zugeben.

27 [15]

[Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

Lebendige Steinform die Holzform nachahmend—als Gleichniss für Rede- und Schreibstil (Lesestil).

Die assyrischen Säulen mit den Voluten des ionischen Capitells—nach den Abbildungen.

Die aegyptische Säule protodorisch.

Thron von Amyklä und des Zeus in Olympia in Thiere aufgelöst—assyrisch.

Behandlung des Haares in der älteren griechischen Kunst ist assyrisch.

Trefflich wo die Ceremonie aufhört, wie man sich gehen lassen darf.

Thierbildung bei den Assyrern.

Gegensatz der Handhabung der riesigen Massen und Roheit des Materials bei den Cyclopenbauten.

“Aesthetisch zu uns sprechen” können.

Widerwillen gegen Runde und Wölbung.

Alt-Gr[iechenland] voll Wälder—die Halle uralt um die Oblonge, ist das prius.

27 [16]

— — — wie in der grössten Stadt am allerungestörtesten, so vor der ganzen Publicität unsere Freundesunterhaltung: es hört uns niemand zu, der nur anfängt zu lauschen.— Aber wir sind recht wenige.

27 [17]

Menschen die vergebens versuchen, aus sich ein Princip zu machen (wie Wagner).

27 [18]

Die Dramatiker entlehnen—ihr Hauptvermögen—künstlerische Gedanken aus dem Epos (Wagner auch noch aus der klassischen Musik).

27 [19]

Dramatiker sind constructive Genies, nicht auffindende und originale wie die Epiker.

Drama steht tiefer als Epos—roheres Publikum—democratisch.

27 [20]

Ich freue mich, dass die Natur nicht romantisch ist: die Unwahrheit ist allein menschlich: sich so weit als möglich von ihr lösen heisst erkennen, den Menschen in die Natur und ihre Wahrheit zurückübersetzen. Was liegt mir da an der Kunst!— Aber kräftige Luft, Schutz vor der Sonne und der Nässe, Abwesenheit der Menschen—das ist meine Natur.

27 [21]

Ich sehe die Leidenden, die in die Höhenluft des Engadin sich begeben. Auch ich sende die Patienten in meine Höhenluft—welcher Art ist ihre Krankheit?

27 [22]

Der Wanderer an die Freunde
von F. N.

27 [23]

Die Liebe für Wagner’s Kunst in Bausch und Bogen ist genau so ungerecht als die Abneigung in Bausch und Bogen.

27 [24]

Seiner Musik fehlt, was seinen Schriften fehlt—Dialectik. Dagegen Kunst der Amplification sehr gross.

Seine Werke erscheinen wie gehäufte Massen grosser Einfälle; man wünscht einen grösseren Künstler herbei, sie zu behandeln.

Immer auf den extremsten Ausdruck bedacht—bei jedem Wort; aber das Superlativische schwächt ab.

Eifersucht gegen alle Perioden des Maasses: er verdächtigt die Schönheit, die Grazie, er spricht dem “Deutschen” nur seine Tugenden zu und versteht auch alle seine Mängel darunter.

27 [25]

Es ist wirklich die Kunst der Gegenwart: ein ästhetischeres Zeitalter würde sie ablehnen. Feinere Menschen lehnen sie auch jetzt ab. Vergröberung alles Ästhetischen.— Gegen Goethe’s Ideal gehalten, tief zurückstehend. Der moralische Contrast dieser hingebenden glühend-treuen Naturen Wagner’s wirkt als Stachel, als Reizmittel: selbst diese Empfindung ist zur Wirkung benutzt.

27 [26]

Ich nannte “sittlichste Musik” die Stelle, wo es am ekstatischsten zugeht. Charakteristisch!

27 [27]

Wagner gegen die Klugen, die Kalten, die Zufriednen—hier seine Grösse—unzeitgemäss—gegen die Frivolen und Eleganten,—aber auch gegen die Gerechten, Mässigen, an der Welt Sich-freuenden (wie Goethe), gegen die Milden, Anmuthigen, wissenschaftlichen Menschen—hier seine Kehrseite.

