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September 1876 18 [1-62]

Die Pflugschar.

18 [1]

“Willst du mir folgen, so baue mit dem Pfluge!, dann geniessen deiner Viele, dein geneusst sicherlich der Arme und der Reiche, dein geneusst der Wolf und der Aar und durchaus alle Creatur.”

Der Meier Helmbrecht.
 
[Vgl. Wernher der Gartenaere, Meier Helmbrecht, 544-550. Ludwig Uhland, Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Dritter Band. Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder mit Abhandlung und Anmerkungen. Zweiter Band: Abhandlung. Stuttgart: Cotta, 1866:72.]

Wege zur geistigen Freiheit.

18 [2]

1.2. Alle öffentlichen Schulen sind auf die mittelmässigen Naturen eingerichtet, also auf Die, deren Früchte nicht sehr in Betracht kommen, wenn sie reif werden. Ihnen werden die höheren Geister und Gemüther zum Opfer gebracht, auf deren Reifwerden und Früchtetragen eigentlich Alles ankommt. Auch darin zeigen wir uns als einer Zeit angehörig, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht. Freilich die begabte Natur weiss sich zu helfen: ihre erfinderische Kraft zeigt sich namentlich darin, wie sie, trotz dem schlechten Boden, in den man sie setzt, trotz der schlechten Umgebung, der man sie anpassen will, trotz der schlechten Nahrung, mit der man sie auffüttert, sich bei Kräften zu erhalten weiss. Darin liegt aber keine Rechtfertigung für die Dummheit Derer, welche sie in diese Lage versetzen.

18 [3]

3. Loslösung von der nicht verstehenden Umgebung:—Eine tiefe Verwundung und Beleidigung entsteht, wenn Menschen, mit denen man lange vertraulich umgegangen ist und denen man vom Besten gab, das man hatte, gelegentlich Geringschätzung gegen uns merken lassen. Wer mit den Menschen vorsichtig umgeht und sie nicht verletzt, um nicht verletzt zu werden, erfährt gewöhnlich zu seinem Schrecken, dass die Menschen seine Vorsicht gar nicht gemerkt haben oder gar, dass sie sie merken und sich über sie hinwegsetzen, um ihren Spaass dabei zu haben.

18 [4]

4. Mittel, Leute von sich zu entfernen:—Man kann Niemanden mehr verdriessen und gegen sich einnehmen, als wenn man ihn zwingen will, an Dinge zu denken, welche er sich mit aller Gewalt aus dem Sinne schlagen will, z. B. Theologen an die Ehrlichkeit im Bekennen, Philologen an die erziehende Kraft des Alterthums, Staatsmänner an den Zweck des Staates, Kaufleute an den Sinn alles Gelderwerbes, Weiber an die Zu- und Hinfälligkeit ihrer Neigungen und Bündnisse.

18 [5]

8. Es ist nützlich, mehr zu fordern:—Wer etwas erreichen will, muss sehr nachdrücklich noch mehr fordern; man bewilligt ihm dann das geringere Maass seiner Forderung und ist zufrieden damit, dass er sich zufrieden giebt.

18 [6]

12. Werth einer gedrückten Stimmung.— Menschen, welche unter einem inneren Druck leben, neigen zu Ausschweifungen,—auch des Gedankens. Grausamkeit ist häufig ein Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt; ebenso eine gewisse grausame Rücksichtslosigkeit des Denkens.

18 [7]

24. Reist man von Ort zu Ort weiter, und fragt man überall, welche Köpfe an jedem Ort die höchste Geltung haben, so findet man, wie selten überlegene Intelligenzen sind. Gerade mit den geachteten und einflussreichen Intelligenzen möchte man am Wenigsten auf die Dauer zu thun haben, denn man merkt ihnen an, dass sie nur als Anführer der vortheilhaften Ansichten diese Geltung haben, dass der Nutzen Vieler ihnen ihr Ansehen giebt. Ein Land von vielen Millionen Köpfen schrumpft bei einem solchen Blicke zusammen, und Alles, was Geltung hat, wird Einem verdächtig.

