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Ende 1876—Sommer 1877 23 [101-197]

23 [101]

Die Künstler sind die Advokaten der Leidenschaft, denn sie ist voller Effekt und giebt dem Künstler zehnmal mehr Gelegenheit, seine Kunst zu zeigen. So entsteht der Schein als ob die Leidenschaften etwas Herrliches, Begehrenswerthes seien, denn die Dichter nehmen die schönsten Worte in den Mund; eigentlich aber verherrlichen sie die Leidenschaft, weil sie sich am meisten verherrlichen wollen.

Theilweise sind sie auch selber von leidenschaftlichem Hange und insofern ihre eignen Advokaten. Nun stellen sie aber in der Welt das Verherrlichenswerthe überhaupt fest, sie sind die geborenen Lobredner der Dinge—sie haben die Stellung des Menschen zur Leidenschaft wirklich verändert d.h. diese selbst subtilisirt, veredelt: z.B. die Liebe. Es ist ihr Verdienst.

23 [102]

Frau von Staël: das Zeitalter der Einsicht hat seine Unschuld ebensowohl wie das goldene Zeitalter.

23 [103]

Werth der Gewissensbisse für die geistige Befreiung.— Es ist kein Zweifel, dass zur Vermehrung der geistigen Freiheit in der Welt die Gewissenbisse wesentlich beigetragen haben. Sie reizten häufig zu einer Kritik der Vorstellungen, welche, auf Grund früherer Handlungen, so schmerzhaft wirkten; und man entdeckte, dass nicht viel daran war, ausser der Gewöhnung und der allgemeinen Meinung innerhalb der Gesellschaft, in welcher man lebte. Konnte man sich von diesen beiden losmachen, so wichen auch die Gewissensbisse.

23 [104]

Künstler könnten die glücklichsten Menschen sein, denn ihnen ist es erlaubt, das Vollkommene zu erzeugen als Ganzes und sogar oft; während die Andern immer nur an kleinen Theilen eines Ganzen arbeiten. Aber die Künstler verwöhnen sich durch den Anblick des Vollkommnen Ganzen und fordern es auch sonst, sie machen höhere Ansprüche, sind neidisch, haben sich nicht gewöhnt sich zu beherrschen, sind dünkelhaft im Urtheil; und mitunter fehlen ihrem Schaffen die geniessenden und lobenden Empfänger.

23 [105]

Das Pathos gehört in die Kunst.— Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, wenn er einen hört, der sein Leben gar zu pathetisch nimmt und von “Golgatha” und “Gethsemane” redet!— Wir vertragen das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht zu laut sein.

23 [106]

Das wollen was der Andre will und zwar seiner selbst wegen, nicht unsertwegen, das macht den Freund, sagt Aristoteles. [Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1166a 2-6.] Hier wird die unegoistische Handlung beschrieben; befinden wir uns gegen gewisse Personen dauernd in solcher Verfassung, so ist dies Freundschaft. Nach der jetzt üblichen Auffassung der Moralität ist das Freundesverhältniss das moralischeste, welches existirt.

23 [107]

Man muss eine Zeitlang im metaphysischen Dunstkreis gelebt haben, nur um zu erfahren, wie wohl es thut in nüchterner Morgenfrische alle Dinge zu sehen und tiefen Athem in reiner Luft zu schöpfen.

23 [108]

Richtig lesen.— Die Kunst richtig zu lesen ist so selten, dass fast jedermann eine Urkunde ein Gesetz einen Vertrag sich erst interpretiren lassen muss; namentlich wird durch die christlichen Prediger viel verdorben, welche fortwährend von der Kanzel herab die Bibel mit der verzweifeltsten Erklärungskunst heimsuchen und weit und breit Respect vor einer solchen künstlich spitzfindigen Manier, ja sogar Nachahmung derselben erwecken.

23 [109]

Wenn die Moral auf den Gesichtspunkt des gemeinsamen Nutzens und Schadens zurückgeht, so ist es consequent das Moralische einer Handlung nicht nach den Absichten des Individuums, sondern nach der That und deren Erfolg zu bemessen. Das Seelenspalten und Nierenprüfen gehört einer Auffassung der Ethik an, bei der auf Nutzen und Schaden gar nichts ankommt. Man verlange die Handlung und kümmere sich nicht so ängstlich um die Motive (deren Verflechtung übrigens viel zu gross ist als dass man nicht bei jeder psychologischen Analysis einer Handlung immer etwas irrte).

23 [110]

Geistige Übergangsclimata.— Wir haben uns freigemacht von vielen Vorstellungen—Gott ewiges Leben vergeltende jenseitige und diesseitige Gerechtigkeit, Sünde Erlöser Erlösungsbedürftigkeit—; eine Art vorübergehende Krankheit verlangt einen Ersatz an die leeren Stellen hin, die Haut schaudert etwas vor Frost, weil sie früher hier bekleidet war. Da giebt es Philosophien, welche gleichsam Übergangsclimata darstellen, für die, welche die frische Höhenluft noch nicht direct vertragen.— Vergleiche, wie die griechischen Philosophensekten als Übergangsklimata dienen: die alte Polis und deren Bildung wirkt noch in ihnen nach: wozu soll aber übergegangen werden?—es ist wohl nicht gefunden. Oder war es der Sophist, der volle Freigeist?

23 [111]

Man soll gar nicht mehr hinhören, wenn Menschen über die verlorne Volksthümlichkeit klagen (in Tracht Sitten Rechtsbegriffen Dialecten Dichtungsformen usw.). Gerade um diesen Preis erhebt man sich ja zum Über-Nationalen, zu allgemeinen Zielen der Menschheit, zum gründlichen Wissen, zum Verstehen und Geniessen des Vergangnen, nicht Einheimischen.— Kurz, damit eben hört man auf, Barbar zu sein.

23 [112]

Das Erhabne wirkt als Reizmittel und Pfeffer auf Ermüdete, das Schöne bringt Beruhigung für die Erregten—das ist ein Hauptunterschied. Der Erregte scheut sich vor dem Erhabnen, der Ermüdete langweilt sich bei dem Schönen. Übrigens ist das Erhabne, wenn es vom Schönen disjungirt wird, identisch mit dem Hässlichen (d. h. allem Nicht-Schönen); und wie es eine Kunst der schönen Seele giebt, so auch eine Kunst der hässlichen Seele.

23 [113]

Selbstverachtung.— Jene heftige Neigung zur Selbstprüfung und -Verachtung, die man bei Sündern Büssern und Heiligen wahrnimmt, ist häufig auf eine allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (oder der Nerven) zurückzuführen, Regen welche sie auch die schmerzhaftesten Reizmittel anwenden.

23 [114]

Erwägt man, wie die Irrthümer großer Philosophien gewöhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis z. B. der sogenannten unegoistischen Handlungen eine falsche Ethik erbaut wird, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und gesamte Weltbetrachtung hineinfallen: erwägt man dies Alles, so sieht man ein, wie unbillig die gewöhnliche Unterschätzung der psychologischen Beobachtung ist: während eben die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung, also das Resultat jener Unterschätzung, dem menschlichen Denker und Urtheilen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt. Woher nun diese Nichtachtung? Etwa weil auch dem leeren und eiteln Gesindel der Gesellschaft, männlichen oder weiblichen Geschlechts, gelegentlich solche Bemerkungen gelingen, weil man da in bestimmten Zeiten sich moralische Sentenzen im Carneval der geistreichen Gefallsucht als eine Art Confetti zuzuwerfen pflegte?— Aber der Unterschied ist eben außerordentlich, wenn ein streng wägender Denker den gleichen psychologischen Satz, der einmal auch in jenen Kreisen entdeckt worden ist, ausspricht und ihn mit dem Gepräge und Kopfbilde seiner Autorität versieht. Vielleicht thut jetzt, als Vorarbeit für alles zukünftige Philosophiren, nichts so noth, als Stein auf Stein, Steinchen auf Steinchen psychologische Arbeit zu häufen und tapfer jeder Mißachtung dieser Art Arbeit zu widerstreben. Zu welchen Entdeckungen wird eine spätere Generation, vermöge eines solchen Materials, kommen!— Freilich muß jener unehrliche Geist von diesem Gebiete fern gehalten werden, in dem z. B. Schleiermacher seine Schüler aufforderte, die psychologischen Thatsachen des religiösen Bewußtseins zu untersuchen: denn hier war es von vornherein auf die Erhaltung der Religion und auf das Fortbestehen der Theologie (welcher er eine neue Arbeit zuweisen wollte) abgesehen.— Wie es in der Natur keine Zwecke giebt und sie trotzdem Dinge von der höchsten Zweckmäßigkeit schafft, so wird auch die ächte Wissenschaft ohne Zwecke (Nutzen Wohlfahrt der Menschen) arbeiten, sondern ein Stück Natur werden, d. h. das Zweckmäßige (Nützliche) hier und da erreichen, ohne es gewollt zu haben.

