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Concordance between
The Will to Power
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Frühling 1876? 15 [1-27]

15 [1]

Hypothetische Sätze im Deutschen. “Wenn” drückt ursprünglich einen Wunsch aus; die Sätze dieser Form “ist dies so, so wird daraus” enthalten im Vordersatz eine Frage oder einen Zweifel. Deshalb ist diese letztere Form nicht völlig mit der ersteren zu verwechseln, noch weniger hat sie etwa allein Recht (wie dies W[agner] zu meinen scheint, der sie fast ausschließlich anwendet).

15 [2]

Lange Perioden soll man meiden: oder, falls sie nöthig sind, rein logisch beurtheilen; ich will, daß man das logische Gerüste deutlich klappern höre: denn sie sollen zur Erleichterung des Denkens dienen; Deutlichkeit ist die erste Forderung: was geht uns (Deutsche!) Schönheit und Numerus in der Periode an!

15 [3]

Es ist die rechte Zeit, mit der deutschen Sprache sich endlich artistisch zu befassen. Denn ihre Leiblichkeit ist ganz entwickelt: läßt man sie gehen, so entartet sie jählings. Man muß ihr mit Wissen und Fleiß zu Hülfe kommen und die Mühe an sie wenden, die die griechischen Rhetores an die ihre wendeten—als es auch zu spät war, noch auf eine neue Jugend zu hoffen. Jetzt stehen bis zu Luther’s deutschem Stile alle Farbentöpfe zum Gebrauche da—es muß nur der rechte Maler und Kolorist hinzukommen. Es muß ein Handwerk entstehen, damit daraus einmal eine Kunst werde. Auch unsre Klassiker waren Stil-Naturalisten.

15 [4]

1. Vorbereitung und Erziehung. 2. Bauriss. 3. Baumaterial.

15 [5]

Nachtrag zu David Strauss.

p.106   “man wisse ja längst, daß Gott ‘allgegenwärtig’ eines besonderen Sitzes nicht bedürfe” [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Leipzig: Hirzel 1872:106.]
p.49   “so bringt Schleiermacher in seiner Art wieder einen Gottmenschen heraus.” [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Leipzig: Hirzel 1872:49.]
p.287   “keck umgreifende Klasse der Gesellschaft” [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Leipzig: Hirzel 1872:287.]
p.238   “auf unserm Standpunkte ist von dem sittlichen Handeln sein Reflex im Empfinden oder die Glückseligkeit von selbst so unabtrennbar, daß derselbe durch äußere Umstände nimmermehr in seinem Glückseligkeitswerthe aufgehoben werden kann.” [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Leipzig: Hirzel 1872:238.]
p.49   “der christliche Kultus, dieses Gewand, für einen Gottmenschen zugeschnitten, wird schlotterig und verliert alle Haltung, sobald es einem bloßen Menschen um gelegt wird.” [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Leipzig: Hirzel 1872:49.]

15 [6]

Lichtenberg: “ich weiss dass berühmte Schriftsteller, die aber im Grunde seichte Köpfe waren—was sich in Deutschland leicht beisammen findet—bei allem ihren Eigendünkel von den besten Köpfen, die ich befragen konnte, für seichte Köpfe gehalten worden sind.” [Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Georg Christoph Lichtenberg's Vermischte Schriften, mit dem Portrait, Facsimile und einer Ansicht des Geburtshauses des Verf. Bd. 1. Göttingen: Dieterich, 1867:177.]

15 [7]

Das allerneueste Testament vererbt seine Weisheit an die, welche “geistig arm” sind, weil sie entweder nichts oder zuviel oder nichts recht gelernt haben und schlechte Bücher z. B. nur ihre eigenen gelesen haben.

15 [8]

War es nicht die Meinung des Aristoteles dass man die Producte alter Männer—weil sie nicht völlig lebensfähig sind—tödten solle? [Vgl. Aristoteles, Politik, 1335b 26-1336a 2.]

15 [9]

Otto Jahn, dem das Beethovensche Lied an die Freude nicht heiter genug erschien.

15 [10]

Die Wirkungen Hegel’s und Heine’s auf den deutschen Stil! Letzterer zerstört das kaum fertige Werk unserer grossen Sprachkünstler, nämlich das kaum errungene Gefühl für einheitliche Farbe des Stils; er liebt die bunte Hanswurstjacke. Seine Einfälle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine sentiments, seine Worte passen nicht zu einander, er beherrscht als Virtuose alle Stilarten, aber benutzt diese Herrschaft nur um sie durcheinander zu werfen. Bei Hegel ist alles nichtswürdiges Grau, bei Heine electrisches Farbenspiel, das aber die Augen eben so fürchterlich angreift, als jenes Grau sie abstumpft. Hegel als Stilist ist ein factor, Heine ein Farceur. —

15 [11]

Der neue Glaube kann keine Berge, wohl aber Worte versetzen. —

15 [12]

Empedocles sagte den Agrigentinern: sie hiengen den Lüsten nach, als ob sie den andern Tag sterben sollten, und sie bauten so, als ob sie niemals sterben würden. Strauss baut so, als ob sein Buch morgen sterben müsste, und benimmt sich so, als ob es gar niemals sterben sollte. — [Vgl. Diogenes Laertius, De vitis philosophorum libri X: cum indice rerum ad optimorum librorum fidem accurate editi. T. 2: Lib. VIII. 63. Cap. II. Empedocles. Lipsiae: Holtze, 1870:116.]

