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Frühjahr - Herbst 1873 28 [1-6]
28 [1] Der wissenschaftliche Mensch ist ein rechtes Paradoxum: rings umstarren ihn die schrecklichsten Probleme, an Abgründen wandelt er und er pflückt eine Blume um ihre Staubfäden zu zählen. Es ist nicht Stumpfheit des Erkennens: denn er glüht in seinem Triebe zum Erkennen und Entdecken und kennt keine größere Lust als den Schatz des Wissens zu mehren. Aber er benimmt sich wie der stolzeste Müssiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantirter Besitz. In der jetzigen Zeit ist er dazu in eine Hast gerathen als ob die Wissenschaft eine Fabrik sei und jede Art von Minuten-Versäumniß einer Strafe werth sei. Er arbeitet, er beschäftigt sich nicht mehr, er sieht weder rechts noch links und macht alle Geschäfte und Bedenklichkeiten des Lebens durch mit der halben Aufmerksamkeit oder dem widrigen Erholungsbedürfniß, das dem erschöpften Arbeiter zu eigen ist. Er benimmt sich als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine dignitate: wie ein Sklave, der auch im Traume sein Joch nicht abwirft. Vielleicht findet man für die große Masse der Gelehrten die richtige Würdigung, wenn man sie zunächst als Ackerbauern betrachtet: mit ererbtem kleinem Besitz, emsig vom Tag bis in die Nacht hinein bemüht, den Acker zu bauen, den Pflug zu ziehn und den Ochsen zuzurufen. Pascal meint, die Menschen trieben so angelegentlich ihre Geschäfte, ihre Wissenschaften, um damit den Fragen zu entfliehn, die jede Einsamkeit ihnen aufdringt, dem Woher? und Wie? und Wohin? Aber viel wunderlicher ist es, daß ihnen die nächsten Fragen nicht einfallen: wozu diese Arbeit, wozu diese Hast, wozu dieser Taumel? Vielleicht zum Broderwerb? Nein. Aber nach der Art der Broderwerbenden. Alle Wissenschaften sind unnützes Zeug, sobald der Mensch mit ihnen wie mit den Arbeitsaufgaben der Noth und der Bedürftigkeit verfährt. Die Kultur ist möglich, ohne diese eure Wissenschaft; wie die Griechen beweisen. Eine bloße Neugierde ist so stolzer Namen nicht würdig. Wenn ihr nicht versteht, zu eurem wissenschaftlichen Leben die entsprechende Gegendosis von derber Erfahrung, Philosophie und Kunst zu mischen, so werdet ihr der Kultur ebenso unwürdig als ihrer unfähig sein. Eine spätere Generation wird erstarren über die Uniformität eures eigentlichen Lebens und Denkens: wie dürftig und arm die eigentliche Welterfahrung, wie büchermäßig euer Urtheilen ist. Manche Disciplinen erlauben es, heerdenweise überfallen zu werden. andre nicht: und gerade letzteren geht ihr aus dem Wege. Denkt nur an eure Gesellschaften, seht wie die Ermüdung, die Zerstreuungslust und die litterarische Reminiszenz sie zusammensetzen. Die Wissenschaft selbst ist in der Periode des Niedergangs, trotz der Methoden und des Handwerkszeugs: und eure großen Universitäten mit dem imponirenden Apparat von Laboratorien Spektatorien und Spektatores und Laboureurs erinnern an die Zeughäuser mit den ungeheuren Geschützen und Kriegswerkzeugen: man erschrickt über die Zurüstungen, aber im Kriege kann niemand solche Maschinen brauchen. So ist es mit den großen Universitäten: sie stehen ganz abseits von der Kultur, dagegen allen bedenklichen Strömungen der gegenwärtigen Unkultur offen. Ein Professor ist ein Wesen, auf dessen Unbildung und Geschmacksroheit man so lange schließen