23 [115]

In den Eigenthümlichkeiten der indogermanischen Sprachen, welche sie gegen die Urmuttersprache abheben, hat man die zurückgelassenen Spuren der verlorenen Sprachen zu erkennen, welche ursprünglich die Völker hatten, die durch indogermanische Wanderstämme überfallen und besiegt wurden: und so daß die Sprache der Eroberer ebenfalls siegreich wurde und auf die Unterworfenen übergieng. Vielleicht im Accent und dergleichen blieb die alte Gewöhnung noch hängen und gieng auf die neu erlernte Sprache über.

23 [116]

Dankbar gegen die Folgen.— Manche metaphysische und historische Hypothesen werden nur deshalb so stark vertheidigt, weil man so dankbar gegen ihre Folgen ist.

23 [117]

Naturgenuss.— Bei einer Critik des Naturgenusses wird viel abzuziehn sein, was gar nicht auf aesthetische Erregung zurückgeht, z. B. bei Besteigung eines hohen Berges die Wirkung der dünnen leichten Luft, das Bewusstsein der besiegten Schwierigkeit, das Ausruhen, das geographische Interesse, die Absicht dasselbe schön zu finden was andere Leute schön fanden, der vorweggenommene Genuss, davon einmal zu erzählen.

23 [118]

Es giebt Stellen im Nebensatz des Allegretto der Adur Symphonie, bei denen das Leben so angenehm hinschleicht wie die Minuten an einer Rosenhecke an Sommerabenden.

23 [119]

Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden jähen Bach des Lebens, hundertmal vom Gischt verschlungen und sich immer von neuem zusammensetzend, und mit zarter schöner Kühnheit ihn überspringend, dort wo er am wildesten und gefährlichsten braust.

23 [120]

Unterschätzen wir auch die flacheren lustigen lachsüchtigen Weiber nicht, sie sind da zu erheitern, es ist viel zu viel Ernst in der Welt. Auch die Täuschungen auf diesem Gebiete haben ihren Honigseim.— Wenn die Frauen tüchtiger inhaltsreicher werden, so giebt es gar keine sichere Stätte für harmlose Thorheit auf der Welt mehr. Liebeshändel gehören unter die Harmlosigkeiten des Daseins.

23 [121]

Ein socratisches Mittel.— Socrates hat Recht: man soll, um vom Eros nicht ganz unterjocht zu werden, sich mit den weniger schönen Weibern einlassen.

23 [122]

Wenn sich einer an das Buchmachen gewöhnt hat, so zieht er seine vielleicht ganz hellen Gedanken so auseinander, daß sie schwerfällig und dunkel werden. So hat sich selbst Kant durch die Gelehrten-Manier des Büchermachens (welches ja sogar im herkömmlichen Urtheil als akademische Verpflichtung gilt) zu jener weitschweifigen Art der Mittheilung bestimmen lassen, welche bei ihm doppelt bedauerlich ist, weil es ihm (seiner akademischen Pflichten wegen) immer an Zeit gefehlt hat: er mußte während des Schreibens sich häufig erst wieder in seine Gedankenkreise eindenken. Hätte er sich begnügt, das in kürzester Form, in der Weise Hume’s, mitzutheilen, was er vor dem Schreiben (vielleicht auf einem Spaziergange) in sich festgestellt hatte, so wäre der ganze Streit über das richtige Verständniß Kant’s, der jetzt noch fortlebt, überflüssig gewesen.

23 [123]

Frühzeitige Redefertigkeit schleift sich alle Gedanken zum sofortigen wirkungsvollen Gebrauche zurecht und ist deshalb leicht ein Hinderniß tiefen Erfassens und überhaupt einer gründlichen Einkehr in sich selbst.— Deshalb pflegen demokratische Staaten die Redefertigkeit auf den Schulen. —

23 [124]

Erfahrene Menschen kehren ungern zu Gegenden, zu Personen zurück, die sie einst sehr geliebt haben. Glück und Trennung sollen an ihren Enden zusammengeknüpft werden: da trägt man den Schatz mit fort.

23 [125]

Während Schopenhauer von der Welt der Erscheinung aussagt, dass sie in ihren Schriftzügen das Wesen des Dinges an sich zu erkennen gebe, haben strengere Logiker jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten, der metaphysischen Welt und der uns bekannten Welt geleugnet: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erschiene. [Vgl. Afrikan Spir, Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie. Bd. 1: Das Unbedingte. Leipzig: Findel, 1877:279.] Von beiden Seiten scheint mir übersehen, dass es verschiedne irrthümliche Grundauffassungen des Intellectes sind, welche den Grund abgeben, weshalb Ding an sich und Erscheinung in einem unausfüllbaren Gegensatz zu stehen scheinen: wir haben die Erscheinung eben mit Irrthümern so umsponnen, ja sie so mit ihnen durchwebt, dass niemand mehr die Erscheinungswelt von ihnen getrennt denken kann. Also: die üblen, von Anfang an vererbten unlogischen Gewohnheiten des Intellectes haben erst die ganze Kluft zwischen Ding an sich und Erscheinung aufgerissen; diese Kluft besteht nur insofern unser Intellect und seine Irrthümer bestehen. Schopenhauer hinwiederum hat alle characteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung—d. h. der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt—zusammengelesen und statt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen Weltcharacters angeschuldigt.— Mit beiden Auffassungen wird eine Entstehungsgeschichte des Denkens in entscheidender Weise fertig werden: deren Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: das was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern welche in der gesammten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden. Von dieser Welt als Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten nicht zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung dieser Welt als Vorstellung aufhellen.

23 [126]

Es ist wahr, niemals ist in Deutschland so viel philosophirt worden wie jetzt: selbst zur Zeit der höchsten Gewalt Hegel’s über die deutschen Köpfe erschienen nicht annähernd so viele philosophische Schriften wie in den letzten 15 Jahren. Aber irre ich mich? Oder habe ich Recht zu vermuthen, daß eine große Gefahr in diesem Anzeichen liegt? Die Gattung des jetzt beliebten Philosophirens ist derart, daß sie als Symptom einer über Hand nehmenden Abneigung gegen exakte strenge methodische Studien erscheint. Es ist ein vergnügliches, unter Umständen geistreiches Herumwerfen der philosophischen Ideen-Fangbälle, welche jetzt fast für jedes Verständniß faßlich geworden sind; ein solches Spiel nimmt sich besser aus als das ermüdende Wälzen schwerer einzelner Probleme der Wissenschaft und giebt in der That eine gewisse Ausbildung zum geselligen und öffentlichen Effektmachen.— Ich wünschte mich zu irren.

23 [127]

Wer vom Reiz der Gefahr spricht, kennt die Lust an der Emotion der Furcht an sich.

23 [128]

Frauen in Colonien.— Die Achtung und Artigkeit, welche die Amerikaner den Frauen erweisen, ist vererbt aus jener Zeit, in der diese bedeutend in der Minderheit waren: sie ist eine Eigenthümlichkeit colonialer Staaten. Manches bei den Griechen erklärt sich hieraus. Ein Ausnahmefall: wo die Colonisten viele Weiber antreffen, entsteht gewöhnlich ein Sinken der Schätzung der Weiber.

