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The Will to Power
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Sommer 1872—Anfang 1873 19 [151-330]

19 [151]

Die Philosophie anzuschauen wie die Astrologie: nämlich das Schicksal der Welt mit dem des Menschen zu verknüpfen: d. h. die höchste Evolution des Menschen als die höchste Evolution der Welt zu betrachten. Von diesem philosophischen Triebe aus empfangen alle Wissenschaften ihre Nahrung. Die Menschheit vernichtet erst die Religionen, dann die Wissenschaft.

19 [152]

Der Schönheitssinn zusammenhängend mit der Zeugung.

19 [153]

Auch die Kantische Erkenntnißtheorie hat der Mensch sofort zu einer Glorifikation des Menschen benutzt: die Welt hat nur in ihm Realität. Sie wird wie ein Ball in seinen Köpfen hin und hergeworfen. In Wahrheit heißt es doch nur: man denke daß ein Kunstwerk besteht und ein dummer Mensch, es zu betrachten. Freilich existirt es als Gehirnphänomen für jenen Dummen, nur soweit er selbst noch Künstler ist und die Formen mitbringt. Er könnte kühn behaupten: außer meinem Gehirn hat es gar keine Realität.

Die Formen des Intellekts sind aus der Materie entstanden, sehr allmählich. Es ist an sich wahrscheinlich, daß sie streng der Wahrheit adäquat sind. Woher sollte so ein Apparat, der etwas Neues erfindet, gekommen sein!

Die Hauptfähigkeit scheint mir die Gestalt zu percipiren, d. h. beruhend auf dem Spiegel. Raum und Zeit sind nur gemessene, an einem Rhythmus gemessene Dinge.

19 [154]

Ihr sollt nicht in eine Metaphysik flüchten, sondern sollt euch der werdenden Kultur thätig opfern! Deshalb bin ich streng gegen den Traumidealismus.

19 [155]

Alles, Erkennen ist ein Messen an einem Maßstabe. Ohne einen Maßstab, d. h. ohne jede Beschränkung, giebt es kein Erkennen. So steht es im Bereiche der intellektuellen Formen eben so, wie wenn ich nach dem Werthe des Erkennens überhaupt frage: ich muß irgend eine Position nehmen, die höher steht oder die wenigstens fest ist, um als Maßstab zu dienen.

19 [156]

Führen wir die ganze intellektuelle Welt zurück bis zum Reiz und zur Empfindung, so erklärt diese dürftigste Perception am wenigsten.

Der Satz: es giebt keine Erkenntniß ohne ein Erkennendes oder kein Subjekt ohne Objekt und kein Objekt ohne Subjekt, ist ganz wahr, aber die äußerste Trivialität.

Wir können vom Ding an sich nichts aussagen, weil wir den Standpunkt des Erkennenden d. h. des Messenden uns unter den Füßen weggezogen haben. Eine Qualität existirt für uns d. h. gemessen an uns. Ziehen wir das Maaß weg, was ist dann noch Qualität!

Was die Dinge sind, ist aber nur zu beweisen durch ein daneben gestelltes messendes Subjekt. Ihre Eigenschaften an sich gehen uns nichts an, aber insofern sie auf uns wirken.

Nun ist zu fragen: wie entstand ein solches messendes Wesen?

Die Pflanze ist auch ein messendes Wesen.

19 [157]

Der ungeheure Consensus der Menschen über die Dinge beweist die volle Gleichartigkeit ihres Perceptionsapparates.

19 [158]

Für die Pflanze ist die Welt so und so—für uns so und so. Vergleichen wir die beiden Perceptionskräfte, so gilt uns unsre Auffassung der Welt als richtiger d. h. der Wahrheit entsprechender. Nun hat sich der Mensch langsam entwickelt und die Erkenntniß entwickelt sich noch: also das Weltbild wird immer wahrer und vollständiger. Natürlich ist es nur eine Wiederspiegelung, eine immer deutlichere. Der Spiegel selbst ist aber nichts ganz Fremdes und dem Wesen der Dinge Ungehöriges, sondern selbst langsam entstanden als Wesen der Dinge gleichfalls. Wir sehen ein Streben, den Spiegel immer adäquater zu machen: den natürlichen Prozeß setzt die Wissenschaft fort.— So spiegeln sich die Dinge immer reiner: allmähliche Befreiung vom allzu Anthropomorphischen. Für die Pflanze ist die ganze Welt Pflanze, für uns Mensch.

19 [159]

Der Stoß, das Einwirken des einen Atoms auf das andre, setzt ebenso Empfindung voraus. Etwas an sich Fremdes kann nicht auf einander wirken.

Nicht das Erwachen der Empfindung, sondern das des Bewußtseins in der Welt, ist das Schwere. Aber doch noch erklärbar, wenn alles Empfindung hat.

Wenn alles Empfindung hat, so haben wir ein Durcheinander von kleinsten größeren und größten Empfindungscentren. Diese Empfindungscomplexe, größer oder kleiner, wären “Wille” zu benennen.

Wir machen uns schwer von den Qualitäten los. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:320-27.]

19 [160]

Von einem unbewußten Ziele der Menschheit zu reden halte ich für falsch. Sie ist kein Ganzes wie ein Ameisenhaufen. Vielleicht kann man von dem unbewußten Ziele einer Stadt, eines Volkes reden: aber was heißt es, von dem unbewußten Ziele aller Ameisenhaufen der Erde zu reden!

19 [161]

Empfindung, Reflexbewegungen, sehr häufige und blitzschnell erfolgende, allmählich ganz eingelebte, erzeugen die Schlußoperation d. h. das Gefühl der Kausalität. Von der Kausalitätsempfindung hängen Raum und Zeit ab.

Das Gedächtniß bewahrt die gemachten Reflexbewegungen.

Das Bewußtsein hebt an mit der Kausalitätsempfindung d. h. das Gedächtniß ist älter als das Bewußtsein. Z. B. bei der Mimosa haben wir Gedächtniß, aber kein Bewußtsein. Gedächtniß natürlich ohne Bild, bei der Pflanze.

Aber Gedächtniß muß dann zum Wesen der Empfindung gehören, also eine Ureigenschaft der Dinge [sein]. Dann aber auch die Reflexbewegung.

Die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze heißt doch: Empfindung und Gedächtniß ist im Wesen der Dinge. Daß sich ein Stoff, bei der Berührung mit einem anderen, gerade so entscheidet, ist Gedächtniß und Empfindungssache. Irgendwann hat er es gelernt, d. h. die Thätigkeiten der Stoffe sind gewordene Gesetze. Dann aber muß die Entscheidung gegeben sein durch Lust und Unlust.

Wenn aber Lust Unlust Empfindung Gedächtniß Reflexbewegung zum Wesen der Materie gehört, dann reicht die Erkenntniß des Menschen viel tiefer ins Wesen der Dinge.

Die ganze Logik in der Natur löst sich dann auf in ein Lust- und Unlustsystem. Jedes greift nach der Lust und flieht die Unlust, das sind die ewigen Naturgesetze. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:320-27.]

19 [162]

Gedächtniß hat nichts mit Nerven, mit Gehirn zu thun. Es ist eine Ureigenschaft. Denn der Mensch trägt das Gedächtniß aller vorigen Generationen mit sich herum.

Das Gedächtnißbild etwas sehr Künstliches und Seltenes.

19 [163]

Von einem nicht irrenden Gedächtniß kann ebenso wenig als von einem absolut zweckmäßigen Handeln der Naturgesetze die Rede sein.

19 [164]

Ist es ein unbewußter Schluß? Schließt die Materie? Sie empfindet und kämpft für ihr individuelles Sein. Der “Wille” zeigt sich erstens in der Veränderung, d. h. es giebt eine

Art freien Willen, welcher die Essenz eines Dinges modificirt, aus Lust und der Flucht vor Unlust.— Die Materie hat eine Anzahl Qualitäten, die proteusartig sind, die sie je nach dem Angriff betont, verstärkt, für das Ganze einsetzt.

Die Qualitäten scheinen nur bestimmte modificirte Thätigkeiten einer Materie zu sein. Je nach den Maaß- und Zahlproportionen auftretend. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:320-27.]

19 [165]

Wir kennen nur eine Realität—die der Gedanken. Wie wenn das das Wesen der Dinge wäre!

Wenn Gedächtniß und Empfindung das Material der Dinge wären! [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:320-27.]

19 [166]

Der Gedanke giebt uns den Begriff einer ganz neuen Form der Realität: er ist aus Empfindung und Gedächtniß zusammengesetzt.

19 [167]

Der Mensch in der Welt könnte sich wirklich begreifen als Einer aus einem Traume, der selbst mitgeträumt wird.

19 [168]

Der Philosoph bei den Griechen setzt, in heller Beleuchtung und Sichtbarkeit, die Thätigkeit fort, durch welche die Griechen zu ihrer Kultur gekommen sind.

19 [169]

1. Keine *4"*@P"\.
2. Die verschiedenen Typen.

19 [170]

Die Philosophen sind die vornehmste Klasse der Großen des Geistes. Sie haben kein Publikum, sie brauchen den Ruhm. Ihre höchsten Freuden mitzutheilen, brauchen sie den Beweis: darin sind sie unglücklicher als die Künstler.

19 [171]

Wir sehen an dem gegenwärtigen Deutschland, daß die Blüthe der Wissenschaften in einer barbarisirten Kultur möglich ist; ebenfalls hat die Utilität nichts mit den Wissenschaften zu thun (obwohl es so scheint, in der Bevorzugung der chemischen und naturwissenschaftlichen Anstalten, und reine Chemiker gar als “Capacitäten” berühmt werden können).

Sie hat einen eignen Lebensaether für sich. Eine sinkende Kultur (wie die alexandrinische) und eine Unkultur (wie die unsrige) machen sie nicht unmöglich.

Das Erkennen ist wohl gar ein Ersatz der Kultur.

19 [172]

Es ist wohl nur die Vereinzelung des Erkennens durch Trennung der Wissenschaften, daß das Erkennen und die Kultur einander fremd bleiben können. Im Philosophen berührt sich das Erkennen wieder mit der Kultur.

Er umfaßt das Wissen und regt die Frage nach dem Werthe der Erkenntniß auf. Das ist ein Kulturproblem: Erkenntniß und Leben.

19 [173]

Sind die Verdunkelungen z. B. im Mittelalter wirklich Gesundheitsperioden, etwa Schlafenszeiten für den intellektuellen Genius der Menschen? [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:368-74.]

Oder: sind auch die Verdunkelungen Resultate höherer Zwecke? Wenn Bücher ihre fata haben, dann ist wohl auch das Untergehen eines Buchs ein fatum, mit irgend einem Zweck.

Die Zwecke bringen uns in Verwirrung.

