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The Will to Power
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Sommer 1872—Anfang 1873 19 [1-150]

19 [1]

In einer rechten Höhe kommt alles zusammen und über eins—die Gedanken des Philosophen, die Werke des Künstlers und die guten Thaten.

Es ist zu zeigen, wie das ganze Leben eines Volkes unrein und verworren das Bild widerspiegelt, das seine höchsten Genien bieten: diese sind nicht das Produkt der Masse, aber die Masse zeigt ihre Reperkussion.

Oder welches ist das Verhältniß?

Es giebt eine unsichtbare Brücke von Genius zu Genius—das ist die wahrhaft reale “Geschichte” eines Volkes, alles andere ist schattenhafte unzählige Variation in schlechterem Stoffe, Kopien ungeübter Hände.

Auch die ethischen Kräfte einer Nation zeigen sich in ihren Genien. [Vgl. Arthur Schopenhauer. Von ihm. Ueber ihm. Ein wort der Vertheidigung von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlassstücke von Julius Frauenstädt. Berlin: Hayn, 1863:375-376.]

19 [2]

Charakteristik der nachsokratischen Moralen—alle eudämonisch und individual.

19 [3]

Die Welt zu umschreiben, in der der Philosoph und der Künstler zu Hause sind.

19 [4]

Vorrede an Schopenhauer—Eingang zur Unterwelt—ich habe dir manches schwarze Schaf geopfert—worüber sich die andren Schafe beschweren. [Vgl. Homer, Odyssee 11:23-50.]

19 [5]

In der herrlichen Kunstwelt—wie philosophirten sie! Wenn eine Vollendung des Lebens erreicht wird, hört dann das Philosophiren auf? Nein: jetzt beginnt erst das wahre Philosophiren. Ihr Urtheil über das Dasein besagt mehr, weil es die relative Vollendung und alle Kunstschleier und Illusionen vor sich hat.

19 [6]

Die Alten waren sehr viel tugendhafter als wir, weil sie so viel weniger Mode hatten.

Die tugendhafte Energie ihrer Künstler!

19 [7]

Gegensatz zur Presse—die öffentlich meinende—wir die öffentlich belehrenden.

Wir haben die unsterblichen Sorgen des Volks—wir müssen frei sein von den momentanen, zeitlichen.

Bild der Aufgabe der neueren philosophischen Generation.

Die Forderung, sich selbst zu überwinden, d. h. das saeculare, den Zeitgeist.

19 [8]

Charakteristik Schopenhauers: das Einsame, in der höchsten Gesellschaft.

19 [9]

Jene griechischen Philosophen überwanden den Zeitgeist, um den Geist des Hellenischen nachempfinden zu können: sie drücken das Bedürfniß nach der Lösung ewiger Fragen aus.

19 [10]

In der Welt der Kunst und der Philosophie baut der Mensch an einer “Unsterblichkeit des Intellekts.”

Der Wille allein ist unsterblich—damit zu vergleichen, wie elend es mit jener Unsterblichkeit des Intellekts, durch die Bildung, aussieht, die Menschenhirne voraussetzt:

man sieht, in welcher Linie dies für die Natur kommt.

— Wie kann aber das Genie zugleich das höchste Ziel der Natur sein!

Das Weiterleben durch Historie und das Weiterleben durch Zeugung.

Hier Plato’s Erzeugen im Schönen—also zur Geburt des Genius ist Überwindung der Historie nöthig, sie ist in die Schönheit zu tauchen und zu aeternisiren. [Vgl. Plato, Symposion, 206b-e.]

Gegen die ikonische Geschichtsschreibung! Sie hat ein barbarisirendes Element in sich.

Sie hat nur von dem Großen und Einzigen zu reden, von dem Vorbild.

Damit ist die Aufgabe der neuen philosophischen Generation erfaßt.

Alle die großen Griechen aus der Zeit der Tragödie haben nichts vom Historiker an sich: — — —

19 [11]

Der Erkenntnißtrieb ohne Auswahl steht gleich dem wahllosen Geschlechtstrieb—Zeichen der Gemeinheit

19 [12]

Die Aufgabe des Philosophen, alle die verzeitlichenden Elemente mit Bewußtsein zu bekämpfen—und darum die unbewußte Aufgabe der Kunst zu unterstützen.

In beiden erreicht ein Volk die Einheit aller seiner Eigenschaften und ihre höchste Schönheit.

Die jetzige Aufgabe den Wissenschaften gegenüber.

19 [13]

Der Philosoph des tragischen Zeitalters.

Der Philosoph steht nicht so ganz abseits, wie eine Ausnahme, vom Volk: der Wille will auch mit ihm etwas. Die Absicht ist die gleiche, wie bei der Kunst—seine eigne Verklärung und Erlösung. Der Wille strebt nach Reinheit und Veredelung: von einer Stufe zur Andern.

Die Daseinsform als Bildung und Kultur—der Wille auf den Köpfen der Menschen.

19 [14]

Der beschränkte Erkenntnißtrieb.

Die sieben Weisen—die episch-apollinische Stufe der Philosophie.

19 [15]

Die Triebe, welche die Griechen von andern Völkern unterscheiden, kommen in ihrer Philosophie zum Ausdruck.

Das aber sind gerade ihre klassischen Triebe.

Wichtig ihre Art mit der Historie umzugehen.

Die allmähliche Entartung des Historikerbegriffs im Alterthum—die Auflösung in die neugierige Allwisserei.

19 [16]

Aufgabe: Die Teleologie des philosophischen Genius zu erkennen. Ist er wirklich nur ein zufällig erscheinender Wanderer? Jedenfalls hat er, wenn es ein rechter ist, nichts mit der zufälligen politischen Lage eines Volks zu thun, sondern seinem Volk gegenüber ist er zeitlos. Aber deshalb nicht mit diesem Volke zufällig verbunden—das Spezifische des Volkes kommt hier als Individuum zu Tage und zwar der Volkstrieb als Welttrieb erklärt, zur Welträthsellösung benutzt. Der Natur gelingt es einmal, ihre Triebe durch Separation rein anzuschauen. Der Philosoph ist ein Mittel, im rastlosen Strome zur Ruhe zu kommen, mit Verachtung der unendlichen Vielheit sich der bleibenden Typen bewußt zu werden.