23 [129]

Der hochentwickelte Mensch thut die Natürlichkeiten des Daseins wie Essen Trinken usw. einfach ab, ohne viel Reden und falsche Verschönerung, welche frühere Culturstufen lieben. Ebendahin gehört auch die Geselligkeit, die Ehe; auf alle solche Dinge fällt nicht mehr jener starke Accent, welchen andere Zeiten dafür haben. Gut, es mag “formloser” sein, unschöner zum Ansehen, der religiöse Anschein ist von diesen Dingen gewichen und damit viel “Poesie.” Indessen diese Einbussen werden reichlich compensirt, vor allem viel Energie gespart, Zeit gespart (wie bei unserer Kleidung) und der ganze Sinn nicht auf diese Äusserlichkeiten gerichtet. Jemand der es in etwas zur Meisterschaft bringen will, erhebt sich zu einer vornehmen Art zu sein durch sein Ziel.— Wie wir in den Künsten durch Vergeistigung eine Menge des Hässlichen mit in’s Reich der Kunst hinübergetragen haben, so auch im Leben; man muss fühlen, was in diesen auf den ersten Blick unschönen Lebensformen pulsirt, welche neuen und höheren Gewalten, da erschliesst sich dem Blick eine höhere Schönheit.

23 [130]

Es gehört zu den Eigenheiten des metaphysischen Philosophirens, ein Problem zu verschärfen und als unlösbar hinzustellen, es sei denn dass man ein Wunder als eine Lösung ansieht, z. B. das Wesen des Schauspielers in der Selbstentäusserung und förmlichen Verwandlung zu sehen: während das eigentliche Problem doch ist, durch welche Mittel der Täuschung es der Schauspieler dahin bringt, dass es so scheint als wäre er verwandelt.

23 [131]

Der denkende Geist bei Musikern ist gewöhnlich frisch, sie sind öfter geistreich als die Gelehrten; denn sie haben in der Ausübung ihrer Kunst das Mittel, dem reflektirenden Denken beinahe völlige Ruhe, eine Art Schlafleben zu verschaffen; deshalb erhebt sich dies so lustig und morgenfrisch, wenn der Musiker aufhört Musik zu machen.— Man täuscht sich mitunter darüber, weil vielfach die Bildung des Musikers zu gering ist und er nicht genug Stoff hat, an dem er Geist zeigen könnte. Eben so steht es mit [dem] denkenden Geist der Frauen.

23 [132]

Wer in der deutschen Sprache Sentenzen bildet, hat die Schwierigkeit, daß sie gerade am Ende nicht scharf und streng abgeschliffen werden können, sondern daß Hülfszeitwörter hinterdrein stürzen wie Schutt und Gerümpel einem rollenden Steine.— Selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht auf diesem Gebiete selber gewetteifert hat. Man nimmt es ohne diese praktische Belehrung für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene nicht scharf genug heraus; deshalb haben die Leser von Sentenzen ein verhältnißmäßig geringes Vergnügen an ihnen, ebenso wie die gewöhnlichen Betrachter von Kameen. Nur im Wetteifer lernt man das Gute kennen: so sollte man, um der Lust der Erkenntniß willen, wenigstens eine Wissenschaft eine Kunst wirklich ausüben, und vielleicht einen Roman, eine philosophische Betrachtung, eine Rede von Zeit zu Zeit ausarbeiten;—durch Nachdenken über seine eignen Erfahrungen begreift man dann auch die verwandten diesen Erfahrungen angrenzenden Gebiete—und erwirkt sich den Zugang zu vielen der besten Lustempfindungen.

23 [133]

Man ist auch ungerecht, wenn man die großen Männer zu groß findet und die Dinge in der Welt zu tief. Wer dem Leben die tiefste Bedeutung geben will, umspinnt die Welt mit Fabeln; wir sind alle noch tief hinein verstrickt, so freisinnig wir uns auch vorkommen mögen. Es giebt eine starke Neigung, uralt angeboren, die Abstände zu übertreiben, die Farben zu stark aufzutragen, das Glänzende als das Wahrscheinlichere zu nehmen. Die Kraft zeigt sich vornehmlich in diesem allzuscharfen Accentuiren; aber die Kraft in der Mäßigung ist die höhere, Gerechtigkeit ist schwerer als Hingebung und Liebe.— Wenn ein Mörder nicht das Böse seiner Handlung anerkennen will und sich das Recht nimmt, etwas gut zu nennen, was alle Welt böse nennt, so löst er sich aus der Entwicklung der Menschen: müssen wir ihm dies Recht zugestehn? Wenn einer sogenannte schlechte Handlungen durch Loslösung von den hergebrachten Urtheilen und Aufstellung der Unverantwortlichkeit rechtfertigte, dürfen wir sagen: “nur rein theoretisch darf er so etwas aufstellen, nicht aber praktisch darnach handeln”? Oder: “als Denker hat er Recht, aber er darf nicht Böses thun.” In wie weit darf sich das Individuum lösen von seiner Vergangenheit? So weit es kann? Und wenn es einsieht, daß in dieser Vergangenheit falsche Urtheile, Rücksichten auf grobe Nützlichkeit wirkten? Daß der Heiligenschein um das Gute, der Schwefelglanz um das Böse dabei verschwindet? Wenn die stärksten Motive, aus der Ehre und Schande des Mitmenschen entnommen, nicht mehr wirken, weil er die Wahrheit diesem Urtheile entgegenstellen kann?

23 [134]

Warum erdichtet man nicht ganze Geschichten von Völkern, von Revolutionen, von politischen Parteien? Weshalb rivalisirt der Dichter des Roman’s nicht mit dem Historiker? Hier sehe ich eine Zukunft der Dichtkunst.

23 [135]

Ehemals definirte man, weil man glaubte, daß jedem Worte Begriffe eine Summe von Prädikaten innewohne, welche man nur herauszuziehn brauche. Aber im Worte steckt nur eine sehr unsichere Andeutung von Dingen: man definirt vernünftiger Weise nur, um zu sagen, was man unter einem Worte verstanden wissen will und überläßt es jedem, sich den Sinn eines Wortes neu abzugränzen: es ist unverbindlich.

23 [136]

Die Schule der Erzieher entsteht auf Grund der Einsicht: daß unsere Erzieher selber nicht erzogen sind, daß das Bedürfniß nach ihnen immer größer, die Qualität immer geringer wird, daß die Wissenschaften durch die natürliche Zertheilung der Arbeitsgebiete bei dem Einzelnen die Barbarei kaum verhindern können, daß es kein Tribunal der Cultur giebt, welches von nationalen Interessen abgesehn die geistige Wohlfahrt des ganzen Menschengeschlechts erwägt: ein internationales Ministerium der Erziehung.

23 [137]

Eine Sentenz ist im Nachtheil, wenn sie für sich steht; im Buche dagegen hat sie in der Umgebung ein Sprungbrett, von welchem man sich zu ihr erhebt. Man muß verstehen, unbedeutendere Gedanken um bedeutende herumzustellen, sie damit einzufassen, also den Edelstein mit einem Stoff von geringerem Werthe. Folgen Sentenzen hinter einander, so nimmt man unwillkürlich die eine als Folie der andern, schiebt diese zurück, um eine andere hervorzuheben, d. h. man macht sich ein Surrogat eines Buches.