27 [28]

Epische Motive für die innere Phantasie: viele Scenen wirken viel schwächer in der Versinnlichung (der Riesenwurm und Wotan).

27 [29]

Wagner kann mit seiner Musik nicht erzählen, nicht beweisen, sondern überfallen, umwerfen, quälen, spannen, entsetzen—was seiner Ausbildung fehlt, hat er in sein Princip genommen. Die Stimmung ersetzt die Composition: er geht zu direkt zu Wege.

27 [30]

An unkünstlerische Menschen sich wendend, mit allen Hülfsmitteln soll gewirkt werden, nicht auf Kunstwirkung, sondern auf Nervenwirkung ganz allgemein ist es abgesehen.

27 [31]

Nach einem Thema ist Wagner immer in Verlegenheit, wie weiter. Deshalb lange Vorbereitung—Spannung. Eigene Verschlagenheit, seine Schwächen als Tugenden umzudeuten. So das Improvisatorische.

27 [32]

Was aus unserer Zeit drückt Wagner aus? Das Nebeneinander von Roheit und zartester Schwäche, Naturtrieb-Verwilderung und nervöser Über-Empfindsamkeit, Sucht nach Emotion aus Ermüdung und Lust an der Ermüdung.— Dies verstehen die Wagnerianer.

27 [33]

Ich vergleiche mit Wagner’s Musik, die als Rede wirken will, die Relief-Sculptur, die als Malerei wirken will. Die höchsten Stilgesetze sind verletzt, das Edelste kann nicht mehr erreicht werden.

27 [34]

Das grösste Pathos erreichte ich, als ich den Schopenhauerschen Menschen entwarf: den zerstörenden Genius, gegen alles Werdende.

Als Gegenbedürfniss brauchte ich den aufbauenden metaphysischen Künstler, der einen schön träumen macht in solchem unheimlichen Tagewerk.

Unzufriedenheit am tragischen Denken gesteigert.

Gegenmittel: pessimistische Kritik des Denkens und der Lust am Denken. Kritik des Genius.

1. Phase: Strauss. Unbefriedigung. Dagegen Lust am Kampf.
2. Phase: Versuch die Augen zu schliessen gegen die Erkenntniss der Historie.
3. Phase: Lust der Zerstörung.
4. Phase: Lust der Betäubung.

27 [35]

Rhythmus nicht von Tanz aus in die Poesie der Griechen gekommen. Der Tanz und die Poesie unabhängig. Also: muss Musik und Tanz lange Zeit unabhängig gewesen sein. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

27 [36]

Mächtige schwarze Tannen gegen Berge und Frühlingsgrün sich abhebend—Sonne auf langen baumlosen Streifen im Walde am Abend—man erwartet den heitersten Tanz.

27 [37]

Mein Irrthum über Wagner ist nicht einmal individuell, sehr Viele sagten, mein Bild sei das richtige. Es gehört zu den mächtigen Wirkungen solcher Naturen, den Maler zu täuschen. Aber gegen die Gerechtigkeit vergeht man sich ebenso durch Gunst als durch Abgunst.

27 [38]

Bei Wagner ehrgeizigste Combination aller Mittel zur stärksten Wirkung: während die älteren Musiker still die einzelnen Arten fortbildeten.

27 [39]

Formbild[ende] Macht des Militärs übersehen.

27 [40]

Wenn die Natur nicht von euch zur Komödie gemacht worden wäre, so würdet ihr nicht an Gott glauben—das theatralische Maschinenwesen, die Coulissen und Überraschungen— — —

27 [41]

Das psychologische Gesetz in der Entwicklung der Leidenschaft (Handlung Rede Gebärde) und der musikalischen Symphonie decken sich nicht: die Wagnerische Behauptung kann als widerlegt gelten, durch seine Kunst.— Alles Grosse ist da, wo die Musik dominirt, oder dort, wo die Dramatik dominirt—also nicht im Parallelismus.

