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Ende 1876—Sommer 1877 23 [1-100]
23 [1] Die geschickten Bewegungen des Fußes beim Ausgleiten Stolpern Klettern sind nicht die Resultate eines blind wirkenden aber zweckmäßigen Intellektes, sondern einmal angelernt, wie die Bewegungen der Finger beim Klavierspiel. Jetzt wird sehr viel von dieser Fertigkeit gleich vererbt. 23 [2] Die Menschen setzen das Ähnliche hin als das Gleiche, z. B. den Priester gelegentlich als den Gott; den Theil gleich dem Ganzen z. B. in der Magie. 23 [3] Man kann nicht erklären, was die Empfindung ist: aber ich glaube, es ist nicht viel, wenn man es weiß, und gewiß steckt kein Welträthsel dahinter. 23 [4] Dieselbe Manier zu denken, welche noch jetzt die große Masse bestimmt, ja auch den gebildeten Einzelnen, falls er sich nicht sehr besinnt, hat den sämmtlichen Phänomenen der Cultur zum Fundamente gedient. Diese partie honteuse hat die ungeheuersten und herrlichsten Folgen nach sich gezogen, auch die Cultur hat ein pudendum zum Geburtsschooß, wie der Mensch. 23 [5] Aristoteles meint, der Weise F@n`l sei der welcher sich nur mit dem Wichtigen Wunderbaren Göttlichen beschäftige. [Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141a 16-b3.] Da steckt der Fehler in der ganzen Richtung des Denkens. Gerade das Kleine Schwache Menschliche Unlogische Fehlerhafte wird übersehn und doch kann man nur durch sorgfältigstes Studium desselben weise werden. Der Weise hat sehr viel Stolz abzulegen, er hat nicht die Augenbrauen so hoch zu ziehn, zuletzt ist es der, welcher ein Vergnügen sich macht, das Vergnügen des Menschen zu stören. 23 [6] Ist für etwas z. B. Eigenthum Königthum die Empfindung erst erregt, so wächst sie fort, je mehr man den Ursprung vergißt. Zuletzt redet man bei solchen Dingen von Mysterien, weil man sich einer überschwänglichen Stärke der Empfindung bewußt ist, aber genau genommen keinen rechten Grund dafür angeben kann. Ernüchterung ist auch hier von Nöthen, aber eine ungeheure Quelle der Macht versiegt freilich. 23 [7] Epikurs Stellung zum Stil ist typisch für viele Verhältnisse. Er glaubte zur Natur zurückzukehren, weil er schrieb, wie es ihm einfiel. In Wahrheit war so viel Sorge um den Ausdruck in ihm vererbt und an ihm großgezogen, daß er nur sich gehen ließ und doch nicht völlig frei und ungebunden war. Die Natur, die er erreichte, war der durch Gewohnheit angezogene Instinkt für den Stil. Man nennt dies Naturalisiren; man spannt den Bogen etwas schlaffer z. B. Wagner im Verhalten zur Musik, zur Gesangskunst. Die Stoiker und Rousseau sind im gleichen Sinne Naturalisten: Mythologie der Natur! 23 [8] Kunst die Wissenschaft verhindernd bei den Griechen. 23 [9] Warum überhaupt einen Erhaltungstrieb annehmen? Unter zahllosen unzweckmäßigen Bildungen kamen lebensfähige, fortlebensfähige vor; es sind millionenjahrelange Anpassungen der einzelnen menschlichen Organe nöthig gewesen, bis endlich der jetzige Körper regelmäßig entstehen konnte und bis jene Thatsachen regelmäßig sich zeigen, welche man gewöhnlich dem Erhalt[ungs]trieb zuschreibt. Im Grunde geht es dabei jetzt ebenso nothwendig, nach chemischen Gesetzen, zu, wie beim Wasserfalle mechanisch. Der Finger des Klavierspielers hat keinen Trieb die richtigen Tasten zu treffen, sondern nur die Gewohnheit. Überhaupt ist das Wort Trieb nur eine Bequemlichkeit und wird überall dort angewendet, wo regelmäßige Wirkungen an Organismen noch nicht auf ihre chemischen und mechanischen Gesetze zurückgeführt sind. 23 [10] Alle Ziele und Zwecke, die der Mensch hat, waren einmal in seinen Vorfahren auch bewußt; aber sie sind vergessen worden. Der Mensch hängt in seinen Richtungen sehr von der Vergangenheit ab: Platon[ische] <V:<0F4l. Dem Wurm ist der Kopf abgeschnitten, aber er bewegt sich in gleicher Richtung. 23 [11] Auch dunkle Krankheiten z. B. Wahnsinn Veitstanz hat man verehrt und religiös idealisirt. Dabei sind ihre Äußerungen immer schöner und großartiger geworden. Derselbe Vorgang bei dem heftigen Affekt der Liebe, den man als Gott faßte, und so nicht nur für die Vorstellung, sondern in der Wirklichkeit idealisirte. 23 [12] Es war ein sehr glücklicher Fund Schopenhauers als er vorn Willen zum Leben sprach: wir wollen diesen Ausdruck uns nicht wieder nehmen lassen und seinem Urheber dafür im Namen der deutschen Sprache dankbar sein. Aber das soll uns nicht hindern einzusehen, daß der Begriff Wille zum Leben vor der Wissenschaft sich noch nicht das Bürgerrecht erobert hat, ebenso wenig als die Begriffe Seele Gott Lebenskraft usw. Auch Mainländers Reduktion dieses Begriffs auf viele individuelle Willen zum Leben bringt uns nicht weiter,man erhält dadurch statt einer universalen Lebenskraft (welche zugleich als außer, über und in den Dingen gedacht werden soll!) individuale Lebenskräfte, gegen welche dasselbe einzuwenden ist wie gegen jene universale. Denn bevor der Mensch ist, ist auch sein Individualwille noch nicht: oder was sollte dieser sein? Im Leben selber aber sich äußerndja ist denn das Wille zum Leben? Doch mindestens Wille im Leben zu bleiben, also, um den bekannteren Ausdruck zu wählen, Erhaltungstrieb. Ist es wahr, daß, wenn der Mensch in sein Inneres blickt, er sich als Erhaltungstrieb wahrnimmt? Vielmehr nimmt er nur wahr, daß er immer fühlt, genauer daß er irgend an welchem Organe irgend welche, gewöhnlich ganz unbedeutende Lust- oder Unlustempfindungen hat: die Bewegung des Blutes des Magens der Gedärme drückt irgend wie auf die Nerven, er ist immer fühlend und immer wechselt dies Gefühl. Der Traum verräth diese innere fortwährende Wandlung des Gefühls und deutet sie phantastisch aus. Die Stellungen, die die Glieder im Schlafe einnehmen, machen eine Umstellung der Muskeln nöthig und beeinflussen die Nerven und diese wieder das Gehirn. Unser Sehnerv unser Ohr unser Getast ist immer irgend wie erregt. Aber mit dem Erhaltungstrieb hat diese Thatsache einer fortwährenden Erregtheit und Bemerkbarkeit des Gefühls nichts gemein. Der Erhaltungstrieb oder die Liebe zum Leben ist entweder etwas ganz Bewußtes oder nur ein unklares irreführendes Wort für etwas anderes: daß wir der Unlust entgehen wollen, auf alle Weise, und dagegen nach Lust streben. Diese universale Thatsache alles Beseelten ist aber jedenfalls keine erste ursprüngliche Thatsache, wie es Schopenhauer vom Willen zum Leben annimmt:Unlust fliehen, Lust suchen setzt die Existenz der Erfahrung und diese wieder den Intellekt voraus. Die Stärke der Wollust beweist nicht den Willen zum Leben, sondern den Willen zur Lust. Die große Angst vor dem Tode, mit der Schopenhauer ebenfalls zu Gunsten seiner Annahme vom Willen argumentirt, ist in langem Zeitraum großgezüchtet durch einzelne Religionen, welche den Tod als entscheidende Stunde ansehen; sie ist hier und da so groß geworden. Falls sie aber unabhängig davon beobachtet wird, so ist sie nicht mehr als Angst vor dem Sterben d. h. dem ungeprobten und vielleicht zu groß vorgestellten Schmerz dabei, dann vor den Verlusten, welche durch das Sterben eintreten. Es ist nicht wahr daß man das Dasein um jeden Preis will, z. B. nicht als Thiere, auf welche Schopenhauer so gern hinweist um die ungeheure Macht des allgemeinen Willens zum Leben festzustellen. 