15 [13]

Nicht das Straussische Buch, nur sein Erfolg ist das Ereigniss, das uns zu reden zwingt. Kein Gedanke ist darin, der werth wäre als gut und neu bemerkt zu werden. —

15 [14]

Wohlgewaschene Lumpen kleiden zwar reinlich, doch jedenfalls lumpenhaft.

15 [15]

Die süddeutschen Mundarten haben die einzige Vergangenheitsform längst eingebüßt.

Rückert stellt Imperfect, Präsens und Perfect in verderblicher Weise neben einander, z. B.

Als er nun bei der Gränze Zoll
nicht wollt’ angeben, was er führt,
und seinen Kasten öffnen soll,
der Zöllner hat den Fund erspürt.

So ein Perfect in der Erzählung ist ganz tadelnswerth.

15 [16]

Weglassung des Particips: “die Post ist durch, der Bruder ist mit, das Lied ist aus, die Sonne ist unter, das Thor ist auf, der Gast ist fort, das Geld ist weg, die Festung ist über.” “Er hat ein Halstuch um, er hat die Sache weg, er hat das Räthsel heraus.”

15 [17]

Perfekte mit “haben” als Hülfszeitwort. Ursprünglich “er hat ein Haus gebautes,” “ich habe ein Kleid gekauftes,” also Apposition des Accusativs wie bei “er schießt den Hasen todt” (“todten” alt).

15 [18]

Aus dem Imperfect hat sich die Conjunktivform entwickelt. Die Vorstellung des Vergangenen umgebildet zu der des Nichtmehrvorhandenen: “er lebte” enthält “er lebt nicht mehr.” Nun drückt Conjunktiv die Läugnung des Nichtvorhandenseins aus, entnommen aus dem “Nichtmehrvorhandensein.” Im älteren Deutsch “ich spräche” für jede Nichterfüllung in der Zeit, jetzt unterscheiden wir “ich spräche” (noch nicht erfüllt) und “ich hätte gesprochen” (nie erfüllt). “Es gienge wohl,” aber es geht nicht.

15 [19]

Der Conjunktiv des Präsens unterscheidet sich so vom Indikativ, daß der Indicativ ein Wissen, der Conjunktiv ein Glauben ausdrückt. Daraus die ungerade Rede entwickelt: man lehnt ein bestimmtes Wissen ab, aber spricht doch den Glauben aus, daß etwas wahr sei. Die ungerade Rede früher allein in der Form des Imperfect-Conjunctivs, und kommt so noch vor. Alt “ich spräche” (conditional); neu “ich würde sprechen.” Alt “er spräche” (in ungerader Rede), neu “er spreche” (Conjunctiv Präsens).— In der Schweiz sagt man “die Russen seien über den Balkan gegangen” für “sollen sein.” Es ist gut und nachahmenswerth.

15 [20]

1. Wir müssen streben, das Hülfszeitwortwesen zu beschränken!
2. Die Einschachtelung der Präpositionen zu meiden!
3. Man nehme sich mit “müssen” “dürfen wollen sollen mögen können” in Acht!
4. Auch die Bildung mitdaß” ist übermäßig geworden.
5. Herstellung der Conjunctive und der Imperfecte!
6. Der Genetiv der Sache zu conserviren, statt der überwuchernden Präpositionen z. B. den Helden seiner Thaten preisen, den Fremden seiner Herkunft fragen, den Kranken seiner Wunden heilen. Erhalten noch in “anklagen, beschuldigen, zeihen, bezichtigen, überführen, überweisen, erlösen, erlassen (der Haft), entledigen, entbinden, überheben, entsetzen, berauben, verweisen (des Landes), entblößen, entladen, entlassen, entheben, würdigen, versichern, befreien, belehren (eines Besseren, der Zukunft).” Bei “sich” sind wir viel conservativer: “sich seiner Thaten rühmen, sich langen Lebens freuen” “sich eines Mannes annehmen” “sich einer Sache bedenken, sich der Gelegenheit bedienen, des Lebens wehren, des Todes fürchten” vielleicht “sich des Verfahrens ärgern, sich der Schickung grämen, sich der Gefahr scheuen.”

15 [21]

Ganz recht ist beides “mich dünkt” und “mir dünkt,” “es friert mich” “mir friert.” “Ich schlage dir ins Gesicht, ich schlage dich ins Gesicht.” Dativ oder Accusativ bei dünken, ekeln, schmerzen, ahnen.

15 [22]

Feierlich ist jetzt der Genetiv beim Verbum “es schenkte der Böhme des perlenden Weins,” aber noch ganz gewöhnlich, z. B. wo die Leute Vergnügen an Wortspielen haben und selbst deren machen. Des Brotes genießen, des Gehörten erstaunen, des Krüppels spotten, der Gefahr achten, seiner Mutter vergessen. Einer besseren Zukunft sinnen, des nahenden Unglücks erschrecken, des fröhlichsten Lebens wimmeln, des muntersten Gesanges ertönen (der Wald z. B.), eines Kindes genesen.

15 [23]

Die Präpositionvon” hat den Genetiv verdrängt. Nicht bei “satt, müde, voll, quitt, leer, frei, los, fähig, kundig, theilhaftig, habhaft, überdrüssig, beflissen, gewahr, bedürftig, bewußt, befugt, gedenk, verblichen, froh, werth, ansichtig.” Die gemeinen Mundarten kennen den Genetiv fast gar nicht mehr: “dem Nachbar sein Garten” (doch auch ’s Nachbars sein Garten).

15 [24]

Amtmann’s ist Genetiv (im Sinn von Amtmannsleute). Dativ Plural überall bei Ortsnamen auf -hausen -hütten -bergen -thalen -felden -walden -linden -eichen. Baden ist “zu den Bädern,” Schiffhausen “zun Schiffhäusern.” So in Rothenstein, Altenburg. Zu ausgelassen.

15 [25]

Aufgabe: ein schlichter Auszug aus Overbecks Buche “Christlichkeit der Theologie.” Aus meiner “Geburt der Tragödie.”

15 [26]

Warnung vor den Zusammensetzungen wie “Forschungshülfsmittel.” “Culturkampf.”

Ebenso vor dem Vertrauen auf die Tragkraft eines Wortes, wie z. B. “die Anschauung von der Leistungsfähigkeit der modernen Photographie in Verbindung mit Pressendruck.”

15 [27]

Die verschiednen Stilarten:
 
A. Stil des Intellekts (unmetrisch) oder “der gefühllose Stil.”
B. Stil des Willens  (entweder Prosa oder Poesie—
————^———————  metrisch oder halbrhythmisch) oder
1. des µh@l 2. des BVh@l  der Stil des unreinen Denkens.

Der Stil des Intellekts entsteht spät, immer auf Grundlage des Ethos-Stils. Aber zuerst meist poetisch (das Bild des Individuums bestimmt ihn, der Priester der Seher mit µh@l), später

schlicht-alltäglich (nach dem Vorbild des vornehmen Mannes, der einfach und gewählt spricht). Die Ernüchterung der Denkart muß sich nun überall zeigen, ebenso der Haß gegen das unreine Denken.

Die Schriftsprache entbehrt der Betonung und dadurch eines außerordentlichen Mittels, Verständniß zu erlangen. Sie muß sich also bemühen, dies zu ersetzen: hier ist ein Hauptunterschied der geschriebenen und gesprochenen Rede. Die letztere darf sich auf Betonung verlassen: die Schriftsprache muß übersichtlicher kürzer unzweideutiger sein, ihre größte Mühe ist es aber, die Leidenschaften der Betonung ungefähr nachfühlen zu lassen. Frage: wie hebt man ein Wort heraus, ohne den Ton zu Hülfe zu nehmen (da man keine Tonzeichen hat)? Zweitens: wie hebt man ein Satzglied heraus? Vielfach muß anders geschrieben als gesprochen werden. Deutlichkeit ist Vereinigung von Licht und Schatten.

Lesen Vorlesen Vortragen bedingen drei Arten des Stils. Hier ist Vorlesen die Art, bei der die Stimme am kunstvollsten behandelt werden muß, da sie den Mangel von Gestikulation zu ersetzen [hat], Lesen die Art, wo der Stil am vollkommensten sein muß, weil hier Stimme und Gestikulation als Ausdrucksmittel wegfallen. Natürliche Gattungen könnte man z.B. die Vorlese-Gattung nennen, wenn hier die Gesten wirklich überflüssig wären, also nicht ersetzt zu werden brauchten (hinter einem Vorhang lesen): bei ganz Ruhigem, wo der Körper ruhig bleiben würde, z. B. Geschichte des Herodot. Natürlich wäre die Lese-gattung, wo Modulation der Stimme und Gesten gar nicht in Betracht kämen z. B. bei Mathematik.

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