27 [42]

Mir schien es nach dem Kriege dass Macht Pflicht sei und eine Verschuldung in sich enthalte.

Ich sah in Wagner den Gegner der Zeit, auch in dem, wo diese Zeit Größe hat und wo ich selber in mir Kraft fühlte.

Eine Kaltwasserkur schien mir nöthig. Ich knüpfte an die Verdächtigung des Menschen an, an seine Verächtlichkeit, die ich früher benützte, um mich in jenen übermüthigen metaphysischen Traum zu heben. Ich kannte den Menschen gut genug, aber ich hatte ihn falsch gemessen und beurtheilt: der Grund zum Verwerfen fehlte.

27 [43]

Der lebendige Schopenhauer hat mit den Metaphysikern nichts zu thun. Er ist Voltairianer im Wesentlichen, das 4. [Buch] ihm fremd. [Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.]

27 [44]

Mein Gemälde Wagner’s ging über ihn hinaus, ich hatte ein ideales Monstrum geschildert, welches aber vielleicht im Stande ist, Künstler zu entzünden. Der wirkliche Wagner, das wirkliche Bayreuth war mir wie der schlechte allerletzte Abzug eines Kupferstichs auf geringem Papier. Mein Bedürfniß, wirkliche Menschen und deren Motive zu sehen, war durch diese beschämende Erfahrung ungemein angereizt.

27 [45]

Wagner erinnert an die Lava, die ihren eigenen Lauf durch Erstarrung hindert und plötzlich sich durch Blöcke gehemmt fühlt, die sie selbst bildet. Kein Allegro con fuoco bei ihm.

27 [46]

Anmuth und Innigkeit gesellt sind auch deutsch. [Vgl. Friedrich Maximilian Klinger, Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur. Th. 2. In: F. M. Klingers Sämmtliche Werke in zwölf Bänden. Bd. 12, Stuttgart & Tübingen: Cotta, 1842:?.]

27 [47]

Seine Seele singt nicht, sie spricht, aber so wie die höchste Leidenschaft spricht. Natürlich ist bei ihm der Ton Rhythmus Gebärdenfall der Rede; die Musik ist dagegen nie ganz natürlich, eine Art erlernter Sprache mit mässigem Vorrath von Worten und einer anderen Syntax.

27 [48]

Aber hinterdrein wurde mir der Blick für die tausend Quellen in der Wüste geöffnet. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Harzreise im Winter. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 2. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1853:?. "Öffne dem umwölkten Blick / Über die tausend Quellen / Neben dem Durstenden / In der Wüste!"]

Jene Periode sehr nützlich gegen eine vorzeitige Altklugheit.

27 [49]

Jetzt tagte mir das Alterthum und Goethes Einsicht der grossen Kunst: und jetzt erst konnte ich den schlichten Blick für das wirkliche Menschenleben gewinnen: ich hatte die Gegenmittel dazu, dass kein vergiftender Pessimismus draus wurde. Schopenhauer wurde “historisch,” nicht als Menschenkenner.

27 [50]

Armut an Melodie und in der Melodie bei Wagner. Die Melodie ist ein Ganzes mit vielen schönen Proportionen. Spiegelbild der geordneten Seele. Er strebt darnach: hat er eine Melodie, so erdrückt er sie fast in seiner Umarmung.

27 [51]

Unsere Jugend empörte sich gegen die Nüchternheit der Zeit. Sie warf sich auf den Cultus des Excesses, der Leidenschaft, der Ekstase, der schwärzesten herbsten Auffassung der Welt.

27 [52]

Wagner kämpft gegen die “Frivolität” in sich, zu der ihm, dem Unvornehmen (gegen Goethe), die Freude an der Welt wurde. V[ide] v[orher]

27 [53]

Wagner ahmt sich vielfach selber nach—Manier. Deshalb ist er auch am schnellsten unter Musikern nachgeahmt worden. Es ist leicht.

