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Sommer-Herbst 1873 29 [101-232]
29 [101] AntiquarischMonumental. | Alle Gefahren beider vereinigt in der Objectivität. | Welche Menschen dadurch an die Historie gekommen sind | Allgemeine Hypertrophie dadurch eingetreten. | NiebuhrGoethe fanden kein Verhältniss; Niebuhr siegte. Das mag gut sein, des Nationalen wegen: aber jetzt ist die höchste Zeit zurück zu gehen. | [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Goethe's Briefe in den Jahren 1768 bis 1832, herausgegeben von Dr. Heinrich Döring. Ein Supplementband zu des Dichters sämmtlichen Werken. Leipzig: Wunder, 1837:473.]29 [102] Einwirkung aufs Leben. Natürliche Bedingungen bei Monumentalem und Antiquarischem. Historie als LuxusEinwirkung rein negativ. Diese Triebe bringen Gefahren für die Wahrheit der Geschichte mit sich: deshalb hat man sie exstirpiren wollen: aber jetzt hat Historie keinen Sinn. - Nachmachennicht nachmachenResultat: Assimilation. Gesichtspunkt des Monumentalen.
Verehren, Dank: Resultat TreueMotiv des AntiquarischenPietät. Es war einmal so Trost. - Historie ohne alle subjectiven Anlässe, ohne Nachahmung, Pietät, gegenwärtige Noth.
Höchste Schätzung des Wahren ein Characteristikum der Zeit: KantLüge. Jetzt reines Begreifen, ohne Beziehung zum Lebenübernimmt die Ausartung des Antiquarischen (das Todte ohne Verehrung) und des Monumentalen (das Lebende ohne Nachahmung). Schilderung der Objectivität. - Von welchen Trieben lebt dieser Luxus (da die natürlichen fehlen).
Motive der Hypertrophie. - Consequenzen solcher Historiker für die Historie selbst. Neue Mythologie.
- Consequenzen für das Volk, Kunst usw. Politik, Religion.
- Letzte Consequenz für das MoralischeHartmann.
- Heilmittel: Historie kein Luxus.
29 [103] Was bedeutet Historie für die Bildung einer Cultur? Sie warnt und räth ab: sie ist gleich dem Dämonion zu benutzen: sonst nicht. 29 [104] Historie ohne Nachahmung (ohne sich dem Grossen zu unterwerfen), ohne Pietät (ohne die Atmosphaere des Lebendigen zu schonen), ohne gegenwärtige Noth 29 [105] Niebuhr schreibt 1796, dass es mit Deutschlands Litteratur sichtbarlich auf die Neige gehe, dass Schiller und Goethe schlimmer als todt seien soll Voss allein stehen bleiben? Als Grund wird zunächst angeführt der gewöhnliche Naturgang, der sich durchgängig bewiesen hat bei allen Völkern. Mich freuts die Erbitterung über den heurigen Schillerschen Almanach mit Baggesen zu theilen. [Vgl. Barthold Georg Niebuhr, Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr: aus Briefen desselben und aus erinnerungen einiger seiner nächsten freunde. Bd. 2. Hamburg: Perthes, 1839:25.] 29 [106] Hölderlin du wirst durchaus finden, dass jetzt die menschlichen Organisationen, Gemüther, welche die Natur zur Humanität am bestimmtesten gebildet zu haben scheint, dass diese jetzt überall die unglücklicheren sind, eben weil sie seltener sind als sonst in anderen Zeiten und Gegenden. Die Barbaren um uns her zerreissen unsre besten Kräfte, ehe sie zur Bildung kommen können, und nur die feste tiefe Einsicht dieses Schicksals kann uns retten, dass wir wenigstens nicht in Unwürdigkeit vergehen. Wir müssen das Treffliche aufsuchen, zusammenhalten mit ihm, so viel wir können, uns im Gefühle desselben stärken und heilen und so Kraft gewinnen; das Rohe, Schiefe, Ungestalte nicht nur im Schmerz, sondern als das, was es ist, was seinen Character, seinen eigenthümlichen Mangel ausmacht, zu erkennen. [Vgl. Friedrich Hölderlin an den Bruder, 4. Juni 1799.] 29 [107] Hölderlin, auch ich, mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun und Denken diesen einzigen Menschen (den Griechen) in der Welt nur nach und bin in dem, was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil ich wie die Gänse mit platten Füssen im modernen Wasser stehe und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle. [Vgl. Friedrich Hölderlin an den Bruder, 1. Jan. 1799.] 29 [108] Den grössten Nutzen, wenn sich alles (pythagoreisch) wiederholte: dann müsste man die Vergangenheit und Constellation kennen, um die Wiederholung genau zu erkennen. Nun wiederholt sich nichts. 29 [109] Man klagt, dass der Cosmopolitismus vorüber sei: in der Geschichte besteht er, als Residuum: aber die Voraussetzung, die universale Pietät ist verloren, der Wunsch überall zu helfen. 29 [110] Goethe an Sch[iller] Sie haben ganz Recht, dass in den Gestalten der alten Dichtkunst, wie in der Bildhauerkunst, ein Abstractum erscheint, das seine Höhe nur durch das, was man Styl nennt, erreichen kann. Es giebt auch Abstracta durch Manier, wie bei den Franzosen. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 1: Vom Jahre 1794 bis 1797. Stuttgart: Cotta, 1870:276.] 29 [111] Epische und dramatische Behandlung des Vergangenen. Schiller: der epische Dichter schildert uns bloss das ruhige Dasein und Wirken der Dinge nach ihren Naturen; sein Zweck liegt schon in jedem Punkte der Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele, sondern verweilen mit Liebe bei jedem Schritte. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 1: Vom Jahre 1794 bis 1797. Stuttgart: Cotta, 1870:284.] 29 [112] Goethe es ist doch nur die Neigung, die alles sehen kann, was das Kunstwerk enthält, und die reine Neigung, die dabei noch sehen kann, was ihm mangelt. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 1: Vom Jahre 1794 bis 1797. Stuttgart: Cotta, 1870:170.] Goethe es ist lustig zu sehen, was diese Menschenart eigentlich geärgert hat, was sie glauben, dass einen ärgert, wie schaal leer und gemein sie eine fremde Existenz ansehen, wie sie ihre Pfeile gegen das Aussenwerk der Erscheinung richten, wie wenig sie auch nur ahnen, in welcher unzugänglichen Burg der Mensch wohnt, dem es nur immer Ernst um sich und um die Sachen ist. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 1: Vom Jahre 1794 bis 1797. Stuttgart: Cotta, 1870:241.] 29 [113] Die Pietät für das Vergangene geht so weit, dass die Griechen den hieratischen Stil neben dem freien und grossen duldeten, mit den spitzen Nasen und dem Lächeln: später wurde daraus eine Feinschmeckerei. So die antiquarische Manier gegenüber der monumentalen. 29 [114] Antiquarisch. Pietät gegen das, woraus oder worin wir sind. Heiligende Macht der PersönlichkeitUrväterhausrath und Gemeindeinstitutionen bekommen Würde und erregen eifriges Nachforschen. Das Kleine, das Beschränkte wird geadeltfrauenhaftdas Idyllische gefunden. Überall Zeugnisse von braver treuer fleissiger Sinnesart. Schäden: alles Vergangne gleich wichtig genommen, keine Beziehung aufs Leben als bewahrend, nicht schaffend, das Lebendige zu Gunsten des Verehrten (Hieratischen) unterschätzt. Mangel an Urtheil, alles Vergangene liegt wie eine bunte Jagdbeute da. Hindert den kräftigen Entschluss, lähmt den Handelnden, der immer die Pietät verletzt. Der ehrwürdige Alte; de mortuis nil nisi bene. Die ältesten Sitten, Religionen usw. rechtfertigen sich durch Alter und verwirren alle Werthabschätzungen: weil sie die viele Sympathie, die die Griechen ihnen geschenkt haben, zusammenrechnen. Das, was die meiste Sympathie erzeugt hat, ist am ehrwürdigsten: man ehrt die Masse Liebe. Man vergisst nach den Motiven dieser Sympathie zu fragen: Faulheit Egoismus Gedankenbequemlichkeit usw. Wie leidet dabei die Vergangenheit? Es giebt keine Proportion der Dinge zu einander, der Eine hält dies, der Andere das wichtig. Die V[ergangenheit] zerfällt: ein Partikel ist jemandem sympathisch, das nächste kalt und gleichgültig. Dazu wird das Unbedeutende perpetuirt. Allmählich entsteht eine gelehrtenhafte Gewohnheit, die Pietät stirbt ab, die Sammelwuth tritt ein, völlige Verwirrung der menschlichen Aufgaben: bedeutende Naturen verlieren sich in bibliographische Fragen usw. In summa Ruin der Lebendigen, die fortwährend durch ehrwürdigen Moderduft geplagt werden. 29 [115] Der Mensch will schaffen | monumentalisch |
im Gewohnten verharren | antiquarisch | von Noth sich befreien | kritisch. |