19 [174]

Im Philosophen setzen sich Thätigkeiten fort, durch Metapher. Das Streben nach einheitlichem Beherrschen. Jedes Ding strebt ins Unermeßliche, der Individualcharakter in der Natur ist selten fest, sondern immer weiter greifend. Ob langsam oder schnell, ist eine höchst menschliche Frage. Wenn man nach der Seite des unendlich Kleinen hinsieht, ist jede Entwicklung immer eine unendlich schnelle.

19 [175]

Was thut den Menschen die Wahrheit!

Es ist das höchste und reinste Leben möglich, im Glauben die Wahrheit zu haben. Der Glaube an die Wahrheit ist dem Menschen nöthig.

Die Wahrheit erscheint als sociales Bedürfniß: durch eine Metastase wird sie nachher auf alles angewandt, wo sie nicht nöthig ist.

Alle Tugenden entstehn aus Nothdurften. Mit der Societät beginnt das Bedürfniß nach Wahrhaftigkeit. Sonst lebt der Mensch in ewigen Verschleierungen. Die Staatengründung erregt die Wahrhaftigkeit. —

Der Trieb zur Erkenntniß hat eine moralische Quelle.

19 [176]

Wie viel die Welt werth ist, muß auch ihr kleinster Bruchtheil offenbaren—seht den Menschen, dann wißt ihr, was ihr von der Welt zu halten habt.

19 [177]

Die Noth erzeugt, unter Fällen, die Wahrhaftigkeit, als Existenzmittel einer Societät.

Durch häufige Übung erstarkt der Trieb und wird jetzt durch Metastase, unberechtigt, übertragen. Er wird zum Hang an sich. Aus einer Übung für bestimmte Fälle wird eine Qualität.— Nun haben wir den Trieb nach Erkenntniß.

Diese Verallgemeinerung geschieht durch den dazwischentretenden Begriff. Mit einem falschen Urtheil beginnt diese Qualität—wahr sein heißt immer wahr sein. Daraus entsteht der Hang nicht in der Lüge zu leben: Beseitigung aller Illusionen.

Aber er wird aus einem Netz in’s andere gejagt.

Der gute Mensch will nun auch wahr sein und glaubt an die Wahrheit aller Dinge. Nicht nur der Societät, sondern der Welt. Somit auch an die Ergründbarkeit. Denn weshalb sollte die Welt ihn täuschen?

Also er überträgt seinen Hang auf die Welt und glaubt, daß auch die Welt wahr gegen ihn sein muß.

19 [178]

Ich frage nicht nach dem Zwecke des Erkennens: es ist zufällig, d. h. nicht mit einer vernünftigen Zweckabsicht entstanden. Als eine Erweiterung oder als ein Hart- und Festwerden einer in gewissen Fällen nöthigen Denk- und Handelnsweise.

Von Natur ist der Mensch nicht zum Erkennen da.

Zwei zu verschiedenen Zwecken nöthige Eigenschaften—die Wahrhaftigkeit—und die Metapher—haben den Hang zur Wahrheit erzeugt. Also ein moralisches Phänomen, aesthetisch verallgemeinert, erzeugt den intellektuellen

Trieb.

Instinkt ist hier eben Gewohnheit, oft so zu schließen und daraus 6"J •<V8@(@< eine Pflicht überhaupt immer so schließen zu müssen.

19 [179]

Die Natur hat den Menschen in lauter Illusionen gebettet.— Das ist sein eigentliches Element. Formen sieht er, Reize empfindet er statt der Wahrheiten. Er träumt, er imaginirt sich Göttermenschen als Natur.

Der Mensch ist zufällig ein erkennendes Wesen geworden, durch die unabsichtliche Paarung zweier Qualitäten. Irgendwann wird er aufhören und es. wird nichts geschehen sein.

Sie waren es lange nicht und wenn sie selbst aufgehört haben zu existiren, wird sich nichts begeben haben. Sie sind ohne weitere Mission und ohne Zweck.

Der Mensch ist ein höchst pathetisches Thier und nimmt alle seine Eigenschaften so wichtig als ob die Angeln der Welt sich in ihnen drehten.

Das Ähnliche erinnert an das Ähnliche und vergleicht sich damit: das ist das Erkennen, das schnelle Subsumiren des Gleichartigen. Nur das Ähnliche percipirt das Ähnliche: ein physiologischer Prozeß. Dasselbe, was Gedächtniß ist, ist auch Perception des Neuen. Nicht Gedanke auf Gedanke — — —

19 [180]

Über die Lüge.

Heraklit. Glaube an die Ewigkeit der Wahrheit.
Untergang seines Werks—einmal Untergang aller Erkenntniß. Und was ist an Heraklit Wahrheit!
Darstellung seiner Lehre als Anthropomorphismus. Ebenso Anaximander. Anaxagoras.
Beziehung Heraklits zu dem griechischen Volkscharakter. Es ist der hellenische Kosmos.
Entstehung des Pathos der Wahrheit. Zufälliges Entstehen des Erkennens.
Die Verlogenheit und Illusion, in der der Mensch lebt. Die Lüge und die Wahrheitsrede—Mythus Poesie.
Die Fundamente alles Großen und Lebendigen ruhen auf der Illusion. Das Wahrheitspathos führt zum Untergang. (Da liegt das “Große.”) Vor allem zum Untergang der Kultur.
Empedokles und die Opfer. Eleaten. Plato braucht zum Staat die Lüge.
Trennung von der Kultur duch Sektenwesen bei den Griechen.
Wir umgekehrt kehren sektenartig zur Kultur zurück, wir suchen das unermeßliche Erkennen wieder in dem Philosophen zurückzudrängen und diesen wieder von dem Anthropomorphischen aller Erkenntniß zu überzeugen.

19 [181]

Objektiver Werth der Erkenntniß—sie macht nicht besser. Letzte Weltziele hat sie nicht. Ihr Entstehen zufällig. Werth der Wahrhaftigkeit.— Doch sie macht besser! Ihr Ziel ist der Untergang. Sie opfert auf. Unsere Kunst ist Abbild der desperaten Erkenntniß.

19 [182]

Die Menschheit hat an der Erkenntniß ein schönes Mittel zum Untergang.

19 [183]

Daß der Mensch so und nicht anders geworden ist, ist doch gewiß sein Werk: daß er so eingetaucht ist in die Illusion (Traum) und auf die Oberfläche (Auge) angewiesen ist, ist sein Wesen. Ist es wunderbar, wenn auch die Wahrheitstriebe zuletzt doch wieder auf sein Grundwesen hinauslaufen? —

19 [184]

Wir fühlen uns groß, wenn wir von einem Mann hören, dessen Leben an einer Lüge hieng und der doch nicht log—noch mehr wenn ein Staatsmann, aus Wahrhaftigkeit, ein Reich zerstört.

19 [185]

Unsre Gewohnheiten werden zu Tugenden durch eine freie Übertragung ins Reich der Pflicht, d. h. dadurch daß wir die Unverbrüchlichkeit mit in den Begriff hineinnehmen; d. h. unsere Gewohnheiten werden dadurch zu Tugenden, daß wir das eigne Wohl für geringer halten als ihre Unverbrüchlichkeit—somit durch eine Aufopferung des Individuums oder wenigstens durch die vorschwebende Möglichkeit einer solchen Aufopferung.— Dort wo das Individuum sich gering zu achten anfängt, beginnt das Reich der Tugenden und der Künste—unsere metaphysische Welt. Besonders rein wäre die Pflicht, wenn im Wesen der Dinge dem Moralischen nichts entspräche.

19 [186]

Es wirkt nicht etwa Gedanke auf Gedächtniß, sondern der Gedanke durchläuft zahllose feine Metamorphosen, d. h. dem Gedanken entspricht ein Ding an sich, das nun das analoge Ding an sich im Gedächtniß erfaßt.

19 [187]

Die Individuen sind die Brücken, auf denen das Werden beruht. Alle Qualitäten sind ursprünglich nur einmalige Aktionen, dann, in gleichen Fällen öfter wiederholte, endlich Gewohnheiten. An jeder Aktion hat das ganze Wesen des Individuums Theil und einer Gewohnheit entspricht eine spezifische Umbildung des Individuums. In einem Individuum ist bis in die kleinste Zelle hinein alles individuell, d. h. hat Theil an allen Erfahrungen und Vergangenheiten. Daher die Möglichkeit der Zeugung.

19 [188]

Geschichte der griechischen Philosophie bis
Plato nach den Hauptsachen
erzählt
von
F. N.

19 [189]

Einleitung.
1. Thales Anaximander Heraklit Parmenides Anax[agoras] Empedokles Demokrit Pyth[agoreer] Sokrates.
Kapitel 1.
Kapitel 2.

19 [190]

Geschichte der griechischen Philosophie.

Einleitung.
1.    Thales.
2.    Anaximander.
3.    Heraklit.
4.    Parmenides.
5.    Anax[agoras].
6.    Empedokles.
7.    Demokrit.
8.    Pythag[oreer].
9.    Sokrates.
Nachtrag.

19 [191]

Einleitung über Wahrheit und Lüge.
1.    Das Pathos der Wahrheit.
2.    Die Genesis der Wahrheit.
3.    — — —

19 [192]

Der politische Sinn der älteren griechischen Philosophen, ebenso nachzuweisen als ihre Kraft zur Metapher.

19 [193]

Wie nur in den niedersten Formen unsre theatralische Anlage sich noch bewährt, so in der Bierbank unsre Geselligkeit.

19 [194]

Am Unmöglichen pflanzt sich die Menschheit fort, das sind ihre Tugenden—der kategorische Imperativ, wie die Forderung “Kindlein liebet euch” sind solche Unmöglichkeitsforderungen.

So ist die reine Logik das Unmögliche, an dem sich die Wissenschaft erhält.

19 [195]

Der Philosoph ist das Seltenste unter dem Großen, weil das Erkennen nur nebenbei, nicht als Originalbegabung zum Menschen kam. Deshalb aber auch der höchste Typus des Großen.

19 [196]

Wir sollen so lernen, wie die Griechen von ihren Vergangenheiten und Nachbarn lernten—zum Leben, also mit größter Auswahl und alles Erlernte sofort als Stütze benutzend, auf der man sich hoch—und höher als alle Nachbarn schwingt. Also nicht gelehrtenhaft! Was nicht zum Leben taugt, ist keine wahre Historie. Freilich kommt es darauf an, wie hoch und wie gemein ihr dieses Leben nehmt. Wer die römische Geschichte durch ekelhafte Beziehung auf klägliche moderne Parteistandpunkte und deren ephemere Bildung lebendig macht, der versündigt sich noch mehr an der Vergangenheit als der bloße Gelehrte, der alles todt und mumienhaft läßt. (So ein in dieser Zeit oft genannter Historiker, Mommsen.)

19 [197]

Das Benehmen des Sokrates bei dem Prozeß der Feldherrn ist sehr merkwürdig, weil es, in politischen Dingen, seine Wahrhaftigkeit zeigt.