Bei den Schutzzöllnern und Freihändlern handelt es sich um den Vortheil von Privatpersonen, welche sich einen Saum von Wissenschaft und Vaterlandsliebe angelogen haben.

18 [8]

27. Ohne Productivität ist das Leben unwürdig und unerträglich: gesetzt aber, ihr hättet keine Productivität oder nur eine schwache, dann denkt über Befreiung vom Leben nach, worunter ich nicht sowohl die Selbsttödtung, als jene immer völligere Befreiung von den Trugbildern des Lebens verstehe—bis ihr zuletzt wie ein überreifer Apfel vom Baume fallt. Ist der Freigeist auf der Höhe angelangt, so sind alle Motive des Willens an ihm nicht mehr wirksam, selbst wenn sein Wille noch anbeissen möchte: er kann es nicht mehr, denn er hat alle Zähne verloren.

18 [9]

31. Den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit soll man wie die ersten Zähne verlieren, dann wächst einem erst das rechte Gebiss.

18 [10]

32. Von der Todesfurcht zu erlösen ist vielleicht das Eine Mittel: ein ewiges Leben zu lehren; ein andres sichereres jedenfalls, Todesverlangen einzuflössen.

18 [11]

33. Religiöse Meinungen gewöhnt man uns in den ersten fünfzehn Jahren unseres Lebens an, und in den nächsten fünfzehn Jahren wieder ab, im zehnten Lebensjahr ist jetzt gewöhnlich ein Mensch am religiösesten.— Wenn es nützlich sein sollte, den Menschen zuerst an die Brust der Amme Religion zu legen und ihn die Milch des Glaubens trinken zu lassen, so dass er erst später, und allmählich, an Brod und Fleisch der Erkenntniss gewöhnt wird: so scheint mir doch die Zeit zu lang, in Anbetracht der Kürze des menschlichen Lebens. Die jetzige Oekonomie würde vielleicht im Rechte sein, wenn der Mensch erst im sechzigsten Jahr in die Blüthezeit seiner Kraft und Vernunft träte. Aber thatsächlich wird er jetzt zu gleicher Zeit weise und kraftlos. —

18 [12]

38. Es ist entweder das Zeichen einer sehr ängstlichen oder sehr stolzen Gesinnung, in Jedermann, auch in Freunden, Gönnern, Lehrern, die Gefahr eines tyrannischen Übergewichtes zu sehen, und sich in Acht zu nehmen, grosse Wohlthaten zu empfangen. Aber es wird keinen Freigeist geben, der nicht diese Gesinnung hätte.

Menschliches und Allzumenschliches.

18 [13]

51. Menschen, deren Umgang uns unangenehm ist, thun uns einen Gefallen, wenn sie uns einen Anlass geben, uns von ihnen zu trennen. Wir sind hinterdrein viel eher bereit, ihnen aus der Ferne Gutes zu erweisen oder zu gönnen.

18 [14]

52. Man denkt sich den moralischen Unterschied zwischen einem ehrlichen Manne und einem Spitzbuben viel zu gross; dagegen ist gewöhnlich der intellectuelle Unterschied gross. Die Gesetze gegen Diebe und Mörder sind zu Gunsten der Gebildeten und Reichen gemacht.

18 [15]

55. Es giebt viel mehr Behagen, als Unbehagen in der Welt. Practisch ist der Optimismus in der Herrschaft;—der theoretische Pessimismus entsteht aus der Betrachtung: wie schlecht und absurd der Grund unseres Behagens ist; er wundert sich über die geringe Besonnenheit und Vernunft in diesem Behagen; er würde das fortwährende Unbehagen begreiflich finden.

18 [16]

57. Die Seelenunruhe, welche die philosophischen Menschen an sich verwünschen, ist vielleicht gerade der Zustand, aus dem ihre höhere Productivität hervorquillt. Erlangten sie jenen völligen Frieden, so hätten sie wahrscheinlich ihre beste Thätigkeit entwurzelt und sich damit unnütz und überflüssig gemacht.