23 [13] Gelehrte wie Paul de Lagarde meinen, die Thatsachen des religiösen Bewußtseins müsse man vermöge der Wissenschaft festhalten. [Vgl. Paul Anton de Lagarde, Ueber das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und religion. Ein Versuch nichttheologen zu orientieren. Göttingen: Dieterich, 1873:§9-10.] Aber wohl kann man sie constatiren, beschreiben, wissenschaftlich erklären: aber für das Individuum ist es dann mit ihnen vorbei. Denn der gute Glaube an sie ist zerstört, wenn man begriffen hat, wie irrthümlich menschlich es in ihrem Wesen aussieht. Die Wissenschaft ist der Tod aller Religionen, vielleicht einmal auch der Künste. 23 [14] Der Weise kennt keine Sittlichkeit mehr außer der, welche ihre Gesetze aus ihm selbst nimmt; ja schon das Wort Sittlichkeit paßt für ihn nicht. Denn er ist völlig unsittlich geworden, insofern er keine Sitte kein Herkommen, sondern lauter neue Lebensfragen und deren Antworten anerkennt. Er bewegt sich auf unbegangenen Pfaden vorwärts, seine Kraft wächst, je mehr er wandert. Er ist einer großen Feuersbrunst gleich, die ihren eigenen Wind mit sich bringt, und von ihm gesteigert und weiter getragen wird. 23 [15] Um der Kultur seine Erkenntniß zu weihen, sind wir in dem denkbar glücklichsten Zeitpunkte: jede Freiheit der Erkenntniß ist erobert und abgerungen und doch stehen wir allen Grundempfindungen, auf denen die alte Kultur ruht, noch nahe. Es wäre möglich, daß dies letztere einige Generationen später fehlte! 23 [16] Der Moment, in welchem die Luftschifffahrt erfunden und eingeführt wird, ist günstig für den Socialismus, denn der verändert alle Begriffe von Boden-Eigenthum. Der Mensch ist überall und nirgends, er wird entwurzelt. Man muß durch Gesellschaften sich sicherstellen, in strenger gegenseitiger Verpflichtung und Ausschließung aller Nichtverpflichteten. Sonst geht alles in die Lüfte und läßt sich anderswo nieder, wenn er nicht zahlen kann, nicht Verpflichtung halten mag. 23 [17] Menschen, die keine wissenschaftliche Cultur haben, schwatzen, wenn sie über ernste und schwere Gegenstände reden und thun es mit Anmaaßung. Sokrates behält recht. Das Wichtigthun der Menschen ist beinahe so schlimm als völlige Verrücktheit. Freilich, zum Handeln, zum Ausbau der Cultur ist dieser Eifer diese Art Wahnsinn für Meinungen sehr wesentlich. Ohne Wuth kommt nichts zu Stande. Trotzdem: da die Erkenntniß von Wahrheiten überhaupt da ist und Vergnügen gewährt, so wollen wir ihre Fahne hoch halten, wenn auch mit keiner Grimasse des Pathos. 23 [18] Selbst bei den freisinnigsten Denkern schleicht sich Mythologie ein, wenn sie von der Natur reden. Da soll die Natur das und das vorgesehen, erstrebt haben, sich freuen oder: die menschliche Natur müßte eine Stümperei sein, wenn sie. Wille, Natur sind Überbleibsel des alten Götterglaubens. 23 [19] Alle die, welche Maximen machen, verfallen leicht in den Fehler, vom Menschen etwas Allgemeines auszusagen, was von Zeiten oder Classen der Gesellschaft gilt; aber dasselbe haben alle Philosophen gethan, welche über die Menschen geschrieben habenerst die Historie in Verbindung mit der Thiergeschichte läßt erkennen, wie groß der Mangel an Besonnenheit war. So verweist Schopenhauer, um zu zeigen, daß das Leben der Menschen einen moralischen metaphysischen Zweck habe, darauf, daß am Ende des Lebens man sich um seine moralischen Qualitäten bewußt werdeals ob ein solches Gefühl, wenn es jetzt wirklich allgemein existirte, irgend etwas anderes beweisen könnte als daß durch bestimmte Meinungen und Glaubenssätze die Menschen sich gewöhnt haben, in der Nähe des Todes an ihre Sünden zu denken: das heißt: eine solche Thatsache, wie sie Schopenhauer hinstellt, beweist, daß gewisse metaphysische Vorstellungen existiren und existirt haben, nicht aber daß sie wahr sind. Nun kommt dazu, daß es eine zeitlich sehr begrenzte Thatsache ist und daß z. B. im Alterthum man sehr oft, ohne an Sünden zu denken, starb. Und wenn es eine ganz allgemein, für alle Perioden der Menschheit und für jeden Menschen geltende Beobachtung wäre, es ist kein Beweis für die Wahrheit des von Schopenhauer behaupteten Satzes damit gegeben. 23 [20] Wenn Männer mit starken geistigen Bedürfnissen an die Verbindung mit Frauen denken, so überkommt sie das Gefühl als ob sie sich einem Netz näherten, welches sich immer mehr zusammenzieht, und sie argwöhnen einen immer währenden Zwang, ja zuletzt, wenn es sich um Erziehung der Kinder handelt, einen immer neu auflodernden Kampf. 23 [21] Wenn man eine Natur- und Menschenerklärung Sucht, welche unsern höchsten und stärksten Stimmungen entspricht, so wird man allein auf metaphysische stoßen. Wie es ohne alle diese erhabenen Irrthümer um die Menschen aussehen würdeich glaube thierisch. Dächte man sich ein Thier mit dem Wissen einer strengen Naturkunde begabt, es würde damit kein Mensch werden, sondern im Wesentlichen als Thier fortleben, nur daß es in seinen vielen Mußestunden z. B. als Pferd vor der Krippe, gute Bücher läse, welche ihm es völlig begreiflich machten, daß die Wahrheit und das Thier sich gut vertragen. 23 [22] Fast bei allen Philosophen ist die Benutzung des Vorgängers und die Bekämpfung desselben nicht streng, und ungerecht. Sie haben nicht gelernt ordentlich zu lesen und zu interpretiren, die Philosophen unterschätzen die Schwierigkeit wirklich zu verstehen, was einer gesagt hat und wenden ihre Sorgfalt nicht dahin. So hat Schopenhauer ebensowohl Kant als Plato völlig mißverstanden. Auch die Künstler pflegen schlecht zu lesen, sie neigen zum allegorischen und pneumatischen Erklären. 23 [23] Ebensowohl Gott als der Teufel kann mit Fug und Recht zu dem Menschen sprechen: Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,so haben wir dich unbedingt. In diesem Punkte sind sie Verbündete. Übrigens sieht man dabei daß es mit jenem unbedingt nicht viel auf sich hat. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. 1, 1851. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 11. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1854:75.] 23 [24] Ursprünglich sieht der Mensch alle Veränderungen in der Natur nicht als gesetzmäßig, sondern als Äußerungen des freien Willens d. h. blinder Zuneigungen Abneigungen Affekte Wuth usw. an: die Natur ist Mensch, nur so viel übermächtiger und unberechenbarer, als die gewöhnlichen Menschen, ein verhüllter in seinem Zelte schlafender Tyrann; alle Dinge sind Aktion wie er, nicht nur seine Waffen Werkzeuge sind belebt gedacht. Die Sprachwissenschaft hilft beweisen, daß der Mensch die Natur vollständig verkannte und falsch benannte: wir sind aber die Erben dieser Benennungen der Dinge, der menschliche Geist ist in diesen Irrthümern aufgewachsen, durch sie genährt und mächtig geworden. 23 [25] Man wirft dem Socialismus vor, daß er die thatsächliche Ungleichheit der Menschen übersehe; aber das ist kein Vorwurf, sondern eine Charakteristik, denn der Socialismus entschließt sich, jene Ungleichheit zu übersehen und die Menschen als gleich zu behandeln d. h. zwischen allen das Verhältniß der Gerechtigkeit eintreten zu lassen, welches auf der Annahme beruht, daß alle gleich mächtig, gleich werthvoll seien; ähnlich wie das Christenthum in Hinsicht auf sündhafte Verdorbenheit und Erlösungsbedürftigkeit die Menschen als gleich nahm. Die thatsächlichen Differenzen (zwischen gutem und schlechtem Lebenswandel) erscheinen jenem zu gering, so daß man sie bei der Gesammtrechnung nicht in Anschlag bringt; so nimmt auch der Socialismus den Menschen als vorwiegend gleich, den Unterschied von gut und böse, intelligent und dumm als geringfügig oder als wandelbar: worin er übrigens in Hinsicht auf das Bild des Menschen, welches ferne Pfahlbauten-Zeiten gewähren, jedenfalls Recht hat: wir Menschen dieser Zeit sind im W[esentlichen] gleich. In jenen Entschluß, über die Differenzen hinweg zu sehen, liegt seine begeisternde Kraft. 