darf, bis er nicht das Gegentheil beweist. Denke ich an die Vulgarität eurer politischen oder theologischen, oder gar Protestantenvereins-Ansichten, oder an eure Sprachstudien, um die klassischen Vorbilder abzuschwächen, eure indischen Studien, ohne nur einen Zusammenhang mit der indischen Philosophie zu haben, denke ich an das Aufsehn, das unter euch so schlechte Bücher wie David Strauß gemacht haben und andere Bücher nicht gemacht haben, denke ich daran, wie eure Professoren Aesthetik treiben, wie eure Universitäten in der Kunst auf der Höhe der Männergesangvereine stehen, wie stumpfsinnig ihr allen produktiven Kräften fern bleibt, so weiß ich soviel, daß ihr keine Schonung mehr verdient, ihr seid die Arbeiter an der Fabrikaber für die Kultur kommt ihr nur als Hemmnisse in Betracht. 28 [2] I. | Einleitung. Was vermag ein Philosoph in Betreff der Cultur seines Volks? |
| Er scheint | a) gleichgültiger Einsiedler b) Lehrer von den hundert geistreichsten und abstraktesten Köpfen c) oder feindseliger Zerstörer der Volkskultur. |
| Was b) betrifft, so ist die Wirkung nur mittelbar, aber sie ist da, wie bei c). | | Was a) betrifft, so kommt es wohl vor, durch die Unzweckmäßigkeit der Natur, daß er Einsiedler bleibt. Sein Werk bleibt doch für spätere Zeiten. Doch fragt sich eben, ob er für seine Zeit nothwendig war. | | Hat er ein nothwendiges Verhältniß zum Volke, giebt es eine Teleologie des Philosophen? | | Bei der Beantwortung muß man wissen, was man seine Zeit nennt: das kann eine kleine oder eine sehr große Zeit sein. | | Hauptsatz: er kann keine Kultur schaffen, |
| aber sie vorbereiten, Hemmungen beseitigen, oder sie mäßigen und dadurch erhalten, oder sie zerstören. | ü ý þ | immer nur verneinend. |
| Nie hat ein Philosoph in seinen positivis das Volk hinter sich drein gezogen. Denn er lebt im Kultus des Intellekts. | | Zu allen positivis einer Kultur, einer Religion ist er auflösend, zerstörend (selbst wenn er zu begründen sucht). | | Er ist am nützlichsten, wenn es viel zu zerstören giebt, in Zeiten des Chaotischen oder der Entartung. | | Jede blühende Kultur hat das Bestreben, den Philosophen unnöthig zu machen (oder ihn völlig zu isoliren). Die Isolation oder Verkümmerung kann doppelt zu erklären sein: aus der Unzweckmäßigkeit der Natur (dann wenn er nöthig ist) aus der zweckmäßigen Vorsicht der Natur (dann wenn er unnöthig ist). | II. | Seine zerstörenden und beschneidenden Wirkungenworauf? | III. | Jetztda es keine Kultur giebt, hat er vorzubereiten (zerstören)was? | IV. | Die Angriffe auf die Philosophie. | V. | Die Philosophen verkümmert. Beides Folge der Unzweckmässigkeit der Natur, die zahllose Keime ruinirt: aber ihr gelingen doch ein paar Grosse: Kant und Schopenhauer. | VI. | Kant und Schopenhauer. Der Schritt zu freierer Cultur vom Einen zum Andern. Teleologie Schopenhauers in Hinsicht auf eine kommende Cultur. Seine doppelte positive Philosophie (es fehlt der lebendige Centralkeim)ein Conflikt nur für den Nichtmehr-Hoffenden. Wie die kommende Cultur diesen Conflikt überwinden wird. Olympier. Mysterien. Alltag-Feste. |
28 [3] 6: 100 | | 17 | | 6 | | | | 40 | | | 9 grüne Seiten jedes Capitel. |