19 [198]

Unsre Naturwissenschaft geht auf den Untergang, im Ziele der Erkenntniß, hin.

Unsre historische Bildung auf den Tod jeder Kultur. Sie kämpft gegen die Religionen—nebenbei vernichtet sie die Kulturen.

Es ist eine unnatürliche Reaktion gegen furchtbaren religiösen Druck—jetzt ins Extreme flüchtend. Ohne jedes Maß.

19 [199]

Die Deutschen sind wahrer Kunstschöpfungen gar nicht würdig: denn irgend eine politische Gans, so eine Art Gervinus, setzt sich gleich mit anmaßlicher Brütegeschäftigkeit darauf, als ob diese Eier nur für sie gerade hingelegt wären. Der Vogel Phönix sollte sich hüten, seine goldenen Eier in Deutschland zu legen.

19 [200]

Die abscheuliche deutsche Kultur, die jetzt gar noch die Trompetenstöße des Kriegsruhms um sich her erschallen läßt.

So schlechte Lehrer, als sie eben aus unseren berühmten Philologenschulen erwachsen können.

19 [201]

Selbst ein ehrenfester Bibelkritiker, wie David Strauß, fängt an, wie eine Köchin aus der chemischen Garküche zu reden, wenn der Hegelsche, Dunst allmählich von ihm abgeflogen ist. [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube: ein Bekenntnis. Leipzig: Hirzel, 1872.] Die bekanntlich so “gebildeten” Deutschen verstehen sich darauf, mit Naturwissenschaften sich nur als entlaufene Kandidaten der Theologie zu befassen, und hören nur dahin, wo ihnen das “Wunder” recht kräftig in Verruf gethan erscheint.

Jetzt lernt man nun gar, seiner engen Philisterhaftigkeit recht herzlich froh zu sein—der Philister hat seine Unschuld verloren (Riehl [Wilhelm Heinrich Riehl (1823-97)]). Der Philister und der windige “Gebildete” unserer Zeitungsatmosphäre reichen sich brüderlich die Hand und unter dem gleichen Jauchzen vernichtet der Bonner Afterphilosoph Jürgen Bona-Meyer [(1829-97)] den Pessimismus und Riehl Jahn [Otto Jahn (1813-69)] oder Strauß die neunte Symphonie.

Wie sich so ein buchhändlerisches Gemächte, eben ein Freitagscher Roman [Gustav Freytag (1816-95)] ausnimmt, das empfinden jetzt gar zu wenige: unsere abgeblaßten Herrn von dem Litteraturgewerbe werden da reckenhaft grotesk und reden wie die drei Gewaltigen zusammen—oder sie ergetzen sich an weichlichen Nixen in der Manier des Malers Schwind [Moriz von Schwind (1804-71)].

Wenn ihr nicht groß seid, so hütet euch vor dem Großen.

19 [202]

Von irgend einer Vorsehung für gute Bücher vermag ich nichts zu spüren: die schlechten haben fast mehr Aussichten sich zu erhalten. Es sieht wie ein Wunder aus, daß Aeschylus Sophokles und Pindar immer wieder abgeschrieben worden sind und offenbar ist es das zufälligste Ereigniß, daß wir überhaupt eine antike Litteratur besitzen.

19 [203]

Wenn Schopenhauer es, in unserem Saeculum, erleben konnte, daß die erste Auflage seines Werkes als Maculatur eingestampft wurde und es im Grunde der Geschäftigkeit unbedeutender, ja bedenklicher Litteraten zu danken ist, daß sein Name aus tiefer Verschollenheit allmählich auftauchte — — —

19 [204]

Die Abstraktionen sind Metonymien d.h. Vertauschungen von Ursache und Wirkung. Nun aber ist jeder Begriff eine Metonymie und in Begriffen geht das Erkennen vor sich. “Wahrheit” wird zu einer Macht, wenn wir sie erst als Abstraktion losgelöst haben.

19 [205]

Eine verneinende Moral höchst großartig, weil wundervoll unmöglich. Was heißt es, wenn der Mensch, im offnen Bewußtsein, Nein! sagt, während alle seine Sinne und Nerven Ja! sagen und jede Faser, jede Zelle opponirt.

19 [206]

Wenn ich von der furchtbaren Möglichkeit rede, daß die Erkenntniß zum Untergange treibt, so bin ich am wenigsten gewillt, der jetzt lebenden Generation ein Compliment zu machen: von solchen Tendenzen hat sie nichts an sich. Aber wenn man den Gang der Wissenschaft seit dem 15ten Jahrhundert sieht, so offenbart sich allerdings eine solche Macht und Möglichkeit.

19 [207]

Der Mensch, der nicht an die Wahrhaftigkeit der Natur glaubt, sondern überall Metamorphosen Verkleidungen Maskeraden sieht, in Stieren Götter, in Rossen weisheitsvolle Naturergründer, in Bäumen Nymphen erblickt—jetzt, wenn er sich selbst das Gesetz der Wahrhaftigkeit stellt, glaubt auch an die Wahrhaftigkeit der Natur gegen ihn.

19 [208]

Alle “uns” und “wir” und “ich” wegzulassen. Auch die Sätze mit “daß” zu beschränken. Jedes Kunstwort, soweit möglich, zu meiden.

19 [209]

Der Mensch hat immer mehr gelernt, sich die Dinge zu adaptiren und sie zu erkennen. Durch die vollendetere Erkenntniß ist er doch nicht den Dingen ferner gerückt, der Mensch steht doch der Wahrheit hierin näher als die Pflanze.

Ein empfundener Reiz und ein Blick auf eine Bewegung, verbunden, ergeben die Kausalität zunächst als Erfahrungssatz: zwei Dinge, nämlich eine bestimmte Empfindung und ein bestimmtes Gesichtsbild erscheinen immer zusammen: daß das Eine die Ursache des Andern ist, ist eine Metapher, entlehnt aus Wille und That: ein Analogieschluß.

Die einzige Kausalität, die uns bewußt ist, ist zwischen Wollen und Thun—diese übertragen wir auf alle Dinge und deuten uns das Verhältniß von zwei immer beisammen befindlichen Veränderungen. Die Absicht oder das Wollen ergiebt die Nomina, das Thun die Verba. Das Thier als wollendes—das ist sein Wesen.

Aus Qualität und That: eine Eigenschaft von uns führt zum Handeln: während im Grunde es so ist, daß aus Handlungen wir auf Eigenschaften schließen: wir nehmen Eigenschaften an, weil wir Handlungen bestimmter Art sehn.

Also: das Erste ist die Handlung, diese verknüpfen wir mit einer Eigenschaft.

Zuerst entsteht das Wort für die Handlung, von da das Wort für die Qualität. Dies Verhältniß übertragen auf alle Dinge ist Causalität.

Zuerst “sehen,” dann “Gesicht.” Das “Sehende” gilt als Ursache des “Sehens.” Zwischen dem Sinn und seiner Funktion empfinden wir ein regelmäßiges Verhältniß: Causalität ist die Übertragung dieses Verhältnisses (von Sinn auf Sinnesfunktion) auf alle Dinge.

Ein Urphänomen ist: den im Auge empfundenen Reiz auf das Auge zu beziehn, das heißt eine Sinneserregung auf den Sinn zu beziehn. An sich gegeben ist ja nur ein Reiz: diesen als Aktion des Auges zu empfinden und ihn sehen zu nennen ist ein Kausalitätsschluß. Einen Reiz als eine Thätigkeit zu empfinden, etwas Passives aktiv zu empfinden ist die erste Kausalitätsempfindung, d. h. die erste Empfindung bringt bereits diese Kausalitätsempfindung hervor. Der innere Zusammenhang von Reiz und Thätigkeit übertragen auf alle Dinge. So ein Wort “sehen” ist ein Wort für jenes Ineinander von Reiz und Thätigkeit. Das Auge ist thätig auf einen Reiz: d. h. sieht. An unseren Sinnesfunktionen deuten wir uns die Welt: d. h. wir setzen überall eine Kausalität voraus, weil wir selbst solche Veränderungen fortwährend erleben.

19 [210]

Zeit Raum und Kausalität sind nur Erkenntniß metaphern, mit denen wir die Dinge uns deuten. Reiz und Thätigkeit verbunden: wie das ist, wissen wir nicht, wir verstehn keine einzige Kausalität, aber wir haben unmittelbare Erfahrung von ihnen. Jedes Leiden ruft ein Thun hervor, jedes Thun ein Leiden—dies das allgemeinste Gefühl bereits schon Metapher. Die wahrgenommene Vielheit setzt dann schon Zeit und Raum voraus, hintereinander und nebeneinander. Das Nebeneinander in der Zeit erzeugt die Raumempfindung.

Zeitempfindung gegeben mit dem Gefühl von Ursache und Wirkung, als Antwort auf die Frage nach dem Schnelligkeitsgrade bei verschiedenen Kausalitäten.

Raumempfindung erst durch Metapher aus der Zeitempfindung abzuleiten—oder umgekehrt?

Zwei Causalitäten nebeneinander lokalisirt

19 [211]

Ich mache einen Versuch, denen zu nützen, welche es werth sind, zeitig und ernstlich in das Studium der Philosophie eingeführt zu werden. Dieser Versuch mag nun gelungen sein oder nicht, so weiß ich doch zu gut, daß er zu übertreffen ist und wünsche nichts mehr als, zum Besten jener Philosophie, nachgeahmt und übertroffen zu werden.

Solchen ist aus guten Gründen anzurathen, nicht sich der Führung beliebiger akademischer Berufs-Philosophen anzuvertrauen, Sondern Plato zu lesen.

Sie sollen vor allem allerlei Flausen verlernen und einfach und natürlich werden.

Gefahr in falsche Hände zu gerathen.

19 [212]

Einleitung. Typen von Köpfen und Lehren zur Einleitung nöthig. Einfach müssen sie sein und leichter zu über schauen.
Das, was Philosophie ist, muß deutlich werden, speziell die Aufgabe der Philosophie innerhalb einer Kultur.
Daß es die Griechen sind, im Zeitalter der Tragödie, die philosophiren.
Der Sinn der Geschichte: eine Metamorphose der Pflanzen. Beispiel. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 36. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1858:17-212.]
(Ideal[e] und “ikonische” Geschichte—letztere unmöglich
Über die Filtration durch den gewöhnlichen Kopf. Schopenhauer, I, XXVI. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 2, 1: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Leipzig: Brockhaus, 1873: XXVI.]
Widerwille gegen Compilationen.
Vorbildlich Schopenhauers Fragen zur Philosophie und Kritik Kants. Schopenhauer, I 290. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 2, 1: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Leipzig: Brockhaus, 1873: 290.]

19 [213]

Nach Art der alten Historiker.
2. Griechen rechtfertigen.
3. Thales.