23 [26] Immer mehr, je entwickelter der Mensch ist, nimmt er die Bewegung, die Unruhe, das Geschehen wahr. Dem weniger entwickelten scheint das Meiste fest zu sein, nicht nur Meinungen, Sitten, sondern auch Grenzen, Land und Meer Gebirge usw. Das Auge entschließt sich erst allmählich für das Bewegte. Es hat ungeheure Zeiten gebraucht, um das Gleichbleibende, scheinbar Dauernde zu fassen, das war seine erste Aufgabe, schon die Pflanze lernte vielleicht an ihr. Deshalb ist der Glaube an Dinge dem Menschen so unerschütterlich fest geworden, ebenso wie der an die Materie. Aber es giebt keine Dinge, sondern alles fließtso urtheilt die Einsicht, aber der Instinkt widerspricht in jedem Augenblick. 23 [27] Schopenhauer concipirt die Welt als einen ungeheuren Menschen, dessen Handlungen wir sehen und dessen Charakter völlig unveränderlich ist: diesen können wir eben aus jenen Handlungen erschließen. Insofern ist es Pantheismus oder vielleicht Pandiabolismus, denn er hat kein Interesse, alles was er wahrnimmt ins Gute und Vollkommene umzudeuten. Aber diese ganze Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und einem an sich seienden Charakter als Ursache ist schon am Menschen falsch, erst recht in Hinsicht auf die Welt. So etwas wie der Charakter hat an sich keine Existenz, sondern ist eine erleichternde Abstraktion. Und dies ist der Werth solcher Metaphysiker wie Schopenhauer: sie versuchen ein Weltbild: nur ist Schade, daß es die Welt in einen Menschen verwandelt: man möchte sagen, die Welt ist Schopenhauer im Großen. Das ist eben nicht wahr. 23 [28] Die bittersten Leiden sind die, welche keine große Erregung mit sich bringendenn die hohe Leidenschaft, sie sei welche sie wolle, hat ihr Glück in sichsondern jene, welche nagen, wühlen und stechen: also namentlich die, welche durch rücksichtslose Menschen, welche ihre Art von Übermacht benutzen, uns zugefügt werden: etwa mit dem erschwerenden Umstande daß sie dabei von einer intimen Vertrautheit mit uns, durch einen Verrath der Freundschaft, Gebrauch machen. Das einzige große Gefühl, mit welchem man über solche Leiden hinwegflöge, wäre Haß mit der Aussicht auf Rache, auf Vernichtung des Andern. Aber gewöhnlich sagt sich der bessere Mensch, daß der Übelthäter gar nicht so boshaft war als er uns erscheint und daß manche Verdienste für ihn sprechen: so unterdrückt er den Gedanken an Wiedervergeltung, wird aber dabei nicht froh; er ist an die Zeit gewiesen, an das Schwächerwerden aller Erinnerungen. 23 [29] Zwei Dinge sind schädlich: der nagende Verdruß über eine Unbilde, mit seinem hundertfachen Wiederkäuen Ausspeien des Erlebten, dann matte imaginäre Rachebefriedigungeneine wirkliche Rache und eine schnelle, wenn ihre Folgen uns auch mit Schmerz belasten, ist viel gesünder. Sodann das Leben in erotischen Vorstellungen, welche die Phantasie beschmutzen und allmählich eine Oberherrschaft gewinnen, bei welcher die Gesundheit leidet. Die Selbsterziehung hat hier vorzubeugen: beiden Trieben muß auf die natürliche Art entsprochen werden und die Vorstellung rein erhalten werden. Die versagte Rache und die versagte Liebe machen den Menschen krank, schwach und schlecht. 23 [30] Vorsicht vor Ringen! (Ringe sind gewundene Schlangen, welche sich harmlos stellen.) diese golden gewundenen Schlangen stellen sich zwar harmlos 23 [31] In welchem Gedichte wird soviel geweint wie in der Odyssee? Und höchst wahrscheinlich wirkte das Gedicht auch ebenso auf die zuhörenden Griechen der älteren Zeit; jeder genoss dabei unter Tränen die Erinnerung an alles Erlittene und Verlorne. Jeder ältere Mann hatte eine Anzahl Erlebnisse mit Odysseus gemein, er fühlte dem Dulder alles nach. Mich rührt oft das gar nicht Rührende, sondern das Einfache Schlichte Tüchtige bei Homer und ebenso in Hermann und Dorothea zu Thränen, z. B. Telemachos im ersten Gesang 23 [32] Vielleicht ist der unegoistische Trieb eine späte Entwicklung des socialen Triebes; jedenfalls nicht umgekehrt. Der sociale Trieb entsteht aus dem Zwange, welcher ausgeübt wird, sich für ein anderes Wesen zu interessiren (der Sclave für seinen Herrn, der Soldat für seinen Führer) oder aus der Furcht, mit ihrer Einsicht, dass wir zusammen wirken müssen, um nicht einzeln zu Grunde zu gehen. Diese Empfindung, vererbt, entsteht später, ohne dass das ursprüngliche Motiv mit ins Bewusstsein trete; es ist zum Bedürfniss geworden, welches nach der Gelegenheit ausschaut sich zu bethätigen. Für andere, für eine Gemeinsamkeit, für eine Sache (wie Wissenschaft) sich interessiren erscheint dann als unegoistisch, ist es aber im Grunde nicht gewesen. 23 [33] Gründliche Kenner der Nordamerikaner sagen dass die herrschende Meinung in den Vereinigten Staaten sich gegen jeden erklärt, der es unterlässt nach dem Höchsten zu streben, was für ihn erreichbar ist. Zurückbleiben aus freiem Willen gilt geradezu als Schande, als eine Art von Vergehen, gegen die Gesellschaft. [Vgl. Julius Fröbel, Aus Amerika. Erfahrungen, Reisen und Studien von Julius Fröbel. Band 1. Leipzig: Weber, 1857:24. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Julius Fröbel.] 23 [34] Die Welt ohne Eros. Man bedenke, dass, vermöge des Eros, zwei Menschen an einander gegenseitig Vergnügen haben: wie ganz anders würde diese Welt des Neides der Angst und der Zwietracht ohne diess aussehen! 23 [35] Tragische Jünglinge. In der Neigung der Jünglinge für die Tragödie, in ihrer Manier sich trübselige Geschicke zu prophezeien, von den Menschen schlecht zu denken, ist etwas von jener Lust versteckt, welche in ihnen rege wird, wenn einer ausruft: Wie weise ist er für sein Alter: wie kennt er schon den Lauf der Welt! 23 [36] Es ist ein herrliches Schauspiel: aus lokalen Interessen, aus Personen, welche an die kleinsten Vaterländer geknüpft sind, aus Kunstwerken, die für einen Tag, zur Festfeier gemacht wurden, aus lauter Punkten kurzum in Raum und Zeit erwächst allmählich eine dauernde die Länder und Völker überbrückende Cultur; das Lokale bekommt universale, das Augenblickliche bekommt monumentale Bedeutung. Diesem Gange in der Geschichte muss man nachspüren; freilich stockt einem mitunter der Athem, so zersponnen ist das Garn, so dem Zerreissen nahe der Knoten, welcher das Fernste mit dem Späten verbindet! Homer, erst für alle Hellenen, dann für die ganze hellenische Culturwelt und jetzt für jedermannist eine Thatsache, über die man weinen kann. 23 [37] Schopenhauer sagt mit Recht: Die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den anderen scheidet. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik. Die beiden Grundprobleme der Ethik. Leipzig: Brockhaus, 1874:182.] Falsch dagegen: der letzte und wahre Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik. Die beiden Grundprobleme der Ethik. Leipzig: Brockhaus, 1874:109.] Ebenso falsch: zu schließen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik. Die beiden Grundprobleme der Ethik. Leipzig: Brockhaus, 1874:114.] 