19 [17]

Der Philosoph ist ein Sich-offenbaren der Werkstätte der Natur—Philosoph und Künstler reden von den Handwerksgeheimnissen der Natur.

Über dem Getümmel der Zeitgeschichte lebt die Sphäre des Philosophen und des Künstlers, abseits der Noth.

Der Philosoph als Hemmschuh im Rade der Zeit.

Es sind die Zeiten großer Gefahr, in denen die Philosophen erscheinen—dann wenn das Rad immer schneller rollt—sie und die Kunst treten an Stelle des verschwindenden Mythus. Sie werden aber weit vorausgeworfen, weil die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erst langsam ihnen sich zuwendet.

Ein Volk, das sich seiner Gefahren bewußt wird, erzeugt den Genius.

19 [18]

Freiheit vom Mythus. Thales. Ein Element als Proteus!

Das Tragische des Daseins. Anaximander.

Das künstlerische Spiel des Kosmos. Heraclit.

Die ewige Logik. Parmenides. Der Wortkampf.

Das Erbarmen mit allem Lebenden. Empedocles. Der Sklave.

Maaß und Zahl. Pythagoras. Democrit.

(Der Wettkampf. Heraclit.)

(Liebe und Bildung. Socrates.)

Der <@Øl kleinste Annahme. Anaxagoras.

19 [19]

Wir dulden nicht jeden, daß er uns etwas vorphilosophirt, z. B. nicht David Strauss, dem nicht zu helfen ist, wenn er aus seiner spezifisch historisch-kritischen Luft heraustritt. [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube: ein Bekenntnis. Leipzig: Hirzel, 1872.]

19 [20]

Nach Sokrates ist das allgemeine Wohl nicht mehr zu retten, darum die individualisirende Ethik, die die Einzelnen retten will.

19 [21]

Der maaßlose unwählerische Erkenntnißtrieb, mit historischem Hintergrunde, ist ein Zeichen, daß das Leben alt geworden ist: die Gefahr ist groß, daß die Individuen schlecht werden, deshalb werden ihre Interessen gewaltsam an Erkenntnißobjekte gefesselt, gleichviel welche. Die allgemeinen Triebe sind so matt geworden und halten das Individuum nicht mehr im Zaume.

Der Germane hat alle seine Beschränktheiten durch die Wissenschaften verklärt, indem er sie übertrug: Treue Bescheidenheit Selbstbeschränkung Fleiß Reinlichkeit Ordnungsliebe, es sind Familientugenden: aber auch die Formlosigkeit, die ganze Unlebendigkeit des Lebens, die Kleinlichkeit—sein unbeschränkter Erkenntnißtrieb ist die Folge eines dürftigen Lebens: er würde, ohne ihn, kleinlich und boshaft und ist es oft, trotz ihrer.

Jetzt ist uns eine höhere Form des Lebens gegeben, ein Hintergrund der Kunst—jetzt ist auch die nächste Folge ein wählerischer Erkenntnißtrieb d. h. Philosophie.

Schreckliche Gefahr: daß das amerikanische-politische Getreibe und die haltlose Gelehrtenkultur sich verschmelzen.

19 [22]

Die Schönheit tritt bei dem wählerischen Erkenntnißtrieb wieder als Macht hervor.

Höchst merkwürdig, daß Schopenhauer schön schreibt! Sein Leben hat auch mehr Stil als das der Universitätslehrer—aber verkümmerte Umgebungen!

Jetzt weiß kein Mensch, wie ein gutes Buch aussieht, man muß es vormachen: sie verstehen die Composition nicht. Die Presse ruinirt dazu immer mehr das Gefühl.

Das Erhabene festhalten zu können!

19 [23]

Gegen die ikonische Geschichtsschreibung und gegen die Naturwissenschaften sind ungeheure künstlerische Kräfte nöthig.

Was soll der Philosoph? Inmitten der ameisenhaften Wimmelei das Problem des Daseins, überhaupt die ewigen Probleme zu betonen.

Der Philosoph soll erkennen, was noth thut, und der Künstler soll es schaffen. Der Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Noth ausdrückt: dort, in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in diese Lücke hinein.

Es sind alle Mittel zu sammeln, durch die es möglich ist den Menschen zur Ruhe zu retten: bei absterbenden Religionen!

Den Unterschied in der Wirkung der Philosophie und der Wissenschaft klar zu machen: und ebenso den Unterschied in der Entstehung.

19 [24]

Es handelt sich nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine Beherrschung. Sie hängt nämlich in allen ihren Zielen und Methoden durch und durch ab von philosophischen Ansichten, vergißt dies aber leicht. Die beherrschende Philosophie hat aber auch das Problem zu bedenken, bis zu welchem Grade die Wissenschaft wachsen darf: sie hat den Werth zu bestimmen!

19 [25]

Nachweis der barbarisirenden Wirkungen der Wissenschaften. Sie verlieren sich leicht in den Dienst der “praktischen Interessen.”

19 [26]

Werth Schopenhauers, weil er naive allgemeine Wahrheiten in’s Gedächtniß ruft: er wagt es, sogenannte “Trivialitäten” schön auszusprechen.

Wir haben keine edle Popularphilosophie, weil wir keinen edlen Begriff von peuple publicum haben. Unsere Popularphilosophie ist für den peuple, nicht für das Publikum.

19 [27]

Wenn wir noch je eine Kultur erringen sollen, so sind unerhörte Kunstkräfte nöthig, um den unbeschränkten Erkenntnißtrieb zu brechen, um eine Einheit wieder zu erzeugen. Höchste Würde des Philosophen zeigt sich hier, wo er den unbeschränkten Erkenntnißtrieb concentrirt, zur Einheit bändigt.