18 [17]

58. Jeder, der geheimnissvoll von seinem Vorhaben spricht, oder der merken lässt, dass er gar nicht davon spreche, stimmt seine Mitmenschen ironisch.

18 [18]

60. In Lastern und bösen Stimmungen sammelt oft der gute Hang in uns sein Quellwasser, um dann stärker hervorzubrechen. Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.

18 [19]

62. Was kann das Motiv für die jetzt geforderte Abschliessung der Nationen von einander sein, während doch alles Andere auf Verschmelzung derselben hinweist? Ich glaube dynastische Interessen und kaufmännische Interessen gehen da Hand in Hand. Sodann benutzen alle liberalen Parteien die nationale Abschliessung als einen Umweg, um das sociale Leben freier zu gestalten. Während man grosse Nationalstaaten aufbaut, wird man viele kleinere Machthaber und den Einfluss einzelner bedrückender Kasten los; dabei versteht es sich von selbst, dass dieselbe Macht, welche jetzt den Kleinstaat zertrümmern muss, einstmals den Grossstaat zertrümmern muss. Ein blindes Vorurtheil ist es dagegen, es seien die Racen und die Verschiedenheit der Abstammung, was jetzt die Nationen zu Grossstaaten umbildet.

18 [20]

64. Über den Fleiss machen die Gelehrten viele schöne Worte; die Hauptsache ist, dass sie sich ohne ihren Fleiss zu Tode langweilen würden.

18 [21]

65. Das Christenthum und La Rochefoucauld sind nützlich, wenn sie die Motive des menschlichen Handelns verdächtigen: denn die Annahme von der gründlichen Ungerechtigkeit jedes Handelns, jedes Urtheilens hat großen Einfluß darauf, daß der Mensch sich von dem allzuheftigen Wollen befreie.

18 [22]

66. Junge Leute klagen oft, dass sie keine Erfahrungen gemacht haben, während sie gerade daran leiden, zu viele gemacht zu haben: es ist der Gipfel der modernen Gedankenlosigkeit.

18 [23]

67. Die Philosophen zweiten Ranges zerfallen in Nebendenker und Gegendenker, das heisst in solche, welche zu einem vorhandenen Gebäude einen Seitenflügel entsprechend dem gegebenen Grundplane ausführen (wozu die Tugend tüchtiger Baumeister ausreicht), und in solche, die in fortwährendem Widerstreben und Widersprechen so weit geführt werden, daß sie zuletzt einem vorhandenen System ein anderes entgegenstellen. Alle übrigen Philosophen sind Überdenker, Historiker dessen was gedacht ist, derer die gedacht haben: jene wenigen abgerechnet, welche für sich stehen, aus sich wachsen und allein “Denker” genannt zu werden verdienen. Diese denken Tag und Nacht und merken es gar nicht mehr, wie die welche in einer Schmiede wohnen, nicht mehr den Lärm der Ambose hören: so geht es ihnen wie Newton (der einmal gefragt wurde, wie er nur zu seinen Entdeckungen gekommen sei, und der einfach erwiderte: “dadurch daß ich immer daran dachte.”)

18 [24]

68. In doppelter Weise ist das Publicum unhöflich gegen einen Schriftsteller: Es lobt das eine Werk desselben auf Unkosten eines anderen vom gleichen Autor und dann: es fordert, wenn der Autor einmal geschrieben hat, immer neue Schriften—als ob es dadurch, dass es beschenkt worden wäre, ein Übergewicht über den Geber bekommen habe.

18 [25]

71. Zeichen einer rücksichtslosen Überlegenheit von Seiten befreundeter oder durch Dankbarkeit uns verpflichteter Personen sind sehr schmerzlich und schneiden tief in’s Herz.