29 [116] Gegen den Contrast von Sentimentalisch und Naiv wäre einzuwenden: dass gerade unsere Gegenwart jene frostig klare und nüchterne Atmosphaere hat, in der der Mythos nicht gedeiht, die Luft des Historischenwährend die Griechen in der dämmerigen Luft des Mythischen lebten und dafür in ihren Dichtungen, im Contrast klar und linienbestimmt sein konnten: da wir die Dämmerung in der Kunst suchen, weil das Leben zu hell ist. Damit stimmt, dass Goethe die Stellung des Menschen in der Natur und die umgebende Natur selbst geheimnissvoller räthselhafter und dämonischer nahm als seine Zeitgenossen, um so mehr aber in der Helligkeit und scharfen Bestimmtheit des Kunstwerkes ausruhte. 29 [117] Schiller gebrauchte die Historie im monumentalen Sinne, doch nicht als handelnder Mensch, sondern als zur That antreibender, als zum Dran drängender Dramatiker. Vielleicht müssen wir jetzt alle Dinge eine Stufe weiter stellen: wozu früher die Historie diente, dazu jetzt das Drama. Schillers Ahnung war die rechte: das Wortdrama muss die Historie bezwingen, um die Wirkung hervorzubringen, die ursprünglich die Historie (monumentalisch dargestellt) hatte. Das historische Drama darf aber um keinen Preis antiquarisch sein; Shakespeare hat das Rechte, der Römer als Engländer auftreten liess. Im Drama wird der mächtige Mensch vorangestellt: es ist nicht als statistisches Gesetz, darin liegt die Erhebung über die jetzige Wirkung der Geschichte. Nur mache man nicht die höchsten Kunstansprüche daran: man stelle das Drama hin als ein rhetorisches Kunstwerk: was es wirklich bei Schiller ist, man unterschätze nicht die Kraft der Beredsamkeit und lasse wenigstens unsre Schauspieler gut reden lernen, da sie wahrscheinlich gar nicht mehr lernen werden, etwas Poetisches vorzutragen. Dadurch dass wir alle die höchsten Wirkungen der Tragödie für das musikalische Drama separiren, bekommen wir eine freiere Stellung zum Wortdrama: es darf rhetorisch sein, es darf dialektisch sein, es darf naturalistisch sein, es soll auf die Moralität wirken, es soll schillerisch sein. Der Prinz von Homburg ist das Musterdrama. Natürlich zu sprechen ist in der höchsten Kunst wieder nöthig: da es aber jetzt auch im Leben keine Natürlichkeit des Sprechens giebt, so übe man die Schauspieler in der Convention des Rhetorischen und verachte die Franzosen nicht. Der Weg zum Stil muss gemacht, nicht übersprungen werden: dem hieratisch bedingten Stile, das heisst einer Convention, wird man nicht ausweichen können. Goethes Theaterleitung. 29 [118] Nachdem wir aus der Schule der Franzosen heraus sind, sind wir hülflos geworden: wir wollten natürlicher werden, sind es auch geworden, indem man sich möglichst gehen liess und im Grunde nur schlotterig und beliebig nachmachte, was man früher peinlich nachmachte. Es ist alles erlaubt zu denken, aber im Grunde ist gerade nur die öffentliche Meinung erlaubt. Man ist scheinbar frei geworden, indem man sich die Fesseln der strengen Convention zerriss und die Stricke der Philisterei eintauschte. Einfach und natürlich zu sein ist das höchste und letzte Ziel der Cultur: inzwischen wollen wir uns bestreben, uns zu binden und zu formen, damit wir zuletzt vielleicht ins Einfache und Schöne zurückkommen. Es ist ein so toller Widerspruch in unserer Schätzung der Griechen und. unserer Befähigung für deren Stil und Leben. Fast ist es unmöglich gemacht, auf einer der unteren und niederen Stufen des Stils stehen zu bleiben (was doch so nöthig wäre!), weil das Wissen um das Höhere und Bessere so mächtig ist, dass man gar nicht mehr den Muth hat, das Geringere auch nur zu können. Hier ist die grösste Gefahr der Historie. 29 [119] Mein Ausgangspunct ist der preussische Soldat: hier ist eine wirkliche Convention, hier ist Zwang, Ernst und Disciplin, auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfniss entstanden. Freilich weit entfernt vom Einfachen und Natürlichen! Seine Stellung zur Geschichte ist empirisch und darum zuversichtlich lebendig, nicht gelehrt. Sie ist, für einige Personen, fast mythisch. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst geforderten Pflichttreue. Goethe sodann ist vorbildlich: der ungestüme Naturalismus: der allmählich zur strengen Würde wird. Er ist, als stilisirter Mensch, höher als je irgend ein Deutscher gekommen. Jetzt ist man so bornirt, daraus ihm einen Vorwurf zu machen und gar sein Altwerden anzuklagen. Man lese Eckermann [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868.] und frage sich, ob je ein Mensch in Deutschland so weit in einer edlen Form gekommen ist. Von da bis zur Einfachheit und Grösse ist freilich noch ein grosser Schritt, aber wir sollten nur gar nicht glauben Goethe überspringen zu können, sondern müssen es immer, wie er, wieder anfangen. 29 [120] Wirkung des musikalischen Dramas auf die Entwicklung der Gruppe, der langen Stellung. 29 [121] In Deutschland ist die Furcht vor der Convention epidemisch. Aber bevor es zu einem nationalen Stile kommt, ist eine Convention nöthig. Dazu lebt man doch in einer bummelig-inkorrecten Convention, wie all unser Gehen Stehen Unterhalten anzeigt. Es scheint, man will die Convention, die am wenigsten Selbstüberwindung kostet, bei der jeder recht schlampen kann. Die Historie ist freilich sehr gefährlich, indem sie alle Conventionen neben einander zur Vergleichung stellt und damit das Urtheil dort aufruft, wo die *b<":4l alles entscheidet. Man gehe durch eine deutsche Stadt alle Convention, verglichen mit anderen Nationen, zeigt sich im Negativen, alles ist farblos, bummelig, abgelebt, jeder treibt es nach Belieben, aber nicht nach einem kräftigen gedankenreichen Belieben, sondern nach der Bequemlichkeit, die unsre Kleidung bereits als Hauptrücksicht anklagt. Zudem will man keine Zeit verlieren, denn man ist in Hast. Nur die Convention ist gebilligt, die dem Faulen-Hastigen gemäss ist. Es ist wie beim Christenthum; der Protestantismus rühmt sich, dass Alles innerlich geworden ist: darüber ist die Sache verloren gegangen. So ist bei dem Deutschen alles innerlich, man sieht aber auch nichts mehr davon. 29 [122] Gegensatz der Convention und der Mode. Gerade die letztere wird von dem historischen Sinne befruchtet: sie erwächst aus Luxusbedürfnissen, sucht das Neue seiner selbst wegen, vor allem das Auffallende, ist solange Mode als es neu ist. Die Deutschen sind fast gewillt, eine französische Convention, rein aus Bequemlichkeit und Sinn für das Gewohnte, zur Convention zu machen. 29 [123] Ist es wahr, dass es zum Wesen des Deutschen gehört, stillos zu sein? Oder ist es ein Zeichen seiner Unfertigkeit? Es ist wohl so: das, was deutsch ist, hat sich noch nicht völlig klar herausgestellt. Durch Zurückschauen ist es nicht zu lernen: man muss der eignen Kraft vertrauen. Das deutsche Wesen ist noch gar nicht da, es muss erst werden; es muss irgendwann einmal herausgeboren werden, damit es vor allein sichtbar und ehrlich vor sich selber sei. Aber jede Geburt ist schmerzlich und gewaltsam. [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:109-115.] 29 [124] Heilmittel: | | die Schillersche Benutzung der Historie ihre Gefahren (Drastiker usw.) Bedeutung als Warnerin, als Dämonionja sie warnt vor sich selber. |
29 [125] Goethe: Madame de Stael gerirt sich mit aller Artigkeit noch immer grob genug als Reisende zu den Hyperboreern, deren capitale alte Fichten und Eichen, deren Eisen und Bernstein sich noch so ganz wohl in Nutz und Putz verwenden liessen; indessen nöthigt sie einen doch die alten Teppiche als Gastgeschenk und die verrosteten Waffen zur Vertheidigung hervorzuholen. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:417.] Goethe: übrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:162.] 29 [126] Schiller: ich kann nicht anders glauben, als dass der naive Geist, welchen alle Kunstwerke aus einer gewissen Periode des Alterthums gemeinschaftlich zeigen, die Wirkung und folglich auch der Beweis für die Wirksamkeit der Überlieferung durch Lehre und Muster ist. Nun wäre aber die Frage, was sich in einer Zeit wie die unserige von einer Schule für die Kunst erwarten liesse. Jene alten Schulen waren Erziehungsanstalten für Zöglinge, die neueren müssten Correctionshäuser für Züchtlinge sein und sich dabei, wegen Armuth des productiven Genies, mehr kritisch als schöpferisch bildend beweisen. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:107.] 29 [127] Goethe ein alter Hofgärtner pflegte zu sagen: die Natur lässt sich wohl forciren aber nicht zwingen. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:51.] Goethe wie wird es möglich, dass das Alberne, ja das Absurde sich mit der höchsten ästhetischen Herrlichkeit der Musik so glücklich verbindet? Es geschieht dieses allein durch das Humor; denn dieses, selbst ohne poetisch zu sein, ist eine Art von Poesie und erhebt uns seiner Natur nach über den Gegenstand. Dafür hat der Deutsche so selten Sinn, weil ihn seine Philisterhaftigkeit jede Albernheit nur ästimiren lässt, die einen Schein von Empfindung oder Menschenverstand vor sich trägt. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:29.] 29 [128] Schiller zu Goethe Sie sind wirklich, so lang Sie arbeiten, im Dunkeln, und das Licht ist bloss in Ihnen; und wenn Sie anfangen zu reflectiren, so tritt das innere Licht von Ihnen heraus und bestrahlt die Gegenstände Ihnen und andern. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:1.] 29 [129] Schiller dass die Deutschen nur fürs Allgemeine, fürs Verständige und fürs Moralische Sinn haben (nichts verriethe einen Blick in die poetische Oekonomie des Ganzen). [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:1.] Goethe in Herrmann und Dorothea habe ich, was das Material [betrifft, den Deutschen einmal ihren Willen gethan und nun sind sie äusserst zufrieden.] [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 2: Vom Jahre 1798 bis 1805. Stuttgart: Cotta, 1870:3.] 