So sind die älteren griechischen Philosophen zu verstehen, sie bändigen den Erkenntnißtrieb. Wie kam es, daß nach Sokrates er allmählich aus der Hand fiel? Zunächst sehen wir selbst bei Sokrates und Schule dieselbe Tendenz: er soll eingeschränkt werden durch die individuelle Rücksicht auf Glücklich-Leben. Es ist eine letzte niedere Phase. Ehemals handelte es sich nicht um Individuen, sondern um die Hellenen.

19 [28]

Die großen alten Philosophen gehören in das Allgemein[le]ben des Hellenischen: nach Sokrates bilden sich Sekten. Allmählich verliert die Philosophie die Zügel der Wissenschaft aus den Händen.

Im Mittelalter übernimmt die Theologie die Zügel der Wissenschaft: jetzt gefährliche Emancipationszeit.

Die allgemeine Wohlfahrt will wieder eine Bändigung und dadurch zugleich Erhebung und Concentration.

Das laisser aller unserer Wissenschaft, wie bei gewissen nationalökonomischen Dogmen: man glaubt an einen unbedingt heilsamen Erfolg.

Kant hat in gewissem Sinne mit schädlich eingewirkt: denn der Glaube an die Metaphysik ist verloren gegangen. Auf sein “Ding an sich” wird niemand rechnen können, als ob es ein bändigendes Princip sei.

Jetzt begreifen wir die merkwürdige Erscheinung Schopenhauers: er sammelt alle Elemente, die zur Beherrschung der Wissenschaft noch taugen. Er kommt auf die tiefsten Urprobleme der Ethik und der Kunst, er wirft die Frage vom Werthe des Daseins auf.

Wunderbare Einheit Wagner’s und Schopenhauer’s! Sie entstammen dem gleichen Triebe. Die tiefsten Eigenschaften des germanischen Geistes rüsten sich hier zum Kampfe: wie bei den Griechen. Wiederkehr der Besonnenheit.

19 [29]

Schilderung der ungeheuren Gefahr der Verweltlichung im 6ten und 5ten Jahrhundert: die Üppigkeit der Kolonien, der Reichthum, die Sinnlichkeit.

19 [30]

Das Problem: die Kultur zu unserer Musik zu finden!

19 [31]

Es ist die Methode zu bezeichnen, wie der philosophische Mensch zu leben hat.

19 [32]

Zur Charakteristik der Oberflächlichkeit unserer Kultur: David Strauß, unsere Theater, unsere Dichter, unsere Kritik, unsere Schulen. [Vgl. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube: ein Bekenntnis. Leipzig: Hirzel, 1872.]

19 [33]

Meine Aufgabe: den inneren Zusammenhang und die Nothwendigkeit jeder wahren Kultur zu begreifen. Die Schutz- und Heilmittel einer Kultur, das Verhältniß derselben zum Volksgenius. Die Consequenz jeder großen Kunstwelt ist eine Kultur: aber oft kommt es, durch feindselige Gegenströmungen, nicht zu diesem Ausklingen eines Kunstwerks.

Die Philosophie soll den geistigen Höhenzug durch die Jahrhunderte festhalten: damit die ewige Fruchtbarkeit alles Großen.

Für die Wissenschaft giebt es kein Groß und Klein—aber für die Philosophie! An jenem Satze mißt sich der Werth der Wissenschaft.

Das Festhalten des Erhabenen!

Welcher außerordentliche Mangel an Büchern in unserer Zeit, die eine heroische Kraft athmen!— Selbst Plutarch wird nicht mehr gelesen!

19 [34]

Kant sagt (2. Vorrede zur Kritik): “ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, das ist das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstrebenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.” [Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert. Bd. 2. Leipzig: Voss, 1838:679. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Sämmtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hrsg von Gustav Hartenstein. Bd. 3. Leipzig: Voss, 1867:25. Vgl. Eugen Karl Dühring, Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: L. Heimann, 1873:397f.] Sehr wichtig! Eine Kulturnoth hat ihn getrieben!

Sonderbarer Gegensatz “Wissen und Glauben”! Was hätten die Griechen davon gedacht! Kant kannte keinen andern Gegensatz! Aber wir!

Eine Kulturnoth treibt Kant: er will ein Gebiet vor dem Wissen retten: dorthin legt die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik—Schopenhauer.

Andrerseits sammelt er alles Wissenswürdige für alle Zeit—die ethische Volks- und Menschenweisheit (Standpunkt der 7 Weisen, der griechischen popularphilosophen).

Er zersetzt die Elemente jenes Glaubens und zeigt, wie wenig gerade der christliche Glaube dem tiefsten Bedürfniß genügt: Frage nach dem Werthe des Daseins!

Der Kampf des Wissens mit dem Wissen!

Schopenhauer macht selbst auf das uns unbewußte Denken und Wissen aufmerksam.

Die Bändigung des Erkenntnißtriebes—ob zu Gunsten einer Religion? Oder einer künstlerischen Kultur, soll sich nun zeigen; ich stehe auf der zweiten Seite.

Ich setze hinzu die Frage nach dem Werthe des historischen ikonischen Erkennens, auch der Natur.

Bei den Griechen ist es die Bändigung zu Gunsten einer künstlerischen Kultur (und Religion?), die Bändigung, welche ein volles Entfesseltsein verhüten will: wir wollen den ganz entfesselten wieder zurückbändigen.

19 [35]

Der Philosoph der tragischen Erkenntniß. Er bändigt den entfesselten Wissenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er stellt keinen neuen Glauben auf. Er empfindet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben: der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück.

Der Philosoph der desperaten Erkenntniß wird in blinder Wissenschaft aufgehen: Wissen um jeden Preis.

Für den tragischen Philosophen vollendet es das Bild des Daseins, daß das Metaphysische nur anthropomorphisch erscheint. Er ist nicht Skeptiker.