19 [214]

Die Philosophie
im
tragischen Zeitalter der Griechen.

Kurzgefasster Bericht
über die alten philosophischen
Meister der Griechen.

19 [215]

Die einzige Art, die Vielheit zu bezwingen, ist, daß wir Gattungen machen, z. B. kühn eine ganze Menge von Handlungsweisen nennen. Wir erklären sie uns, wenn wir sie unter die Rubrik “kühn” bringen. Alles Erklären und Erkennen ist eigentlich nur ein Rubriziren.— Nun mit kühnem Schwung: die Vielheit der Dinge wird unter einen Hut gebracht, wenn wir sie gleichsam als unzählige Handlungen einer Qualität betrachten z. B. als Handlungen des Wassers, wie bei Thales. Hier haben wir eine Übertragung: eine Abstraktion faßt zahllose Handlungen zusammen und gilt als Ursache. Welches ist die Abstraktion (Eigenschaft), welche die Vielheit aller Dinge zusammenfaßt? Die Qualität “wässerig,” “feucht.” Die ganze Welt ist feucht, also ist Feuchtsein die ganze Welt. Metonymia! Ein falscher Schluß. Ein Prädikat ist verwechselt mit einer Summe von Prädikaten (Definition).

Das logische Denken wenig geübt bei den Ioniern, entwickelt sich ganz langsam. Die falschen Schlüsse werden wir aber richtiger als Metonymien d. h. rhetorisch poetisch fassen.

Alle rhetorischen Figuren (d.h. das Wesen der Sprache) sind logische Fehlschlüsse. Damit fängt die Vernunft an!

19 [216]

Wir sehen, wie zuerst weiter philosophirt wird, so wie die Sprache entstanden ist, d.h. unlogisch.

Nun kommt das Pathos der Wahrheit und Wahrhaftigkeit hinzu. Dies hat zunächst mit dem Logischen nichts zu thun. Es besagt nur, daß keine bewußte Täuschung begangen wird. Jene Täuschungen aber in der Sprache und in der Philosophie sind zuerst unbewußte und sehr schwer zum Bewußtsein zu bringen. Aber durch das Nebeneinander verschiedener mit gleichem Pathos aufgestellter Philosophien (oder religiöser Systeme) entstand ein sonderbarer Kampf. Bei dem Nebeneinander feindlicher Religionen half sich jede dadurch, daß sie die andere für unwahr erklärte: so auch bei den Systemen.

Dies brachte Einige zur Skepsis: die Wahrheit liegt im Brunnen! seufzten sie.

Bei Sokrates kommt die Wahrhaftigkeit in den Besitz der Logik: sie merkt die unendliche Schwierigkeit des richtigen Rubrizirens.

19 [217]

Tropen sind’s, nicht unbewußte Schlüsse, auf denen unsre Sinneswahrnehmungen beruhn. Ähnliches mit Ähnlichem identificiren—irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß. Das Gedächtniß lebt von dieser Thätigkeit und übt sich fortwährend. Die Verwechslung ist das Urphänomen.— Dies setzt voraus das Gestaltensehen. Das Bild im Auge ist für unser Erkennen maßgebend, dann der Rhythmus unseres Gehörs. Vom Auge aus würden wir nie zur Zeitvorstellung kommen, vom Ohre aus nie zur Raumvorstellung. Dem Tastgefühl entspricht die Kausalitätsempfindung.

Von vorn herein sehen wir ja die Bilder im Auge nur in uns, wir hören den Ton nur in uns—von da zur Annahme einer Außenwelt ist ein weiter Schritt. Die Pflanze z. B. empfindet keine Außenwelt. Das Tastgefühl, und zugleich das Gesichtsbild geben zwei Empfindungen nebeneinander empirisch, diese, weil sie immer mit einander erscheinen, erwecken die Vorstellung eines Zusammenhangs (durch Metapher—denn nicht alles Miteinander-Erscheinende hängt zusammen).

Die Abstraktion ist ein höchst wichtiges Erzeugniß. Es ist ein dauernder im Gedächtniß festgehaltener und hartgewordener Eindruck, der auf sehr viele Erscheinungen paßt und deshalb, jedem Einzelnen gegenüber, sehr grob und unzureichend ist.

19 [218]

Wahrheitspathos in einer Lügenwelt.
Lügenwelt wieder in den höchsten Spitzen der Philosophie.
Zweck dieser höchsten Lügen Bändigung des unumschränkten Erkenntnißtriebes.
Entstehung des Erkenntnißtriebes aus der Moral.

19 [219]

Woher das Wahrheitspathos in der Lügenwelt? Aus der Moral.
Das Wahrheitspathos und die Logik.
Die Kultur und die Wahrheit.

19 [220]

Jede kleine Erkenntniß hat eine große Befriedigung in sich: doch nicht als Wahrheit, sondern als Glaube, die Wahrheit entdeckt zu haben. Welcher Art ist diese Befriedigung?

19 [221]

Die Kultur eine Einheit. Nur scheint der Philosoph außerhalb zu stehn. Er wendet sich an die fernste Nachwelt—Ruhm.

Merkwürdig, daß die Griechen philosophirt haben. Die schöne Lüge.

Aber noch merkwürdiger, daß der Mensch überhaupt zum Wahrheitspathos gekommen.

Die Bilder in ihm sind ja viel mächtiger als die Natur um ihn: wie bei den deutschen Malern des 15ten Jhs., die, trotz der sie umgebenden Natur, so spinnenartige Glieder schaffen—von der alten frommen Tradition bestimmt.

Plato will einen neuen Staat, in dem die Dialektik herrscht, er verneint die Kultur der schönen Lüge.

19 [222]

In Deutschland wird jetzt nicht philosophirt und deshalb ist die Frage: was eigentlich der Philosoph sei, unter den Deutschen unverständlich. Daher auch die anhaltende, zuletzt in Böswilligkeit übergehende Verwunderung, daß jemand, ohne sich um sie zu kümmern, und doch an sie appellirend, als Philosoph unter ihnen leben konnte. Die Deutschen vertragen es jetzt nicht, ebensowenig wie Gespenster, angerufen zu werden.

Die verzweifelte Ungelegenheit, als Philosoph unter den Deutschen geboren zu werden!

19 [223]

Die Moralitätsinstinkte: die Mutterliebe—allmählich zur Liebe überhaupt. Ebenso die Geschlechtsliebe. Überall erkenne ich Übertragungen.

19 [224]

Vieles in der Natur ist feucht: alles in der Natur ist feucht. Feuchtigkeit gehört zum Wesen der Natur: Feuchtigkeit ist das Wesen der Natur. So Thales.

19 [225]

Unwahrheit des Menschen gegen sich selbst und gegen andere: Voraussetzung die Unkenntniß—nöthig, um zu existiren (selbst—und in Gesellschaft). In das vacuum stellt sich die Täuschung der Vorstellungen. Der Traum. Die überkommenen Begriffe (die den altdeutschen Maler, trotz der Natur, beherrschen) in allen Zeiten verschieden. Metonymien. Reize, nicht volle Erkenntnisse. Das Auge giebt Gestalten. Wir hängen an der Oberfläche. Die Neigung zum Schönen. Mangel an Logik, aber Metaphern. Religionen. Philosophien. Nachahmen.

19 [226]

Das Nachahmen ist das Mittel aller Kultur, dadurch wird allmählich der Instinkt erzeugt. Alles Vergleichen (Urdenken) ist ein Nachahmen. So bilden sich Arten, daß die ersten nur ähnliche Exemplare stark nachahmen, d. h. dem größten und kräftigsten Exemplare es nachmachen. Die Anerziehung einer zweiten Natur durch Nachahmung. In der Zeugung ist das unbewußte Nachbilden am merkwürdigsten, dabei das Erziehen einer zweiten Natur.

Unsre Sinne ahmen die Natur nach, indem sie immer mehr dieselbe abkonterfeien.

Das Nachahmen setzt voraus ein Aufnehmen und dann ein fortgesetztes Übertragen des aufgenommenen Bildes in tausend Metaphern, alle wirkend.

Das Analoge —

19 [227]

Welche Macht zwingt zur Nachahmung? Die Aneignung eines fremden Eindrucks durch Metaphern.

Reiz—Erinnerungsbild

durch Metapher (Analogieschluß) verbunden.

Resultat: es werden Ähnlichkeiten entdeckt und neu belebt. An einem Erinnerungsbilde spielt sieh der wiederholte Reiz noch einmal ab.

Reiz percipirt—jetzt wiederholt, in vielen Metaphern, wobei verwandte Bilder, aus den verschiedenen Rubriken, herbeiströmen. Jede Perception erzielt eine vielfache Nachahmung des Reizes, doch mit Übertragung auf verschiedene Gebiete.

Reiz empfunden übertragen auf verwandte Nerven dort, in Übertragung, wiederholt usw.

Es findet ein Übersetzen des einen Sinneseindrucks in den andern statt: manche sehen etwas oder schmecken etwas bei bestimmten Tönen. Dies ein ganz allgemeines Phänomen.

19 [228]

Das Nachahmen ist darin der Gegensatz des Erkennens, daß das Erkennen eben keine Übertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten will

und ohne Consequenzen. Zu diesem Behufe wird er petrificirt: der Eindruck durch Begriffe eingefangen und abgegränzt, dann getödtet, gehäutet und als Begriff mumisirt und aufbewahrt.

Nun aber giebt es keine “eigentlichen” Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher. Aber die Täuschung darüber besteht, d. h. der Glaube an eine Wahrheit des Sinneneindrucks. Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß für die seltneren. An sich herrscht hier nur der Unterschied zwischen Gewöhnung und Neuheit, Häufigkeit und Seltenheit.

Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen. Es kann also natürlich nicht ins Reich der Wahrheit dringen.

Das Pathos des Wahrheitstriebes setzt die Beobachtung voraus, daß die verschiedenen Metapherwelten mit einander uneins sind und kämpfen z. B. der Traum, die Lüge usw. und die gewöhnliche usuelle Auffassung: davon die eine die seltnere, die andere die häufigere ist. Also der Usus kämpft gegen die Ausnahme an, das Regelmäßige gegen das Ungewöhnliche. Daher die Achtung der Tageswirklichkeit vor der Traumwelt.

Nun aber ist das Seltene und Ungewöhnliche das Reizvollere—die Lüge wird als Reiz empfunden. Poesie.

19 [229]

In der politischen Gesellschaft ist eine feste Übereinkunft nöthig, sie ist auf den usuellen Gebrauch von Metaphern gegründet. Jeder ungewöhnliche regt sie auf, ja vernichtet sie. Also jedes Wort so brauchen, wie es die Masse braucht, ist politische Convenienz und Moral. Wahr sein heißt nur nicht abweichen vom usuellen Sinn der Dinge. Das Wahre ist das Seiende, im Gegensatz zum Nichtwirklichen. Die erste Convention ist die über das, was als “seiend” gelten soll.