23 [138]

Da die Kunst immer seelenvoller wird, so bemerken die späteren Meister, daß die Kunstwerke der früheren Zeit ihnen nicht entsprechen und dies veranlaßt sie, da etwas nachzuhelfen und zu glauben daß es nur die technischen Bedingungen sind, welche damals den alten Meistern fehlten. So denkt Wagner, daß Beethoven besser d. h. seelenvoller instrumentirt haben würde, wenn die Instrumente besser gewesen wären; namentlich aber in der Modifikation des Tempo’s, denkt er, daß jener, wie alle früheren, nur ungenügend in der Bezeichnung gewesen wäre. [Vgl. Richard Wagner, Zum Vortrag der neunten Symphonie Beethovens (1873). In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 9. Leipzig: Fritzsch, 1873:277-282.] In Wahrheit ist die Seele aber noch nicht so zart bewegt, so lebendig in jedem Augenblick gewesen. Alle ältere Kunst war starr, steif; in Griechenland wie bei uns. Die Mathematik, die Symmetrie, der strenge Takt herrschten.— Soll man den modernen Musikern das Recht geben, ältere Werke mehr zu beseelen?— Ja; denn nur dadurch daß wir ihnen unsere Seele geben, leben sie noch fort. Wer die dramatische seelenvolle Musik kennt, wird Bach ganz anders vortragen, unwillkürlich. Hört er ihn anders vortragen, so versteht er ihn nicht mehr. Ist ein historischer Vortrag überhaupt möglich?

23 [139]

Die Erfinder der indogermanischen Sprache waren wahrscheinlich der obersten Kaste zugehörig und benutzten die vorhandenen geringeren Sprachen. Eine hohe philosophische und dichterische Bildung sprach aus ihnen und bildete eine entsprechende Sprache; diese ist ein bewußtes Kunstprodukt; musikalisches dichterisches Genie gehörte dazu. Dann wurde es eine Dichter- und Weisensprache, verbreitete sich später über die nächsten Kasten und wanderte mit den Kriegerstämmen aus. Es war das kostbarste Vermächtniß der Heimat, das man zäh festhielt.

23 [140]

Die Dichter, gemäß ihrer Natur, welche eben die von Künstlern d. h. seltsamen Ausnahmemenschen ist, verherrlichen nicht immer das, was von allen Menschen verherrlicht zu werden verdient, sondern ziehen das vor, was gerade ihnen als Künstlern gut erscheint. Ebenso greifen sie selten mit Glück an, wenn sie Satiriker sind. Cervantes hätte die Inquisition bekämpfen können, aber er zog es vor, ihre Opfer d. h. die Ketzer und Idealisten aller Art auch noch lächerlich zu machen. Nach einem Leben voller Unfälle und Mißwenden hatte er doch noch Lust zu einem litterarischen Hauptangriff auf eine falsche Geschmacksrichtung der spanischen Leser; er kämpfte gegen die Ritterromane. Unvermerkt wurde dieser Angriff unter seinen Händen zur allgemeinsten Ironisirung aller höheren Bestrebungen: er machte ganz Spanien, alle Tröpfe eingeschossen, lachen und sich selber weise dünken: es ist eine Thatsache daß über kein Buch so gelacht wurde wie über den Don Quixote. [Vgl. Miguel de Cervantes, Don Quixote von la Mancha. Aus dem Spanisch übersetzt von L. Tieck. Berlin, A. Hofmann, 1852.] Mit einem solchen Erfolge gehört er in die Decadence der spanischen Cultur, er ist ein nationales Unglück. Ich meine daß er die Menschen verachtete und sich nicht ausnahm; oder macht er sich nicht nur lustig wenn er erzählt wie man am Hofe des Herzogs mit dem Kranken Possen trieb? Sollte er wirklich nicht über den Ketzer auf dem Scheiterhaufen noch gelacht haben? Ja, er erspart seinem Helden nicht einmal jenes fürchterliche Hellwerden über seinen Zustand, am Schlusse des Lebens: wenn es nicht Grausamkeit ist, so ist es Kälte, Hartherzigkeit, welche ihn eine solche letzte Scene schaffen hieß, Verachtung gegen die Leser, welche wie er wußte auch durch diesen Schluß nicht in ihrem Gelächter gestört wurden.

23 [141]

Alle urspr[ünglich] starre, peinliche Empfindung wird allmählich angenehm. Aus Zwang wird Gewohnheit, daraus Sitte, endlich Tugend mit Lust verbunden. Aber die Menschen, welche diese letzte Stufe erreicht haben, wollen nichts davon wissen, daß ihre fernen Vorfahren den Weg begonnen haben.

23 [142]

Der Mensch erstrebt mitunter eine Emotion an sich, und benutzt Menschen nur als Mittel. Am stärksten in der Grausamkeit. Aber auch in der Lust am Tragischen ist etwas davon (Goethe fand diesen Sinn für das Grausame bei Schiller). [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Erster Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:137.] In der dramatischen Kunst überhaupt will der Mensch Emotionen, z. B. des Mitleides, ohne helfen zu müssen. Man denke an Seiltänzer, Gaukler.— Die Leidenschaften gewöhnen den Menschen an sich: deshalb haben sehr leidenschaftliche Völker z. B. Griechen und Italiäner solches Vergnügen an der Kunst der Leidenschaft, der Emotion an sich; ohne diese haben sie Langeweile.

23 [143]

Die Empfindung kann nicht gleich und auf einer Höhe bleiben, sie muß wachsen oder abnehmen. Die Verehrung der griechischen Polis summirte sich zu einer unendlichen Summe auf, endlich vermochte das Individuum diese Last nicht mehr zu tragen.

23 [144]

Es ist nach Art der unwissenschaftlichen Menschen, irgend eine Erklärung einer Sache keiner vorzuziehn, sie wollen von der Enthaltung nichts wissen.

23 [145]

Der gut befähigte Mensch erlebt mehrenmal den Zustand der Reife, insofern er verschiedene Culturen durchlebt und im Verstehen und Erfassen jeder einzelnen einmal einen Höhepunkt erreicht. und so kann ein Mensch in sich den Inhalt von ganzen Jahrhunderten vorausfühlen: weil der Gang, den er durch die verschiedenen Culturen macht, derselbe ist, welchen mehrere Generationen hinter einander machen.— So hat er auch mehrenmal den Zustand der Unreife, der perfecten Blüthe, der Überreife: diese ganze Stufenleiter macht er vielleicht erst einmal als religiöser, dann wieder als künstlerischer und endlich wissenschaftlicher Mensch durch.

23 [146]

Man verwundert sich immer von Neuem, wie Shakespeare im Stande gewesen sei, seine Helden jedesmal so passend, so gedankenreich reden zu lassen, so daß sie Sentenzen äußern, welche an sich bedeutend aber doch auch wiederum ihrem Charakter entsprechend lauten? Da vermuthet man wohl, um es zu erklären, daß solche Gespräche ein Mosaik von gelegentlich gefundenen Einzelsätzen seien. Dieser Vermuthung möchte ich entgegnen, daß es bei dem Dramatiker eine fortwährende Gewöhnung giebt, jede Bemerkung nur dem Charakter einer bestimmten Person gemäß, im Verhältniß zu einer Situation zu erfinden: eine Gewohnheit welche eben eine ganz andere als die unsere ist: die Bemerkung ihrer Wahrheit halber zu machen, ganz abgesehn von Person und Situation. Aber auch wir fragen uns mitunter: “was würdest du sagen, wenn du dies erlebtest?” An dieses hypothetische Reden ist der Dramatiker gewöhnt, es ist seine Natur geworden, immer unter solchen Voraussetzungen seine Gedanken zu erfinden.

23 [147]

Wie alte sinnreiche religiöse Zeremonien zuletzt als abergläubische unverstandene Prozeduren übrigbleiben, so wird die Geschichte überhaupt, wenn sie nur noch gewohnheitsmäßig fortlebt, dem magischen Unsinn oder [der] carnevalistischen Verkleidung ähnlich. Die Sonne, welche bei der Verkündigung der Infallibilität auf den Papst leuchten sollte, die Taube, welche dabei fliegen sollte, erscheinen jetzt als bedenkliche Kunststückchen, welche nur auf Täuschung absehen; aber die alte Cultur ist voll davon, und die ganze Unterscheidung, wo die Täuschung beginnt, gar nicht gemacht. Jetzt bewegte sich in Neapel ein katholischer prunkhafter Leichenwagen mit Gefolge in einer der Nebengassen, während in unmittelbarer Entfernung der Carneval tobte: alle die bunten Wagen, welche die Kostüme und den Prunk früheren Culturen nachmachten. Aber auch jener Leichenzug wird irgendwann einmal ein solcher historischer Carnevalszug sein; die bunte Schale bleibt zurück und ergötzt, der Kern ist entflohn oder es hat sich wie in den Kunstgriffen der Priester zur Erweckung des Glaubens die betrügerische Absicht hinein versteckt.