29 [130] Goethe: Niemand hat das materielle Costüme mehr verachtet als er; er kennt recht gut das innere Menschen-Costüme, und hier gleichen sich Alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter eingefleischte Engländer, aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen passt wohl auch die römische Toga. Der Dichter lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre Bildung, ja Verbildung mit grosser Heiterkeit uns dar. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Shakespeare und kein Ende. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 35. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1858:370.] Nun frage ich, ob es auch nur möglich wäre, Römer als moderne Deutsche im Überrock und Litteraten- Beamten- oder Leutnantsmanieren vorzuführen. Es wäre eine Carikatur: woraus sich ergiebt, dass sie keine Menschen sind. Dies gehört zum historischen Thema. Wir pflegen uns durch fremde Zeiten und Sitten zu drapiren: sobald wir die fremden Zeiten und Menschen mit uns drapiren wollten, machen wir sie zur läppischen Carikatur. 29 [131] Goethe genau aber genommen, so ist nichts theatralisch, als was für die Augen zugleich symbolisch ist: eine wichtige Handlung, die auf eine noch wichtigere deutet. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Shakespeare und kein Ende. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 35. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1858:370.] 29 [132] Man findet, dass der Deutsche isolirt lebe und eine Ehre darin suche, seine Individualität originell auszubilden. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Ueber die Entstehung des Festspiels zu Iffland's Andenken. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 35. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1858:421.] Ich kann [das] jetzt nicht mehr zugeben: ja, eine gewisse Freiheit der Sinnesart ist erlaubt: die Handlungsart ist uniformirt und starr imperativisch. Es bleibt überall bei dem Innern ohne ein Äusseres, wie der Protestantismus das Christenthum gereinigt zu haben glaubt, indem er es durch Verinnerlichung verflüchtigte und aus der Welt schaffte. An Stelle der Sitte d. h. der natürlich zutreffenden und angemessenen Tracht steht die Mode, die willkürlich übergehängte, die Individuen auszeichnende und sofort wieder uniformirende Tracht. Man erlaubt jetzt die Mode, aber nicht mehr die abweichende Denk- und Handlungsart. Umgekehrt hätte der antike Mensch die Mode ausgelacht, aber die individuelle Manier zu leben, bis auf die Kleidung, gutgeheissen. Die Individuen waren stärker und freier und unabhängiger in allem, was sichtbar werden kann in Handlung und Leben. Unsre Individuen sind schwach und furchtsam: ein widerhaariger Geist des Individuellen hat sich ins Innere zurückgezogen und zeigt seine Mucken hier und da; er widerstrebt verdriesslich und versteckt. Die Pressfreiheit hat diesen muckenden Individuen Luft gemacht: sie können jetzt ohne Gefahr sogar ihr elendes Separatvotumchen schriftlich geben: für das Leben bleibt es beim Alten. Die Renaissance zeigt freilich einen andern Anlauf, nämlich ins Heidnisch-stark-Persönliche zurück. Aber auch das Mittelalter war freier und stärker. Die Neuzeit wirkt durch Massen gleichartiger Natur: ob sie gebildet sind, ist gleichgültig. 29 [133] Das Wort Tugend ist in Deutschland alt und doch verrostet und ein wenig lächerlich geworden: man merkt aber auch praktisch nichts mehr von der Strenge der Selbstzucht, von dem kategorischen Imperativ und einer bewussten Moralität. Wie viele Lehrer würden sich nicht lächerlich fühlen, wenn sie davon reden sollten! Man beruhigt sich dabei, die Sache zu haben: was mir aber auch zweifelhaft wird. 29 [134] Die reife Goethesche Weisheit kann man nicht im Sprunge erfassen; nicht als junger Mensch. Da ist es nur Blasirtheit. 29 [135] Man kann seine Ehrfurcht vor dem deutschen Soldaten nur dadurch ausdrücken, dass man sagt er wusste nicht was er sang, er hörte es gar nicht; jene Lieder des letzten deutschen Kriegs, jene Märsche der vorangehenden preussischen Kriege sind plumpe, mitunter sogar süsslich-widrige Gemeinheit, die Hefe jener Bildung, die jetzt so gerühmt wird. Freilich nur die Hefe! Aber es gab andre Hefen! Kein Zug wahrer Volksthümlichkeit darin, wahre Beschimpfung der Worte Volkslied, Volksweise! Etwa wie sich ein Kölner Leitartikelschreiber zu Tyrtäus verhält. Pfui dich mal an, Junfer Bildung, würde Luther sagen. 29 [136] Der historische Sinn des Deutschen wurde offenbar in dem Sturm der Empfindung, mit der Goethe an Erwin von Steinbach dachte: im Faust, in W[agner]s R[ing] d[es] N[ibelungen], in Luther, in dem deutschen Soldaten, in Grimm. Ein Hindurchfühlen und -Ahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren, ein Herauslesen des Palympsest, ja Myriopsestvieles Irren Vergreifen möglich! 29 [137] Programm. 6. November 1873. - Freiheit der Städtedie conditio.
- Schule und Sitte in der städtischen Gewalt.
- Der absolute Lehrer vernichtet (Bildungskosak).
- Der historische Sinn als Pietät, nicht als Rechnung tragen.
- Der Soldat zur Vorbereitung einer ernsteren Cultur zu benutzen.
- Folgen der Centralisation und Uniformirung der Meinungen zum Äussersten zu steigern, um ihre reinste Formel zu gewinnen und abzuschrecken.
- Die sociale Crisis nur städtisch zu lösen, nicht staatlich.
- Beseitigung der Presse durch städtische Beredsamkeit.
- Die Vernichtung der grossen uniformirenden politischen Parteien.
- Das religiöse Problem localisiren.
Herstellung der Volksgemeinde und der Gefolgschaften (Armee, Diplomaten).
Die objectiv genannte Geschichtsschreibung ist ein Ungedanke: die objectiven Historiker sind vernichtete oder blasirte Persönlichkeiten. 29 [138] Zu Lichtenbergs Zeiten wusste man nichts davon, dass die Deutschen die Historie im Übermaasse trieben. Wohl aber spricht er ihnen Begabung für die höhere Historie zu. Neuerdings ist die ganze Bildung historisch fundirt: liegt es nun an der Historie, wenn die deutsche Bildung im Ganzen so wenig werth ist? Geschichte rein als Erkenntnissproblem, in niederem Grade nur auf Kunde, nicht auf Einsicht gerichtet, im höheren Sinne ohne Rückwirkung auf das Leben. Ungeheurer Aufwand der Mittel, ohne kräftige Praxis. 29 [139] Die Statistik betrachtet die handelnden grossen Personen auf der Bühne der Geschichte nicht, sondern nur die Statisten, das Volk usw. 29 [140] Wie leicht geht die objective Geschichtsschreibung in die tendenziöse über! Das ist eigentlich das Kunststück, das zweite zu sein und das erste zu scheinen. 29 [141] Platonische Erziehung ohne Historie. Hartmann. Progressive Hast: wo stürzt man hin? Gründung der modernen Institute. Die Welt utilisirt sich immer mehr. Alles wird abstrakter, was die Menschen ehemals gebunden hat. Man macht das Experiment, ob der Mensch von Natur gut oder böse ist. Die Institutionen werden auf Furcht und Noth basirt. Im Grunde muss der Kosmopolitismus um sich greifen. Die willkürlichen Begrenzungen Staat Nation sind ohne Mysterium allmählich und erscheinen viel grausamer und schlechter. Die Gegensätze schärfen sich heillos. Am Fieber zu Grunde gehen. 29 [142] Schilderung der Ruhe der unhistorischen Welt. Sehnen nach der Umschattung des Kunstwerks: in dem leben wir wenigstens auf Stunden unhistorisch. Zu den redenden Künsten gehört die schweigende. Jean Paul. [Vgl. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik. 2. Abt. IX. Programm. Ueber den Witz. §42. Unbestimmte Definizionen. In: Jean Paul's sämmtliche Werke. Dritte vermehrte Auflage. Bd. 18. Berlin: Reimer, 1861:164.] Es braucht viel Zeit, bis eine Welt untergehtweiter aber auch nichts sagt Gibbon. [Vgl. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik. 2. Abt. IX. Programm. Ueber den Witz. §47. Die Antithese. In: Jean Paul's sämmtliche Werke. Dritte vermehrte Auflage. Bd. 18. Berlin: Reimer, 1861:175.] 29 [143] Wenn Glück das Ziel wäre, so stünden die Thiere am höchsten. Ihr Cynismus liegt im Vergessen: das ist der kürzeste Weg zum Glücke, wenn auch zu einem, das nicht viel werth ist. 29 [144] Schopenhauer meint, vielleicht liege alles Genie im genauen Erinnern des eignen Lebenslaufes. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Aus Arthur Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmente. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Leipzig: Brockhaus, 1864:360.] Wenn reine Erkenntniss das Ziel wärewäre dann unsre Zeit die genialste Zeit? Ist die grösste Menschen- und Sachkenntniss Zeichen der Grösse? Ist Richter zu sein die Aufgabe jeder Generation? Ich denke, die Aufgabe ist vielmehr, etwas zu thun, was Spätere richten mögen. 29 [145] Alles Historische misst sich an etwas. Was hat unsre Zeit entgegenzusetzen? 29 [146] - Innerlich.
- Gerecht und objectiv.
- Illusion zerstört.
- Alter der Menschheit.
- Mythologie.
- Hartmann.
- Unhistorisch.
- Die naivsten Stufen der Historie.
- Umgränzung des Horizontes.
29 [147] Plan. - UnhistorischHistorisch.
- Nutzen und Schaden der Historie. Allgemein.
- Übergang zur Zeitschilderung.
- Innerlichkeit.
- Gerecht, objectiv.