18 [26]

77. Man klagt über die Zuchtlosigkeit der Masse; wäre diese erwiesen, so fiele der Vorwurf schwer auf die Gebildeten zurück; die Masse ist gerade so gut und böse wie die Gebildeten sind. Sie zeigt sich in dem Maasse böse und zuchtlos, als die Gebildeten zuchtlos sich zeigen; man geht ihr als Führer voran, man mag leben wie man will; man hebt oder verdirbt sie, je nachdem man sich selber hebt oder verdirbt.

18 [27]

90. Fast jeder gute Schriftsteller schreibt nur Ein Buch. Alles Andere sind nur Vorreden, Vorversuche, Erklärungen, Nachträge dazu; ja mancher sehr gute Schriftsteller hat sein Buch nie geschrieben, zum Beispiel Lessing, dessen intellectuelle Bedeutsamkeit sich hoch über jede seiner Schriften, jeden seiner dichterischen Versuche erhebt.

18 [28]

91. Ich unterscheide grosse Schriftsteller, nämlich sprachbildende—solche, unter deren Behandlung die Sprache noch lebt oder wieder auflebt—und classische Schriftsteller. Letztere werden classisch in Hinsicht auf ihre Nachahmbarkeit und Vorbildlichkeit genannt, während die grossen Schriftsteller nicht nachzuahmen sind. Bei den classischen Schriftstellern ist die Sprache und das Wort todt; das Thier in der Muschel lebt nicht mehr, und so reihen sie Muschel an Muschel. Aber bei Goethe lebt es noch.

18 [29]

92. Wie kommt es, dass der Verliebte die Wirkung der Tragödie und jeder Kunst stärker empfindet, während doch das völlige Schweigen des Willens als der eigentliche contemplative Zustand bezeichnet wird? Es scheint vielmehr, dass der Wille gleichsam erst aufgepflügt werden muss, um den Saamen der Kunst in sich aufzunehmen.

Das leichte Leben.

18 [30]

101. Jeder Mensch hat seine eigenen Recepte dafür, wie das Leben zu ertragen ist und zwar wie es leicht zu erhalten ist oder leicht zu machen ist, nachdem es sich einmal als schwer gezeigt hat.

18 [31]

104. Wenn das Leben im Verlauf der Geschichte immer schwerer empfunden werden soll, so kann man wohl fragen, ob die Erfindungsgabe der Menschen zuletzt auch für die höchsten Grade dieser Erschwerung ausreicht.

18 [32]

112. Der Mensch, der diesen christenmässigen Trost nicht hat und dem andererseits die Philosophie nicht das Gegengeschenk der völligen Unverantwortlichkeit machte, ist schlimm daran: er kennt sich selber nur zu gut und verachtet sich, weil er sein Wesen irrthümlicher Weise sich als Schuld bemisst; desshalb sieht er auf den Mit-Menschen mit Angst, dass der nicht hinter seine Heimlichkeiten kommt. Er hält den Mit-Menschen entweder wirklich besser als sich, weil er ihn weniger kennt, oder er stellt sich, als ob er ihn für besser halte, um ihn für sich zu gewinnen und zu einem gleichen Gefühle gegen sich zu stimmen. Die Eitelkeit und Ehrsucht der Menschen ruht meistens auf dem Gefühl der eigenen Verachtung: sie wollen, dass man sich über sie täusche; sie freuen sich über jedes Urtheil des Mit-Menschen, wenn es für sie günstig lautet, selbst, wenn sie wissen, dass es falsch ist; ihr Bestreben ist, zu verhüten, dass über sie die ganze Wahrheit an’s Licht komme.

18 [33]

113. Die Mittel gegen Schmerzen, welche Menschen anwenden, sind vielfach nur Betäubungen. Alle solche Mittel aber gehören einer niedrigen Stufe der Heilkunst an. Betäubungen durch Vorstellungen findet man in den Religionen und Künsten, die insofern in die Geschichte der Heilkunst gehören. Besonders verstehen sich Religionen darauf, durch Annahmen die Ursache des Leidens aus den Augen zu rücken, zum Beispiel dadurch, dass sie Aeltern, denen ein Kind gestorben ist, sagen, es sei nicht gestorben und in Hinblick auf den Leichnam hinzufügen, ihr Kind lebe sogar als ein schöneres fort.