23 [38] Auch wenn man Martern und den Tod für seinen Glauben erduldet, beweist man nichts für die Wahrheit, sondern nur für die Stärke des Glaubens an das, was man für Wahrheit hält. (Das Christenthum freilich geht von dem unstatthaften Einfalle aus: was stark geglaubt wird, ist wahr. Was stark geglaubt wird, macht selig, muthig, usw.) Das Pathos der Wahrheit ist an sich nicht förderlich für dieselbe, insofern es dem erneuten Prüfen und Forschen entgegenwirkt. Es ist eine Art Blindheit mit ihm verbunden, ja man wird, mit diesem Pathos, zum Narren: wie dies Winkler sagt. [Vgl. Paul Winkler, Zwey Tausend Gutte Gedancken zusammen gebracht von Dem Geübten. Görlitz, 1685. Nr. 1034: "Der Mensch ist so lange Weise / als er die Weißheit sucht / wenn er aber meinet / er habe sie gefunden / so wird er zum Narren."] Man muß von Zeit zu Zeit skeptische Perioden durchleben, wenn anders man ein Recht haben will sich eine wissenschaftliche Persönlichkeit zu nennen. Schopenhauer hat seine Position vielfach mit Fluchen und Verwünschungen und fast überall mit Pathos verschanzt; ohne diese Mittel würde seine Philosophie vielleicht weniger bekannt geworden sein (z. B. wenn er die eigentliche Perversität der Gesinnung es nennt, an keine Metaphysik zu glauben). [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 6: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:215.] 23 [39] Der welcher über die inneren Motive des Menschen schreibt, hat nicht nur kalt auf sie hinzudeuten; denn so kann er seine Schlüsse nicht glaubhaft machen. Er muß die Erinnerung an diese und jene Leidenschaft, Stimmung erwecken können, und muß also ein Künstler der Darstellung sein. Dazu wiederum ist nöthig, daß er alle diese Affekte aus Erfahrung kennt; denn sonst wird er indigniren durch Kälte und den Anschein von Geringschätzung dessen, was die anderen Menschen so tief bewegt und erschüttert hat. Daher muß er die wichtigsten Stufen der Menschheit durchgemacht haben und fähig sein, sich auf sie zu stellen: er muß religiös, künstlerisch, wollüstig, ehrgeizig, böse und gut, patriotisch und kosmopolitisch, aristokratisch und plebejisch gewesen sein und die Kraft der Darstellung behalten haben. Denn bei seinem Thema ist es nicht wie bei der Mathematik, wo ganz bestimmte Mittel des Ausdrucks, Zahlen Linien da sind, welche ganz unzweideutig sind. Jedes Wort über die Motive des Menschen ist unbestimmt und andeutend, man muß aber stark anzudeuten verstehen, um ein starkes Gefühl darzustellen. 23 [40] Es giebt tröpfelnde Denker und fließende, wie sich die Quellen ebenso unterscheiden. Lichtenberg hält fleißig unter und bekommt endlich den Becher voll; aber er hat die Zeit nicht gehabt, uns den Becher voll zu reichen; seine Verwandten haben uns die Tropfen zugemessen. Da wird man leicht unbillig. An sich erweckt der fließende Denker den Anschein der vollen Kraft, aber es kann auch nur Täuschung sein. 23 [41] Nicht nur der Glaube an Gott, auch der Glaube an tugendhafte Menschen, Handlungen, die Schätzung unegoistischer Triebe, also auch Irrthümer auf psychologischem Gebiet haben der Menschheit vorwärts geholfen. Es ist ein großer Unterschied, ob einer die Helden Plutarchs mit Begeisterung nachahmt oder anzweifelnd analysirt. Der Glaube an das Gute hat die Menschen besser gemacht: wie eine Überzeugung vom Gegentheil die Menschen schwächer mißtrauischer usw. macht. Dies ist die Wirkung von La Rochefoucauld und vom Verfasser der psychologischen Beobachtungen: diese scharfzielenden Schützen treffen immer ins Schwarze, aber im Interesse der menschlichen Wohlfahrt möchte man wünschen, daß sie nicht diesen Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung hätten. 23 [42] Der Reiz mancher Schriften z. B. des Tristram Shandy beruht unter anderem darauf, daß der angeerbten und angezogenen Scheu, manche Dinge nicht zu sehen, sich nicht einzugestehen, in ihnen widerstrebt wird, daß also mit einer gewissen Keuschheit der Seele ein schelmisches Spiel getrieben wird. Dächte man sich diese Scheu nicht mehr angeerbt, so würde jener Reiz verschwinden. Insofern ist der Werth der vorzüglichsten Schriften sehr abhängig von der ziemlich veränderlichen Constitution des inneren Menschen; die Stärkung des einen, die Schwächung des anderen Gefühls läßt diesen und jenen Schriftsteller ersten Ranges langweilig werden: wie uns z. B. die spanische Ehre und Devotion in den Dramatikern, das Mittelalterlich-Symbolische bei Dante mitunter unerträglich ist und ihren Vertretern in unserem Gefühle Schaden thut. 23 [43] Die außerordentliche Unsicherheit alles Unterrichtswesens hat darin ihren Grund, daß es kein gemeinsam anerkanntes Fundament mehr giebt, und daß jetzt weder Christenthum noch Alterthum noch Naturwissenschaft noch Philosophie eine überstimmende und herrschende Macht haben. Man bewegt sich schwankend zwischen sehr verschiedenen Ansprüchen: zuletzt will gar noch der Nationalstaat eine nationale Kultur, um damit die Unklarheit auf den Gipfel zu bringendenn national und Kultur sind Widersprüche. Selbst an den Universitäten, den Festungen der Wissenschaft, giebt es Leute, welche über der Wissenschaft noch als höhere Mächte Religion oder Metaphysik, mit der Heimlichkeit von Verräthern, anerkennen. 23 [44] Die Lehrer ganzer Klassen setzen einen falschen Ehrgeiz hinein, ihre Schüler individuell verschieden zu behandeln. Nun ist aber im höchsten Maaße wahrscheinlich, daß der Lehrer, bei seiner geringen und einseitigen Beziehung zu den Schülern, sie nicht genau kennt und einige grobe Fehler in der Beurtheilung des einen oder andren Charakters macht (welche zudem bei jungen Leuten noch biegsam sind und nicht als vollendete Thatsache behandelt werden sollten). Der Nachtheil, welchen die Erkenntniß der Klasse, daß einige Schüler grundsätzlich immer irrthümlich behandelt werden, mit sich bringt, wiegt alle etwaigen Vortheile einer individualisirenden Erziehung auf, ja überwiegt bei weitem. Im Allgemeinen sind alle Lehrer-Urtheile über ein Individuum falsch und voreilig: und kein Beweis von wissenschaftlicher Sorgfalt und Behutsamkeit. Man versuche es nur immer mit einer Gleichsetzung und Gleichschätzung aller Schüler und nehme das Niveau ziemlich hoch, ja man behandle alles Censurengeben mit ersichtlicher Geringschätzung und beschränke sich darauf, den Gegenstand des Unterrichts interessant zu machen, so sehr daß der Lehrer es sich, vor der Klasse, anrechnet, wenn ein Schüler sich auffällig uninteressirt zeigt: es ist ein bewährtes Recept, und läßt überdies das Gewissen des Lehrers ruhiger. Es versteht sich übrigens von selbst, daß Klassenerziehung eben nur ein Nothbehelf ist, wenn der einzelne Mensch durchaus nicht von einem einzelnen Lehrer erzogen werden kann und somit der individuelle Charakter und die Begabung ihren eigenen Wegen überlassen werden müssen: was freilich gefahrvoll ist. Aber ist der einzelne Erzieher nicht ebenfalls eine Gefahr? 23 [45] Verwunderung der Naiven daß der Staat die Erziehung und Schule nicht ganz unparteiisch fördert: wozu hätte er sonst sie mit aller Mühe in die Hand genommen! Das Mittel, die Geister zu beherrschen. (Anwartschaft aller Lehrer auf Stellen! so hat man sie.) 23 [46] Wir gewinnen eine neue Freude hinzu, wenn uns die metaphysischen Vorstellungen Humor machen, und die feierliche Miene, die Rührung der angeblichen Entdeckung, der geheimnißvolle Schauer wie eine alte Geistergeschichte uns anmuthet. Seien wir nicht gegen uns mißtrauisch! Wir haben doch die Resultate langer Herrschaft der Metaphysik in uns, gewisse complexe Stimmungen und Empfindungen, welche zu den höchsten Errungenschaften der menschlichen Natur gehören; diese geben wir mit jenem unschuldigen Spotte keineswegs auf. Aber warum sollen wir nicht lachen, wenn Schopenhauer die Abneigung vor der Kröte uns metaphysisch erklären will, wenn die Eltern Gelegenheitsursachen für den Genius der Gattung werden usw.? [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 6: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:457.] 