Aber der Trieb wahr zu sein, übertragen auf die Natur, erzeugt den Glauben daß auch die Natur gegen uns wahr sein muß. Erkenntnißtrieb beruht auf dieser Übertragung.

Unter “wahr” wird zuerst nur verstanden das, was usuell die gewohnte Metapher ist—also nur eine Illusion, die durch häufigen Gebrauch gewohnt worden ist und nicht mehr als Illusion empfunden wird: vergessene Metapher, d. h. eine Metapher, bei der vergessen ist, daß es eine ist.

19 [230]

Der Trieb zur Wahrheit beginnt mit der starken Beobachtung, wie entgegengesetzt die wirkliche Welt und die der Lüge ist und wie alles Menschenleben unsicher ist, wenn die Conventions-Wahrheit nicht unbedingt gilt: es ist eine moralische Überzeugung von der Nothwendigkeit einer festen Convention, wenn eine menschliche Gesellschaft existiren soll. Wenn irgendwo der Kriegszustand aufhören soll, so muß er beginnen mit der Fixirung der Wahrheit d. h. einer gültigen und verbindlichen Bezeichnung der Dinge.

Der Lügner gebraucht die Worte, um das Unwirkliche als Wirklich erscheinen zu machen, d. h. er mißbraucht das feste Fundament.

Andernseits ist der Trieb zu immer neuen Metaphern da, er entladet sich im Dichter, im Schauspieler usw., in der Religion vor allem.

Der Philosoph sucht nun in dem Bereich, in dem die Religionen walteten, auch das “Wirkliche,” das Bleibende, im Gefühl des ewigen mythischen Lügenspiels. Er will Wahrheit, die bleibt. Er breitet also das Bedürfniß nach festen Wahrheitsconventionen auf neue Gebiete aus.

19 [231]

Der älteste Monotheismus meint eben das eine glänzende Himmelsgewölbe und nennt es dewas. Sehr beschränkt und unplastisch. Welcher Fortschritt sind die polytheistischen Religionen.

19 [232]

Die redenden Künste! Da liegt’s, weshalb die Deutschen keine Schriftsteller werden können!

19 [233]

Goethe konnte Märchen erzählen, Herder war Prediger.

Der Faust ist die einzige nationale Redeentfaltung im Knittelvers.

19 [234]

Ich möchte die Frage nach dem Werthe der Erkenntniß behandeln wie ein kalter Engel, der die ganze Lumperei durchschaut. Ohne böse zu sein, aber ohne Gemüth.

19 [235]

Alle Naturgesetze sind nur Relationen eines x zu y und z. Wir definiren Naturgesetze als die Relationen zu einem xyz, davon jedes wiederum uns nur als Relationen zu andern xyz bekannt ist.

19 [236]

Das Erkennen, ganz streng genommen, hat nur die Form der Tautologie und ist leer. Jede uns fördernde Erkenntniß ist ein Identificiren des Nichtgleichen, des Ähnlichen, d. h. ist wesentlich unlogisch.

Wir gewinnen einen Begriff nur auf diesem Wege und thun nachher, als ob der Begriff “Mensch” etwas Thatsächliches wäre, während er doch nur durch Fallenlassen aller individuellen Züge von uns gebildet ist. Wir setzen voraus, daß die Natur nach einem solchen Begriff verfahre: hier ist aber einmal die Natur und sodann der Begriff anthropomorphisch. Das Übersehn des Individuellen giebt uns den Begriff und damit beginnt unsre Erkenntniß: im Rubriziren, in Aufstellungen von Gattungen. Dem entspricht aber das Wesen der Dinge nicht: es ist ein Erkenntnißprozeß, der das Wesen der Dinge nicht trifft. Viele einzelne Züge bestimmen uns ein Ding, nicht alle: die Gleichheit dieser Züge veranlaßt uns viele Dinge unter einen Begriff zusammenzunehmen.

Wir produziren als Träger der Eigenschaften Wesen und Abstraktionen als Ursachen dieser Eigenschaften.

Daß eine Einheit, ein Baum z. B., uns als Vielheit von Eigenschaften, von Relationen erscheint, ist in doppelter Weise anthropomorphisch: erstens existirt diese abgegrenzte Einheit “Baum” nicht, es ist willkürlich ein Ding so herauszuschneiden (nach dem Auge, nach der Form), es ist jede Relation nicht die wahre absolute Relation, sondern wieder anthropomorphisch gefärbt.

19 [237]

Der Philosoph sucht nicht die Wahrheit, sondern die Metamorphose der Welt in den Menschen: er ringt nach einem Verstehen der Welt mit Selbstbewußtsein. Er ringt nach einer Assimilation: er ist befriedigt, wenn er irgend etwas anthropomorphisch zurechtgelegt hat. Wie der Astrolog die Welt im Dienste der einzelnen Individuen ansieht, so der Philosoph die Welt als Mensch.

Der Mensch als Maaß der Dinge ist ebenfalls der Gedanke der Wissenschaft. Jedes Naturgesetz ist zuletzt eine Summe von anthropomorphischen Relationen. Besonders die Zahl: die Auflösung aller Gesetze in Vielheiten, ihr Ausdruck in Zahlenformeln ist eine :gJ"n@DV, wie jemand, der nicht hören kann, die Musik und den Ton nach den Chladnischen Klangfiguren beurtheilt.

19 [238]

Am schwersten entwickelt sich das Gefühl für die Gewißheit. Zunächst sucht man Erklärung: wenn eine Hypothese viel erklärt, so wird der Schluß gemacht, daß sie alles erkläre.

19 [239]

Anaximander entdeckt den widerspruchsvollen Charakter unserer Welt: an ihren Qualitäten geht sie zu Grunde.

19 [240]

Die Welt ist Erscheinung—aber nicht wir allein sind Ursache, daß sie erscheint. Noch von einer anderen Seite her ist sie unreal.

19 [241]

Unsre Erlebnisse bestimmen unser Individuum, und zwar so, daß, nach jedem Gefühlseindruck, unser Individuum bis in die letzte Zelle hinein bestimmt ist.

19 [242]

Das Wesen der Definition: der Bleistift ist ein länglicher usw. Körper. A ist B. Das was länglich ist, ist hier zugleich bunt. Die Eigenschaften enthalten nur Relationen. [Vgl. Afrikan Spir, Forschung nach der Gewissheit in der Erkenntniss der Wirklichkeit. Leipzig: J.G. Findel, 1869:13.]

Ein bestimmter Körper ist gleich so und so viel Relationen. Relationen können nie das Wesen sein, sondern nur Folgen des Wesens. Das synthetische Urtheil beschreibt ein Ding nach seinen Folgen, d.h. Wesen und Folgen werden identificirt, d.h. eine Metonymie.

Also im Wesen des synthetischen Urtheils liegt eine Metonymie,

d. h. es ist eine falsche Gleichung.

D.h. die synthetischen Schlüsse sind unlogisch. Wenn wir sie anwenden, setzen wir die populäre Metaphysik voraus, d. h. die, welche Wirkungen als Ursachen betrachtet.

Der Begriff “Bleistift” wird verwechselt mit dem “Ding” Bleistift. Das “ist” im synthetischen Urtheil ist falsch, es enthält eine Übertragung, zwei verschiedene Sphären werden neben einander gestellt, zwischen denen nie eine Gleichung stattfinden kann.

Wir leben und denken unter lauter Wirkungen des Unlogischen, in Nichtwissen und Falschwissen.

19 [243]

Die Welt der Unwahrheit:
Der Traum und das Wachen.
Kurzes Selbstbewußtsein.
Schmale Erinnerung.
Synthetische Urtheile.
Die Sprache.
Die Illusionen und Ziele.
Der verlogene Standpunkt der Gesellschaft.
Zeit und Raum.

19 [244]

Woher in aller Welt das Wahrheitspathos?

Es will nicht die Wahrheit, sondern den Glauben, das Zutrauen zu etwas.

19 [245]

Frage nach der Teleologie des Philosophen—der die Dinge nicht historisch und nicht gemüthlich ansieht.

Die Frage erweitert sich ihm zur Frage vom Werthe der Erkenntniß.

Umschreibung des Philosophen—er braucht den Ruhm, er denkt nicht an den Nutzen, der von der Erkenntniß ausgeht, sondern den Nutzen, der in der Erkenntniß selbst liegt.

Wenn er ein Wort fände, das ausgesprochen die Welt vernichten würde, glaubt ihr, er spräche es nicht aus?

Was heißt es, daß er glaubt die Menschheit brauche die Wahrheit?

19 [246]

Welches ist der Werth der Erkenntniß überhaupt?

Die Welt der Lüge—die Wahrheit kommt allmählich zum Rechte—alle Tugenden entstehen aus Lastern.

19 [247]

1. Flucht vor dem Gebildeten und dem Gemüthlichen.
2. Ruhm und der Philosoph.
3. Die Wahrheit und ihr Werth als reines Metaphysikum.

19 [248]

Haupttheil: die Systeme als Anthropomorphismen.
Leben in der Lüge.
Pathos der Wahrheit, vermittelt durch Liebe und Selbsterhaltung.
Nachahmen und Erkennen.
Bändigung des unumschränkten Erkenntnißtriebes durch die Täuschung.
Gegen die ikonische Geschichtsschreibung.
Die Religionen.
Die Kunst.
Die Unmöglichkeit und der Fortschritt.
Betrachtung eines bösen Dämons über den Werth der Erkenntniß, Hohn. Astrologie.
Das Tragische, ja Resignirte der Erkenntniß nach Kant.
Kultur und Wissenschaft.
Wissenschaft und Philosophie.
Gesetzgebung der Größe.
Das Weiterzeugen im Schönen.
Der Logiker.
Resultat: Zwecklos entstanden, zufällig, Unmögliches erstrebend, moralisch und historisch, das Leben verachtend. Das als Wahrheit verehrte Phantom hat die gleichen Wirkungen, gilt ebenfalls als Metaphysikum.

19 [249]

Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat.

19 [250]

Der Ruhm täuscht sich darin: nie wird einer wieder das Schöpfergefühl so fühlen, wie es der Schöpfer selbst gefühlt hat. Also auch nie die völlige Schätzung möglich.

19 [251]

Das Vertrauen zu einer gefundenen Wahrheit zeigt sich darin, daß man sie mittheilen will. Man kann sie nun doppelt mittheilen: in ihren Wirkungen, so daß die Anderen durch sie rückwärts von dem Werthe des Fundamentes überzeugt sind. Oder durch Beweisen der Entstehung und logischen Verflechtung von lauter sichern und bereits erkannten Wahrheiten. Die Verflechtung besteht im richtigen Unterordnen spezieller Fälle unter allgemeine Sätze—ist ein reines Rubriziren.