18 [34]

115. Es ist bekannt, dass Liebe und Verehrung nicht leicht in Bezug auf dieselbe Person mit einander empfunden werden können. Das Schwerste und Seltenste wäre aber dies, daß höchste Liebe und der niedrigste Grad der Achtung sich bei einander fänden; also Verachtung als Urtheil des Kopfes und Liebe als Trieb des Herzens. Und trotzdem, dieser Zustand ist möglich und durch die Geschichte bewiesen. Der, welcher sich selbst mit der reinsten Art von Liebe lieben könnte, wäre der, welcher sich zugleich selbst verachtete, und welcher zu sich spräche: verachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich allein kennen kannst. Diess ist vielleicht die Stellung des Stifters der christlichen Religion zur Welt. Selbstliebe aus Erbarmen mit sich und seiner völligen Verächtlichkeit ist Kern des Christenthums ohne alle Schaale und Mythologie. Das Gefühl dieser Verächtlichkeit entspringt aus Selbsterkenntniss und diese wieder aus Rachebedürfniß. Hat Jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt durch Sündhaftigkeit aller Art, so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu fühlen. Eindringende Selbstbetrachtung und zuletzt Selbstverachtung sind die natürlichen Folgen, bei manchen Menschen selbst Askese, d. h. Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. Auch darin, dass der Mensch sich mehr Mühe und Hast zumuthet, zeigt sich derselbe Hang zur Rache an sich. Dass bei alledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Wunder, und gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte bei, aber der Mensch selbst ist es, der einer solchen Liebe fähig ist in einer Art von Selbstbegnadigung denn er kann nicht aufhören, sich zu lieben, da seine Liebe nie Sache des Kopfes sein kann. In diesem Zustande wird die Liebe Herr über das Gefühl der Rache, der Mensch vermag wieder zu handeln und weiter zu leben; er hält freilich dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist fast zwecklos, aber er kann nicht anders, als handeln; wie der Christ der ersten Zeit sich durch den Hinblick auf den Untergang der Welt tröstet und dann endlich seiner verächtlichen, zum Handeln treibenden Natur verlustig zu gehen hofft, so kann jetzt jeder Mensch wissen, dass es mit der Menschheit jedenfalls einmal vorbei sein wird und damit muss sich der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben legen; dazu wird er immer mehr hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie an’s Licht bringen; ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Er wird zum Beispiel einsehen, dass alle Aeltern ihr Kind ohne Verantwortung erzeugen und ohne Kenntniss des zu Erziehenden erziehen, sodass sie nothwendig Unrecht thun und sich an einer fremden Sphäre vergreifen. Es gehört diess eben zur Unseligkeit der Existenz, und so wird der Mensch zuletzt bei allem, was er thut, sich voller Ungenüge fühlen und das Höchste, was er erreichen kann, wird sein: Mitleid mit sich zu haben; die Liebe und das Mitleid mit sich selber sind für die höchsten Stufen der Erschwerung des Lebens aufgespart, als die stärksten Erleichterungsmittel.

Weib und Kind.

18 [35]

116. Auf die verfängliche Frage, woher bist du Mensch? antworte ich: aus Vater und Mutter, dabei wollen wir einmal stehen bleiben.

18 [36]

118. Wenn ich überall eine Erniedrigung der Deutschen finde, so nehme ich als Grund an, dass seit vier Jahrzehnten ein gemeinerer Geist bei den Ehestiftungen gewaltet hat, zum Beispiel in den mittleren Klassen die reine Kuppelei um Geld und Rang; die Töchter sollen versorgt werden und die Männer wollen Vermögen oder Gunst erheirathen; dafür sieht man den Kindern auch den gemeinen Ursprung dieser Ehen an.