23 [47] Rée als scharfzielender Schütze zu bezeichnen welcher immer ins Schwarze trifft. 23 [48] Die moralische Selbstbeobachtung genügt jetzt keineswegs, Historie und die Kenntniß der zurückgebliebenen Völkerschaften gehört dazu, um die verwickelten Motive unseres Handelns kennen zu lernen. In ihnen spielt [sich] die ganze Geschichte der Menschheit ab, alle ihre großen Irrthümer und falschen Vorstellungen sind mit eingeflochten; weil wir diese nicht mehr theilen, suchen wir sie auch nicht mehr in den Motiven unserer Handl[ungen], aber als Stimmung Farbe Oberton erklingen sie mit darin. Man meint, wenn man die Motive des Menschen classificirt nach der nothwendigen Befriedigung seiner Ansprüche, dann habe man wirklich alle Motive aufgezählt. Aber es gab zahllose fast unglaubliche, ja verrückte Bedürfnisse, welche nicht so leicht jetzt zu errathen wären: diese alle wirken jetzt noch mit. 23 [49] Manchmal überkommt uns, etwa bei der tiefsten Erschütterung durch einen Trauerfall Treubruch Liebeswerbung, eine Empörung wenn wir die naturalistisch historische Erklärung hören. Aber solche Empfindungen beweisen nichts, sie sind wiederum nur zu erklären. Die Empfindungen sind tief geworden, aber nicht immer gewesen; und jenen höchsten Steigerungen entspricht kein realer Grund, sie sind Imaginationen. 23 [50] Wenn Genies unangenehme, ja schlechte Eigenschaften haben, so muss man ihren guten Eigenschaften um so dankbarer sein, dass sie in solchem Boden, mit dieser Nachbarschaft, bei solchem Clima, solchem Wurmfrass doch diese Früchte zeitigten. 23 [51] Manches an dem wiederhergestellten Katholicismus wird von uns falsch beurtheilt, weil hier südländische Äusserungen der Religiosität vorliegen. Es sieht uns äusserlich, schwärmerisch unwahr-übertrieben an: aber der Protestantismus ist eben auch nur nordischen Naturen begreiflich. 23 [52] Die Musik ist erst allmählich so symbolisch geworden, die Menschen haben immer mehr gelernt, bei gewissen Wendungen und Figuren seelische Vorgänge mitzuverstehen. Von vorn herein liegen sie nicht darin. Musik ist nicht unmittelbarer Ausdruck des Willens, sondern erst in der Fülle der Kunst kann sie so erscheinen. 23 [53] Musik hat als gesammte Kunst gar keinen Charakter, sie kann heilig und gemein sein, und beides ist sie erst, wenn sie durch und durch symbolisch geworden ist. Jene sublimirten Verherrlichungen der Musik überhaupt, wie sie z. B. bei Bettina zu finden sind, sind Beschreibungen von Wirkungen gewisser Musik auf ganz bestimmte Individuen, welche alle jene sublimirten Zustände in sich haben und durch sie nun auch der Musik sich nähern. 23 [54] Man lobt das Unegoistische ursprünglich, weil es nützlich, das Egoistische [tadelt man], weil es schädlich ist. Wie aber, wenn dies ein Irrthum wäre! Wenn das Egoistische in viel höherem Grade nützlich wäre, auch den anderen Menschen, als das Unegoistische! Wie wenn man beim Tadel des Egoistischen immer nur an den dummen Egoismus gedacht hätte! Im Grunde übte man die Klugheit? Freilich Güte, und Dummheit gehen auch zusammen, un bon homme usw. 23 [55] Nach der Novelle am Malanger Fjord zu urtheilen, ist Th. Mügge das einzige deutsche Erzählertalent im Scottischen Stile; er ist durchaus meisterhaft sicher. [Vgl. Theodor Mügge, "Am Malanger fjord." In: Deutscher Novellenschatz. Herausgegeben von Paul Heyse und Hermann Kurz. Band 13. München: Oldenbourg, [1872]:1-176.] 23 [56] Lob Epicurs. Die Weisheit ist um keinen Schritt über Epikur hinausgekommenund oftmals viele tausend Schritt hinter ihn zurück. 23 [57] Wenn ich die Dinge nach dem Grade der Lust ordne, welche sie erregen, so steht obenan: die musikalische Improvisation in guter Stunde, dann das Anhören einzelner Sachen Wagners und Beethovens, dann vor Mittag gute Einfälle im Spazierengehen haben, dann die Wollust usw. 23 [58] Der Genuss an der Kunst hängt von Kenntnissen (Übung) ab; auch bei der volksthümlichsten Kunst. Es giebt keine unmittelbare Wirkung auf den Hörer, ein Hinausgreifen über die Schranken des Intellects. Viele geniessen Wagnerische Musik nicht, weil sie nicht genussfähig durch höchste musikalische Bildung geworden sind. 23 [59] Menschen, welche sich in hervorragender Weise vom Ererbt-Sittlichen loslösen, gewissen-los sind, können dies nur in der gleichen Weise werden, wie Missgeburten entstehen; das Wachsen und Sich-bilden geht ja nach der Geburt fort, in Folge der angeerbten Gewohnheiten und Kräfte. So könnte man in jenem Falle den Begriff der Missgeburt erweitern und etwa von Missgebilden reden. Gegen solche hat die übrige Menschheit dieselben Rechte wie gegen die Missgeburten und Monstra: sie darf sie vernichten, um nicht die Propagation des Zurückgebliebenen Missrathenen zu fördern. Z. B. der Mörder ist ein Missgebilde. 23 [60] Eine gewöhnliche Erfahrung: es ging schlecht, aber viel besser als ich glaubte. 23 [61] Glück und Unglück. Bei manchen Menschen zeigt sich das Glück ergreifender als ihr Unglück. Wer kann heitere Musik aus einem Irrenhause heraus tönend ohne Thränen hören? 23 [62] Beim Gehen an einem Waldbach scheint die Melodie, die uns im Sinne liegt, hörbar zu werden, in starken zitternden Tönen; ja sie scheint mitunter dem inneren Bild der Melodie, welche wir verfolgen, vorauszulaufen um einen Ton und erlangt eine eigne Selbstständigkeit, welche aber nur Täuschung ist. 23 [63] Das Hauptelement des Ehrgeizes ist, zum Gefühl seiner Macht zu kommen. Die Freude an der Macht ist nicht darauf zurückzuführen, dass wir uns freuen, in der Meinung anderer bewundert dazustehen. Lob und Tadel, Liebe und Hass sind gleich für den Ehrsüchtigen, welcher Macht will. Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv) erklären unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen. Lust an der Macht. Die Lust an der Macht erklärt sich aus der hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht. Ist diese Erfahrung nicht da, so fehlt auch die Lust. 23 [64] Zeichen höherer Naturen. Die metaphysischen Vorstellungen eines Menschen sind Zeugnisse für seine höhere Natur, edlere Bedürfnisse: insofern soll man immer im würdigsten Tone von ihnen reden. 23 [65] Nutzen und Nachtheil alles Märtyrerthums. Die vielen Märtyrertode sind Kraftquellen für die Menschen geworden, nach der Seite der Überzeugungs-Hartnäckigkeit, nicht nach der Seite der strengen Wahrheitsprüfung. Die Grausamkeiten schaden der Wahrheit, aber nützen dem Willen (der sich im Glauben manifestirt). 23 [66] In wiefern tröstet es einen Unglücklichen, eine Strafe nicht verdient zu haben? Er wird zum Besten der Menschheit als Mittel benutzt, um sie abzuschrecken: aber er hatte es nicht verdient, als Mittel betrachtet zu werden? Sobald man aber einsieht, dass niemand etwas verdient, tröstet jener Gesichtspunkt auch gar nicht mehr. Übrigens sollte man sich unter allen Umständen darüber freuen, als Mittel zur Verbesserung der Menschen zu dienen. 23 [67] Übliche Form des Argwohns. Man ist unbillig argwöhnisch gegen Bücher, deren Resultate uns missfallenund umgekehrt. In einer Partei werden die Grundsätze des Parteikampfes niemals ernsthaft geprüft; nur die entgegenstrebenden Parteien und deren Interessen bringen eine starke Kritik hervor. 