Hier ist ein Begriff zu schaffen: denn Skepsis ist nicht das Ziel. Der Erkenntnißtrieb, an seine Grenzen gelangt, wendet sich gegen sich selbst, um nun zur Kritik des Wissens zu schreiten. Die Erkenntniß im Dienste des besten Lebens.

Man muß selbst die Illusion wollen—darin liegt das Tragische.

19 [36]

Der letzte Philosophes können ganze Generationen sein. Er hat nur zum Leben zu helfen. “Der letzte,” natürlich relativ. Für unsere Welt. Er beweist die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst. Es ist für uns nicht möglich, wieder eine solche Reihe von Philosophen zu erzeugen, wie Griechenland zur Zeit der Tragödie. Ihre Aufgabe erfüllt jetzt ganz allein die Kunst. Nur als Kunst ist noch so ein System möglich. Vom jetzigen Standpunkt aus fällt auch jene ganze Periode der griechischen Philosophie mit ins Bereich ihrer Kunst.

Die Bändigung der Wissenschaft geschieht jetzt nur noch durch die Kunst. Es handelt sich um Werthurtheile über das Wissen und Vielwissen.

Ungeheure Aufgabe und Würde der Kunst in dieser Aufgabe! Sie muß alles neu schaffen und ganz allein das Leben neu gebären! Was sie kann, zeigen uns die Griechen: hätten wir diese nicht, so wäre unser Glaube chimärisch.

Ob eine Religion hier hinein, in das Vacuum hinein, sich bauen kann, hängt von ihrer Kraft ab. Wir sind der Kultur zugekehrt: das “Deutsche” als erlösende Kraft!

Jedenfalls müßte die Religion, welche es könnte, eine ungeheure Liebeskraft haben: an der zerbricht auch das Wissen, wie es an der Sprache der Kunst zerbricht.

Aber vielleicht vermag die Kunst sogar sich eine Religion zu schaffen, den Mythus zu gebären? So bei den Griechen.

19 [37]

Die jetzt vernichteten Philosophien und Theologien wirken aber noch immer fort in den Wissenschaften: auch wenn die Wurzeln abgestorben sind, ist hier in den Zweigen noch eine Zeitlang Leben. Das Historische ist besonders als Gegenkraft gegen den theologischen Mythus, aber auch gegen die Philosophie, so breit entwickelt: das absolute Erkennen feiert hier und in den mathematischen Naturwissenschaften seine Saturnalien, das Geringste, was hier wirklich ausgemacht werden kann, gilt höher als alle metaphysischen Ideen. Der Grad der Sicherheit bestimmt hier den Werth, nicht der Grad der Unentbehrlichkeit für Menschen. Es ist der alte Kampf von Glauben und Wissen.

Es sind dies barbarische Einseitigkeiten.

Jetzt kann die Philosophie nur noch das Relative aller Erkenntniß betonen und das Anthropomorphische, so wie die überall herrschende Kraft der Illusion. Sie kann damit den entfesselten Erkenntnißtrieb nicht mehr hemmen: der immer mehr nach dem Grade der Sicherheit urtheilt und immer kleinere Objekte sucht. Während jeder Mensch zufrieden ist, wenn ein Tag vorbei ist, wühlt gräbt und combinirt später der Historiker nach diesem Tag, um ihn der Vergessenheit zu entreißen: das Kleine soll auch ewig sein, weil es erkennbar ist.

Für uns gilt nur der aesthetische Maaßstab: das Große hat ein Recht auf Historie, aber auf keine ikonische, sondern eine produktive erregende Geschichtsmalerei. Wir lassen die Gräber ruhn: aber bemächtigen uns des ewig Lebendigen.

Lieblingsthema der Zeit: die großen Wirkungen des Kleinsten. Das historische Wühlen hat z. B. als Ganzes etwas Großartiges: es ist wie die dürftige Vegetation, die allmählich die Alpen zerreibt. Wir sehen einen großen Trieb, der kleine Werkzeuge, aber großartig viele hat.

Man könnte dagegen stellen: die kleinen Wirkungen des Großen! wenn es nämlich durch Individuen vertreten wird. Es ist schwer zu fassen, oft stirbt die Tradition weg, der Haß dagegen ist allgemein, sein Werth beruht auf der Qualität, die hat immer wenig Schätzer.

Das Große wirkt nur auf das Große: wie die Fackelpost im Agamemnon nur von Höhe zu Höhe springt. Es ist die Aufgabe einer Kultur, daß das Große in einem Volke nicht als Einsiedler erscheint, noch als Verbannter.

Deshalb wollen wir reden, was wir empfinden: es ist nicht unsere Sache zu warten, bis der matte Abglanz dessen, was mir hell erscheint, auch bis in die Thäler dringt. Zuletzt nämlich sind die großen Wirkungen des Kleinsten eben die Nachwirkungen der Großen; sie haben eine Lawine in’s Rollen gebracht. Nun haben wir Mühe, sie aufzuhalten.

19 [38]

Das Historische und die Naturwissenschaften waren nöthig gegen das Mittelalter: das Wissen gegen den Glauben. Wir richten jetzt gegen das Wissen die Kunst: Rückkehr zum Leben! Bändigung des Erkenntnißtriebes! Stärkung der moralischen und ästhetischen Instinkte!

Dies erscheint uns als Rettung des deutschen Geistes, damit er wieder Retter sei!

Das Wesen dieses Geistes ist uns in der Musik aufgegangen. Wir verstehen jetzt, wie die Griechen ihre Kultur von der Musik abhängig machten.

19 [39]

Die Schöpfung einer Religion würde darin liegen, daß einer für sein in das Vacuum hineingestelltes mythisches Gebäude Glauben erweckt, d. h. daß er einem außerordentlichen Bedürfnisse entspricht.

Es ist unwahrscheinlich, daß das je wieder geschieht, seit der Kritik der reinen Vernunft.