27 [54]

Wagner hat nicht die Kraft, den Menschen im Umgange frei und gross zu machen: er ist nicht sicher, sondern argwöhnisch und anmaassend. Seine Kunst wirkt so auf Künstler; sie ist neidisch gegen Rivalen.

27 [55]

Widerspruch der Roheit im Handeln und der Überzartheit im Empfinden.

27 [56]

Unklarheit der letzten Ziele, unantike Verschwommenheit.

27 [57]

Die Kunst der Orchester-Farben, mit feinstem Ohre den Franzosen, Berlioz, abgehört (frühzeitig).

27 [58]

Tannhäuser und Lohengrin keine gute Musik. Das Ergreifende Rührende wird aber durchaus nicht von der reinsten und höchsten Kunst am sichersten erreicht. Vergröberung.

27 [59]

Es fehlt die natürliche Vornehmheit, die Bach und Beethoven [haben], die schöne Seele (selbst Mendelssohn)—eine Stufe tiefer.

27 [60]

Auch in der Musik giebt es eine Logik und eine Rhetorik als Stilgegensätze.

Wagner wird Rhetor, wenn er ein Thema behandelt.

27 [61]

Tiefgehendes Misstrauen gegen seine musikalische Erfindung in der Dialectik. Er maskirt auf alle Weise den Mangel.

27 [62]

Darstellung der Geburt der Tragödie—schwebende Wolkenguirlanden, weiss bei Nachthimmel, durch welche Sterne hindurchschimmern—undeutlich allzudeutlich geisterhaft erhelltes Thal.

27 [63]

Auf der Brücke—nach einer Zusammenkunft mit Freunden—Einsamkeit.

27 [64]

Auf Bergpässen wohnend.

27 [65]

Im Böhmerwald erhob ich mich über die Phase.

27 [66]

“Bildungsphilister” und historische Krankheit fiengen an mich zu beflügeln.

27 [67]

Bei Schopenhauer. Zuerst im Grossen ihn festhaltend gegen das Einzelne, später im Einzelnen gegen das Ganze.

27 [68]

Wagner’s “musikalischer Euphuismus” (Liszt)

27 [69]

Rheintöchtermusik—Herbstschönheit

27 [70]

Problem: der Musiker, dem der Sinn für Rhythmus abgeht.

Hebräischer Rhythmus (Parallelismus), überreife des rhythmischen Gefühls, auf primitive Stufen zurückgreifend.

Mitte der Kunst vorüber.

27 [71]

Hätten wir die griechischen subjectiven Kräfte, welche [—] “Originalität.”

Aber keine Ausbildung im Engen, Beschränkten.

27 [72]

Entwicklung des Schmucks der Rede.

27 [73]

“Zum Lohn für die feinste innere Mässigung bekommen” Burckhardt. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

27 [74]

Es giebt etwas, das im höchsten Grade das Misstrauen gegen Wagner wachruft: das ist Wagner’s Misstrauen. Das wühlt so stark dass ich zweimal zweifelte ob Musiker — — —

27 [75]

Platos Neid. Er will Sokrates für sich in Beschlag nehmen. Er durchdringt ihn mit sich, meint ihn zu verschönern, i"8Îl ETikVJ0l allen Sokratikern zu entziehn, sich als fort lebenden zu bezeichnen. Aber er stellt ihn ganz unhistorisch dar, auf die gefährlichste Kante (wie Wagner es mit Beethoven und Shakespeare macht).

27 [76]

Die Griechen ohne Sünd[en]gefühl. Orest der Verbrecher ehrwürdig. Wahnsinn, kein Erlösungsbedürfniß.

27 [77]

Wagner hat in seinen Schriften nicht Grösse Ruhe sondern Anmaassung—Warum: —

27 [78]

Stelle Taine’s über die Semiten.— Übrigens habe ich den Leser irregeführt: die Stelle gilt gar nicht Wagner—sollte Wagner ein Semite sein? Jetzt verstehen wir seine Abneigung gegen die Juden.