23 [68] Mancher trifft den Nagel, aber nicht auf den Kopf, er macht das Problem heillos schief. Es wäre besser, er hätte die Sache ganz verfehlt. 23 [69] Ablösung des Zufälligen durch das Nothwendige. Im Stadium höherer geistiger Befreiung soll man alles Zufällig-Natürliche, mit dem man das Leben verknüpft hat, durch Gewähltes-Nöthiges ersetzen. Wer unzureichende Freunde von früher her hat, soll sich lösen; einen neuen Vater, neue Kinder soll man sich unter Umständen wählen. 23 [70] Grosse Wirkungen falsch abgeleitet. Grosse Wirkungen auf grosse Ursachen zurückzuführen ist ein sehr gewöhnlicher Fehlschluss. Erstens können es kleine Ursachen sein, welche aber eine lange Zeit wirken. Dann kann das Object, auf welches gewirkt wird, wie ein vergrössernder Spiegel sein: ein schlechter Dichter kann grosse Wirkung thun, weil das Publikum gerade ihm homogen ist, z. B. Uhland unter seinen schwäbischen Landsleuten. 23 [71] Suche die Einsamkeit, um Vielen oder Allen (der Vielsamkeit) am besten nützen zu können: wenn du sie anders suchst, so wird sie dich schwach krank und zu einem absterbenden Gliede machen. 23 [72] Nicht die Abwesenheit der Liebe, sondern die Abwesenheit der Freundschaft macht die unglücklichen Ehen. 23 [73] Der Ausdruck Lohn ist aus der Zeit her in unsere verschleppt, in welcher der Niedriggeborne Unfreie wenn man ihm überhaupt etwas gab oder gönnte sich immer beglückt begnadet fühlte, wo er wie ein Thier bald durch die Peitsche bald durch Lockungen aufgemuntert wurde, aber niemals etwas verdiente. Wenn jener thut, was er thun muss, so ist kein Verdienst dabei: wird er trotzdem belohnt, so ist dies eine überschüssige Gnade, Güte. 23 [74] Die jetzigen Dramatiker gehen häufig von einem falschen Begriff des Dramas aus und sind Drastiker: es muß bei ihnen um jeden Preis geschrieen gelärmt geschlagen geschossen getödtet werden. Aber Drama bedeutet Ereigniß factum, im Gegensatz zum fictum. Nicht einmal die historische Ableitung des griechischen Wort-Begriffs giebt ihnen Recht. Die Geschichte des Dramas aber erst recht nicht; denn der Darstellung des Drastischen gehen die Griechen gerade aus dem Wege. 23 [75] Der ehemalige Wunderbeweis. Wenn jemand seine Hand in glühend flüssiges Metall taucht und unversehrt herauszieht, so setzt es immer noch in Erstaunen aber ehemals meinte man gewiß ein Wunder zu sehen: der es that, glaubte selber an eine geheimnißvolle Kraft und übernatürlichen Beistand. Auch der, welcher die Erklärung der Thatsache jetzt nicht weiß, meint doch, es gehe natürlich zu und es werde ihm so gut glücken wie jenem. Ehemals hätte man jede Behauptung damit beweisen können und jeder hätte einem solchen Beweise geglaubt. 23 [76] Die wissenschaftlichen Methoden entlasten die Welt von dem großen Pathos, sie zeigen, wie grundlos man sich in diese Höhe der Empfindung hineingearbeitet hat. Man lacht und wundert sich jetzt über einen Zank, der zwei Feinde und allmählich ganze Geschlechter rasend macht und zuletzt das Schicksal der Völker bestimmt, während vielleicht der Anlaß längst vergessen ist: aber ein solcher Vorgang ist das Symbol aller großen Affekte und Leidenschaften in der Welt, welche in ihrem Ursprunge immer lächerlich klein sind. Nun bleibt zunächst der Mensch verwundert vor der Höhe seines Gefühls und der Niedrigkeit des Ursprungs stehen; auf die Dauer mildert sich dieser Gegensatz, denn das beschämende Gefühl des Lächerlichen arbeitet still an dem Menschen, der hier einmal zu erkennen angefangen hat. Es giebt anspruchsvolle Tugenden, welche ihre Höhe nur unter metaphysischen Voraussetzungen behaupten können z. B. Virginität; während sie an sich nicht viel bedeutet, als eine blasse unproduktive Halbtugend, welche überdies geneigt macht, über die Mitmenschen recht ketzerrichterisch abzuurtheilen. 23 [77] Unterscheidet man Stufen der Moralität, so würde ich als erste nennen: Unterordnung unter das Herkommen, Ehrfurcht und Pietät gegen das Herkommen und seine Träger (die Alten) als zweite Stufe. Gebundensein des Intellekts, Beschränkung seines Herumgreifens und Versuchens, Steigerung des Gefühls innerhalb des abgegrenzten Bereichs erlaubter Vorstellungen. Dagegen die Forderung des unegoistischen unpersönlichen Handelns, worin man gewöhnlich den Ursprung der Moralität sieht, gehört den pessimistischen Religionen an, insofern diese von der Verwerflichkeit des ego, der Person ausgehen, also die metaphysische Bedeutung des Radikal-Bösen vorher in den Menschen gelegt haben müssen. Von der pessimistischen Religion her hat Kant sowohl das Radikal-Böse als den Glauben daß das Unegoistische das Kennzeichen des Moralischen sei. Nun existirt dies aber nur, wie Schopenhauer richtig sah, im Nachgeben gegen bestimmte Empfindungen, z. B. des Mitleidens Wohlwollens. Empfindungen kann man aber nicht fordern, anbefehlen. Die Moral hat aber immer gefordert, sie wird somit mitleidig und wohlwollend sein (unegoistisch sein) nicht als entscheidende Kennzeichen des moralischen Menschen gelten lassen: wie man ja thatsächlich oft von unmoralischen Menschen spricht, welche aber sehr gutmüthig und mitleidig sind. 23 [78] Die falsche Voraussetzung aller Moral ist der Irrthum, daß der Mensch frei handele und verantwortlich sei. Jedes Gesetz, jede Vorschrift (in Staat, Gesellschaft, Schule) setzt diesen Glauben voraus, wir sind so daran gewöhnt, daß wir loben und tadeln, auch nach der erworbenen Einsicht in die Unverantwortlichkeit: während wir doch die Natur nicht tadeln und loben. Unegoistische Handlungen fordern, wie es die pessimistischen Religionen thun, Liebe fordern: das setzt denselben Grundirrthum voraus. 23 [79] Um die Monogamie und ihre große Wucht zu erklären, soll man sich ja vor feierlichen Hypothesen hüten, wozu die erwähnte Scham vor einem Mysterium verführt. Zunächst ist an einen moralischen Ursprung gar nicht zu denken; auch die Thiere haben sie vielfach. Überall wo das Weibchen seltener ist als das Männchen oder seine Auffindung dem Männchen Mühe gemacht hat, entsteht die Begierde, den Besitz desselben gegen neue Ansprüche anderer Männchen zu vertheidigen. Das Männchen läßt das einmal erworbene Weibchen nicht wieder los, weil es weiß, wie schwer ein neues zu finden ist, wenn es dies verloren hat. Die Monogamie ist nicht freiwillige Beschränkung auf ein Weib, während man unter vielen die Auswahl hat, sondern die Behauptung eines Besitzthums in weiberarmen Verhältnissen. Deshalb ist die Eifersucht bis zu der gegenwärtigen Stärke angeschwollen und aus dem Thierreich her in überaus langen Zeiträumen auf uns vererbt. In den Menschenstaaten ist das Herkommen der Monogamie vielfach aus verschiedenen Rücksichten der Nützlichkeit sanktionirt worden, vor allem zum Wohle der möglichst fest zu organisirenden Familie. Auch wuchs die Schätzung des Weibes in derselben, so daß es von sich aus später das Verhältniß der Monogamie allen übrigen vorzog. Wenn thatsächlich das Weib ein Besitzstück nach Art eines Haussklaven war, so stellte sich doch bei dem Zusammenleben zweier Menschen, bei gemeinsamen Freuden und Leiden, und weil das Weib auch manches verweigern konnte, in manchem dem Mann als Stellvertreter dienen konnte, eine höhere Stellung des Eheweibes ein. Jetzt, wo die Weiber in den civilisirten Staaten thatsächlich in der Mehrheit sind, ist die Monogamie nur noch durch die allmählich übermächtig gewordene Sanktion des Herkommens geschützt; die natürliche Basis ist gar nicht mehr vorhanden. Ebendeshalb besteht hinter dem Rücken der feierlich behandelten und geheiligten Monogamie thatsächlich eine Art Polygamie. 