19 [252]

Das Kunstwerk verhält sich ähnlich zur Natur, wie sich der mathematische Kreis zum natürlichen Kreis verhält.

19 [253]

Warum wollen wir nicht getäuscht werden?

— Wir wollen es in der Kunst. Wir begehren wenigstens für vieles die Unwissenheit d. h. auch die Täuschung.

Er will, soweit es zum Leben nöthig ist, nicht getäuscht werden d. h. er muß sich erhalten können, in diesem Bereich des Bedürfnisses will er Zutrauen haben dürfen.

Nur die Täuschung, die feindlich ist, verschmäht er, nicht die erfreuliche. Er flieht das Betrogenwerden, die schlimme Täuschung. Also im Grunde nicht die Täuschung, sondern die Folge der Täuschung und zwar die schlimme Folge. Also wo in seinem Zutrauen mit bösen Folgen getäuscht zu werden möglich ist, da verwirft er die Täuschung. Da will er die Wahrheit d. h. wieder er will die angenehmen Folgen. Die Wahrheit kommt nur in Betracht als Mittel gegen feindselige Täuschungen. Die Forderung der Wahrheit heißt: thue den Menschen durch Betrug nichts Böses. Gegen die reine, folgenlose Erkenntniß der Wahrheit ist der Mensch gleichgültig.

Dafür hat ihn die Natur auch nicht eingerichtet. Der Glaube an die Wahrheit ist der Glaube an gewisse beglückende Wirkungen.— Woher kommt nun alle Moralität des Wahrheitsverlangens? Bis jetzt ist alles egoistisch. Oder: wo wird das Wahrheitsverlangen heroisch und für das Individuum verderblich?

19 [254]

Sucht der Philosoph die Wahrheit?

Nein, dann läge ihm mehr an der Gewißheit.

Die Wahrheit ist kalt, der Glaube an die Wahrheit ist mächtig.

19 [255]

Herrschaft der Kunst über das Leben—natürliche Seite.
Cultur und Religion.
Cultur und Wissenschaft.
Cultur und Philosophie.
Kosmopolitischer Weg zur Cultur.
Romanischer und griechischer Begriff der Kunst.
Schiller’s und Goethe’s Ringen.
Schilderung des “Gebildeten.”
Falscher Begriff des Deutschen.
Die Musik als lebendiger Keim.

19 [256]

Auf der natürlichen Vorstufe ist ein Volk nur soweit eine Einheit, als es eine gemeinsame primitive Kunst hat.

19 [257]

Durch Isolation können einige Begriffsfolgen so vehement werden, daß sie die Kraft anderer Triebe an sich ziehn. So z. B. der Erkenntnißtrieb.

Eine so präparirte Natur, bis in die Zelle bestimmt, pflanzt sich nun wieder fort und vererbt sich: sieh steigernd, bis endlich die Absorption nach dieser Seite hin die allgemeine Kräftigkeit zerstört.

19 [258]

Die Wahrheit ist dem Menschen gleichgültig: dies zeigt die Tautologie, als die einzig zugängliche Form der Wahrheit.

Dann heißt die Wahrheit suchen auch richtig rubriziren, d. h. einem vorhandenen Begriff richtig die einzelnen Fälle unterordnen. Hier ist aber der Begriff unsere That, wie auch die vergangenen Zeiten. Die ganze Welt unter die richtigen Begriffe subsumiren heißt doch nichts als unter die ursprünglich menschlichen allgemeinsten Formen der Relation die einzelnen Dinge einreihen: also die Begriffe nur bewähren, das was wir unter sie steckten, wieder auch unter ihnen zu suchen also im Grunde auch Tautologie.

19 [259]

Anzugreifen:
 
Philologenversammlung.
Straßburger Universität.
Auerbach in der Augsburgerin, nationale Denkmäler.
Freitag Ingo Gelehrte Technik [Vgl. Berthold Auerbach, eine Rezension für seine Freund Gustav Freytags "Ingo und Ingraban" in die Augsburg Allgemeine Zeitung (11.1.1873) veröffentlichte.]
Gottschall. [Rudolf Karl Gottschall (1823-1909) Herausgeber der Blätter für literarische Unterhaltung.]
Junges Deutschland.
Universität Leipzig, Zöllner.
Theaterverschwendung.
Kunstdotation im Reichstage.
Grimm, Lübke, Julian Schmidt. [Julian Schmidt (1818-86). Vgl. Wilhelm Lübke und Eduard Hanslick über Richard Wagner. Berlin: L. Gerschel, 1869.]
Jürgen [Bona]-Meyer, Kuno Fischer, Lotze [Rudolph Hermann Lotze (1817-81)].
Riehl, Schwind.
Berliner Professorenwirthschaft.
Jahn und Hauptmann. [Otto Jahn (1813-69); Moritz Hauptmann (1792-1868).]
Gervinus.
Hanslick. [Vgl. Wilhelm Lübke und Eduard Hanslick über Richard Wagner. Berlin: L. Gerschel, 1869.]
Centralblatt. [Literarisches Centralblatt für Deutschland.]
Abseits-Musikmachen.
Leipzig, die Geburtsstadt Wagner’s.
Strauß.

19 [260]

Die “Drastiker” können die unendliche Melodie nicht finden; sie sind immer zu Ende und bei ihren drastischen Accenten.

19 [261]

Elemente der deutschen Kultur
gelehrte
religiös-befreiende
Nachahmungstrieb des Auslandes.

19 [262]

Das laisser aller in den Wissenschaften: jeder Gelehrte für sich. Der Geist der gesammten Gelehrten-Republik empört sich negativ, aber begeistert sich nicht.

19 [263]

Die Milderung der Sitten (Religion), die Gelehrsamkeit und Wissenschaft vertragen sich mit Barbarei.— Der Kulturweg der Deutschen wagt jetzt sich eine Organisation, ein Tribunal zu schaffen.

19 [264]

Ein Glück, daß die Musik nicht spricht—obschon jetzt die Musiker viel schwätzen. Deshalb eignet sie sich zu einem Keim der Rettung.

19 [265]

In Deutschland reden nur drei Sorten von Berufswegen viel: der Magister, der Pastor, die Amme.

19 [266]

Bildung—nicht Lebensnoth, sondern Überfluß.

Die Kunst entweder Convention oder Physis.

Versuch unserer großen Dichter zu einer Convention zu kommen. Goethe und das Schauspielwesen.

Die Naturwahrheit—das Pathologische war zu mächtig.

Sie haben es zu keiner Form gebracht.

19 [267]

1. Schilderung der einsamen Bayreuther Pfingsthoffnungen. Persönliche Interpretation der Neunten auf Wagner und symbolische Hoffnung aus seinem Leben für unsre Kultur. Unsre höchste Furcht, daß wir nicht reif sind für die Wunder, daß ihre Wirkung nicht tief genug ist.

2. Ringsum Stille, keiner merkt etwas. Die Regierungen glauben an die Güte ihrer Bildung, die Gelehrten auch. Benutzung der Wirkung des Krieges. Wodurch hat man ihn geheiligt?— Dumpfe Abneigung gegen Wagner.

3. Den einzigen Lärm erheben die zunächst bedrohten Vertreter der schlechten jetzigen Kunstinstitute, Journale, diese fürchten sich. Lärmende Abneigung. Kann nur bestehen durch Anlehnung an jene dumpfe ahnende Abneigung.

Ahnung des Untergangs des jetzigen Gebildeten.

19 [268]

Plan zu 6 Vorträgen.

Die Kunst und unsere Pfingsttage.
Der Gebildete in seinen Formen.
Genesis des Gebildeten.
Romanischer und hellenischer Begriff der Kunst und unsre Klassiker.
Musik, Drama und Leben.
Morgenroth-Perspektiven. Das Tribunal für die höhere Erziehung. Die naiven Phänomene treten der Reihe nach vor, der wahre Künstler, der Sinn der Kunst, der tiefe Ernst einer neuen Weltbetrachtung.

19 [269]

Unsere Verwunderung zu Pfingsten. Es war kein Musikfest. Es sah wie ein Traum aus.

Jedesmal wenn Wagner beleidigt, berührt er ein tiefes Problem.

Philologenversammlung. Straßburg.— Lehrer und Universitäten und deren Leiter ahnten nichts.

19 [270]

1.2.3. Charakteristik des Gebildeten.
1.2.3. Genesis des Gebildeten.
Es giebt für sie kein *`l :@4 B@Ø FJä.
Ungeheures Ringen Schiller’s und Goethe’s.
Sie suchen nach dem Talisman des Deutschen.
Lernen vom Auslande bei den Griechen.
Romanischer und hellenischer Begriff der Kunst.
1.2.3. Wagner erkennt die Musik als solches *`l :@4 B@Ø FJä. Antiker Satz von der Musik und dem Staate. Der nächste Schritt: Musik schafft sich das Drama. Jetzt kommt zu Tage, was das Wortdrama ist: gelehrt, unoriginal, erlogen oder Drastik. Wagner. Goethes Volkslied, Marionettentheater, Volksvers. Mythus. Er schafft erst das Deutsche. Consequenzen der antiken Tragödie für alle Künste und das Leben. Die “Gebildeten” sind in Verlegenheit.

19 [271]

Woher sollen wir eine Litteratur haben? Wir haben ja keine Redner. Goethe der Mährchenerzähler, — — —

Der Herr Pastor und die Frau Base, idealisirt, ergeben die Grundtypen unserer Schriftsteller. Amme, Magister, Pastor, Junker.

19 [272]

Unglücksfälle der deutschwerdenden Kultur:
Hegel Heine
das politische Fieber, das das Nationale betonte.
Kriegsruhm.
Stützen der deutschwerdenden Kultur:
Schopenhauer—vertieft die Weltbetrachtung der Goethe-Schiller-Kultur.

19 [273]

Masken des bürgerlichen Lustspiels Kotzebues.

Die “alten Jungfern,” die sentimentalischen:
Riehl, Gervinus, Schwind, Jahn, Freitag reden viel von der Unschuld und der Schönheit.
Die jungenGreise” (Blasirten), die historischen:
Ranke, die Zeitungsschreiber, Mommsen, Bernays. sind über alles hinaus.
Die ewigen Gymnasiasten:
Gottschall, Lindau [Paul Lindau (1839-1919)], Gutzkow, Laube [Heinrich Laube (1806-84)].
Die Unfrommen vom Lande:
Strauß. Die Philisterei ist die eigentliche Unfrömmigkeit.

19 [274]

Bayreuther Horizont-Betrachtungen.