Dagegen kann ich mir eine ganz neue Art des Philosophen-Künstlers imaginiren, der ein Kunstwerk hinein in die Lücke stellt, mit ästhetischem Werthe.

Das Gutsein und das Mitleiden ist glücklicherweise unabhängig vom Verderben und Gedeihen einer Religion: dagegen ist das Guthandeln sehr bestimmt durch religiöse Imperative. Die weitaus größte Masse der guten pflichtmäßigen Handlungen hat keinen ethischen Werth, sondern ist erzwungen.

Die praktische Moralität wird bei allem Zusammenbrechen einer Religion sehr leiden. Die strafende und belohnende Metaphysik scheint unentbehrlich.

Wenn man die Sitte, die mächtige Sitte schaffen kann! Damit hat man auch die Sittlichkeit.

Die Sitte aber durch Vorangehn einzelner mächtiger Persönlichkeiten gebildet.

Auf erwachende Güte in der Masse der Besitzenden rechne ich nicht, wohl aber könnte man sie zu einer Sitte bringen, zu einer Pflicht gegen das Herkommen.

Wenn die Menschheit, was sie bis jetzt auf den Bau von Kirchen, auf Erziehung und Schulen verwendet, wenn sie den Intellekt, den sie auf Theologie, jetzt auf Erziehung richtet.

19 [40]

Die freidichtende Art, wie die Griechen mit ihren Göttern umgiengen!

Wir sind an den Gegensatz von historischer Wahrheit und Unwahrheit zu sehr gewöhnt. Es ist komisch, daß die christlichen Mythen durchaus historisch sein sollen!

19 [41]

Das Problem einer Kultur selten richtig gefaßt. Ihr Ziel ist nicht das größtmögliche Glück eines Volkes, auch nicht die ungehinderte Entwicklung aller seiner Begabungen: sondern in der richtigen Proportion dieser Entwicklungen zeigt sie sich. Ihr Ziel zeigt über das Erdenglück hinaus: die Erzeugung großer Werke ist ihr Ziel.

In allen griechischen Trieben zeigt sich eine bändigende Einheit: nennen wir sie den hellenischen Willen. Jeder dieser Triebe versucht allein in’s Unendliche zu existiren. Die alten Philosophen versuchen aus ihnen die Welt zu construiren.

Die Kultur eines Volkes offenbart sich in der einheitlichen Bändigung der Triebe dieses Volkes: die Philosophie bändigt den Erkenntnißtrieb, die Kunst den Formentrieb und die Ekstasis, die •(VB0 den §DTl usw.

Die Erkenntniß isolirt: die älteren Philosophen stellen isolirt dar, was die griechische Kunst zusammen erscheinen läßt.

Der Inhalt der Kunst und der alten Philosophie fällt zusammen, aber als Philosophie sehen wir die isolirten Bestandtheile der Kunst verwendet, um den Erkenntnißtrieb zu bändigen. Das muß sich auch bei den Italiänern zeigen lassen: der Individualismus im Leben und der Kunst.

19 [42]

Die Griechen als Entdecker und Reisende und Kolonisatoren. Sie verstehen zu lernen: ungeheure Aneignungskraft. Unsre Zeit soll nicht glauben, in ihrem Wissenstrieb so viel höher zu stehen: nur wurde bei den Griechen alles Leben! Bei uns bleibt es Erkenntniß!

19 [43]

Wenn es auf den Werth der Erkenntniß ankommt, anderseits ein schöner Wahn, wenn nur an ihn geglaubt wird, ganz den gleichen Werth wie eine Erkenntniß hat, so sieht man, daß das Leben Illusionen braucht, d. h. für Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten. Es braucht den Glauben an die Wahrheit, aber es genügt dann die Illusion, d. h. die “Wahrheiten” beweisen sich durch ihre Wirkungen, nicht durch logische Beweise, Beweise der Kraft. Das Wahre und das Wirkende gilt für identisch, man beugt sich der Gewalt auch hier. Wie kommt es dann, daß ein logisches Wahrheitsbeweisen überhaupt stattfand? Im Kampf vonWahrheitundWahrheit” suchen sie die Alliance der Reflexion. Alles wirkliche Wahrheitsstreben ist in die Welt gekommen durch den Kampf um eine heilige Überzeugung, durch das BVh@l des Kämpfens: sonst hat der Mensch kein Interesse für den logischen Ursprung.

19 [44]

Zweck, die Teleologie des Philosophen inmitten der Kultur zu bestimmen.

Wir fragen die Griechen, in der Zeit, in der eine Einheit in ihrer Kultur war.

Wichtig: es giebt auch für die reichste Kultur die Philosophie. Wozu?

Wir fragen die großen Philosophen. Ach, sie sind zu Grunde gegangen! Wie leichtfertig verfährt die Natur!

19 [45]

Wie verhält sich der philosophische Genius zur Kunst? Aus dem direkten Verhalten ist wenig zu lernen. Wir müssen fragen: was ist an seiner Philosophie Kunst? Kunstwerk? Was bleibt, wenn sein System als Wissenschaft vernichtet ist? Gerade dieses Bleibende aber muß es sein, was den Wissenstrieb bändigt, also das Künstlerische daran. Warum ist eine solche Bändigung nöthig? Denn wissenschaftlich betrachtet, ist es eine Illusion, eine Unwahrheit, die den Trieb nach Erkenntniß täuscht und nur vorläufig befriedigt. Der Werth der Philosophie in dieser Bändigung liegt nicht in der Erkenntnißsphäre, sondern in der Lebenssphäre: der Wille zum Dasein benutzt die Philosophie zum Zwecke einer höheren Daseinsform.

Es ist nicht möglich, daß Kunst und Philosophie sich gegen den Willen richten könnten: aber ebenfalls die Moral ist in seinem Dienste. Allherrschaft des Willens. Eine der zartesten Daseinsformen das relative Nirvana.