- Illusion zerstört.
- Alter der Menschheit. Hartmann. Mythologie.
- Ob Unhistorisch? Plato.
- Maass des Historischen. Begrenzung. Beherrschung.
- Deutsche Kultur. Werth der Historie für dieselbe.
Stil. Nationale Modification.
29 [148] Er sagt seine Sachen immer noch etwas deutlicher als er sie denkt. 29 [149] Fortsetzung der Zoologie. Dass der Mensch als Heerdenthier ist, beweist die Statistik. 29 [150] Wartburgwettkampf: von der Hagen, Minnesinger, II 2ff. vom Jahr 1300. | Ludus Paschalis de adventu et interitu Antichristi. Pezii thesau[us] Anecdot[orum] N[ovissimus] 2. |
29 [151] Thier MenschHistorisch Unhistorisch. Plastische Kraft. Unhistorisches Fundament. Staat als Beispiel. (Vergessen des Vergangnen und Illusion über das Vergangne.) Geschichte dient dem Leben, sie steht im Dienste des Unhistorischen. 29 [152] Was heisst unhistorisch? Leidenschaft wirkt unhistorisch. Auch grosse Ziele, ob Mensch ob Volk. Übermässige SchätzungNiebuhr. Leopardi. 29 [153] 2. 3. 4. | Geschichte zum Leben. | ì í î | Monumental. Antiquarisch. Kritisch. |
5. | Übergang zur Zeitkritik. |
6. 7.
8. 9. 10. | Geschichte dem Leben feindlich. | ì ï í ï ï î | innerlich. angebliche Gerechtigkeit, Objectivität. nicht mehr reif. Spätlinge. Weltprocess. |
11. | Übergang zu den Remedia: Plato. Keine Historie. |
29 [154] Erdichtetes Mythisches. Liebe und Selbstvergessen. Das Leben als Problem. Recht reif zu werden. Die Ehrlichkeit und die Keckheit des Wortes. Die Hitze des Rechtsgefühls. 29 [155] Das Übermaass bewiesen | | 1) dadurch dass alles innerlich bleibt 2) dass nichts mehr reif wird 3) das Gefühl Spätlinge zu sein 4) Stadium der Selbstverspottung 5) die Historie selbst erlahmt: angebliche Objectivität. |
Übergang: da wirft man sich gern einmal in den Gedanken: gar keine Historie. Rousseau. 29 [156] Die historische Bildung als die Bildung überhaupt. Die historische Objectivität als die Gerechtigkeit. Unreif. IronieAlter der Menschheit. Weltprozess. Kluger Egoismus.
Vorrede. Einleitung. Historie zum Leben. Historie dem Leben schädlich. 29 [157] - Historisch, Unhistorisch und Überhistorisch.
- Die Historie im Dienste des Lebens.
- Die Historie dem Leben schädlich.
- Das Unhistorische und das Überhistorische als Heilmittel für das durch Historie geschädigte Leben.
29 [158] Die Historie dem Leben feindlich. - erzeugt den gefährlichen Contrast von Innerlich und Äusserlich.
- erweckt den Anschein der Gerechtigkeit.
- hindert das Reif- und Fertigwerden.
- erweckt den Glauben an das Alter der Menschheit und ist der advocatus diaboli.
- eignet [sich] für den Dienst des klugen Egoismus.
29 [159] Kennt mein Leser die Stimmung, in der der Betrachtende lebt? Vermag er sich zu vergessen, den Autor zu vergessen und in seine Seele gleichsam Dinge, die wir zusammen betrachten, überwandern zu lassen? Ist er bereit aus dem ruhigen in ein bewegtes Wellenspiel fortgetragen zu werden, ohne die Stimmung des Betrachtenden dabei zu verlieren? Liebt er das Pfeifen des Sturmes und erträgt er die Ausbrüche des Zorns und der Verachtung? Und noch einmal: vermag er es, bei dem allen, weder an sich noch an den Autor zu denken? Nun wohlan, ich glaube von ihm ein Ja gehört zu haben und halte mich nun nicht länger zurück, ihn also anzureden. 29 [160] Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Vorrede. I. Historisch, Unhistorisch, Überhistorisch. II. Die Historie im Dienste des Lebens. a) die monumentale Historie b) die antiquarische c) die kritische
III. Die Historie dem Leben feindlich. a) Sie erzeugt den gefährlichen Contrast von Innerlich und Äusserlich. b) Sie erweckt den Anschein der Gerechtigkeit. c) Sie zerstört die Instinkte und hindert das Reifwerden. d) Sie pflanzt den Glauben an das Alter der Menschheit. e) Sie wird von dem klugen Egoismus benutzt.
IV. Das Unhistorische und das Überhistorische als Heilmittel für das durch Historie geschädigte Leben. 29 [161] Capitel über Leben und Historie: was die Wissenschaft dazu sagt: laissez faire. Es fehlt die dazu gehörige Praxis, die Heilkunst. 29 [162] Zum Schluss. | Von der Ironie zum Cynismus. | Platos Mittel die Jugend für den Staat zu retten. | SchillerCorrectionsanstalten. | Hülfswissenschaft nöthigangewandte Historie, Gesundheitslehre. | Heilmittel das Unhistorische, das Überhistorische. Lob der Kunst und ihrer Kraft Atmosphaere zu bilden. |
29 [163] Entwurf der Unzeitgemässen Betrachtungen. 1873 | | | | | David Strauss. Nutzen und Nachtheil der Historie. | 1874 | | | | | Viel-Lesen und Viel-Schreiben. Der Gelehrte. | 1875 | | | | | Gymnasien und Universitäten. Soldaten-Kultur. | 1876 | | | | | Der absolute Lehrer. Die sociale Crisis. | 1877 | | | | | Zur Religion. Klassische Philologie. | 1878 | | | | | Die Stadt. Wesen der Kultur (Original-). | 1879 | | | | | Volk und Naturwissenschaft. |
29 [164] 1 | | Vorspiel. | 2 | | | 3 | | Die Bedrängniss der Philosophie. | 4 | | Der Gelehrte. | 5 | | Die Kunst. | 6 | | Die höhere Schule. | 7 | | Staat Krieg Nation. | 8 | | Social. | 9 | | Klassische Philologie. | 10 | | Religion. | 11 | | Naturwissenschaft. | 12 | | Lesen Schreiben Presse. | 13 | | Weg zur Freiheit (als Epilog). |
29 [165] Plato und seine Vorgänger. Homer. Skeptische Einfälle. 29 [166] Ausgezeichnete Schilderung der Deutschen und der Franzosen: Görres, Europa und die Revolution, p. 206. [Vgl. Joseph von Görres, Europa und die Revolution. Stuttgart: Metzler, 1821:205-208.] Wie veränderlich und schwimmend die Grenzlinien jeder gemachten Zeichnung sind. [Georg Christoph] Licht[enberg] I 206. [Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Physiognomischen und pathognomischen Beobachtungen und Bemerkungen. In: Vermischte Schriften: mit dem Portrait, Facsimile und einer Ansicht des Geburtshauses des Verfassers. Bd. 1. Göttingen: Dieterich, 1867:206.] 29 [167] Cyclus von Vorlesungen. Rhetorik. | Rhythmik. | Geschichte der Poesie. | Prosa. |
Alte Philosophie: | | 1) Vorplatoniker und Plato. 2) Aristoteles und Socratiker. |
Choephoren. | Hesiods Erga. | Thucydides, B: I. | Lyriker. | Aristoteles Poetik. |
29 [168] Römer und Griechen: Stellung der Römer zu der griechischen Kultur. Ihre Urtheile darüber. Von ihnen stammt die dekorative Manier der Cultur. 29 [169] Drei Abhandlungen von Friedrich Nietzsche. Homer und die klassische Philologie. Über Wahrheit und Lüge. Die Grundlagen des Staats. (Wettkampf, Krieg.) 29 [170] 3. Schilderung des chaotischen Durcheinanders in einem mythischen Zeitalter. Das Orientalische. Anfänge der Philosophie als Ordnerin der Kulte, Mythen, sie organisirt die Einheit der Religion. 4. Anfänge einer ironischen Stellung zur Religion. Neues Auftauchen der Philosophie. 5. usw. Erzählung. Schluss: Platos Staat als überhellenisch, als nicht unmöglich. Philosophie erreicht hier ihre Höhe, als Staatengründerin eines metaphysisch geordneten Staates. 29 [171] Griechen und Barbaren. Erster Theil: Geburt der Tragödie. Zweiter Theil: die Philosophie im tragischen Zeitalter. Dritter Theil: über dekorative Kultur. 