1.Bayreuther Pfingsttage. Ungeheures Nicht-Verstehen rings herum. Philologenversammlung in Leipzig. Der Krieg und die Universität Straßburg.
2.Die Weichlichen.ü 
3.Die Historischen.ïCharakteristik der
4.Die Gelehrten.ý“Gebildeten.”
5.Die Zeitungsschreiber.ï 
6.Die Naturwissenschaftlichen.þ 
7.8.
9.
Schulen. Universitäten.
Ihr Verfahren mit der Kunst
}Genesis des
“Gebildeten.”
10.Der Phönizier in den Hauptstädten: als Nachahmer jener Bildung.
11.12.Hauptsatz: Es giebt keine deutsche Bildung, weil es noch keinen deutschen Kunststil giebt. Ungeheure Arbeit Schillers Goethes zu einem deutschen Stile zu kommen. Kosmopolitische Tendenz nothwendig. Fortsetzung der Reformationsarbeit.

Wagner’s *`l :@4 B@Ø FJä; die deutsche Musik. An ihr kann man lernen, wie die deutsche Kultur sich verhalten wird zu anderen Kulturen. Plato über Musik: Kultur. Sie ist nicht “historisch,” an ihr kann man das Lebendige fühlen. Sie hat das Gelehrtenhafte tiefsinnig überwunden und in instinktive Technik verwandelt. Sie belebt den Mythus wieder (Meistersinger).

19 [275]

Einleitung.
Charakteristik des “Gebildeten.”
Genesis des “Gebildeten.”
Es giebt noch keine Bildung. Schilderung des bisherigen Kampfes.
Das Drama (die Drastiker, ihre drastischen Accente sind wie die dramatischen Accente und Fermaten der Oper).
Selbst das Trinklied der Deutschen ist gelehrt.

19 [276]

Die “Bildung” versuchte sich auf der Schiller-Goetheschen Basis, wie auf einem Ruhebette, niederzulassen.

19 [277]
[Nietzsches Kompositionen]

1. Das Rohdesche Fragment.
2. Heldenklage.
3. Gern und gerner.
4. Unendlich!
5. Verwelkt.
6. Es winkt und neigt sich.
7. Ständchen.
8. Nachspiel.
9. Der Könige Tod.
10. So lach doch mal.
11. Etes titok.
12. Sturmmarsch.
13. Aus der ersten Sylvesternacht.
14. Miserere.
15. Mariae Verkündigung.

19 [278]

Der feste Punkt, um den sich das griechische Volk krystallisirt, ist seine Sprache.

Der feste Punkt, an dem seine Kultur sich krystallisirt, ist Homer.

Also beidemal sind es Kunstwerke.

19 [279]

A. Dove nimmt sich Puschmanns, [Vgl. Alfred Dove, Ein Neujahrswort an die deutsche Geistesarbeit. In: Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst. Herausgegeben von Alfed Dove. Dritter Jahrgang, 1873. Erster Band, Januar bis Juni. Leipzig: S. Hirzel, 1873:4.] P. Lindau des Mohrs an [Vgl, Wilhelm Mohr (1838-1888), Das Gründertum in der Musik. Ein Epilog zur Baireuther Grundsteinlegung, DuMont-Schauberg: Köln, 1872.]

Das Aufheben, das die Deutschen von dem in allen Kunstfragen wahrhaft albernen Gervinus gemacht haben.

19 [280]

Heinrich Kleist redet als Dramatiker und Erzähler zu uns, als ob er zugleich einen hohen Berg besteige.

Goethe über Kleist: fürchtet sich.

Die dramatische Kunst ist unserm Publikum gegenüber eitel Blendwerk: es hat kein ästhetisches Gefühl, sondern ist pathologisch.

19 [281]

Wir können. uns den Gelehrten ohne Kultur, den Frommen ohne Kultur, den Philosophen ohne Kultur denken: im Gelehrtsein liegt ein Widerspruch mit der Einheit der Bildung, im christlichen Frommsein ein Widerspruch — — —

19 [282]

Scheidung der intellectuellen Faktoren von den intelligibeln im Wesen des Philosophen.

19 [283]

Die Faktoren der jetzigen Cultur.

1. Das Historische, das Werden.
2. Das Philistrose, das Sein.
3. Das Gelehrtenhafte.
4. Cultur ohne Volk.
5. Sitte wesentlich fremdländisch.
6. Das Unaesthetische (Pathologische).
7. Philosophie ohne Praxis.
8. Kastenwesen nicht nach Bildung.
9. Schreiben, nicht Sprechen.

19 [284]

Bisher war es die Sprache, an die das Deutsche sich anschloss. Jetzt dazu die Musik.

Die kosmopolitische Tendenz Schillers und Goethes entsprechend der orientalischen Tendenz.

Das Deutsche muss sich erst bilden:

Bildung nicht auf nationaler Grundlage, sondern Bildung des Deutschen, nicht Bildung nach dem Deutschen.

Das Deutsche muss gebildet werden: das noch nicht existirt. Weder auf Tugenden noch auf Laster zu gründen.

19 [285]

Faktoren deutscher Vergangenheit.

Volkskunst der Reformation—Faust, Meistersinger.

Askese und reine Liebe, Rom—Tannhäuser.

Treue und Ritter, Orient—Lohengrin.

Ältester Mythus, der Mensch—Ring des Nibelungen.

Metaphysik der Liebe—Tristan.

Das ist unsre Mythenwelt, sie reicht bis zur Reformation. Der Glaube an sie ist dem der Griechen an ihre Mythen sehr ähnlich.

Nicht deutsche Bildung, sondern Bildung des Deutschen ist unser erstes Ziel.

An Stelle des Historischen—die mythenbildende Kraft.

An Stelle des Philistros-Weichlichen das metaphysische Mit-Leiden.

An Stelle des Gelehrtenhaften—die tragische Weisheit.

An Stelle des Unaesthetisch-Pathologischen—das freie Spiel.

An Stelle des Kastenwesens—das Tribunal der Bildung.

An Stelle des Schreibens—Denken und Sprechen.

An Stelle der Dogmatik—die Philosophie.

Überwindung der Religionsmischung, des Asiatischen (in Hast und Luxus—Phönizisch).

Heilighaltung von Sprache und Musik.

19 [286]

Aesthetik in Deutschland.
Lessing Winckelmann Hamann Herder.
Schiller Goethe.
Grillparzer.
Schopenhauer.
Wagner.                                        Fuchs.

19 [287]

Kurzgefasster Bericht
über
die älteren griechischen Philosophen.

19 [288]

Die Seelenwanderungs-Metamorphosen.

19 [289]

Fortsetzung der Reformation.

Gelehrsamkeit und gelehrtes Wissen, daß Kunst war.

Entdeckung des Volksliedes, Shakespeare, Hamann, Faust instinktiv, regellos—ungelehrt.

Einfache Schönheit der Plastik. Strenge Nothwendigkeit im Drama—: vorbildliche Wirkungen der Alten, Beseitigung der französischen Regeln.

19 [290]

Experimentiren, das Drama zu finden, eine Litteratur zu schaffen—: kosmopolitische Nachahmung.

Vollendete Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens mit der Kunst—Überwindung des Begriffs “Litteratur”—: Wagner.

Beseitigung des Abseits-Musikmachens. Gegen das Mönchische der Musik.

Übergang aus der Gelehrsamkeit zum Bedürfniss der Kunst.

Überwindung des romanischen Begriffs der Kunst: Kunst als Convention, als Thesis.

Rückkehr zum hellenischen Begriff: Kunst als Physis.

19 [291]

Auch die hellenische Kunst wurde lange Zeit romanisch verstanden, ich meine so, wie sie die Römer verstanden haben: zum Schmucke, beliebig hineinzusetzen, Gewächshaus im Vergleich zum Walde. Vornehme Convention. —

19 [292]

Das schlechte Buch von Lotze [Vgl. Rudolph Hermann Lotze, Geschichte der Aesthetik in Deutschland. Munich: Cotta, 1868.], in dem der Raum mit Besprechung eines ganz unaesthetischen Menschen: Ritter [Heinrich Ritter (1791-1869)] (eines fast schon verschollenen Historikers der Philosophie) oder des verdrehten Leipziger Philosophen Weisse [Christian Hermann Weisse (1801-66)] verbraucht wird.

19 [293]

Plautus römische Kunst, neuere attische Komödie. Die feste Masken-Komödie.

19 [294]

Romantiker—theils natürliche Reaktion gegen den gebildeten Cosmopolitismus, theils Reaktion der Musik gegen eine kalte Plastik, theils Erweiterung des kosmopolitischen Nachmachens und Nachsingens. Zu wenig Kraft bei viel Witterung.

Das junge Deutschland ist, wie Kotzebue gegen Schiller-Goethe, Vertreter einer französirenden Aufklärung in plumper Nachmacherei.

19 [295]

Nicht Bildung auf nationaler Grundlage, sondern Bildung des deutschen Stils im Leben Erkennen Schaffen Reden Gehen usw.

19 [296]

Über deutsche Bildung.

Eine Festschrift den Bayreuther Kunstgenossen geweiht.

19 [297]

Unterscheidung der Völker durch ihre Schwächen, ihre Tugenden, bei einiger Civilisation, gemeinsam.

19 [298]

Über die Bildung eines deutschen Kunststils.

Bevor dieser da ist, ist, um zu einiger Bildung zu kommen, nur der kosmopolitische Weg da.

Bildung ist das Leben eines Volkes unter dem Regiment der Kunst. Philosophie ist nicht für das Volk, Religion verträgt sich mit Barbarei, ebenso die Wissenschaft.

Auszugehen von den Forderungen der Kultur nach dem Kriege. 1872. Straßburg, Unfähigkeit auch nur einzusehen, wie lächerlich eine Behauptung des National-Deutschen wäre. Die Kunst hat bei uns die romanische Geltung und nicht einmal. Wissenschaft verträgt sich mit Barbarei.

19 [299]

Begabung ist nur die Voraussetzung für die Cultur, die Hauptsache ist die Zucht nach Mustern.

Die Bildung ist nicht nothwendig eine begriffliche, sondern vor allem eine anschauende und richtig wählende: wie der Musiker richtig im Finstern greift. Die Erziehung eines Volkes zur Bildung ist wesentlich Gewöhnung an gute Vorbilder und Bildung edler Bedürfnisse.

19 [300]

Die Hoffenden in der deutschen Gegenwart.
Die Möglichkeit einer deutschen Cultur.
Hoffnungen auf eine deutsche Cultur.
Festschrift.

19 [301]

Die Hoffenden.
Betrachtungen über die angebliche deutsche Cultur der Gegenwart.

19 [302]

Reden der Hoffenden.
Reden eines Hoffenden.

19 [303]

Bayreuths Horizont.
Der Horizont Bayreuths.
Bayreuther Horizont-Betrachtungen.

19 [304]

Der Deutsche spricht wenig. Deshalb sind alle Dramatiker in Verlegenheit. Das Wahre ist Wagner’s Verfahren. Kurz, tief und mit Wortsymbolik, wie mit Runen. Die ältesten Orakel wohl drei allitterirende Runen.