19 [46]

Es ist alles so bestimmt wie möglich zu sagen und jeder terminus, auch “Wille,” bei Seite zu lassen.

19 [47]

Die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias Philosophie) entscheidet jetzt über ihren Werth—d. h. sie wird als Kunst beurtheilt. Ihre Form wird sich wahrscheinlich verändern! Die starre mathematische Formel (wie bei Spinoza)—die auf Göthe einen so beruhigenden Eindruck machte, hat eben nur noch als ästhetisches Ausdrucksmittel ein Recht.

19 [48]

Der Satz ist festzustellen—wir leben nur durch Illusionen—unser Bewußtsein streift die Oberfläche. Vieles ist vor unsern Blicken verborgen. Es ist auch nie zu fürchten, daß der Mensch sich ganz erkennt, daß er in jedem Augenblicke alle die Gesetze der Hebelkräfte, der Mechanik, alle die Formeln der Baukunst, der Chemie, die zu seinem Leben nöthig sind, durchschaue. Wohl aber ist möglich, daß durch Schema alles erkannt werde. Das ändert für unser Leben fast nichts. Zudem sind es alles nur Formeln für absolut unerkennbare Kräfte.

19 [49]

Wir leben allerdings durch die Oberflächlichkeit unseres Intellekts in einer fortwährenden Illusion: d. h. wir brauchen, um zu leben, in jedem Augenblicke die Kunst. Unser Auge hält uns an den Formen fest. Wenn wir es aber selbst sind, die allmählich uns dies Auge anerzogen haben, so sehen wir in uns selbst eine Kunstkraft walten. Wir sehen also in der Natur selbst Mechanismen gegen das absolute Wissen: der Philosoph erkennt die Sprache der Natur und sagt: “wir brauchen die Kunst” und “Wir bedürfen nur eines Theils des Wissens.”

19 [50]

Jede Art von Kultur beginnt damit, daß eine Menge von Dingen verschleiert werden. Der Fortschritt des Menschen hängt an diesem Verschleiern—das Leben in einer reinen und edlen Sphäre und das Abschließen der gemeineren Reizungen. Der Kampf gegen die “Sinnlichkeit” durch die Tugend ist wesentlich ästhetischer Art. Wenn wir die großen Individuen als unsere Leitsterne gebrauchen, so verschleiern wir viel an ihnen, ja wir verhüllen alle die Umstände und Zufälle, die ihr Entstehen möglich machen, wir isoliren sie uns, um sie zu verehren. Jede Religion enthält so ein Element: die Menschen unter göttlicher Obhut, als etwas unendlich Wichtiges. Ja, alle Ethik beginnt damit, daß wir das einzelne Individuum unendlich wichtig nehmen—anders als die Natur, die grausam und spielend verfährt. Wenn wir besser und edler sind, so haben es die isolirenden Illusionen gemacht!

Dem stellt nun die Naturwissenschaft die absolute Naturwahrheit entgegen: die höhere Physiologie wird freilich die künstlerischen Kräfte schon in unserem Werden begreifen, ja nicht nur in dem des Menschen, sondern des Thieres: sie wird sagen, daß mit dem Organischen auch das Künstlerische beginnt.

19 [51]

Die Konsequenzen der Kantischen Lehre. Ende der Metaphysik als Wissenschaft.
Die barbarisirende Einwirkung des Wissens.
Die Bändigung des Wissens als Trieb der Kunst.
Wir leben nur durch diese Illusionen der Kunst.
Jede höhere Kultur ist es durch diese Bändigung.
Die philosophischen Systeme der älteren Griechen.
Es offenbart sich dieselbe Welt, die die Tragödie schuf.
Hier begreifen wir die Einheit der Philosophie und der Kunst zum Zweck der Kultur.
Der ästhetische Begriff des Großen und Erhabenen: dazu zu erziehn die Aufgabe. Die Kultur abhängig von der Art, wie man “das Große” definirt.

19 [52]

Das absolute Wissen führt zum Pessimismus: die Kunst ist das Heilmittel dagegen.

Die Philosophie ist zur Bildung unentbehrlich, weil sie das Wissen in eine künstlerische Weltconception hineinzieht und dadurch veredelt.

19 [53]

Die Sorge, daß das ewige Werk der Menschheit nicht vorenthalten werde und nicht zu Grunde gehe, bestimmte Schopenhauer durchaus: er kannte das Schicksal Heraklits, und seine erste Auflage wurde eingestampft! Er hatte die Vorsorge eines Vaters: alle die unangenehmen Züge seines Wesens, sein Umgang mit Litteraten wie Frauenstädt ist hierher zu erklären. Die Ruhmsucht ist hier ein vorsorglicher Instinkt zu Gunsten der Menschheit: er kannte den Lauf der Welt.

Man kann sich gewiß noch eine größere Erhabenheit über die Menschheit denken: dann hätte er aber nicht geschrieben! Er sehnte sich nach dem Weiterzeugen im Schönen!

19 [54]

Die chemischen Verwandlungen in der unorganischen Natur sind vielleicht auch künstlerische Prozesse, mimische Rollen zu nennen, die eine Kraft spielt: es giebt aber mehrere! die sie spielen kann.

19 [55]

Denen, welche nur eine gelehrte Befriedigung dabei empfinden wollen, habe ich es nicht leicht gemacht, weil ich auf sie zuletzt gar nicht rechnete. Die Citate fehlen.

19 [56]

Mit dem Eigenthum weiser Sprüche nahm es das Zeitalter der sieben Weisen nicht genau, aber sehr wichtig, wenn erst Jemand einen Spruch annektirte.

19 [57]

Die Chronologie der griechischen Philosophen.
Rhythmus.
Choephoren.

19 [58]

Die Philologen dieser Zeit haben sich als unwürdig erwiesen, mich und mein Buch zu sich rechnen zu dürfen: es bedarf kaum der Versicherung, daß auch in diesem Falle ich es ihnen anheim gebe, ob sie etwas lernen wollen oder nicht, fühle mich aber nicht geneigt, ihnen irgendwie entgegenzukommen.