29 [172] Es ist gar nichts Unsinniges zu denken, dass das Gedächtniss für die Vergangenheit auch bei uns geringer sei und dass der historische Sinn etwa ebenso schliefe, wie er in der höchsten Akme der Griechen schlief. Bald hinter der Gegenwart begänne das Dunkel: in ihm wandeln schattenhaft unsicher grosse Gestalten ins Ungeheure sich ausdehnend, wirkend auf uns, aber fast wie Heroen, nicht wie gemeine helle Tageswirklichkeit. Alle Tradition wäre jene fast unbewusste der ererbten Charactere: die lebenden Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie tradirt werde; mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes Document und als papiernes Gedächtniss. Die Sitten der Eltern und der Grosseltern gelten bei den Kindern als die Vergangenheit: was ferne dahinter lag, wirkt kaum noch als übrig gebliebene Architectur, als Tempel, als Aberglaube auf die Gegenwärtigen ein. Ähnlich lebt jetzt noch der Bauer, ähnlich fast jedes grosse Volk der Vergangenheit. Der Hauptgewinn für beide ist und war, dass die gegenwärtige Generation nicht so peinlich vergleicht und sich misst, so dass sie über sich selbst in Unbewusstheit des Urtheils bleiben kann. Sie wird zutrauensvoller zu ihrer Kraft sein, weil ihre Kraft nur durch das wirkliche, nicht durch das eingebildete und anerzogene Bedürfniss in Anspruch genommen wird und Kraft und Bedürfniss sich meistens entsprechen. Sie wird vor dem Überdrusse mehr bewahrt bleiben als ein Volk, das historischer und gebildeter ist, als seine Productionskraft auszuhalten vermag. Nicht so oft irregeführt nach dem unerreichbaren Ziele, zum Ekel gestimmt über das Erreichte, kommt der Mensch zu einer Ruhe, die der Gegensatz der modernen durch und durch historischen Welt und ihrer Hast ist. Sollte man es nicht zu büssen haben, wenn man in kostbaren Bildergallerien aller Zeiten lebt und der Blick immer vergleichend zu dem Betrachter zurückkehrt, mit Frage, was er eigentlich in diesen Räumen zu suchen habe? Und so entfährt dem Verwegensten wohl einmal der Fluch: weg mit allem Vergangenen, ins Feuer mit den Archiven, Bibliotheken, Kunstkammern! Lasst doch die Gegenwart selbst produciren, was ihr noththut, denn nur dessen, was sie selbst kann, ist sie werth. Quält sie nicht durch Mumisirung des einmal, in ferner Zeit Gültigen und Nothwendigen und schafft das Todtengerippe weg, damit die Lebenden ihres Tages und Thuns froh werden können. Ja, wenn Glück, Freiheit von Überdruss, Behagen unsre Losung sein dürfte: dann wäre es erlaubt, das Thier zu preisen, das immer auf der schmalen Linie der Gegenwart lebt und ohne Verdrossenheit und Überdruss frisst, verdaut, wieder frisst, ruht und springt. Historisch fühlen heisst wissen, dass man jedenfalls zum Leiden geboren ist und dass alles unser Arbeiten im schönsten Fall Vergessenheit des Leidens erringt. Immer lebten früher die Halbgötter, immer ist das gegenwärtige Geschlecht das entartete. Was seine Auszeichnung ist, weiss es selten; denn das Vergangne umgiebt uns wie eine geschwärzte verdunkelnde Zimmerwand. Erst der Nachkomme vermag zu würdigen, worin auch wir Halbgötter waren. Nicht dass es somit ewig abwärts gienge und alles Grosse in immer kleineren Proportionen sich wiederholte: aber immer ist jede Zeit zugleich eine absterbende und seufzt unter dem herbstlichen Fall der Blätter. Man sehe nur das einzelne Menschenleben an: was der Jüngling verliert, wenn er die Kindheit verlässt, ist so unersetzlich, dass er wünschen müsste, nach diesem Verlust das Leben als gleichgültig hinzugeben. Und doch verliert er als Mann noch einmal Unschätzbares, um endlich als Greis auch noch das letzte Gut zu verlieren, so dass er nun das Leben kennt und es zu verlieren bereit ist. Welches verlorne Bemühen, wollten wir als Jünglinge nach dem ringen, was der Kindheit Glück und Kraft ausmachte. Der Verlust ist zu erleiden, die Erinnerung häuft immer mehr Verluste zusammen, und am Schluss, wenn wir wissen alles verloren zu haben, nimmt uns tröstlich der Tod dieses Wissen, unser letztes Erbgut. 29 [173] Homer und die klassische Philologie. 24. Der Wettkampf bei den Griechen. 15. Über Wahrheit und Lüge. 20. Der griechische Staat. 15. Vier Abhandlungen.
29 [174] Plato. Jugend. | | | Pest. Critias. Das Künstlerische in Plato. Heracliteer. Sokrates. Der platonische Socrates. | Reisen. | | | Zieledas praktische Ideal. Pythagoreer—Ideen (geringere Conception). Dion. | Akademie. | | | Der Philosoph im Staate. Sophist. Rhetor. Kunst. SchriftstellereiEros. Dialektik. Zweite Reise. Dritte ReiseStaatsideal. Dions Ende. Andre politische Wirkungen. Parmenides. Präludirende Skepsis zu der Theorie: Plato hauptsächlich Legislator und Reformator, nie darin Skeptiker. |
29 [175] Empedocles. Democrit. Pythagoreer: Kampf gegen die Eleaten, mehr um sich zu schützen. Beschreibung ihres Bundes. Socrates. Moralischdialektischplebejisch. 29 [176] Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Grosses hervorgebracht sagt Lichtenberg. [Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Nachtrag zu Allerhand. In: Vermischte Schriften: mit dem Portrait, Facsimile und einer Ansicht des Geburtshauses des Verfassers. Bd. 2. Göttingen: Dieterich, 1867:191.] 29 [177] Historie, die zwar nicht unmittelbar oder mittelbar zu besseren Menschen und zu besseren Bürgern macht, ist nur, nach einem Ausdrucke, den Bolingbroke in seinen berühmten Briefen on the study and use of history anwendet a specious and ingenious sort of idleness. [Vgl. Henry St. John Bolingbroke, Letters on the Study and Use of History. Basil: Tourneisen, 1791. Samuel Smiles, Charakter. Halle: Hendel, 1871; Der Charakter. Leipzig: Weber, 1872] 29 [178] Aristoteles zwei Dinge sind es ja, welche vorzüglich die Menschen zu hegender Sorgfalt und Anhänglichkeit bestimmen: der alleinige Besitz und die Seltenheit der besessenen Sache, durch welche sie dem Besitzer theuer wird. [Vgl. Aristoteles, Politik, 1262b 22-23.] So pflegt der antiquarische Mensch das Vergangne, weil es so ganz und gar individuell und einmalig istganz abgesehen wie gering oder wie kostbar an sich, er fühlt sich als den Besitzer dieses kleinen Besitzthums, das er vor allen Menschen voraus hat. Die kleinste Erkenntniss, sobald sie Eigenthum ist, macht ihren Erfinder glücklich, z. B. eine Correctur in einem gedruckten oder geschriebenen Buche. 29 [179] Von der kritischen Historie gilt auch, was Benjamin Constant sagt: der sittliche Grundsatz, es sei eine Pflicht die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen. [Vgl. Arthur Schopenhauer. Von ihm. Ueber ihm. Ein wort der Vertheidigung von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlassstücke von Julius Frauenstädt. Berlin: Hayn, 1863:217f. Immanuel Kant. Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert. Bd. 7: T. 2. Leipzig: Voss, 1838:295.] Man denke nur an sein eignes Leben: wäre es die Aufgabe, seine Vergangenheit überhaupt laut zu sagen, wer würde es selbst aushalten können? Es gehört sehr viel Kraft zum Vergessen dazu, um leben zu können. 29 [180] Luther: dass Gott, wenn er an das schwere Geschütz gedacht hätte, er die Welt nicht erschaffen hätte. Vergessen gehört nun einmal zu allem Schaffen. 29 [181] Denken wir uns den letzten Menschen auf der ausgedörrten Wüste des morschen Erdballs sitzen 29 [182] Was birgt nicht alles der Mensch in sich, was er nie kennen lernen darf: weshalb der alte Spanier sagte Defienda me Dios de my Gott behüte mich vor mir. 29 [183] Die Antiquare sagen: das Grosse ist im Grunde das Gemeine und Allgemeine, auch sie kämpfen gegen das Werden des Grossen (durch Verkleinern Begeifern Mikrologie). 29 [184] Luther Cicero ein weiser und fleissiger Mann hat viel gelitten und gethan. [Vgl. Martin Luther, Von Cicerone und Aristotele. In:Dr. Martin Luther's sämmtliche Werke. Bd. 62. Vierte Abtheilung. Vermischte deutsche Schriften. Zehnter Band. II. Tischreden. LXXIII. Tischreden von Gelehrten. 2873. Frankfurt a. M.; Erlangen: Heyder & Zimmer, 1854:341.] Man schraubt die Geschichte je nach seiner Höhe herauf und herunter: so schraubt Mommsen seinen Cicero zum Journalisten herab, Luther nennt ihn (siehe vorher). 29 [185] Gewiss ist das Bedürfniss des Umgangs mit grossen Vorgängern usw. Umgang mit den kleinen, koboldartig (siehe hinten). 29 [186] Goethe (wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder ein Handwerk legt usw.). [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 3. Stuttgart; Tübingen: J. G. Cotta, 1853:235f.] Pietät für das Vergangene zu Gunsten des Hieratischen (s. h[inten]). Zu den redenden Künsten gehört die schweigende. [Vgl. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik. 2. Abt. IX. Programm. Ueber den Witz. §42. Unbestimmte Definizionen. In: Jean Paul's sämmtliche Werke. Dritte vermehrte Auflage. Bd. 18. Berlin: Reimer, 1861:164.] Es braucht viel Zeit bis eine Welt untergehtweiter auch nichts. [Vgl. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik. 2. Abt. IX. Programm. Ueber den Witz. §47. Die Antithese. In: Jean Paul's sämmtliche Werke. Dritte vermehrte Auflage. Bd. 18. Berlin: Reimer, 1861:175.] 29 [187] Zum Schlusse. Goethe über Niebuhr der Historiker als das eigentlich werthvolle Object, nicht die Historie. Davon ist etwas zu hoffen (siehe hinten). [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Goethe's Briefe in den Jahren 1768 bis 1832, herausgegeben von Dr. Heinrich Döring. Ein Supplementband zu des Dichters sämmtlichen Werken. Leipzig: Wunder, 1837:473.] Schiller von Goethe gepriesen (siehe hinten). 29 [188] Gegenmittel: | | 1) | | Keine Geschichte? | | | 2) | | Leugnung der Zwecke Atomengewirr? | | | 3) | | Interesse für den Historiker gegen die Historie gewendet? Die meisten Historiker unter ihren Objecten. | | | 4) | | Goethe, Natur. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Naturwissenschaft im Allgemeinen. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 40. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1858:389.] | | | 5) | | Pflege des Überhistorischen und Unhistorischen. Religion Mitleid Kunst. |