27 [79]

Ich war verliebt in die Kunst mit wahrer Leidenschaft und sah zuletzt in allem Seienden nichts als Kunst—im Alter, wo sonst vernünftigermaassen andere Leidenschaften die Seele ausfüllen.

27 [80]

Der Schopenhauersche Mensch trieb mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige—Pessimismus der Erkenntniss. Bei diesem Umweg kam ich auf die Höhe, mit den frischesten Winden.— Die Schrift über Bayreuth war nur eine Pause, ein Zurücksinken, Ausruhen. Dort ging mir die Unnöthigkeit von Bayreuth für mich auf.

27 [81]

Wer seine Zeit angreift, kann nur sich angreifen: was kann er denn sehen wenn nicht sich? So kann man in Andern auch nur sich verherrlichen. Selbstvernichtung Selbstvergötterung Selbstverachtung—das ist unser Richten Lieben Hassen.

27 [82]

Ich hatte die Lust an den Illusionen satt. Selbst in der Natur verdross es mich, einen Berg als ein Gemüths-factum zu sehen.— Endlich sah ich ein, dass auch unsre Lust an der Wahrheit auf der Lust der Illusion ruht.

27 [83]

Wagner kämpft gegen das Monumentale, aber glaubt an das allgemein Menschliche!

Stil-Tradition—hier will er monumentalisiren—wo es am wenigsten erlaubt ist—im tempo! —

27 [84]

Ich habe das Talent nicht, treu zu sein und, was schlimmer ist, nicht einmal die Eitelkeit, es zu scheinen.

27 [85]

Aller Genuss besteht darin, wie fein das Urtheils-Vermögen ist. Jede Kritik eines Meisters eröffnet uns den Zugang zu andern Meistern. Tausend Quellen in der Wüste.

27 [86]

Wozu sind Wagner’s Thorheiten und Ausschweifungen, und die seiner Partei nutz? Oder sind sie nützlich zu machen? Er trägt eine lärmende Glocke durch sie mit herum. Ich wünsche ihn nicht anders.

27 [87]

Ich bin gegen die Sonderentwicklung des religiösen Gefühls, weil seine Kraft anderen Entwicklungen zu Gute kommen soll. Jetzt wird es so verzettelt—rechte Freude macht es doch nicht.

27 [88]

Freunde—wir wollen uns nicht zu Gespenstern werden.— Qual nach einer Zusammenkunft.

27 [89]

Wagner rennt der einen Verrücktheit nach, die Zeit einer andern; beide im selben Tempo, ebenso blind und unbillig.

27 [90]

Alle “Ideen” Wagner’s werden sofort zur harten Manier, er wird durch sie tyrannisirt. Wie sich nur ein solcher Mann so tyrannisiren lassen kann! Z. B. durch seinen Judenhass. Er macht seine Themata wie seine “Ideen” todt durch eine wüthende Lust an der Wiederholung. Das Problem der übergrossen Breite und Länge—er plagt uns durch sein Entzücken.

27 [91]

Ich kann Glocken läuten (Schrift über Richard Wagner).

27 [92]

Alles Ausgezeichnete hat mittlere Natur. Richard Wagner ist Musik für überreife Musikperiode.

27 [93]

Beethoven hat es besser gemacht als Schiller. Bach besser als Klopstock. Mozart besser als Wieland. Wagner besser als Kleist.

27 [94]

Bei Wagner’s Verwerfung der Formen fällt einem Eckermann ein: “es ist keine Kunst geistreich zu sein, wenn man vor nichts Respekt hat.” [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Erster Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:178.]

27 [95]

Freunde.— Nichts verbindet uns, aber wir haben Freude an einander, bis zu dem Grade, dass der Eine des Anderen Richtung fördert, selbst wenn sie schnurstracks der seinen entgegenläuft.

27 [96]

Musik freilich nicht monumental. Poesie viel mehr (des Gedankens wegen).

27 [97]

Ein Refrain (Sorrent) wird von uns von einer falschen Folie aus empfunden: so mit aller vergangnen Musik.

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