Das was sich jetzt “Philologie” nennt und was ich mit Absicht nur neutral bezeichne, möge auch diesmal mein Buch übersehen: denn es ist männlicher Natur und taugt nicht für Castraten. Denen geziemt vielmehr am Conjekturenwebstuhl zu sitzen.

19 [59]

Über die )4"*@P"\ und ihren Ursprung (in der Geschichte der älteren Philosophen).

Apollodor bekämpft sie: wer hat sie aufgestellt?

19 [60]

Die Entstehung philosophischer Secten im griechischen Alterthum.

Aus der tiefsten Umwandlung des hellenischen Geistes.

Anfang mit den Pythagoreern, von denen lernt es Plato.

Die Akademie giebt den Typus an. Es sind Oppositionsanstalten gegen das hellenische Leben.

Die früheren Philosophen sind Isolirungen einzelner Triebe des hellenischen Wesens.

Wir erleben den Übergang des philosophischen Sektengeistes in das Kulturbewußtsein, Übergang der Philosophie in die Kultur. Dort Scheidung der Philosophie und der Kultur.

Die Oberflächlichkeit aller nachsokratischen Ethik! Die tiefe hellenische ältere Ethik hat sich nicht In Worten und Begriffen darstellen lassen.

19 [61]

Heraklit in seinem Hasse gegen das Dionysische Element, auch gegen Pythagoras, auch gegen das viele Wissen. Er ist ein apollinisches Produkt und redet Orakel, deren Wesen man sich und ihm deuten muß. Er empfindet das Leiden nicht, aber die Dummheit.

19 [62]

Große Verlegenheit, ob de Philosophie eine Kunst oder eine Wissenschaft ist.

Es ist eine Kunst in ihren Zwecken und in ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstellung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein. Es ist eine Form der Dichtkunst.— Sie ist nicht unterzubringen: deshalb müssen wir eine Species erfinden und charakterisiren.

Die Naturbeschreibung des Philosophen. Er erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt.

Er wächst nicht, ich meine, die Philosophie nimmt nicht den Verlauf, wie die andern Wissenschaften: wenn auch irgend welche Gebiete des Philosophen allmählich in die Hände der Wissenschaft übergehen. Heraklit kann nie veralten. Es ist die Dichtung außer den Grenzen der Erfahrung, Fortsetzung des mythischen Triebes—auch wesentlich in Bildern. Die mathematische Darstellung gehört nicht zum Wesen des Philosophen.

Überwindung des Wissens durch mythenbildende Kräfte. Kant merkwürdig—Wissen und Glauben! Innerste Verwandtschaft der Philosophen und der Religionsstifter!

19 [63]

Sonderbares Problem: das sich Verzehren der philosophischen Systeme! Unerhört für die Wissenschaft wie für die Kunst! Ähnlich steht es mit den Religionen: das ist merkwürdig und bezeichnend.

19 [64]

Die Illusion nöthig für das empfindende Wesen, um zu leben.

Die Illusion nöthig, um in der Kultur fortzuschreiten.

Was will der unersättliche Erkenntnißtrieb?

— Jedenfalls ist er kulturfeindlich.

Die Philosophie sucht ihn zu bändigen; ist ein Mittel der Kultur.

Die älteren Philosophen.

19 [65]

Durchaus unpersönlich und kalt zu schreiben. Kein “ich” und “wir.”

19 [66]

Unser Verstand ist eine Flächenkraft, ist oberflächlich. Das nennt man auch “subjektiv.” Er erkennt durch Begriffe: das heißt unser Denken ist ein Rubriziren, ein Benamsen. Also etwas, was auf eine Willkür des Menschen hinausläuft und nicht das Ding selbst trifft. Nur rechnen[d] und nur in den Formen des Raumes hat der Mensch absolute Erkenntniß d. h. die letzte Grenze alles Erkennbaren sind Quantitäten, er versteht keine Qualität, sondern nur eine Quantität.

Was kann der Zweck einer solchen Flächenkraft sein?

Dem Begriff entspricht zuerst das Bild, Bilder sind Urdenken d. h. die Oberflächen der Dinge im Spiegel des Auges zusammengefaßt.

Das Bild ist das eine, das Rechenexempel das andre.

Bilder in menschlichen Augen! Das beherrscht alles menschliche Wesen: vom Auge aus! Subjekt! das Ohr hört den Klang! Eine ganz andere wunderbare Conception derselben Welt.

Auf der Ungenauigkeit des Sehens beruht die Kunst. Auch beim Ohr Ungenauigkeit in Rhythmus, Temperatur usw. darauf beruht wiederum die Kunst.

19 [67]

Es ist eine Kraft in uns, die die großen Züge des Spiegelbildes intensiver wahrnehmen läßt, und wieder eine Kraft, die den gleichen Rhythmus auch über die wirkliche Ungenauigkeit hinweg betont. Dies muß eine Kunstkraft sein. Denn sie schafft. Ihr Hauptmittel ist weglassen und übersehen und überhören. Also antiwissenschaftlich: denn sie hat nicht für alles Wahrgenommene ein gleiches Interesse.

Das Wort enthält nur ein Bild, daraus der Begriff. Das Denken rechnet also mit künstlerischen Größen.

Alles Rubriziren ist ein Versuch zum Bilde zu kommen.

Zu jedem wahren Sein verhalten wir uns oberflächlich, wir reden die Sprache des Symbols, des Bildes: sodann thun wir etwas hinzu, mit künstlerischer Kraft, indem wir die Hauptzüge verstärken, die Nebenzüge vergessen.

19 [68]

Apologie der Kunst.

Thales längst vorbei—aber ein Bildner, am Wasserfall stehend, wird ihm doch noch Recht geben.