29 [189] Niebuhr zur Vertheidigung Macchiavelli[s] es giebt Zeiten, in denen Einem jeder Mensch heilig sein muss: andre wo man sie nur als Masse behandeln kann und soll; es kommt darauf an, die Zeit zu kennen. [Vgl. Barthold Georg Niebuhr, Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr: aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde. Bd. 2. Hamburg: Perthes, 1839:494.] 29 [190] Der Deutsche ist von Natur, seitdem er seinen einfachen grossen Character verloren hat, afterrederisch und verunglimpfend, und nichts weniger als billig: und noch weniger liebend. [Vgl. Barthold Georg Niebuhr, Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr: aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde. Bd. 2. Hamburg: Perthes, 1839:386.] 29 [191] Gehofftes Resultat: Character zu offenbaren in der Bildung, keine dekorative Bildung, sondern eine organische. So gelingt vielleicht den Deutschen noch, was den Griechen in Betreff des Orients gelangund so das, was deutsch ist, erst zu finden. 29 [192] Von sich selbst Besitz zu ergreifen, das Chaotische zu organisiren, alle Furcht vor der Bildung wegzuwerfen und ehrlich zu sein: Aufforderung zum (<äh4 F"LJ`<, nicht im grüblerischen Sinne, sondern um wirklich zu wissen, was unsre ächten Bedürfnisse sind. Von da aus kühn bei Seite werfen, was fremd ist, und aus sich hinaus wachsen, nicht in ein Ausser-uns sich hineinpassen. Zum Organisiren des Chaotischen eignet sich Kunst und Religion: letztere giebt Liebe zu den Menschen, erstere Liebe zum Dasein dabei Verachtung 29 [193] Tradition anpflanzen, fortschreitende Bewegung, Eichbäume für die Enkel. Organisation zu finden, um der ersten Generation ihre Existenz zu ermöglichen und dann die Volksbildung zu übernehmen. Wie ein Gestirn ohne Rast, ohne Hast. Die Ruhe der Arbeitenden. Der ruhige Blick in die Zukunft erst möglich, wenn wir uns nicht mehr so ephemer fühlen, so wie eine Welle. 29 [194] Die unhistorischen Mächte heissen Vergessen und Wahn. Die überhistorischen Kunst Religion Mitleid Natur Philosophie. 29 [195] Handwerk lernen, nothwendige Rückkehr des Bildungsbedürftigen in den kleinsten Kreis, den er möglichst idealisirt. Kampf gegen die abstracte Production der Maschinen und Fabriken. Ein Hohn und Hass gegen das zu erzeugen, was jetzt als Bildung gilt: dadurch dass man eine reifere Bildung dagegen stellt. 29 [196] Und was wird aus uns, werden die Historiker unwillig entgegnen: wohin soll die Wissenschaft der Historie? unsre berühmte strenge nüchterne mütterliche Wissenschaft? Geh in ein Kloster, Ophelia, sagt Hamlet [Vgl. Shakespeare, Hamlet, iii, i, 121.]; in welches Kloster wir aber die Wissenschaft und den historischen Gelehrten bannen wollen, dieses Räthsel wird der Leser sich selber aufgeben, sich selber lösen, falls er zu ungeduldig ist dem langsamen Gange des Autors zu folgen und einer hiermit versprochenen späteren Betrachtung über den Gelehrten und die gedankenlose Einordnung desselben in die moderne Gesellschaft vorauszueilen vorzieht. Schluss. Es giebt eine Gesellschaft der Hoffenden. 29 [197] Die Bedrängniss der Philosophie. Von aussen: Naturwissenschaft Geschichte (Beispiel Instinkt. Begriff geworden). Von innen: der Muth, eine Philosophie zu leben, ist gebrochen. Die anderen Wissenschaften (Natur, Geschichte) vermögen nur zu erklären, nicht zu befehlen. Und wenn sie befehlen, vermögen sie nur auf den Nutzen zu verweisen. Jede Religion, jede Philosophie hat aber gerade irgendwo eine erhabene Naturwidrigkeit, eine auffallende Unnützlichkeit. Damit wäre es denn zu Ende? Wie mit der Poesie, die eine Art Unsinn ist. Das Glück des Menschen beruht darauf, dass es irgendwo für ihn eine Undiskutirbare Wahrheit giebt, gröbere (z. B. das Wohl seiner Familie als höchsten Beweggrund) feinere, der Glaube an die Kirche usw. Hier hört er gar nicht hin, wenn dagegen gesprochen wird. In der ungeheuren Bewegtheit sollte der Philosoph Hemmschuh sein: kann er es noch sein? Das Misstrauen der strengen Forscher gegen jedes deductive System, vid. Bagehot. 29 [198] Die Bedrängniss der Philosophie. A. Die Anforderungen an den Philosophen in der Noth der Zeit. Grösser als je. B. Die Angriffe auf die Philosophie grösser als je. C. Und die Philosophen schwächer als je. 29 [199] Die Philosophie rein zur Wissenschaft zu machen (wie Trendelenburg) heisst die Flinte ins Korn werfen. 29 [200] Die mangelhaft entwickelte Logik! Durch die historischen Studien ist sie verkümmert. Auch Zöllner klagt. [Vgl. Johann Carl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:482.] Lob des Spir. Und der Engländer. 29 [201] Welche Naturen werden jetzt noch Philosophen? 29 [202] Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste. Hölderlin [Sokrates und Alkibiades]. Ein Räthsel ist Reinentsprungenes. Auch Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn Wie du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Noth Und die Zucht, das Meiste nämlich Vermag die Geburt Und der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet. Hölderlin [Der Rhein]. 29 [203] Zur Religion. Ich bemerke eine Erschöpfung, man ist an den bedeutenden Symbolen ermüdet. Alle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harmlosesten und die reflektirtesten, sind durchprobirt, es ist Zeit zur Nachahmung oder zu etwas Anderem. Selbst der Spott, der Cynismus, die Feindschaft ist abgespieltman sieht eine Eisfläche bei erwärmtem Wetter, überall das Eis schmutzig, zerrissen, ohne Glanz, mit Wasserpfützen, gefährlich. Da scheint mir nur eine rücksichtsvolle ganz und gar ziemliche Enthaltung am Platze: ich ehre durch sie die Religion, ob es schon eine sterbende ist. Mildern und beruhigen ist alles, nur gegen die schlechten gedankenlosen Köche, zumal wenn es Gelehrte sind, muss protestirt werden. Das Christenthum ist ganz der kritischen Historie preiszugeben. 29 [204] Wenn ich einmal recht in Wünschen ausschweife, So denke ich mir, dass mir die schreckliche Bemühung, sich selbst zu erziehen erleichtert worden wäre und ich einen Philosophen als Erzieher gefunden hätte, dem man gehorchen könnte, weil man ihm mehr als sich vertraute! Dann suche ich wohl die Grundsätze seiner Erziehung zu errathen, z. B. über harmonische und partielle Bildung: und seine Methoden. Mühsam würde es sein, und wir, an die Bequemlichkeit der Erziehung und an das Sichgehenlassen gewöhnt, würden oft verzagen. So aber, ohne solche Erzieher, fühlt man seine Kräfte oft im Kampfe mit einander, in Empörung, auch seine geistigen Triebe. Zwar glauben die Gelehrten, man könne mit der Wissenschaft nicht leicht genug thun: der Wissenschaft nicht genug, das ist wahr, aber sich übergenug, zuviel: das ist auch wahr. Ich sehe lauter geistige Krüppel: ihre partielle Ausbildung hat ihnen einen Höcker zugetragen. Was heisst harmonisch und partiell? Sollten wir etwa die partielle Ausbildung überhaupt fürchten? Die pars soll vielmehr nur das Centrum werden für alle andern Kräfte, die Sonne im Systeme. Aber ein Balanciren mit Gegengewichten ist überall nöthig, wo eine grosse Kraft ist. KleistPhilosophie (ihm fehlte Schopenhauer). 