19 [305]

Wenigen Männern wird es verziehen werden, wenn sie ihr Volk als Barbaren bezeichnen. Aber Goethe hat es gethan, man muß es sich erklären. [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Dritter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:114.]

19 [306]

Keine Kultur ist in drei Tagen gebaut worden, noch weniger ist jemals eine aus dem Himmel gefallen: sondern nur aus einer früheren Barbarei entsteht eine Kultur und es giebt Zeiten langen Schwankens und Kämpfens, in denen es zweifelhaft ist.

19 [307]

Gebildet nennen wir den, der ein Gebilde geworden [ist], eine Form bekommen hat: Gegensatz der Form ist hier das Ungestaltete Gestaltlose, ohne Einheit.

19 [308]

Woran hängt die Einheit eines Volkes? Äußerlich Regierung, innerlich Sprache und Sitten. Die Sitten aber erst ganz allmählich einheitlich, viel aus Zusammenleben, Einwandern.

19 [309]

Goethe [zu Eckermann, 3. Mai 1827]: “wir haben zwar viel ‘kultivirt.’” [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Dritter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:114.]

19 [310]

Kultur—Herrschaft der Kunst über das Leben. Die Grade ihrer Güte hängen einmal ab vom Grade dieser Herrschaft und zweitens von dem Werthe der Kunst selbst.

19 [311]

Milderungen der Sitten durch Religionen Gesetze usw.

Steigerung der Erkenntniß und dadurch weniger Aberglaube, Finsterniß, Fanatismus, mehr Beschaulichkeit und Ruhe.

Erfindungen, Steigerungen des Wohlstandes, Verkehr mit andern Völkern.

Dabei ist Religion und Barbarei.

Erfindungsgabe Intellekt mit Barbarei verträglich. Selbst Kunst ist möglich und doch kann man das Volk noch ein barbarisches nennen.

Herrschaft der Kunst über das Leben.

19 [312]

Als unter dem ersten Tumult des ausbrechenden letzten großen Krieges ein erbitterter französischer Gelehrter die Deutschen Barbaren nannte und den Mangel einer Kultur ihnen vorwarf, hörte man doch in Deutschland scharf genug, um dies gründlich übel zu nehmen und vielen Zeitungsschreibern gab es Gelegenheit, den nicht unbefleckten Harnisch ihrer Kultur einmal recht hell zu putzen und siegesgewiß mit ihm zu prunken. Man erschöpfte sich in Versicherungen, daß das deutsche Volk das gelehrigste gelehrteste sanftmüthig[st]e tugendhafteste und reinlichste von der Welt sei: selbst gegen den Vorwurf der Menschenfresserei und des Seeraubs fühlte man sich hinlänglich sicher. Als nun bald darauf eine Stimme jenseits des Kanals laut wurde und der ehrwürdige Carlyle eben jene Eigenschaften an den Deutschen öffentlich belobte und ihnen ihretwegen den Sieg mit segnenden Händen anwünschte, da war man über die deutsche Kultur im Reinen und nach dem Erfolg war es gewiß unschuldig vom Sieg der deutschen Kultur zu reden. Jetzt, wo die Deutschen Zeit haben manches damals uns zugeschleuderte Wort hinterdrein sich noch einmal anzusehn, dürfte es wohl Einige geben, welche erkennen, daß der Franzose recht hatte: die Deutschen sind Barbaren, trotz aller jener humanen Eigenschaften. Wenn man ihnen, den Barbaren, den Sieg wünschen mußte, so geschah dies natürlich nicht weil sie Barbaren sind, sondern weil die Hoffnung auf eine werdende Kultur die Deutschen heiligt: während es keine Rücksicht auf eine entartete und verbrauchte Kultur giebt: nicht das Weib das sein Kind entarten läßt, sondern das gebären wird ist den Gesetzen heilig. Daß sie im Übrigen noch Barbaren sind, war die Meinung Goethe’s, der alt genug wurde, um sogar diese Wahrheit den Deutschen sagen zu dürfen und an dessen Worte meine Betrachtungen anzuknüpfen ich mir erlauben muß, weil es mir niemand sonst erlauben möchte. Wir haben, sagte er eines Abends zu Eckermann — — — [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Dritter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:114.]

Die letzte Wendung ist fein, denn sie läßt den Verehrern der Gegenwart die Möglichkeit, in einigen Jahrhunderten werde man sagen, es ist sehr lange her, daß die Deutschen nicht mehr Barbaren sind, nämlich seit der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Daß dies nicht eine beliebige Annahme ist, sondern daß wirklich jetzt große Massen an die erreichte deutsche Kultur glauben, aber mit Unrecht, dies will ich eben durch ein Beispiel beweisen. Zuerst ist aber der Begriff der Kultur festzustellen. Goethe setzt hinzu—vom Liede. Ganze Haufen Kriegslieder und Sonette, auch nicht eins aus einem neuen Tone — — —

19 [313]

Das Wort Barbar und Barbarei ist ein böses verwegenes Wort und nicht so ohne Vorrede wage ich es, es zu gebrauchen: und wenn es wahr ist daß die Griechen von dem Sprachtone fremdländischer Völker wie von einem Gequake sprachen und daher mit einem gleichen Namen die Frösche benannten, so sind Barbaren also Quäker—sinnloses und unschönes Geplapper. Mangel an aesthetischer Erziehung.

19 [314]

Der Franzose dachte natürlich an seine in der ganzen Erde siegreiche Civilisation und den Grad von verkümmerter Nachahmung, den er von ihr in der deutschen Gesellschaft wiederfand: er sagte keine Kultur, weil sie keine erzeugt [haben] und nicht einmal eine vorhandene geschickt nachahmen können, wie z. B. den Russen zuzugestehen ist.

Und deshalb war jede Kriegsgefahr so furchtbar, weil sie die heimlich wachsende Frucht zerstören konnte.

Der Kriegsruhm fast noch eine größere Gefahr.

19 [315]

Einleitung.
Weisheit Wissenschaft.
Mythische Vorstufe.
Sporadisch-Spruchmäßige.
Vorstufen des F@nÎl •<ZD.
Thales.
Anaximander.
Anaximenes.
Pythagoras.
Heraclit.
Xenophanes.
Parmenides.
Anaxagoras.
Empedocles.
Democrit.
Pythagoriker.
Socrates. Sehr einfach.

19 [316]

Die
Rechtfertigung der Philosophie
durch die Griechen
.

Eine Festschrift.
Von
Friedrich Nietzsche.

19 [317]

Betrachtungen eines Hoffenden.

19 [318]

Der letzte Philosoph.

1. Die Übertragungen des Menschen auf die Natur.
2. Das Griechische als Weltprincip.
3. Heraklit gegen das Dionysische.
Empedokles gegen das Thieropfer.
Pythagoreer Ordenswesen.
Demokrit der wissensch[aftliche] Reisende.

19 [319]

Der ursprüngliche Zweck der Philosophie ist vereitelt.

Gegen die ikonische Geschichtsschreibung.
Philosophie, ohne Cultur, und Wissenschaft.
veränderte Stellung der Philosophie seit Kant.
Metaphysik unmöglich. Selbstcastration.

Die tragische Resignation, das Ende der Philosophie.
Nur die Kunst vermag uns zu retten.

19 [320]

1. Die übrigen Philosophen.
2. Wahrheit und Illusion.
3. Illusion und Kultur.
4. Der letzte Philosoph.

19 [321]

Die Methode der Philosophen zum Letzten zu kommen rubrizirt.
Der unlogische Trieb.
Wahrhaftigkeit und Metapher.

Aufgabe des griechischen Philosophen: Bändigung.
Barbarisirende Wirkung der Erkenntniß.
Das Leben in der Illusion.

Philosophie seit Kant todt.

Schopenhauer Vereinfacher, räumt die Scholastik auf.
Wissenschaft und Cultur. Gegensätze.
Aufgabe der Kunst.
Der Weg ist Erziehung.
Die Philosophie hat die tragische Bedürftigkeit zu erzeugen.

19 [322]

Die Philosophie der Neuzeit, unnaiv, scholastisch, mit Formeln überhäuft.

Schopenhauer der Vereinfacher.

Wir erlauben die Begriffsdichtung nicht mehr. Nur im Kunstwerk.

Gegenmittel gegen die Wissenschaft? Wo?

Die Kultur als Gegenmittel. Um für sie empfänglich zu sein, muß man das Ungenügende der Wissenschaft erkannt haben. Tragische Resignation. Gott weiß, was das für eine Kultur wird! Sie fängt von hinten an!

19 [323]

Januar  13 Wochen:  3. Geschichte der Rhythmik.
Februar
März
     4. Horatianische Metra
nach Augustin usw.
Die Sprache metrisch betrachtet.
      5. Hexameter.
      6. Trimeter.
      7. Logaoedische Verse.
      8. Dorische Strophen.
      9. Composition usw.

19 [324]

Die klassische Philologie.
Hesiod und Homer.
Rhythmik.

19 [325]

Alte philosophische Meister
in Griechenland.

Für einen jungen Freund der
Philosophie niedergeschrieben
von — — —

19 [326]

Entwürfe.

1. Hesiodos.
2. Die zeitmessende Rhythmik der Griechen.
3. Die griechische Tragoedie.

19 [327]

Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen und
nicht zu schreibenden Büchern.

1. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten.
2. Das Verhältniss der Schopenhauerischen Philosophie zu der deutschen Cultur.
3. Über das Pathos der Wahrheit.
4. Der griechische Staat.
5. Der Wettkampf Homer’s und Hesiod’s.

19 [328]

Erkennen der Wahrheit unmöglich.
Die Kunst und der Philosoph.
Das Wahrheitspathos.
Wie verhält sich die Philosophie zur Kultur: Schopenhauer.
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Alles Erkennen im Dienste der Kunst.
Die Einheit einer Kultur.
Schilderung der jetzigen Zerfahrenheit.
Das Drama als Keimpunkt.
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19 [329]

Erste Stufe der Kultur: der Glaube an die Sprache, als durchgehende Metapherbezeichnung.
Zweite Stufe der Kultur: Einheit und Zusammenhang der Metapherwelt durch Anlehnung an Homer.

19 [330]*

1) Die Bildungsphilister.
2) Die historische Krankheit.
3) Viel Lesen und Schreiben.
4) Litterarische Musiker (wie die Anhänger des Genius die Wirkungen desselben todt machen).
5) Deutsch und Afterdeutsch.
6) Soldaten-Cultur.
7) Allgemeine Bildung—Socialismus usw.
8) Bildungs-Theologie.
9) Gymnasien und Universitäten.
10) Philosophie und Cultur.
11) Naturwissenschaft.
12) Dichter usw.
13) Classische Philologie.

Entwurf der “Unzeitgemässen Betrachtungen.”

Basel, 2. September 1873.

[*Spätere Eintragung nach Erscheinen von David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller.]

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