23 [148]

Das Alterthum ist im Ganzen das Zeitalter des Talents zur Festfreude. Die tausend Anlässe sich zu freuen waren nicht ohne Scharfsinn und großes Nachdenken ausfindig gemacht; ein guter Theil der Gehirnthätigkeit, welche jetzt auf Erfindung von Maschinen, auf Lösung der wissenschaftlichen Probleme gerichtet ist, war damals auf die Vermehrung der Freudenquellen gerichtet: die Empfindung, die Wirkung sollte in’s Angenehme umgebogen werden, wir verändern die Ursachen des Leidens, wir sind prophylaktisch, jene palliativisch.— Unsere Feste werden billigerweise Cultur-Feste und im Ganzen selten.

23 [149]

Wir haben ein Vergnügen an der kleinen Bosheit, weil sie uns so wenig schadet z. B. am Sarkasmus; ja wenn wir uns völlig geschützt fühlen, so dient uns selbst die große Bosheit (etwa in dem giftigen Geifer eines Pamphletes) zum Behagen; denn sie schadet uns nicht und nähert sich dadurch der Wirkung des Komischen,—das überrascht, ein wenig erschreckt und doch nicht Schaden anstiftet.

23 [150]

Die Kunst gehört nicht zur Natur, sondern allein zum Menschen.— In der Natur giebt es keinen Ton, diese ist stumm; keine Farbe. Auch keine Gestalt, denn diese ist das Resultat einer Spiegelung der Oberfläche im Auge, aber an sich giebt es kein Oben und Unten, Innen und Außen. Könnte man anders sehen, als vermöge der Spiegelung, so würde man nicht von Gestalten reden, sondern vielleicht in’s Innre sehen, so daß der Blick ein Ding allmählich durchschnitte. Die Natur, von welcher man unser Subjekt abzieht, ist etwas sehr Gleichgültiges, Uninteressantes, kein geheimnißvoller Urgrund, kein enthülltes Welträthsel; wir vermögen ja durch die Wissenschaft vielfach über die Sinnesauffassung hinaus zu kommen, z. B. den Ton als eine zitternde Bewegung zu begreifen; je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer bedeutungsloser wird sie für uns.— Die Kunst beruht ganz und gar auf der vermenschlichten Natur, auf der mit Irrthümern und Täuschungen umsponnenen und durchwebten Natur, von der keine Kunst absehen kann; [sie] erfaßt nicht das Wesen der Dinge, weil sie ganz an das Auge und das Ohr angeknüpft ist. Zum Wesen führt nur der schließende Verstand. Er belehrt uns z. B. [daß] die Materie selbst ein uraltes eingefleischtes Vorurtheil ist, daher stammend daß das Auge Spiegelflächen sieht und das menschliche Tastorgan sehr stumpf ist: wo man nämlich widerstrebende Punkte fühlt, so construirt man sich unwillkürlich widerstrebende continuirliche Ebenen (welche aber nur in unserer Vorstellung existiren), unter der angewöhnten Illusion des spiegelnden Auges, welches im Grunde eben auch nur ein grobes Tastorgan ist. Ein Ball von elektrischen Strömungen, welche an bestimmten Punkten umkehren, würde sich als etwas Materielles, als ein festes Ding anfühlen: und das chemische Atom ist ja eine solche Figur, welche von den Endpunkten verschiedener Bewegungen umschrieben wird. Wir sind jetzt gewöhnt, Bewegtes und Bewegung zu scheiden; aber wir stehen damit unter dem Eindrucke uralter Fehlschlüsse: das bewegte Ding ist erdichtet, hineinphantasirt, da unsere Organe nicht fein genug sind, überall die Bewegung wahrzunehmen und uns etwas Beharrendes vorspiegeln: während es im Grunde kein “Ding,” kein Verharrendes giebt.

23 [151]

Da die neue Erziehung den Menschen eine viel größere Gehirnthätigkeit zumuthet, so muß die Menschheit viel energischer nach Gesundheit ringen, um nicht eine nervös überreizte, ja verrückte Nachkommenschaft zu haben (denn sonst wäre eine Nachwelt von Verrückten und Überspannten sehr wohl möglich—wie die überreifen Individuen des späteren Athen’s mitunter in das Irrsinnige hineinspielen): also durch Paarung gesunder Eltern, richtige Kräftigung der Weiber, gymnastische Übungen, die so sehr gewöhnlich und begehrt sein müssen wie das tägliche Brod, Prophylaxis der Krankheiten, rationelle Ernährung, Wohnung, überhaupt durch Kenntnisse der Anatomie usw.

23 [152]

Das Christenthum sagt “es giebt keine Tugenden, sondern Sünden.” Damit wird alles menschliche Handeln verleumdet und vergiftet, auch das Zutrauen auf Menschen erschüttert. Nun sekundirt ihm noch die Philosophie in der Weise La Rochefoucauld’s, sie führt die gerühmten menschlichen Tugenden auf geringe und unedle Beweggründe zurück. Da ist es eine wahre Erlösung zu lernen, daß es an sich weder gute noch böse Handlungen giebt, daß in gleichem Sinne wie der Satz des Christenthums auch der entgegengesetzte des Alterthums aufgestellt werden kann “es giebt keine Sünden, sondern nur Tugenden” d. h. Handlungen nach dem Gesichtspunkte des Guten (nur daß das Urtheil über gut verschieden ist). Jeder handelt nach dem ihm Vortheilhaften, keiner ist freiwillig böse d. h. sich schädigend. Es ist ein großer Fortschritt zu lernen, daß alles Moralische nichts mit dem Ding an sich zu thun hat, sondern “Meinung” ist, in das Bereich des sehr veränderlichen Intellekts gehört. Freilich: wie sich unser Ohr den Sinn für Musik geschaffen hat (der ja auch nicht an sich existirt), so haben wir als hohes Resultat der bisherigen Menschheit den moralischen Sinn. Er ist aber nicht auf logische Denkgesetze und auf strenge Naturbeobachtung gegründet, sondern wie der Sinn für die Künste auf mancherlei falsche Urtheile und Fehlschlüsse. Die Wissenschaft kann nicht umhin, dies unlogische Fundament der Moral aufzudecken, wie sie dies bei der Kunst thut. Vielleicht schwächt sie auf die Dauer diesen Sinn damit etwas ab: aber der Sinn für Wahrheit ist selber eine der höchsten und mächtigsten Effloreszenzen dieses moralischen Sinnes. Hier liegt die Compensation.

23 [153]

Barbarisirende Wirkung der Abstraktion und Sublimation bei Gelegenheit des Aristotelis[mus] in der Wissenschaft.

23 [154]

Wenn man an die höhere Nützlichkeit, an ökumenische Zwecke bei dem Wort Moral denkt, so ist im Handel mehr Moralität enthalten, als im Leben nach jener Kantischen Aufforderung “thue das was du willst daß dir gethan werde” oder im christlichen Wandel nach der Richtschnur des Wortes: “liebe den Nächsten um Gottes willen.” Der Satz Kant’s ergiebt eine kleinbürgerliche Privat-Achtbarkeit der Sitte und steht im Gegensatz zu ökumenischen Zwecken: von deren Existenz er nicht einmal einen Begriff hat. Wie wenig geforderte Liebe überhaupt zu bedeuten hat, namentlich aber eine Liebe dieser indirekten Art, wie die christliche Nächstenliebe, das hat die Geschichte des Christenthums bewiesen: welche im Gegensatz zu den Folgen der buddhaistischen, reisessenden Moral durchweg gewaltsam und blutig ist. Und was heißt es überhaupt: “ich liebe den Mitmenschen um Gottes Willen!” Ist es mehr als wenn jemand sagt “ich liebe alle Polizeidiener, um der Gerechtigkeit willen” oder was ein kleines Mädchen sagte: “ich liebe Schopenhauer, weil Großvater ihn gern hat: der hat ihn gekannt”?