28 [4] Alles Allgemein-Wichtige einer Wissenschaft ist zufällig geworden oder fehlt ganz. Das Sprachstudium, ohne die Stillehre und die Rhetorik. Die indischen Studien, ohne die Philosophie. Das klassische Alterthum, ohne Zusammenhang mit den praktischen Bestrebungen, von ihm zu lernen. Die Naturwissenschaft, ohne jene Heilung und Ruhe, die Goethe fand. Die Geschichte, ohne den Enthusiasmus. Kurz alle Wissenschaften, ohne die praktische Wendung: also anders getrieben, als sie die wahren Kulturmenschen getrieben haben. Die Wissenschaft als Broderwerb! 28 [5] Die Philosophie treibt ihr mit Jünglingen, ohne Erfahrung: eure Alten wenden sich zur Geschichte. Eine Popularphilosophie habt ihr gar nicht, dagegen schmählich uniforme populäre Vorlesungen. Preisaufgaben, von Universitäten an Studenten gestellt, über Schopenhauer! Populäre Vorträge über Schopenhauer! Es fehlt an aller Würde. Wie die Wissenschaft zu dem werden konnte, was sie jetzt ist, ist nur aus der Entwicklung der Religion deutlich zu machen. 28 [6] Zu Schopenhauer. Lächerlich ihn sich an einer jetzigen Universität zu denken! Seine eudämonologische Lehre ist wie die des Horaz für erfahrene Männer, seine andre pessimistische ist gar nichts für die jetzigen Menschen: diese werden höchstens ihre Unzufriedenheiten hineinstecken und diese wieder herausziehend glauben, Schopenhauer widerlegt zu haben. Die ganze Kultur nimmt sich so unsäglich kindisch aus, ebenso der Jubel nach dem Kriege. Er ist einfach und ehrlich: er sucht keine Phrasen. Welche Kraft haben alle seine Conceptionen, der Wille, die Verneinung, die Darstellung vom Genius der Gattung. Er hat in der Darstellung keine Unruhe, sondern die helle Tiefe des Sees bei Unbewegtheit oder leichtestem Wellenschlage. Er ist grob wie Luther. Er ist das strengste Ideal des Schriftstellers, das die Deutschen haben, keiner hat es so streng genommen. Wie würdevoll er ist, kann man an seinem Nachahmer Hartmann sehen. Unendliche Größe, wieder den Grund des Daseins erfaßt zu haben, kein gelehrtenhaftes Abziehn, kein Verweilen in der Scholastik. Das Studium der Anderen ist interessant, weil sie sofort auf die Stelle gerathen, wo das gelehrtenhafte Erkennen erlaubt ist, aber nichts weiter. Er zertrümmert die Verweltlichung, und ebenso die barbarisirende Kraft der Wissenschaften. Er erweckt das ungeheuerste Bedürfniß: wie Sokrates ein solcher Erwecker des Bedürfnisses war. Dieser aber rief die Wissenschaft: jener die Religion und die Kunst. Was die Religion war, war vergessen worden, ebenso die Stellung der Kunst zum Leben. Erst durch den Pessimismus sind beide wieder begriffen worden. Wie tief aber die neue Religion sein muß, ergiebt sich 1) daraus, daß das Unsterblichkeitsmotiv, mit der Todesfurcht, wegfällt 2) die ganze Scheidung von Seele und Körper 3) die Einsicht, nicht durch Correkturen palliativischer Art über das Elend des Daseins wegzukommen: viel radikaler 4) das Verhältniß zu einem Gott ist vorbei 5) das Mitleid (nicht die Liebe zum Ich, sondern die Einheit alles Lebenden und Leidenden). Gegenbild der Kultur, wenn die Religion nicht mehr möglich sein sollte. Tragische Resignation. Schopenhauer steht zu allem in Widerspruch, was jetzt als Kultur gilt: Plato zu allem, was damals Kultur war. Schopenhauer ist vorausgeschleudert: wir ahnen jetzt bereits seine Mission. Er ist Vernichter kulturfeindlicher Kräfte, er öffnet wieder die tiefen Gründe des Daseins. Durch ihn wird die Heiterkeit der Kunst wieder möglich.
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