29 [205] Der Philosoph ist einmal für sich, sodann für andre Philosoph. Es ist nicht möglich, es ganz allein für sich zu sein. Denn als Mensch hat er Beziehung zu andern Menschen: und ist er Philosoph, so muss er es auch in diesen Beziehungen sein. Ich meine: selbst wenn er sich streng von ihnen absondert, als Einsiedler, so giebt er damit eine Lehre, ein Beispiel und ist Philosoph auch für die Andern. Er mag sich benehmen, wie er will: sein Philosoph-sein hat eine Seite, die den Menschen zugekehrt ist. Das Product des Philosophen ist sein Leben (zuerst, vor seinen Werken ). Das ist sein Kunstwerk. Jedes Kunstwerk ist einmal dem Künstler, sodann den andern Menschen zugekehrt. Welches sind die Wirkungen des Philosophen auf die Nichtphilosophen und andre Philosophen? Der Staat, die Gesellschaft, die Religion usw., alle können fragen: was hat uns die Philosophie geleistet? Was kann sie uns jetzt leisten? So auch Cultur. Frage nach den Culturwirkungen der Philosophie überhaupt. Umschreibung der Culturals einer Temperatur und Stimmung vieler ursprünglich feindselig[er] Kräfte, die jetzt eine Melodie abspielen lassen. 29 [206] Die feindseligen Kräfte werden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten: als dies Band zerreisst, so empört sich eins wider das andre. Die Reformation erklärte vieles für *4Vn@D"von da greift die Scheidung immer mehr um sich. Zuletzt sind es die derbsten Kräfte, die fast allein noch alles bestimmen; der militärische Staat voran. Versuch des Staates alles aus sich zu organisiren und das Band zu sein für die feindseligen Kräfte. Begriffe einer Staatskultur, im Gegensatz zu einer Religionskultur. Nun ist die Macht böse, und will das Nützliche mehr als alles Andre. Wir befinden uns in dem eistreibenden Strome des Mittelalters, dasselbe ist aufgethaut, in verheerende Bewegung gerathen. 29 [207] Unter allen Umständen die Revolution: aber von der Klugheit und Menschlichkeit der nächsten Geschlechter hängt es ab, ob daraus die Barbarei oder etwas Anderes hervorgeht: der Mangel an ethischer Philosophie in den gebildeten Schichten ist natürlich in deutlicheren Formen in die ungebildeten gedrungen, die immer das vergröbernde Echo waren. Darin geht alles zu Grunde. Kein neuer grosser Gedanke ist weit und breit zu sehen. Nur dass irgendwann einmal von Neuem angefangen wird. 29 [208] Ich kann mir Schopenhauer nicht an einer Universität denken: die Studenten liefen vor ihm davon und er selbst liefe vor den Mit-Professoren davon. 29 [209] Wenn ich denke, was für starke frohe Geschlechter gelebt habenwo sind nur die Kräfte der Reformationszeit hin!so kommt mir unsre Art zu leben vor wie die Einwinterung auf hohem Gebirge, selten kommt die Sonne, alles ist grau, alle Freuden sind rührend für den Beschauerso flüchtiges Glück! Es lebt sich so schwer. Und dazu die Erinnerung an Sommertage. 29 [210] Ach diese Spanne Zeit! Wir wollen sie wenigstens gross und willkürlich behandeln. Für so kleine Gabe sollen wir doch nicht Sklaven der Geber sein! Das ist das Wunderlichste, wie gebunden die Vorstellung und Einbildung der Menschen ist, sie nehmen das Leben nie als ein Ganzes wahr. Sie fürchten sich vor den Worten und Meinungen ihrer Nächstenach, nur zwei Generationen weiter und niemand hat mehr die Meinungen, die jetzt herrschen und euch zu Sklaven machen wollen. 29 [211] Jede Philosophie muss das können, was ich fordere, einen Menschen concentrirenaber jetzt kann es keine. 29 [212] Zwei Aufgaben: das Neue gegen das Alte zu defendiren und das Alte an das Neue anzuknüpfen. 29 [213] Zum Plan. Der Philosoph hat zwei Seiten: eine kehrt er den Menschen zu, die andre bekommen wir nicht zu sehen, da ist er Philosoph für sich. Wir betrachten zuerst das Verhältniss des Philosophen zu den anderen Menschen. Resultat für unsre Zeit: es kommt bei diesem Verhältniss nichts heraus. Warum wohl? Sie sind nicht Philosophen für sich selbst. Arzt hilf dir selber! Müssen wir ihnen zurufen. 29 [214] Ach wir Menschen dieser Zeit! Es liegt ein Wintertag auf uns und wir wohnen am hohen Gebirge, gefährlich und dürftig. Kurz ist jede Freude und bleich jeder Sonnenglanz, der an den Bergen zu uns herabblickt. Da tönt Musikes erschüttert den Wanderer dies zu hören: so wild, so verschlossen, so farblos, so hoffnungslos ist alles, was er siehtund jetzt darin ein Ton der Freude, einer gedankenlosen lauten Freude. Aber schon schleichen die Nebel des frühen Abends, der Ton verklingt, der Schritt des Wanderers knirscht; grausam und todt ist das Gesicht der Natur am Abend, der immer so früh kommt und nicht weichen will. 29 [215] Die fliegenden Spinnefäden des AltmännersommersStrauss als Bekenner. 29 [216] Wenn einmal die Arbeiterstände dahinter kommen, dass sie uns durch Bildung und Tugend jetzt leicht übertreffen können, dann ist es mit uns vorbei. Aber wenn das nicht eintritt, ist es erst recht mit uns vorbei. 29 [217] Vom Maler auszugehn und [von] dem Kunstkenner vor dem BildeGoethe. 29 [218] Nicht nur den nennen wir unvernünftig, welcher einen unvernünftigen Zweck verfolgt, sondern auch den, der um einen vernünftigen Zweck zu erreichen unzweckmässige und unverhältnissmässige Mittel anwendet: als[o] sowohl den, der das Meer ausschöpfen will, als den, welcher nach Sperlingen schiesst, aber mit Kartätschen. Von dieser zweiten Art der Unvernunft ist die Natur voll. Auch in ihrem höchsten Bereiche, das wir kennen, innerhalb der Menschen, zeigt sie sich nicht klüger, was die Mittel betrifft, so ausserordentlich ihre Zwecke und Absichten sind. Die Art, wie sie die seltenen Begabungen zum Wohl der Menschen verwendet, ist eben so bewunderungswürdig wegen ihrer Unvernunft als jener Gedanke selbst, das Seltene zum Wohle des Gewöhnlichen zu benutzen, erstaunlich ist: denn das Wohl des Gewöhnlichen liegt eben darin, dass es zum Seltenen erhoben, gesteigert, zum Ungewöhnlichen und Neuen umgeprägt werde. Ich frage nach der Teleologie des Philosophen, eines der seltensten Gebilde, die in der Werkstätte der Natur entstehen: wozu ist er da? Für das Wohl eines Volks und einer Zeit, vielleicht auch aller Völker und aller Zeiten. Und wie wird er für jenen Zweck verwendet? Wie das gleichgültigste Spielzeug, das man liegen lässt oder aufhebt, herumwirft oder zertritt, als ob es zu Tausenden auf den Strassen zu finden wäre. Ist es nicht nöthig, dass die Menschen etwas noch hoffen und der Unvernunft der Natur entgegenarbeiten? Ja, es wäre nöthig, wenn es nur möglich wäre! weil die Natur gerade in den Menschen und durch die Menschen wirkt und ein Volk als Ganzes eben jene Doppelheit der Natur zeigt, die wundersamste Vernunft der Zwecke und die nicht minder wunderbare Unvernunft der Mittel. Der Künstler macht sein Werk für die anderen Menschen, es ist kein Zweifel. Trotzdem weiss er es, dass niemals jemand sein Werk so verstehen und lieben wird, wie er selbst. Der hohe Grad der Erkenntniss und der Liebe ist aber nöthig, damit ein niedriger Grad entstehe: jener niedrigere Grad ist der Zweck, den die Natur mit dem Kunstwerk verfolgt, sie verschwendet ihre Mittel und Kräfte, und die Ausgabe ist viel grösser, als der Ertrag ist. Und doch ist dies das natürliche Verhältniss, überall. Wenig Kosten, aber hundertfältiger Ertrag wäre vernünftiger. Geringere Mühe, geringere Lust und Erkenntniss, im Künstler selbst, aber ungemeines Anwachsen von Lust und Erkenntniss im Kunstempfängerdas wäre vortheilhafter eingerichtet. Könnten wir die Rollen tauschen: der Künstler müsste der schwächere Mensch und die Aufnehmenden Zuhörer Zuschauer die stärkeren Menschen sein. Die Kraft der Kunstwerke müsste erst mit der Resonanz im Volke wachsen: wie die Schnelligkeit wächst mit dem Quadrate der Entfernungen. Ist es sinnlos zu wünschen, dass die Kunstwirkung am Anfange das schwächere, zuletzt das stärkere Ende habe? Oder dass mindestens so viel genommen wird als gegeben ist, dass Ursache und Wirkung gleich stark sind? Deshalb sieht es oft so aus, als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in ihrer Zeit seien, versprengte Wanderer oder zurückgebliebene Einsiedler. Wo wir aber ein Verhältniss zwischen einem Philosophen und einem Volk entdecken, so spüren wir folgende Zwecke der Natur, folgende Bestimmung des Philosophen. 29 [219] - Was der Philosoph zu verschiedenen Zeiten gewesen ist.
- Was er in unserer Zeit sein müsste.
- Bild der zeitgemässen Philosophie.
- Weshalb er das nicht leisten kann, was er nach N. 2 müsste: weil eine feste Cultur fehlt. Der Philosoph als Einsiedler. Schopenhauer zeigt, wie die Natur sich anstrengt: es manquirt doch.