23 [155]

Durch gewisse Ansichten über die Dinge ist das Pathos der Empfindung in die Welt gekommen, nicht durch die Dinge selbst: z. B. alles, was Faust in der ersten Scene als Ursache seiner Leiden angiebt, ist irrthümlich, nämlich auf Grund metaphysischer Erdichtungen erst so bedeutungsschwer geworden: könnte er dies einsehen, so würde das Pathos seiner Stimmung fehlen.

23 [156]

(Aus der Vorrede)

Nachdem ich von Jahr zu Jahr mehr gelernt habe, wie schwierig das Finden der Wahrheit ist, bin ich gegen den Glauben, die Wahrheit gefunden zu haben mißtrauisch geworden: er ist ein Haupthinderniß der Wahrheit. Wenn doch alle die, welche so groß von ihrer Überzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten, ja Ehre Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rechte sie an der oder jener Überzeugung hiengen, auf welchem Wege sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus! Wie viel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die grausamen Scenen, die Verfolgung der Ketzer wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor allem in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaaßung, die absolute Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären; sodann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Rechtgläubigen und Ketzer sind, keine weitere Theilnahme geschenkt hätten, nachdem sie gründlich dieselben untersucht hätten.

Nun habe ich diesmal ein Thema vor mir, welches vielleicht das Wichtigste der Menschheit ist—denn was ist nicht durch Erziehung entstanden, stark geworden, gut und schlecht?—zudem läßt es sich in großem Maaßstabe erst behandeln, nachdem die Ungläubigkeit zur herrschenden Gesinnung geworden ist. Da möchte ich nun namentlich die feurigen überzeugungsdürstigen Jünglinge warnen, nicht sofort meine Lehren wie eine Richtschnur für das Leben zu betrachten, sondern als wohl zu erwägende Thesen, mit deren praktischer Einführung die Menschheit so lange warten mag, als sie sich gegen Zweifel und Gründe nicht hinreichend geschützt haben. Überdies ist mir die Weisheit nicht vom Himmel gefallen, denn ich bin kein “Genie,” habe keine intuitiven Einblicke durch ein Loch im Mantel der Erscheinung. Schopenhauer mag das warnende Beispiel sein: er hat in allen Punkten, derentwegen er sich für ein “Genie” hielt, Unrecht.

23 [157]

Das Leben wird leicht und angenehm durch eine rücksichtslose Befreiung des Geistes, welche versuchsweise einmal an allen den Vorstellungen rüttelt, welche das Leben so belastet, so unerträglich machen: so daß man, um die Freude dieser Entlastung zu haben, das einfachste Leben vorzieht, welches uns diese Freude ermöglicht.

23 [158]

Paul Winkler 1685 “der Mensch ist so lange weise als er die Wahrheit sucht; wenn er sie aber gefunden haben will, wird er ein Narr.” [Vgl. Paul Winkler, Zwey Tausend Gutte Gedancken zusammen gebracht von Dem Geübten. Görlitz, 1685. Nr. 1034: "Der Mensch ist so lange Weise / als er die Weißheit sucht / wenn er aber meinet / er habe sie gefunden / so wird er zum Narren."]

23 [159]

Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysisch-künstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentlichen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhaltbar. Wer sich frühzeitig erlaubt öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich gezwungen, sich bald darauf öffentlich zu widersprechen.

23 [160]

Zum Schluß.

Ich will weise werden bis zum 60. Jahre und erkenne dies als ein Ziel für Viele. Eine Menge von Wissenschaft ist der Reihe nach anzueignen und in sich zu verschmelzen. Es ist das Glück unseres Zeitalters, daß man noch eine Zeitlang in einer Religion aufwachsen kann und, in der Musik, einen ganz echten Zugang zur Kunst hat; das wird späteren Zeiten nicht mehr so gut zu Theil werden. Mit Hülfe dieser persönlichen Erfahrungen kann man ungeheure Strecken der Menschheit erst verstehen: was wichtig ist, weil alle unsere Cultur auf diesen Strecken ruht. Man muß Religion und Kunst verstehen—sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaus sehen können; bleibt man darin, so versteht man sie nicht. Ebenso ist die Metaphysik eine Stufe, auf der man gestanden haben muß. Ebenso die Historie und das Relativische. Man muß in großen Schritten dem Gang der Menschheit als Individuum nachgehen und über das bisherige Ziel hinauskommen.

Wer weise werden will, hat ein individuelles Ziel, in welchem alles Erlebte, Glück Unglück Unrecht usw., als Mittel und Hülfe aufgeht. Überdies kommt das menschliche Leben da in die richtige Gestalt, denn der alte Mensch erreicht das Ziel seiner ganzen Natur nach am leichtesten. Das Leben verläuft auch interessant, das Thema ist sehr groß und nicht zu zeitig zu erschöpfen.— Die Erkenntniß selbst hat kein Ziel weiter.

23 [161]

Die sittliche Reinheit der Menschen ist durch einige falsche Vorstellungen mehr gefördert worden als es die Wahrheit zu thun vermöchte. Daß ein Gott das Gute wolle, daß der Leib zu besiegen sei, um die Seele frei zu machen, daß Verantwortlichkeit für alle Handlungen und Gedanken existire, das hat die Menschheit hochgehoben und verfeinert. Allein schon die Aufstellung des “Guten”!

23 [162]

In dem vorlitterarischen Zeitalter muß die höhere Intelligenz sich ganz anders dargestellt haben als im litterarischen: der Einzelne, durch keine schriftliche Tradition mit den früheren Weisen verbunden und an die Bedingtheit des Erkennens gemahnt, durfte sich fast für übermenschlich nehmen. Der Weise verliert immer mehr an Würde.

23 [163]

Wenn Worte einmal da sind, so glauben die Menschen, es müsse ihnen etwas entsprechen z.B. Seele Gott Wille Schicksal usw.

23 [164]

Das sogenannte metaphysische Bedürfniß ist eine Gegeninstanz gegen die Wahrheit irgend einer Metaphysik. Der Wille commandirt.

23 [165]

Der Vortheil, den der reine Mensch seinen Mitmenschen bringt, liegt in dem Vorbild, das er giebt: dadurch entreißt er sie ihrem wilden Dämon, wenn auch nur auf Augenblicke.— Es kommt sehr viel auf die Augenblicke an.

23 [166]

Die edleren Motive sind die complicirten; alle einfachen Motive stehen ziemlich niedrig. Es ist wie bei den einfachen und complicirten Organismen. Die Länge und Schwierigkeit des ganzen Wegs wirft den Schein des Großen und Hohen auf den, welcher ihn geht.

23 [167]

Wenn die Menschen nicht für Götter Häuser gebaut hätten, so läge die Architektur noch in der Wiege. Die Aufgaben, welche der Mensch sich auf Grund falscher Annahmen stellte (z. B. Seele loslösbar vom Leibe), haben zu den höchsten Culturformen Anlaß gegeben. Die “Wahrheiten” vermögen solche Motive nicht zu geben.

23 [168]

Will man über Kunst Erfahrungen machen, so mache man einige Kunstwerke, es giebt keinen anderen Weg zum aesthetischen Urtheil. Die meisten Künstler selbst sind dadurch allein nützlich, daß sie das Bewußtsein der großen Meister gewinnen, festhalten und übertreiben: also gleichsam als wärmeleitende Medien. Einige Novellen, einen Roman, eine Tragödie—das kann man machen, ohne mit seinen Hauptbeschäftigungen Schiffbruch zu leiden; auch soll man solcherlei keineswegs drucken. Überhaupt soll man lernen, mannichfach productiv zu sein: es ist das Hauptkunststück, um in vielen Dingen weise zu werden.

23 [169]

Es ist eine Stufe der Cultur, das Große und Extreme zu schätzen, den großen Menschen, die stärkste Produktivität, das wärmste Herz. Aber um die Welt zu begreifen, muß man zur höheren Stufe kommen, daß das Kleine und Unscheinbare wichtiger in seinen Wirkungen ist z. B. die gebundenen Geister usw.