18 [37]

119. Das Beste an der Ehe ist die Freundschaft. Ist diese gross genug, so vermag sie selbst über das Aphrodisische mildernd hinwegzusehen und hinwegzukommen. Ohne Freundschaft macht die Ehe beide Theile gemein denkend und verachtungsvoll.

18 [38]

123. Das Beisammenleben der Ehegatten ist das Hauptmittel, um eine gute Ehe selten zu machen, denn selbst die besten Freundschaften vertragen diess nur selten.

18 [39]

124. Zu dem Rührendsten in der guten Ehe gehört das gegenseitige Mitwissen um das widerliche Geheimniss, aus welchem das neue Kind gezeugt und geboren wird. Man empfindet namentlich in der Zeugung die Erniedrigung des Geliebtesten aus Liebe.

18 [40]

125. Für die Existenz braucht kein Sohn seinem Vater dankbar zu sein, vielleicht darf er ihm sogar wegen bestimmter vererbter Eigenschaften (Hang zu Jähzorn, Wollust) zürnen. Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben.

18 [41]

126. Väter, welche ihr eigenes Ungenügen recht herzlich fühlen und sich nach der Höhe des Intellektes und Herzens fortwährend hinauf sehnen, haben ein Recht, Kinder zu zeugen. Einmal geben sie diesen Hang diese Sehnsucht mit, sodann ertheilen sie schon dem Kinde manchen grossen Wink über das wahrhaft Erstrebenswerthe, und für solche Winke pflegt der Erwachsene seinen Aeltern einzig wirklich dankbar zu sein.

18 [42]

130. Der Mensch ist dazu bestimmt entweder Vater oder Mutter zu sein, in irgend welchem Sinne. Ohne Productivität ist das Leben grässlich, desshalb mache ich mir aus der Jugend nichts, denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, zu produciren.

18 [43]

131. Wären die Weiber so beflissen auf die Schönheit der Männer, so würden endlich der Regel nach die Männer schön und eitel sein—wie es jetzt der Regel nach die Weiber sind. Es zeigt die Schwärmerei und vielleicht die höhere Gesinnung des Mannes, dass er das Weib schön will. Es zeigt den größeren Verstand und die Nüchternheit der Weiber (vielleicht auch ihren Mangel an ästhetischem Sinne), dass die Weiber auch die hässlichen Männer annehmen; sie sehen mehr auf die Sache, das heisst hier: Schutz, Versorgung; die Männer mehr auf den schönen Schein, auf Verklärung der Existenz, selbst wenn diese dadurch mühsäliger werden sollte.

18 [44]

135. Es setzt die Liebe tief unter die Freundschaft, dass sie ausschliesslichen Besitz verlangt, während einer mehrere gute Freunde haben kann, und diese Freunde unter sich einander wieder Freund werden.

18 [45]

140. Frauen, welche ihre Söhne besonders lieben, sind meistens eitel und eingebildet. Frauen, welche sich nicht viel aus ihren Söhnen machen, haben meistens Recht damit, geben aber zu verstehen, dass von einem solchen Vater kein besseres Kind zu erwarten gewesen sei: so zeigt sich ihre Eitelkeit.

Über die Griechen.

18 [46]

143. Denkt man sich die Griechen als wenig zahlreiche Stämme, auf einem reichbevölkerten Boden, wie sie das Festland im Innern mit einer Race mongolischer Abkunft bedeckt fanden, die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt und dazwischen Thrazier angesiedelt fanden, so sieht man die Nöthigung ein, vor Allem die Superiorität der Qualität festzuhalten und immer wieder zu erzeugen; damit übten sie ihren Zauber über die Massen aus. Das Gefühl, allein als höhere Wesen unter einer feindsäligen Überzahl es auszuhalten, zwang sie fortwährend zur höchsten geistigen Spannung.