23 [80] Wenn Schopenhauer dem Willen das Primat zuertheilt und den Intellekt hinzukommen läßt, so ist doch das ganze Gemüth, so wie es uns jetzt bekannt ist, nicht mehr zur Demonstration zu benutzen. Denn es ist durch und durch intellektual geworden (so wie unsere Tonempfindung in der Musik intellektual wurde). Ich meine: Lust und Schmerz und Begehren können wir gar nicht vom Intellekt mehr losgetrennt denken. Die Höhe Mannichfaltigkeit Zartheit des Gemüths ist durch zahllose Gedankenvorgänge großgezüchtet worden; wie die Poesie sich zur jetzigen Musik verhält, als die Lehrerin aller Symbolik, so der Gedanke zum jetzigen Gemüth. Diese Gedanken sind vielfache Irrthümer gewesen; z. B. die Stimmung der Frömmigkeit ruht ganz auf dem Irrthume. Lust und Schmerz ist wie eine Kunst ausgebildet worden, genau durch dieselben Mittel wie eine Kunst. Die eigentlichen Motive der Handlungen verhalten sich jetzt so wie die Melodien der jetzigen Musik; es ist gar nicht mehr zu sagen, wo Melodie, wo Begleitung Harmonie ist; so ist bei den Motiven der Handlungen alles künstlich gewebt, mehrere Motive bewegen sich neben einander und geben sich gegenseitig Harmonie Farbe Ausdruck Stimmung. Bei gewissen Stimmungen meinen wir wohl den Willen abgesondert vom Intellekt zu haben, es ist eine Täuschung; sie sind ein Resultat. Jede Regung ist intellektual geworden; was einer z. B. bei der Liebe empfindet, ist das Ergebniß alles Nachdenkens darüber, aller je damit verbundenen Metaphysik, aller verwandten miterklingenden Nachbarstimmungen. 23 [81] Bei dem Ursprunge der Kunst hat man nicht von aesthetischen Zuständen und dergleichen auszugehen; das sind späte Resultate, ebensowie der Künstler. Sondern der Mensch wie das Thier sucht die Lust und ist darin erfindsam. Die Moralität entsteht, wenn er das Nützliche sucht d. h. das was nicht sogleich oder gar nicht Lust gewährt, aber Schmerzlosigkeit verbürgt, namentlich im Interesse Mehrerer. Das Schöne und die Kunst geht auf das direkte Erzeugen möglichst vieler und mannichfaltiger Lust zurück. Der Mensch hat die thierische Schranke einer Brunstzeit übersprungen; das zeigt ihn auf der Bahn der Lust-Erfindung. Viele Sinnenfreuden hat er von den Thieren her geerbt (der Farbenreiz bei den Pfauen, die Gesangfreude bei den Singvögeln). Der Mensch erfand die Arbeit ohne Mühe, das Spiel, die Bethätigung ohne vernünftigen Zweck. Das Schweifen der Phantasie, das Ersinnen des Unmöglichen, ja des Unsinnigen macht Freude, weil es Thätigkeit ohne Sinn und Zweck ist. Mit den Armen und Beinen sich bewegen ist ein Embryo des Kunsttriebs. Der Tanz ist Bewegung ohne Zweck; Flucht vor der Langeweile ist die Mutter der Künste. Alles Plötzliche gefällt, wenn es nicht schadet, so der Witz, das Glänzende, Starktönende (Licht Trommellärm). Denn eine Spannung löst sich, dadurch daß es aufregt und doch nicht schadet. Die Emotion an sich wird erstrebt, das Weinen, der Schrecken (in der Schauergeschichte) die Spannung. alles was aufregt, ist angenehm, also die Unlust im Gegensatz zur Langeweile als Lust empfunden. 23 [82] Wenn jemand die Wissenschaft zum Schaden der Menschheit fördert (- nämlich es giebt keine prästabilirte Harmonie zwischen der Förderung der Wissenschaft und der Menschheit) so kann man ihm sagen: willst du zu deinem Vergnügen die Menschheit deiner Erkenntniß opfern, so wollen wir dich dem allgemeinen Wohlbefinden opfern, hier heiligt der gute Zweck das Mittel. Wer die Menschheit eines Experimentes wegen vergiften wollte, würde von uns wie ein ganz gefährliches Subjekt in Banden gelegt werden; wir fordern: das Wohl der Menschheit muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse Grenzen zieht). Freilich ist da die Inquisition in der Nähe; denn das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer verfolgte. In gewissem Sinne ist also eine Inquisitions-Censur nothwendig, die Mittel freilich werden immer humaner werden. 23 [83] Eine alte Stadt, Mondschein auf den Gassen, eine einsame männliche Stimmedas wirkt als ob die Vergangenheit leibhaftig erschienen sei und zu uns reden wolltedas Heillose des Lebens, das Ziellose aller Bestrebungen, der Glanz von Strahlen darum, das tiefe Glück in allem Begehren und Vermissen: das ist ihr Thema. 23 [84] Man überschätzt an Künstlern die fortlaufende Improvisation, welche gerade bei den originellsten Künstlern nicht existirt, wohl aber bei den halb reproduktiven Nachahmern. Beethoven sucht seine Melodien in vielen Stücken, mit vielem Suchen zusammen. Aber die Künstler selbst wünschen, daß das Instinktive Göttliche Unbewußte in ihnen am höchsten taxirt werde und stellen den Sachverhalt nicht treu dar, wenn sie darüber sprechen. Die Phantasie (wie z. B. bei dem Schauspieler) schiebt viele Formen ohne Wahl heran, die höhere Cultur des Künstler-Geschmacks trifft die Auswahl unter diesen Geburten und tödtet die anderen ab, mit der Härte einer lykurgischen Amme. 23 [85] Der Vorzug unserer Cultur ist die Vergleichung. Wir bringen die verschiedensten Erzeugnisse älterer Culturen zusammen und schätzen ab; dies gut zu machen ist unsere Aufgabe. Unsre Kraft soll sich zeigen, wie wir wählen; wir sollen Richter sein. 23 [86] Zum Schluß: Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft! [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. 1, 1851. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 11. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1854:75.] 23 [87] Wir nennen den moralisch, welcher in Hinsicht auf ein von ihm anerkanntes Gesetz sich unterordnet und demgemäß handelt, sei dies ein Staatsgesetz, sei es die Stimme Gottes in der Form religiöser Gebote, sei es selbst nur das Gewissen, oder die philosophische Pflicht. Ob jemand mit Recht oder Unrecht solche Gesetze glaubt, ist gleichgültig; für die Moral ist nur wichtig, daß er nach ihnen sich richtet. Innerhalb der verschiedenen Sphären des Egoismus ist ein Unterschied von Höher und Nieder: hier sich auf Seiten des höheren geläuterten Egoismus stellen nennen wir ebenfalls moralisch. Gut nennen wir jetzt eine moralische Handlungsweise ohne weiteres noch nicht. Seelengüte wird dem Menschen zugesprochen, welcher nicht in Hinsicht auf ein Gesetz, sondern nach inneren Trieben gern Mitleiden Mitfreude Aufopferung usw. zeigt. Also Moralität zum Instinkt geworden, in ihrer Ausübung mit Lust verbunden, wie dies nach langer Vererbung und Gewohnheit zu geschehen pflegt: das heißt bei uns Gutsein. 23 [88] Man spricht von Milderungsgründen: sie sollen die Schuld mindern und darnach soll die Strafe geringer ausfallen. Aber geht man auf die Genesis der Schuld ein, so mildert man allmählich die Schuld weg, und dann dürfte es gar keine Strafe geben. Denn im Grunde giebt es eben, bei der Unfreiheit des Willens, keine Schuld. Läßt man die Strafe als Abschreckung gelten, so darf es keine Milderungsgründe geben, die sich auf die Entstehung der Schuld beziehen. Ist die That constatirt, so folgt die Strafe unerbittlich; der Mensch ist Mittel zum Wohle aller. Auch das Christenthum sagt: Richtet nicht! freilich mit der Rücksicht auf den persönlichen Nachtheil. Christus: Gott soll richten. Dies ist aber ein Irrthum. 