23 [170]

Der günstigste Zeitpunkt dafür, daß ein Volk die Führerschaft in wissenschaftlichen Dingen übernimmt, ist der, in welchem genug Kraft Zähigkeit Starrheit dem Individuum vererbt werden, um ihm eine siegreiche frohe Isolation von den öffentlichen Meinungen zu ermöglichen: dieser Zeitpunkt ist jetzt wieder in England eingetreten, welches unverkennbar in Philosophie Naturwissenschaft Geschichte, auf dem Gebiete der Entdeckungen und der Culturverbreitung gegenwärtig allen Völkern vorangeht. Die wissenschaftlichen Größen verhandeln da mit einander wie Könige, welche sich zwar alle als Verwandte betrachten, aber Anerkennung ihrer Unabhängigkeit voraussetzen. In Deutschland glaubt man dagegen alles durch Erziehung Methoden Schulen zu erreichen: zum Zeichen dafür, daß es an Charakteren und bahnbrechenden Naturen mangelt, welche zu allen Zeiten für sich ihre Straße gezogen sind. Man züchtet jene nützlichen Arbeiter, welche mit einander, wie im Takte, arbeiten und denen das Pensum in jenen Zeiten schon vorgeschrieben worden ist, als Deutschland, vermöge seiner originalen Geister, die geistige Führerschaft Europa’s innehatte: also um die Wende des vorigen Jahrhunderts.

23 [171]

Die Mängel des Stils geben ihm bisweilen seinen Reiz.— Alexander von Humboldt’s Stil. Die Gedanken haben etwas Unsicheres, soweit es sich nicht um Mittheilung von Facta handelt. Dazu ist alles in die Höhe gehoben und durch ausgewählte schöne Worte mit Glanz überzogen: die langen Perioden spannen es aus. So erzeugt dieser Stil als Ganzes eine Stimmung, einen Durst, man macht die Augen klein, weil man gar zu gern etwas Deutliches sehen möchte, alles schwimmt in anreizender Verklärung in der Ferne: wie eine jener welligen Luftspiegelungen, welche dem Müden Durstenden ein Meer eine Oase ein Wald zu sein scheinen (vor die Sinne führen).

23 [172]

Eine neue Darstellung der Kunstlehre hat davon auszugehen, dass der Mensch sich an allen Gemüthserregungen an sich, eben als Emotionen, erfreut, auch den schmerzlichsten: er will den Rausch. Die Kunst erregt ihn spielend zu Schmerz Thränen Zorn Begierde, aber ohne die praktischen schlimmen Folgen: doch giebt es auch Menschen, welche selbst jene Folgen mit hinnehmen, nur um die Emotion zu haben (der Grausame).

23 [173]

Schopenhauer hat leider in dem Begriff “intuitive Erkenntniss” die schlimmste Mystik eingeschmuggelt, als ob man vermöge derselben einen unmittelbaren Blick auf das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung hätte und als ob es bevorzugte Menschen gäbe, Welche, ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge eines wunderbaren Seherauges etwas Endgültiges und Entscheidendes über die Welt mitzutheilen vermöchten. Solche Menschen giebt es nicht: und das Wunder wird auch für den Bereich der Erkenntniss fürderhin keinen Gläubigen mehr finden.

23 [174]

Die ausgeschlüpfte Seidenraupe schleppt eine Zeitlang die leere Puppe noch nach sich; Gleichniss.

23 [175]

Neigung und Abneigung unvernünftig.— Wenn Neigung oder Abneigung die Zähne erst eingebissen haben, so ist es schwer loszukommen, wie wenn eine Schildkröte sich in einen Stock verbissen hat. Die Liebe, der Hass und die Schildkröte sind dumm.

23 [176]

Beim unegoistischen Triebe ist die Neigung zu einer Person das Entscheidende (wenn es die Lust am Mitleid nicht ist und ebensowenig die Abwehr der Unlust, welche wir beim Anblick des Leidens fühlen). Aber die Neigung macht einen solchen Vorgang doch nicht moralisch? Ist denn alles Interessirtsein für etwas ausser uns Gelegenes moralisch?— Auch alles sachliche Interesse (bei Kunst und Wissenschaft) gehört in’s Bereich des Unegoistischen—aber auch des Moralischen?

23 [177]

Philosophie nicht religiös aufzufassen.— Eine Philosophie mit religiösen Bedürfnissen erfassen heisst sie völlig missverstehen. Man sucht einen neuen Glauben, eine neue Autorität—wer aber Glaube und Autorität will, der hat es an den hergebrachten Religionen bequemer und sicherer.

23 [178]

Es war Abend, Tannengeruch strömte heraus, man sah hindurch auf graues Gebirge, oben schimmerte der Schnee. Blauer beruhigter Himmel darüber aufgezogen.— So etwas sehen wir nie, wie es an sich ist, sondern legen immer eine zarte Seelenmembrane darüber—diese sehen wir dann. Vererbte Empfindungen, eigne Stimmungen werden bei diesen Naturdingen wach. Wir sehen etwas von uns selber—insofern ist auch diese Welt unsere Vorstellung. Wald Gebirge, ja das ist nicht nur Begriff, es ist unsere Erfahrung und Geschichte, ein Stück von uns.

23 [179]

Aberglaube.— Menschen in grosser Erregung sind am abergläubischsten. Die Wiederherstellung der Religionen liegt in Perioden grosser Erschütterung und Unsicherheit. Wo alles weicht, greift man nach dem Strickwerk der Illusionen des jenseits.

23 [180]

Das sterbende Kind.— Man giebt einem Kinde, das sterben muss, alles, was es will, Zuckerbrod—was thut es wenn es sich den Magen verdirbt?— Und sind wir nicht alle in der Lage eines solchen Kindes? —

23 [181]

Eine Prozession am Frohnleichnamsfest, Kinder und alte Männer brachten mich zum Weinen. Warum?— Abends Klavierspiel heraus aus dem Irrenhause.

23 [182]

Sollten nicht Viele welche ehrgeizig sind, im Grunde nur die Emotion suchen, die mit ehrgeizigen Bestrebungen verbunden ist? Man kann solche Empfindung hemmen ersticken oder gross wachsen machen; letzteres thun die Emotionsbedürftigen. Viele suchen ja sich zu ärgern—so weit geht jenes Bedürfniss der Emotion.

23 [183]

Aus der Furcht erklärt sich zumeist die Rücksicht auf fremde Meinungen; ein guter Theil der Liebenswürdigkeit (des Wunsches nicht zu missfallen) gehört hierher. So wird die Güte der Menschen, mit Hülfe der Vererbung, durch die Furcht grossgezogen.

23 [184]

Nutzen der z[urückgebliebenen] St[andpuncte].— Die zurückgebliebenen Standpuncte (politische sociale, oder ganze Typen bei Künstlern, Metaphysikern) sind ebenso nöthig als die fortschreitenden Bewegungen: sie erzeugen die nöthige Reibung und sind für die neuen Bestrebungen Kraftquellen.

23 [185]

Glaube versetzt Berge.— Ein interessanter Aberglaube ist es, dass der Glaube Berge versetzen könne, dass ein gewisser hoher Grad von Fürwahrhalten die Dinge gemäss diesem Glauben umgestaltet, dass der Irrthum zur Wahrheit wird, wenn nur kein Gran Zweifel dabei ist: d. h. die Stärke des Glaubens ergänzt die Mängel des Erkennens; die Welt wird so, wie wir sie uns vorstellen.

23 [186]

Liebe und Hass nicht ursprüngliche Kräfte.— Hinter dem Hassen liegt das Fürchten, hinter dem Lieben das Bedürfen. Hinter Fürchten und Bedürfniss liegt Erfahrung (Urtheilen und Gedächtniss). Der Intellekt scheint älter zu sein als die Empfindung.