18 [47]

146. Der platonische Sokrates ist im eigentlichen Sinne eine Carricatur; denn er ist überladen mit Eigenschaften, die nie an Einer Person zusammensein können. Plato ist nicht Dramatiker genug, um das Bild des Sokrates auch nur in einem Dialoge festzuhalten. Es ist also sogar eine fliessende Carricatur. Dagegen geben die Memorabilien des Xenophon ein wirklich treues Bild, das gerade so geistreich ist, als der Gegenstand des Bildes war; man muss dieses Buch aber zu lesen verstehen. Die Philologen meinen im Grunde, dass Sokrates ihnen nichts zu sagen habe, und langweilen sich desshalb dabei. Andere Menschen fühlen, dass dieses Buch zugleich sticht und beglückt. [Vgl. Xenophon, Memorabilia Xenophōntos Apomnēmoneumatōn biblia tessara = Commentarii dictorum factorumque Socratis ad defendendum eum scripti a Xenophonte libris IV: cum Apologia Socratis. Fide librorum editorum scriptorumque et virorum doctorum coniecturis annotationibusque post Schneiderum et Coraium recensuit et interpretatus est Fridericus Augustus Bornemann. Lipsiae: Sumtibus librariae Hahnianae, 1829.]

18 [48]

153. Die Götter machen den Menschen noch böser, wenn sie ihm nicht wohl wollen; das ist nicht nur griechisch, das ist Menschennatur. Wen Einer nicht lieben mag, von dem wünscht er im Stillen, dass er schlechter werde und so gleichsam seine Abneigung rechtfertige. Es gehört diess in die düstere Philosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist.

Fortsetzung von
Menschliches und Allzumenschliches.”

18 [49]

154. Ein dummer Fürst, der Glück hat, ist vielleicht das glücklichste Wesen unter der Sonne, denn der Anstand des Hofes lässt ihn sich gerade so weise dünken, als er zum Glücke nöthig hat. Ein dummer Fürst, der Unglück hat, lebt immer noch erträglich, denn er kann seinen Unmuth und sein Misslingen an Anderen auslassen. Ein kluger Fürst, der Glück hat, ist gewöhnlich ein glänzendes Raubthier; ein kluger Fürst, der Unglück hat, dagegen ein sehr gereiztes Raubthier, welches man in einen Käfig sperren soll; er täuscht sich nicht über seine Fehlgriffe und das macht ihn so böse. Ein kluger Fürst, der dabei gut ist, ist meistens sehr unglücklich, denn er muss Vieles thun, für das er zu gut oder zu klug ist.

18 [50]

155. Im Grunde hält man das Streben und die Absichten eines Menschen, seien sie auch noch so gefährlich und absonderlich, für entschuldigt oder mindestens für verzeihlich, wenn er sein Leben dafür einsetzt. Die Menschen können vielleicht durch nichts so deutlich ausdrücken, wie hoch sie den Werth des Lebens nehmen.

18 [51]

156. Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln. Ich wünschte einmal, die Definition des Schuftes zu hören. Das eigentlich Schuftige scheint für das Auge der Justiz unerkennbar zu sein und desshalb erreicht auch ihr Arm es nicht.

18 [52]

157. Der Sinn der ältesten Strafen ist nicht: vor dem Vergehen abzuschrecken, sondern erstens: ein Versuch, den Schaden wieder gut zu machen, zum Beispiel durch ein Bussgeld an die Verwandten des Erschlagenen; zweitens gehören Maassregeln hieher, welche das Gemeinwesen trifft, um sich als Ganzes vor dem Zorn einer beleidigten Gottheit zu sichern, desshalb muss der Mörder bei Homer aus seiner Heimath flüchtig werden; es liegt kein sittlicher, wohl aber ein religiöser Makel auf ihm: er gefährdet das Gemeinwesen, zu dem er gehört. Diese Gattung von Maassregeln ist bei uns überflüssig.

18 [53]

158. Der Grundgedanke eines neuen menschlicheren Strafrechts müsste sein: ein Unrecht einmal insofern zu beseitigen, als der Schaden wieder gut gemacht werden kann; sodann die böse That durch eine Gutthat zu compensiren. Diese Gutthat brauchte nicht den Beschädigten und Beleidigten, sondern irgend Jemandem erwiesen zu werden; man hat sich ja durch den Frevel selten am Individuum, sondern gewöhnlich am Gliede der menschlichen Gesellschaft vergangen,—man ist dadurch der Gesellschaft eine Wohlthat schuldig geworden. Diess ist nicht so gröblich zu verstehen, als ob ein Diebstahl durch ein Geschenk wieder gut zu machen wäre; vielmehr soll Der, welcher seinen bösen Willen gezeigt hat, nun einmal seinen guten Willen zeigen.

18 [54]

162. Man kann zweifeln, ob dem guten Menschen, den es nach Erkenntniss dürstet, dadurch genützt wird, dass er immer besser wird. Ein Wenig mehr Sünde gelegentlich macht ihn wahrscheinlich weiser. Jedermann von einiger Erfahrung wird wissen, in welchem Zustande er das tiefste verstehende Mitgefühl mit der Unsicherheit der Gesellschaft und der Ehen hatte.

18 [55]

163. Eigentlich hat der einmal bestrafte Dieb einen Anspruch auf Vergütung, insofern er durch die Justiz seinen Ruf eingebüsst hat. Was er dadurch leidet, dass er von jetzt ab als Dieb gilt, geht weit über das Abbüssen einer einmaligen Schuld hinaus.

18 [56]

164. Die katholische Kirche hat, durch die Institution der Beichte, ein Ohr geschaffen, in welches man sein Geheimniss ohne gefährliche Folgen ausplaudern kann. Diess war eine grosse Erleichterung des Lebens, denn man vergisst seine Schuld von dem Augenblick an, wo man sie weitererzählt hat, aber gewöhnlich vergessen die Anderen sie nicht.

18 [57]

165. Wer das Nichtsein wirklich höher stellt, als das Sein, hat im Verhalten zu dem Nächsten dessen Nichtsein mehr zu fördern, als dessen Sein; weil die Moralisten dieser Forderung ausbiegen wollen, erfinden sie solche Sätze, dass Jeder nur sich selber in’s Nichtsein erlösen könne.

18 [58]

167. Auf die reine Erkenntniss der Dinge lässt sich keine der bisherigen Ethiken gründen; aus ihr folgt allein diess, dass man sein muss, wie die Natur, weder gut noch böse. Die Forderung, gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen.

18 [59]

168. Unrecht hinterlässt mitunter in Dem, welcher es thut, eine Wunde, doch nicht häufig. Gewissensbisse sind eher die Ausnahme, als die Regel. Jemanden, der uns zuwider ist, so zu beleidigen, dass wir seinen Umgang los sind, erzeugt sogar ein seliges Aufathmen über die erlangte Freiheit. Vielleicht aber ist hier das Unrechtthun Nothwehr.

18 [60]

169. Der Staatsmann muss seinen Unternehmungen ein gutes Gewissen vorhängen können und braucht dazu die begeisterten Ehrlichen und noch mehr Die, welche so zu scheinen vermögen.

18 [61]

173. Wer den Trieb zur Reinlichkeit auch im Geistigen hat, wird es nur eine Zeit lang in den Religionen aushalten und sich dann in eine Metaphysik flüchten; später wird er sich von Stufe zu Stufe auch der Metaphysik entschlagen. Es ist wahrscheinlich, dass der Trieb zur Reinlichkeit im Moralischen eher einen entgegengesetzten Weg einschlagen wird; dafür ist dieser Trieb immer mit der Unreinheit des Denkens verbunden und macht dieses vielleicht immer unreinlicher.

18 [62]

176. Die Pflugschar schneidet in das harte und das weiche Erdreich, sie geht über Hohes und Tiefes hinweg und bringt es sich nah. Diess Buch ist für den Guten und den Bösen, für den Niedrigen und den Mächtigen. Der Böse, der es liest, wird besser werden, der Gute schlechter, der Geringe mächtiger, der Mächtige geringer.

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