29 [220] Weisheit unabhängig vom Wissen der Wissenschaft. Jetzt allein zu hoffen auf die Klassen der niedern ungelehrten Menschen. Die gelehrten und gebildeten Stände sind preiszugeben. Damit auch die Priester, die nur jene Stände verstehen und ihnen angehören. Die Menschen, die noch wissen, was Noth ist, werden auch fühlen, was ihnen Weisheit sein kann. Die grösste Gefahr ist, wenn die ungelehrten Klassen mit der Hefe der jetzigen Bildung angesteckt werden. Wenn jetzt ein Luther entstünde, so würde er gegen die ekelhafte Gesinnung der besitzenden Klassen sich erheben, gegen ihre Dummheit und Gedankenlosigkeit, dass sie gar nichts von der Gefahr wittern. Wo suchen wir das Volk! Die Bildung wird täglich geringer, weil die Hast grösser wird. 29 [221] Es ist ernsthaft zu erwägen, ob für eine werdende Kultur überhaupt noch Fundamente da sind. Ob die Philosophie als ein solches Fundament zu gebrauchen ist? Aber das war sie nie. Mein Vertrauen zur Religion ist grenzenlos gering: die abfluthenden Gewässer kann man sehen, nach einer ungeheuren Überschwemmung. 29 [222] Zum Anfang. Überall Symptome eines Absterbens der Bildung, einer völligen Ausrottung. (Laissez faire der Wissenschaften). Hast, abfluthende Gewässer des Religiösen, die nationalen Kämpfe, die zersplitternde und auflösende Wissenschaft, die verächtliche Geld- und Genusswirthschaft der gebildeten Stände, ihr Mangel an Liebe und Grossartigkeit. Dass die gelehrten Stände durchaus in dieser Bewegung darin sind, ist mir immer klarer. Sie werden täglich gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die Kunst sowohl wie die Wissenschaftwohin sollen wir blicken? Die grosse Sündflut der Barbarei ist vor der Thür. Da wir eigentlich nichts zu vertheidigen haben, und alle mit darin stehenwas ist zu machen? Versuch die wirklich vorhandenen Kräfte noch zu warnen, sich mit ihnen zu verbinden und die Schichten, aus denen die Gefahr der Barbarei droht, noch bei Zeiten zu bändigen. Nur ist jeder Bund mit den Gebildeten abzuweisen. Das ist der grösste Feind, weil er den Ärzten hinderlich ist und die Krankheit weglügen will. 29 [223] Von der Bestimmung des Philosophen. Es giebt etwas Unzweckmässiges, das der Natur vorzuwerfen ist: man bemerkt es bei der Frage: wozu ist ein Kunstwerk da? Für wen? Für den Künstler? Für die andern Menschen? Aber der Künstler hat es nicht nöthig, ein Bild das er sieht sichtbar zu machen und Andern zu zeigen. Jedenfalls ist das Glück des Künstlers in seinem Werke, ebenso wie sein Verständniss desselben grösser als das Glück und das Verständniss bei allen Übrigen. Diese Disproportion finde ich unzweckmässig. Die Ursache sollte der Wirkung entsprechen. Dies ist nie bei Kunstwerken der Fall. Es ist dumm eine grosse Lawine zu wälzen, um ein wenig Schnee wegzuschieben, einen Menschen zu erschlagen, um die Fliege auf seiner Nase zu tödten. So verfährt die Natur. Der Künstler ist ein Beweis gegen die Teleologie. Der Philosoph erst recht. Für wen philosophirt er? Für sich? für Andere? Aber das Erstere wäre sinnlose Verschwendung der Natur, das Zweite wieder unzweckmässig. Der Nutzen des Philosophen trifft immer nur Wenige und nicht das Volk: und diese Wenigen trifft er nicht so stark wie den Urheber selbst. Für wen baut ein Baumeister? Sollte der mannichfache ungleiche Reflex, diese Repercussion in vielen Seelen die Absicht der Natur sein? Ich glaube er baut für den nächsten grossen Baumeister. Jedes Kunstwerk sucht weiter zu zeugen und sucht nach empfänglichen und zeugenden Seelen umher. So der Philosoph. Die Natur verfährt unverständlich und nicht geschickt. Der Künstler schiesst wie der Philosoph seinen Pfeil in das Gewimmel hinein. Er wird wohl irgendwo hängen bleiben. Sie zielen nicht. Die Natur zielt nicht und schiesst unzählig oft daneben. Künstler und Philosophen gehen zu Grunde, weil ihre Pfeile nicht treffen. Im Bereiche der Kultur geht die Natur eben so vergeuderisch um wie bei dem Pflanzen und Säen. Ihre Zwecke erfüllt sie auf eine schwerfällige und allgemeine Manier. Sie opfert viel zu viel Kraft auf, zu Zwecken, die nicht im Verhältniss sind. Der Künstler und seine Kenner und Liebhaber verhalten sich zu einander wie ein grosses Geschütz zu einer Anzahl Spatzen. Die Natur ist gemeinnützig, wendet aber nicht immer die besten und geschicktesten Mittel an. Dass sie mit dem Künstler, dem Philosophen den Andern helfen wollte, ist kein Zweifel: aber wie unverhältnissmässig gering und wie zufällig ist die Wirkung, gerechnet gegen die Ursachen (den Künstler, das Kunstwerk)! Besonders bei dem Philosophen ist die Verlegenheit gross: der Weg von ihm zum Object, auf das gewirkt werden soll, ganz zufällig. Zahllose Male misslingt es. Die Natur verschwendet, doch nicht aus Üppigkeit, sondern aus Unerfahrenheit: es ist anzunehmen, dass sie, wenn sie ein Mensch wäre, aus dem Ärger über sich gar nicht heraus käme. 29 [224] Ich hasse das Überspringen dieser Welt, dadurch dass man sie in Bausch und Bogen verdammt: aus ihr stammt die Kunst, die Religion. Ach diese Flucht begreife ich so, hinaus und hinüber in die Ruhe des Einen! Ach dieser Mangel ah Liebe in diesen Philosophen, die immer nur an die Ausgewählten denken und nicht so viel Glauben zu ihrer Weisheit haben. Es muss die Weisheit wie die Sonne für jedermann scheinen: und ein blasser Strahl selbst in die niedrigste Seele hinabtauchen können. Einen Besitz den Menschen verheissen! Philosophie und Religion ist Sehnsucht nach einem Eigenthum. 29 [225] Ich ergötze mich an der Vorstellung, dass die Menschen bald einmal das Lesen satt bekommen werden: und die Schriftsteller dazu; dass der Gelehrte einer kommenden Generation eines Tags sich besinnt, sein Testament macht und verordnet, dass sein Leichnam inmitten seiner Bücher, zumal der eignen Schriften, verbrannt werden solle. Und wenn die Wälder immer spärlicher werden, sollte es nicht bald an der Zeit sein, die Bibliotheken als papiernen Holzstock und Gestrüpp zu behandeln? Sind doch die meisten Bücher aus Rauch und Dampf der Köpfe geboren: so sollen sie auch wieder zu Rauch werden. Ich glaube übrigens, dass ein Geschlecht, das den Geschmack hat mit seinen Bibliotheken seine Öfen zu heizen, gerade deshalb auch den guten Geschmack haben wird, eine kleine Anzahl Bücher und gerade die welche es verdienen auszuwählen und leben zu lassen. Es wäre freilich möglich, dass ein Jahrtausend später gerade unser jetziges Zeitalter als die dunkelste Periode der Vergangenheit gelte, weil nichts von ihm übrig geblieben ist. Wie glücklich sind wir also, dass wir unsre Zeit noch kennen lernen können aus dem überreichen Material, was sie täglich den Druckerpressen übergiebt: hat es nämlich überhaupt einen guten Sinn, sich mit seinem Gegenstand zu beschäftigen, so ist es jedenfalls ein Glück, sich so gründlich mit ihr zu beschäftigen, dass einem kein Zweifel über sie übrig bleibt. Es hat aber einen guten Sinn; denn man lernt viel dadurch selbst kennen, und gerade die schlechte Litteratur einer Zeit erlaubt uns selber im Bilde zu sehen: weil sie den Durchschnitt der gerade herrschenden Moralität usw., also nicht die Ausnahme, sondern die Regel zeigt, während die wirklich guten Bücher der Zeitgenossen meistens von solchen herrühren, die mit der Zeit eben nichts gemein haben als die Zeit. Deshalb sind sie zur Selbsterkenntniss nicht so nützlich wie jene. Aus den schlechten Büchern und Zeitungen will ich nun beweisen, dass wir alle Stümper in der Philosophie sind und keine Ph[ilosophie] haben. 29 [226] Lesen und Schreiben. Denken und Reden dagegen: welchen Einfluss übt darauf das viele Lesen und Schreiben? 29 [227] Manche Dinge werden erst dauerhaft, wenn sie schwach geworden sind: bis dahin bedroht sie die Gefahr eines plötzlichen Unterganges: das Christenthum wird jetzt so fleissig vertheidigt, weil es die bequemste Religion geworden ist; jetzt hat es Aussicht auf Unsterblichkeit, nachdem es die langwierigste Sache der Welt, die menschliche Trägheit und Bequemlichkeit auf seine Seite gezogen hat. So hat auch die Philosophie jetzt ihre grösste Schätzung, denn sie quält die Leute nicht mehr und macht ihnen doch das Maul flüssig. Die heftigen und starken Dinge sind in Gefahr, plötzlich zu verderben, geknickt und von Blitzen getroffen zu werden. Den Vollblütigen fasst der Schlagfluss. Unsere heutige Philosophie stirbt gewiss nicht am Schlagfluss. 29 [228] Rührend: ein Fest im tiefen Schneegebirge bei Winterszeit. 29 [229] Der Weg zur Freiheit. Dreizehnte Unzeitgemässe. Stufe der Beobachtung. Der Verwirrung. Des Hasses. Der Verachtung. Der Verknüpfung. Der Aufklärung. Der Erleuchtung. Des Kampfes für. Des inneren Friedens und Freisinns. Versuche der Construction. Der historischen Einordnung. Der staatlichen Einordnung. Der Freunde. 29 [230] Der Philosoph. 1. | Cap. | | Die medicinische Moral. | 2. | | | Der Excess des Denkens wirkungslos. Kleist. | 3. | | | Wirkung der Philosophie, sonst und jetzt. | 4. | | | Die Popularphilosophie (Plutarch, Montaigne). | 5. | | | Schopenhauer. | 6. | | | Der Pfaffenstreit zwischen Optimismus und Pessimismus. | 7. | | | Die Urzeiten. | 8. | | | Christenthum und Moral. Warum nicht zur Kraft der Alten? | 9. | | | Die jungen Lehrer und Erzieher als Philosophen. | 10. | | | Verehrung des ethischen Naturalismus. |
Ungeheure Operationen: aber es kommt nichts heraus dabei. |
29 [231] Ich würde einem Amte nie erlauben, mir mehr als ein Viertel meiner Kraft zu rauben. 29 [232] Ich schätze das Glück nicht übermässig, unter den Deutschen geboren zu sein, und würde das Leben mit vielleicht mehr Befriedigung als Spanier betrachten.
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