23 [187]

Erweiterung der Erfahrung.— Es giebt Fälle, wo Träume den Kreis unserer Erfahrung wirklich bereichern: wer wüsste, ohne Träume, wie es einem Schwebenden zu Muthe ist? [Vgl. Friedrich Maximilian Klinger, Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur. Th. 2. In: F. M. Klingers Sämmtliche Werke in zwölf Bänden. Bd. 12, Stuttgart & Tübingen: Cotta, 1842:215.]

23 [188]

Sehnsucht nach dem Tode.— Wie der Seekranke vom Schiff in erstem Morgengrauen nach der Küste zu späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode—man weiss, dass man den Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.

23 [189]

Traurigkeit und Sinnenlust.— Warum ist der Mensch im Zustand der Trauer geneigter sich sinnlichen Vergnügungen blindlings zu überlassen? Ist es das Betäubende in ihnen, was er begehrt? Oder Bedürfniss von Emotion um jeden Preis?— Sancho Pansa sagt “wenn der Mensch sich zu sehr der Traurigkeit überlässt, wird er zum Thier.” [Vgl. Miguel de Cervantes, Don Quixote von la Mancha. Aus dem Spanisch übersetzt von L. Tieck. Bd. 2. Berlin, A. Hofmann, 1853:89.]

23 [190]

Wenn Richard Wagner Beethoven zum Vortrag bringt, so versteht es sich von selber, daß Wagner’s Seele durch Beethoven hindurch klingen wird und daß Tempo Dynamik Ausdeutung einzelner Phrasen Dramatisirung des Ganzen Wagnerisch und nicht Beethovenisch ist. Wer daran Ärgerniß nehmen will, dem ist es zu gönnen; Beethoven selbst aber würde gesagt haben “es ist ich und du, aber es klingt gut zusammen; so sollte es immer sein.” Dagegen wenn die Kleinmeister Beethoven vortragen, so wird Beethoven etwas von der Seele der Kleinmeister annehmen—denn der Duft der Seele hängt sich sofort an die Musik und läßt sich nicht von ihr fortblasen.— Ich fürchte, Beethoven hätte keine Freude daran und sagte “das ist ich und nicht-ich, hol’s der Teufel!”

23 [191]

Der Philolog ist der, welcher lesen und schreiben kann, der Dichter der, welcher nach der deutlichen Wortableitung und gemäß der Historie “diktiren” mußte, da er nicht lesen und schreiben kann. Man kann aus diesem Gegensatz des Lese-Schriftgelehrten und des Dichters viel wichtige Dinge ableiten.

23 [192]

Nicht nur in dem Verhalten des Staates, welcher straft um abzuschrecken, sondern im Verhalten jedes Einzelnen, der lobt oder tadelt, wird der Grundsatz “der Zweck heiligt das Mittel” befolgt: denn tadeln hat ebenfalls nur Sinn, als Mittel abzuschrecken und fürderhin als Motiv zu wirken; loben will antreiben, zum Nachmachen auffordern: insofern aber beides gethan wird als ob es einer geschehenen Handlung gelte, so ist die Lüge, der Schein bei allem Loben und Tadeln nicht zu vermeiden; sie sind eben das Mittel, welches vom höheren Zwecke geheiligt wird. Vorausgesetzt freilich, daß alle, sowohl die Tadelnden als die Getadelten, von der Lehre der völligen Unverantwortlichkeit und Schuldlosigkeit überzeugt sind, so wirkt der Tadel nicht mehr, es sei denn daß die Gewohnheit, namentlich die der Eitelkeit und Ehrsucht stärker bliebe als alle durch Lehren beigebrachte Überzeugungen.

23 [193]

Ach, wenn die Mittelmäßigen eine Ahnung hätten, wie sicher ihre Leistungen von den Oligarchen des Geistes—welche zu jeder Zeit leben—als mittelmäßig empfunden werden! Nicht der größte Erfolg bei der Masse würde sie trösten.

23 [194]

Motto:

Tanz der Gedanken, es führt
eine der Grazien dich:
o wie weidest den Sinn du mir! —
Weh! Was seh’ ich! Es fällt
Larve und Schleier der Führerin
und voran dem Reigen
schreitet die grause Nothwendigkeit.

Rosenlauibad
Juni 1877     
August 1877 

23 [195]

Und wenn der Urheber dieses Buches sich fragt, zu wessen Vortheil er seine Aufzeichnungen gemacht zu haben wünscht, so ist er unbescheiden genug, geradezu denjenigen Denker zu nennen, welcher als Verfasser jener Schrift über den Ursprung der moralischen Empfindungen ein Besitzrecht auf die angrenzenden Gebiete seines wissenschaftlichen Bezirks sich erworben hat und der seinen Untersuchungen jenen entscheidenden auch dieses Buch beherrschen[den] Gedanken vorangestellt hat. Dieser Satz, hart und schneidig gemacht unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniß, kann vielleicht einmal als die Axt dienen, welche dem “metaphysischen Bedürfnisse der Menschen” an die Wurzel gelegt werden soll: und in sofern würde er zu den folgenreichsten Sätzen der menschlichen Erkenntniß gehören.

23 [196]

Reisebuch
unterwegs zu lesen
.

Vorrede, — — —

Menschen, welche sehr viel innerhalb eines bestimmten Berufes arbeiten, behalten ihre allgemeinen Ansichten über die Dinge der Welt fast unverändert bei: diese werden in ihren Köpfen immer härter, immer tyrannischer. Deshalb sind jene Zeiten, in welchen der Mensch genöthigt ist seine Arbeit zu verlassen, so wichtig, weil da erst neue Begriffe und Empfindungen sich wieder einmal herandrängen dürfen, und seine Kraft nicht schon durch die täglichen Ansprüche von Pflicht und Gewohnheit verbraucht ist. Wir modernen Menschen müssen alle viel unserer geistigen Gesundheit wegen reisen: und man wird immer mehr reisen, je mehr gearbeitet wird. An den Reisenden haben sich also die zu wenden, welche an der Veränderung der allgemeinen Ansichten arbeiten.

Aus dieser bestimmten Rücksicht ergiebt sich aber eine bestimmte Form der Mittheilung: denn dem beflügelten und unruhigen Wesen der Reise widerstreben jene lang gesponnenen Gedankensysteme, welche nur der geduldigsten Aufmerksamkeit sich zugänglich zeigen und wochenlange Stille, abgezogenste Einsamkeit fordern. Es müssen Bücher sein, welche man nicht durchliest, aber häufig aufschlägt: an irgend einem Satze bleibt man heute, an einem anderen morgen hängen und denkt einmal wieder aus Herzensgrunde nach: für und wider, hinein und drüber hinaus, wie einen der Geist treibt, so dass es einem dabei jedesmal heiter und wohl im Kopfe wird. Allmählich entsteht aus dem solchermaassen angeregten—ächten, weil nicht erzwungenen—Nachdenken eine gewisse allgemeine Umstimmung der Ansichten: und mit ihr jenes allgemeine Gefühl der geistigen Erholung, als ob der Bogen wieder mit neuer Sehne bespannt und stärker als je angezogen sei. Man hat mit Nutzen gereist.

Wenn nun, nach solchen Vorbemerkungen und Angesichts dieses Buches, noch eine wesentliche Frage übrig bleibt, so bin ich es nicht, der sie beantworten kann. Die Vorrede ist des Autors Recht; des Lesers aber—die Nachrede.

Friedrich Nietzsche

Rosenlaui-Bad, am 26. Juli
Sommersonnenwende 1877
(Mittsommerwende?)

23 [197]

Sylvesternachtdas Klanggespenst meines Ohrs
selbst entweicht
Kalt—die Sterne funkeln
O du
Hohnvolle Larve des Weltalls
— alte und neue Zeit—vor Neujahr.
2der Springbrunnen im Mondschein
              schön gelangweilt boshaft
                       will kalt übergießen
3Morgens auf dem Schiff. Wohin? wir wagen nicht den Tod
4Der Blinde am Wege. Die Seele giebt keinen Schein
5Ecce homunculus—Glockenspiel
6Alpa Alpa
7Campo Santo
8Bergkrystall
 
From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel