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The Will to Power
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Winter 1876-1877 20 [1-21]

20 [1]

14. Es giebt eine doppelte Aesthetik. Die eine geht von den Wirkungen der Kunst aus und schliesst auf entsprechende Ursachen; sie steht mit diesem Verfahren unter dem Zauber der Kunst und ist selber eine Art Dichtung und Rausch: ein Hineinerklingen der Kunst in die Saiten der Wissenschaft. Die andere Aesthetik geht von den vielfach absurden und kindischen Anfängen der Kunst aus: sie vermag die thatsächlichen Wirkungen daraus nicht abzuleiten und wird desshalb versuchen, die Empfindung über die Kunst überhaupt zu ermässigen und jene Wirkungen auf alle Weise zu verdächtigen, als ob sie erlogen oder krankhaft seien. Woraus klar wird, welche Aesthetik der Kunst nützt, welche nicht und inwiefern beide keine Wissenschaft sein können.

20 [2]

16. — — — In der That sind diese Folgen bedenklich. Wenn die schlechte, ungeschickte Handlung irgend wann einmal keinen Unmuth mehr nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, an die man sich in Hinsicht auf das Vergangene gewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln des Menschen durch die Anticipation der zu er werbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese in Hinsicht auf sogenannte moralische Lust oder Unlust weg, so hält ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin: es sei denn die Rücksicht auf das Nützliche oder Schädliche; die Moral wiche einer Nützlichkeitslehre. Der Mensch würde in Hinsicht auf das Kommende eben so kalt und klug werden wie in Hinsicht auf das Vergangene. Dann würde er für die kalte Ueberlegung reif sein, welchen Werth sein gegenwärtiges Leben habe, das immer noch schmerzhaft genug sein könnte, nebst der Erwägung, ob nicht vielleicht das Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei. In Erkenntniss oder Witterung dieses Sachverhaltes, sträubt sich jeder Mensch und auch jede philosophische Ethik gegen die Aufhebung der Verantwortlichkeit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit, sondern nur auf sie selber zu achten hat.— Dass das Leben des Menschen als Ganzes keine Folge der Empfindung in Lust oder Unlust haben solle, sondern mit Vernichtung und völliger Empfindungslosigkeit schlösse, wird aus demselben Grunde gemeinhin abgelehnt: man fürchtet den Glauben an den Werth des Lebens zu schwächen und die Lust zum Selbstmorde zu ermuthigen. Der Wille zum Leben wehrt sich gegen die Schlüsse der Vernunft und versucht diese zu trüben: daher die Bedeutung, die man den letzten Augenblicken des Lebens auf dem Sterbebette beilegt, als ob da noch etwas zu fürchten oder zu hoffen wäre.

20 [3]

1. Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle: diess heisst sehr viel verlangen. Eine Sentenz ist eine Anmaassung.— Oder sie ist eine Vorsicht: wie Heraclit wusste. Eine Sentenz muss, um geniessbar zu sein, erst aufgerührt und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichten) versetzt werden. Das verstehen die Meisten nicht und desshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen.

20 [4]

12. In einen heftigen Affect der Liebe geräth man leichter aus einem Zustand der Verliebtheit, welche auf eine andere Person gerichtet ist, als aus dem der völligen Kälte und Freiheit des Gemüthes.

20 [5]

20. Wie viel mehr an Güte und Glück unter den Menschen gäbe es, wenn sie fürderhin das, was sie bisher Gotte gaben, einander gäben, an Zeit, Kraft, Vermögen, Ueberwindung des Herzens, Selbstlosigkeit, Liebe. Wie viel mehr?— Vielleicht nicht gar zu viel.

20 [6]

21. Mancher will sich durch Lob, Bewunderung, Neid Anderer von seinem eignen Werthe überzeugen oder überreden; daran liegt ihm viel mehr als an allem Uebrigen und er gebraucht jedes Mittel, sogar das der Selbstüberlistung und Selbstberauschung. Ja er zieht es hundertmal vor, sich lieber zu bewundern als sich zu nützen und liebt sich viel mehr als ihm vortheilhaft ist. An ihm ist die Eitelkeit nur das Mittel der Selbstgefälligkeit. Er will nicht sowohl hervorragen als sich hervorragend fühlen, gleichgültig ob er es ist.

20 [7]

25. Woher stammt der Neid der Götter? Es scheint, dass der Grieche nicht an ein ruhiges und stilles, sondern allein an ein übermüthiges und frevelhaftes Glück glaubte; es erbitterte ihn, den Glücklichen zu sehen. Es muss ihm wohl im Ganzen schlecht zu Muthe gewesen sein; denn seine Seele war allzu leicht beim Anblicke des Glückes verwundet. Wo es ein ausgezeichnetes Talent gab, da war die Schaar der Eifersüchtigen ausserordentlich gross. Traf jenes ein Unglück, so sagte man: es that auch Noth, er war gar zu übermüthig; und jeder hätte sich doch ebenso benommen, wenn er das gleiche Talent gelabt hätte, nämlich übermüthig; ebenso wie jeder bei Gelegenheit den Gott spielen mochte, der das Unglück auf das Talent schickt.

20 [8]

30. Die Eitelkeit hat zwei Quellen, entweder in dem Gefühl der Schwäche oder in dem der Macht. Der Mensch, sobald er seine Hülflosigkeit als Einzelner und das Maass seiner Kräfte und Besitzthümer wahrnimmt, sinnt auf Austausch mit den Nächsten. Je höher diese seine Kräfte und Besitzthümer taxieren, um so mehr kann er für sich bei diesem Austausche gewinnen. Nun kennt er von Allem, was er besitzt, die schwachen Seiten nur zu genau. Desshalb verdeckt er diese und stellt die starken glänzenden Eigenschaften an’s Licht. Dies ist die eine Art der Eitelkeit; dazu gehört die andere, welche den Schein von glänzenden Eigenschaften, die in Wahrheit nicht da sind, erwecken will: beide zusammen bilden die sehende Eitelkeit (welche Verstellung ist). Der auf diese Weise eitle Mensch will Begehrlichkeit nach sich und damit höhere Taxation erzeugen. Neid entsteht, wenn einer begehrlich ist, aber keine oder kaum eine Aussicht hat, seine Begehrlichkeit durch Tausch zu befriedigen. Wir sind alle begehrlich nach fremdem Besitz. Einmal weil wir die Schwächen des eigenen Besitzes zu gut kennen und seine Vorzüge uns durch Gewöhnung reizlos geworden sind, sodann weil der Andere seinen Besitz in das günstigste Licht gestellt hat. Wir scheinen verliebter in unsern Besitz, um ihn begehrenswerther erscheinen zu lassen. Beim Tausch glaubt jeder den Andern übervortheilt und selber den höheren Gewinn zu haben. Der Tauschende hält sich für klug; die sehende Eitelkeit vermehrt im Menschen den Glauben an seine Klugheit. Der Tauschende meint, er sei der Täuschende, aber der, mit welchem er tauscht, glaubt von sich dasselbe.— Wir schätzen das Beneidetwerden, weil die Andern, welche uns nicht beneiden, sondern einen Tausch anbieten können, durch die gesteigerte Begehrlichkeit der Neidischen zu einer höheren Taxation unserer Güter gedrängt werden.— Das Gefühl der Macht, vererbt, erzeugt die blinde Eitelkeit (während jenes die sehende, nach dem Vortheile hin sehende war); die Macht discutiert und vergleicht nicht, sie hält sich für die höchste Macht, sie macht die höchsten Ansprüche; bieten andere ihre Begabungen und Kräfte mit demselben Anspruche an, so bleibt jetzt nur der Krieg übrig: durch einen Wettkampf wird über das Recht dieser Ansprüche entschieden oder durch Vernichtung des einen Mitbewerbers, mindestens seiner hervorragenden Fähigkeit. Eifersucht ist der gereizte Zustand des Mächtigen im Verhältniss zum mächtigen Mitbewerber; Neid, der hoffnungslose Zustand, ihm nicht zuvorkommen zu können: also wenn er im Kriege unterliegt. Der Neid bei sehender Eitelkeit entsteht aus ungestillter Begehrlichkeit; der Neid bei blinder Eitelkeit ist die Folge einer Niederlage.

20 [9]

35. Die Resignation besteht darin, dass der Mensch die starke Anspannung aller Sehnen seines Denkens und Fühlens aufgiebt und sie in einen Zustand zurückversetzt, wo sein Denken und Fühlen gewohnheitsmässig und mechanisch wird. Dieses Nachlassen ist mit einer Lust verbunden und die mechanische Bewegung ist wenigstens ohne Unlust.

20 [10]

38. Man kann die grösste Begabung und geistige Erfindsamkeit unterdrücken, wenn man unersättlich im Producieren ist und dem Quellwasser keine Zeit lässt sich zu sammeln.

20 [11]

17. — — — Um das Beispiel einer übermässigen und fast verunglückten Inoculation zu nehmen: die Deutschen, ursprünglich von jener ausserordentlichen Geschlossenheit und Tüchtigkeit, welche Tacitus, der grösste Bewunderer ihrer Gesundheit, schildert, wurden durch die Inoculation der römischen Cultur nicht nur verwundet, sondern fast bis zum Verbluten gebracht: man nahm ihnen Sitte, Religion, Freiheit, Sprache, so viel man konnte; sie sind nicht zu Grunde gegangen, aber dass sie eine tief leidende Nation sind, haben sie durch ihr seelenvolles Verhalten zur Musik bewiesen. Kein Volk hat so viel wunde Stellen, wie die Deutschen, und eben desshalb haben sie eine grössere Begabung zu jeder Art von Freigeisterei.— Ich will bei dieser Betrachtung absichtlich bei dem Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredelung auf Grund der schwächeren und entarteten Naturen, Schlüsse auf die thierischen Naturen und deren Gesetze zu machen.— Aus dieser ganzen Betrachtung kann der Freigeist den Beweis entnehmen, dass er auch den gebundenen Geistern nützlich ist: denn er hilft dazu, dass das Product der gebundenen Geister, ihr Staat, ihre Cultur, ihre Moral nicht erstarren und absterben; er lässt in Stamm und Aeste immer von Neuem den belebenden Saft der Verjüngung fliessen.

20 [12]

22. Es ist vielleicht das wichtigste Ziel der Menschheit, dass der Werth des Lebens gemessen und der Grund, wesshalb sie da ist, richtig bestimmt werde. Sie wartet desshalb auf die Erscheinung des höchsten Intellectes; denn nur dieser kann den Werth oder Unwerth des Lebens endgültig festsetzen. Unter welchen Umständen aber wird dieser höchste Intellect entstehen? Es scheint, dass die, welche die menschliche Wohlfahrt im Ganzen und Groben fördern, sich gegenwärtig noch ganz andere Ziele setzen, als diesen höchsten, werthbestimmenden Intellect zu zeugen. Man begehrt für möglichst viele ein Wohlleben herzustellen und versteht dieses Wohlleben noch dazu äusserlich genug.

20 [13]

4. Man liebt oft einen Ort, einen Menschen und gelt ihm fürderhin aus dem Wege; so gross ist die Neugierde des Herzens.

20 [14]

31. Man muss sehr flach sein, um aus den gewöhnlichen Gesellschaften nicht mit Gewissensbissen heimzukehren.

20 [15]

34. Es ist practisch, im Verkehr mit Freunden und Gattinnen viel Vertrauen aber wenig Vertraulichkeit, im Verkehr mit der übrigen Welt dagegen wenig Vertrauen und viel Vertraulichkeit zu haben.

20 [16]

79. Einen Freigeist wird sein Gewissen mehr beissen, wenn er seine Ehe mit kirchlichen Ceremonien begonnen, als wenn er ein Mädchen verführt hat; obwohl letzteres tadelns- und strafenswerth, ersteres es nicht ist.

20 [17]

108. Wer seine Gesundheit lobt, der hat eine Krankheit mehr.

20 [18]

Erziehung zum Freigeist.

Erste Stufe: unter der Herrschaft des persönlichen Nutzens.

Zweite Stufe: unter der Herrschaft des Herkommens.

Dritte Stufe: unter der Herrschaft der Religion.

Vierte Stufe: unter der Herrschaft der Kunst.

Fünfte Stufe: unter der Herrschaft einer metaphysischen Philosophie.

Sechste Stufe: unter dem Gesichtspunct des allgemeinen Nutzens.

Siebente Stufe: unter der herrschenden Absicht auf Erkenntniss.

Januar bis Mitte Februar
Sorrent 1877

20 [19]

Operette
Positivismus ganz nothwendig
Fatum
verfeinerter Heroismus
ein Staatsmann Menschenfreund

20 [20]

Man liebt grobe Consequenz—Overbeck

20 [21]

Melodie des europäischen Menschen: woraus sich ergiebt, daß noch einiges an diesem Menschen zu thun ist.

Was ist jetzt die herrschende Melodie in Europa, l’idée fixe musicale? Eine Operettenmelodie (natürlich die Tauben ausgenommen oder W[agner]).

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