23 [89] Die Philosophen finden den Willen zum Leben namentlich dadurch bewiesen, daß sie das Schreckliche oder Nutzlose des Lebens einsehen und doch nicht zum Selbstmord greifenaber ihre Schilderung des Lebens könnte falsch sein! 23 [90] Wie jetzt auch die Frage der Kritik des Erkenntnißvermögens beantwortet werde, die Untersuchung ist so schwierig, die Gedankenselbstprüfung so subtil, daß ihr Resultat mit den Resultaten der bisherigen Religion Kunst und Moral gar nichts zu thun hat. Diese verdanken sie nicht solchen wissenschaftlichen Prozeduren, sondern höchst unwissenschaftlichen. Das Bedürfniß nach ihnen ist ohne alle Consequenz für die Wahrheit, Realität ihrer Annahmen. 23 [91] Das gute Kunstwerk der Erzählung wird das Hauptmotiv so entfalten wie die Pflanze wächst, immer deutlicher sich vorbildend, bis endlich als neu und doch geahnt die Blüthe sich erschließt. Die Kunst des Novellisten ist namentlich die, das Thema präludiren zu lassen, es symbolisch mehrermal vorwegzunehmen, die Stimmung vorzubereiten, in welcher man den Ausbruch des Gewitters anticipirt, benachbarte Töne der Hauptmelodie erklingen zu machen und so auf jede Weise die erfindende Fähigkeit des Lesers zu erregen, als ob er ein Räthsel rathen sollte; dieses aber dann so zu lösen, daß es den Leser doch noch überrascht. Wie der Knabe spielt, so wird der Mann arbeiten, ein Schulereigniß kann alle handelnden Personen eines politisch großen Vorgangs schon deutlich erkennen lassen. Vielleicht ist auch eine Philosophie so darzustellen, daß man die eigentliche Behauptung erst zuletzt stellt und zwar mit ungeheurem Nachdruck. 23 [92] Es ist ein Zeichen von Größe, mit geringen Gaben hoch beglücken zu können. 23 [93] Die Philosophie großer Menschen entspricht gewöhnlich dem Lebensalter, in welchem die Conception dazu gemacht wurde. So ist für den, welcher die zwanziger Jahre Schopenhauers intim kennt, die ganze Philosophie Schopenhauers förmlich auszurechnen, zu prophezeien. 23 [94] Erzogen wird jeder Mensch, durch die Umstände, Gesellen, Eltern, Geschwister, Ereignisse der Zeit, des Ortes: aber dies ist alles Erziehung des Zufalls und vielfältig geeignet, ihn recht unglücklich zu entwickeln. Über diese Erziehung durch den Zufall ist aber die Menschheit im Ganzen noch nicht hinausgekommen: gehindert durch die metaphysische Vorstellung (an welcher selbst Lessings scharfer Geist stumpf wurde), daß ein Gott die Erziehung der Menschheit in die Hand genommen habe und daß wir seine Wege nicht völlig begreifen können. Von nun an hat die Erziehung sich ökumenische Ziele zu stecken und den Zufall selbst im Schicksal von Völkern auszuschließen:die Aufgabe ist so groß, daß eine ganz neue Gattung von Erziehern, ein neues Gebilde aus Ärzten Lehrern Priestern Naturforschern Künstlern der alten Kultur 23 [95] Die Besonnenheit der antiken Dichter zeigt sich darin, daß sie das Gefühl von einer Stufe zur andern heben und es so sehr hoch steigern. Die Neuern versuchen es gerne mit einem Überfalle; oder: sie ziehen gleich mit aller Gewalt am Glockenstrange der Leidenschaft. Mißlingt es ihnen aber am Anfang, so sind sie auch verloren. Ein gutes Buch sollte, als Ganzes, einer Leiter der Empfindung gleichen, es müßte nur von Einer Seite her einen Zugang haben, der Leser müßte sich verwirrt fühlen, wenn er es auf eigne Faust versuchte, darin sich seinen Weg zu machen. Jedes gute Buch würde sich so selber schützen; wer schleppt gerne einen Strick mit aufgereihten Worten hinter sich drein, welche er zunächst nicht versteht? Im Gleichniß gesprochen: als man mir den standhaften Prinzen Calderons in der Schlegelschen Übersetzung vorlas, gieng mirs so: ich zog meinen Strick eine Zeitlang und ließ ihn endlich mißmuthig fahren, machte einen neuen Versuch und zog wieder einen Faden voller Worte hinter mir, aber selten kam das erklärende erlösende Wort: Qual Verdruß, wie bei einem Bilde, auf dem alle Zeichnung verblaßt ist und Eines Vieles bedeuten kann. 23 [96] Der Fehler der Moralisten besteht darin, daß sie um das Moralische zu erklären egoistisch und unegoistisch wie unmoralisch und moralisch einander gegenüber stellen, d.h. daß sie das letzte Ziel der moralischen Entwicklung, unsere jetzige Empfindung als Ausgangspunkt nehmen. Aber diese letzte Phase der Entwicklung ist durch zahlreiche Stufen, durch Einflüsse von Philosophie und Metaphysik, von Christenthum bedingt und durchaus nicht zu benutzen, um den Ursprung des Moralischen zu erklären. Überdies ist möglich, daß unegoistisches Handeln zwar ein uns geläufiger Begriff, aber keine wirkliche Thatsache, sondern nur eine scheinbare ist; die Ableitung des Mitleidens z. B. führt vielleicht auf den Egoismus zurück, ebenso wie es wahrscheinlich keine Thaten der Bosheit an sich, des Schädigens ohne persönlichen Grund usw. giebt. Das Reich des Moralischen ist vor allem das Reich des Sittlichen gewesen, man nannte aber den guten Menschen durchaus nicht zu allen Zeiten den, welcher die Sitte unegoistischer Handlungen, das Mitleiden und dergleichen hatte, sondern vielmehr den, welcher überhaupt den Sitten folgte. Ihm stand der böse Mensch, der ohne Sitte (der unsittliche) gegenüber. 23 [97] Das Mitgefühl mit dem Nächsten ist ein spätes Resultat der Cultur: wie weit muß die Phantasie entwickelt sein, um anderen wie uns selber nachzufühlen (erst wenn wir gelernt unsere eigenen nicht gegenwärtigen Schmerzen und Freuden durch die Erinnerung nachzufühlen und wie gegenwärtige zu empfinden). Vielen Antheil hat gewiß die Kunst, wenn sie uns lehrt, Mitleiden selbst mit vorgestellten Empfindungen unwirklicher Personen zu haben. 23 [98] Die gute Recension eines wissenschaftlichen Buches besteht darin, daß das aufgestellte Problem desselben besser gelöst wird; dem entsprechend wäre es, wenn die Kritik eines Kunstwerks darin bestünde, daß jemand das darzustellende Motiv des Kunstwerks besser darstellte, z. B. ein Musiker durch die That zeigte, daß ein Anderer mit seinem Thema nicht genug zu machen gewußt habe; insgleichen ein Bildhauer, ein Romanschreiber. Alle gute Kritik heißt Bessermachen; deshalb ist Bessermachen-können unerläßliche Bedingung für den Kritiker. Nun sehe man aber die gewöhnlichen Kritiker der Kunst und Philosophie an! Sie sagen: es gefällt uns nicht; aber wodurch wollen sie beweisen, daß ihr Geschmack entwickelter höher steht, wenn nicht durch die That? 23 [99] Man redet von Ahnungen, als ob z. B. die Religion gewisse Erkenntnisse, wenngleich dunkel, vorausgefühlt habe. Ein solches Verhältniß zwischen Religion und Wissenschaft giebt es nicht. Das was man Ahnung nennt, ist aus ganz anderen Motiven aufgestellt als wissenschaftlichen, auf ganz anderen Methoden begründet, nicht einmal auf halbwissenschaftlicher Methode. Es ist zufällig, wenn das Eine dem Andern ähnlich sieht. Alle Religionen zusammen sollen gewisse gemeinsame Wahrheiten dunkel enthalten, man glaubt damit einer Philosophie etwas Günstiges zu sagen, wenn man die religiöse Phantastik auf ihre Seite bringt: aber es ist umgekehrt. Wissenschaft und Religion werden sich in ihren Resultaten gar nicht ähnlich sehen können. 23 [100] Es leben zu gleicher Zeit Menschen der verschiedensten Culturstufen selbst in den hochentwickelten Nationen neben einander fort. In Deutschland und der Schweiz ist alles, was von der Reformation an die Seelen beherrschte, noch irgendwo zurückgeblieben, es ist möglich, durch mehrere Jahrhunderte rückwärts zu wandern und Menschen dieser Zeiten zu sprechen. Ja, der sehr reich entwickelte Mensch (wie Goethe) lebt große Zeiträume, ganze Jahrhunderte voraus in den verschiedenen Phasen seiner Natur.
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