19 [69]

Unser öffentliches staatliches und sociales Leben läuft auf ein Gleichgewicht der Egoismen hinaus: Lösung der Frage, wie man ein leidliches Dasein, ohne jede Liebeskraft, rein aus der Klugheit der betheiligten Egoismen erziele.

Diese Zeit hat einen Haß auf die Kunst, wie auf die Religion. Sie will weder eine Abfindung durch einen Hinweis auf das Jenseits, noch durch einen Hinweis auf die Verklärung der Kunstwelt. Sie hält das für unnütze “Poesie,” Spaß usw. Unsre “Dichter” entsprechen. Aber die Kunst als furchtbarer Ernst! Die neue Metaphysik als furchtbarer Ernst! Wir wollen euch die Welt noch so umstellen mit Bildern, daß euch schaudert. Das aber steht in unserer Hand! Verstopft euch die Ohren, eure Augen werden unseren Mythus sehen. Unsere Flüche werden euch treffen!

Die Wissenschaft muß ihre Utilität jetzt zeigen! Sie ist zur Ernährerin geworden, im Dienste des Egoismus: der Staat und die Gesellschaft haben sie in ihren Frohndienst genommen, um sie auszubeuten zu ihren Zwecken.

Der normale Zustand ist der Krieg: wir schließen Frieden nur auf bestimmte Zeiten.

19 [70]

Es ist mir nöthig zu wissen, wie die Griechen zur Zeit ihrer Kunst philosophirt haben. Die sokratischen Schulen saßen inmitten eines Meeres der Schönheit—was merkt man davon bei ihnen? Ungeheurer Aufwand wird für die Kunst gemacht. Die Sokratiker haben entweder ein feindseliges oder theoretisches Verhalten dazu.

Dagegen waltet in den älteren Philosophen zum Theil ein ähnlicher Trieb, wie der, welcher die Tragödie schuf.

19 [71]

Der Begriff des Philosophen und die Typen.— Was ist allen gemeinsam?

Er ist entweder seiner Kultur entsprungen oder ihr feindlich.

Er ist beschaulich wie der bildende Künstler, mitempfindend wie der Religiöse, causal wie der Mann der Wissenschaft: er sucht alle Töne der Welt in sich nachklingen zu lassen und diesen Gesammtklang aus sich heraus zu stellen in Begriffen. Das Aufschwellen zum Makrokosmos und dabei besonnenes Betrachten—wie der Schauspieler oder der dramatische Dichter, der sich verwandelt und dabei die Besonnenheit behält, nach außen sich zu projiciren.

Das dialektische Denken als Sturzbad darüber gegossen.

Merkwürdig Plato: Enthusiast der Dialektik d. h. jener Besonnenheit.

19 [72]

Die Philosophen. Naturbeschreibung des Philosophen.

Der Philosoph neben dem wissenschaftlichen Menschen und dem Künstler.

Bändigung des Erkenntnißtriebes durch die Kunst,
des religiösen Einheitstriebes durch den Begriff.

Sonderbar das Nebeneinander von Conception und Abstraktion.

Bedeutung für die Kultur.

Die Metaphysik als Vacuum.

19 [73]

Der Philosoph der Zukunft? er muß das Obertribunal einer künstlerischen Kultur werden, gleichsam die Sicherheitsbehörde gegen alle Ausschreitungen.

19 [74]

Wir werden doch nicht alles Rubriziren, alle Allgemeinbegriffe als “philosophisch” bezeichnen. Ebensowenig alles Unbewußte und Intuitive: auch selbst bei der philologischen Conjektur giebt es ein Erzeugen, das nicht ganz in bewußtes Denken aufzulösen ist.

19 [75]

Das philosophische Denken ist mitten in allem wissenschaftlichen Denken zu spüren: selbst bei der Conjektur. Es springt voraus auf leichten Stützen: schwerfällig keucht der Verstand hinter drein und sucht bessere Stützen, nachdem ihm das lockende Zauberbild erschienen ist. Ein unendlich rasches Durchfliegen großer Räume! Ist es nur die größere Schnelligkeit? Nein. Es ist Flügelschlag der Phantasie, d. h. ein Weiterspringen von Möglichkeit zu Möglichkeit, die einstweilen als Sicherheiten genommen werden. Hier und da von Möglichkeit zu einer Sicherheit und wieder zu einer Möglichkeit.—

Was ist aber eine solche “Möglichkeit”? Ein Einfall z. B. “es könnte vielleicht.” Aber wie kommt der Einfall? Mitunter zufällig äußerlich: ein Vergleichen, das Entdecken irgend einer Analogie findet statt. Nun tritt eine Erweiterung ein. Die Phantasie besteht im schnellen Ähnlichkeiten-schauen. Die Reflexion mißt nachher Begriff an Begriff und prüft. Die Ähnlichkeit soll ersetzt werden durch Causalität.

Ist denn nun “wissenschaftliches” Denken und “philosophisches” nur durch die Dosis verschieden? Oder vielleicht durch die Gebiete?

19 [76]

Es giebt keine aparte Philosophie, getrennt von der Wissenschaft: dort wie hier wird gleich gedacht. Daß ein unbeweisbares Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als meistens ein wissenschaftlicher  Satz,  hat  seinen  Grund  in  dem  aesthetischen  Werthe  eines  solchen Philosophirens, d. h. durch Schönheit und Erhabenheit. Es ist als Kunstwerk noch vorhanden, wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen kann. Ist das aber bei wissenschaftlichen Dingen nicht ebenso? —

Mit anderen Worten: es entscheidet nicht der reine Erkenntnißtrieb, sondern der aesthetische : die wenig erwiesene Philosophie des Heraklit hat einen größeren Kunstwerth als alle Sätze des Aristoteles.

Der Erkenntnißtrieb wird also gebändigt durch die Phantasie in der Kultur eines Volkes. Dabei ist der Philosoph vom höchsten Wahrheitspathos erfüllt: der Werth seiner Erkenntniß verbürgt ihm ihre Wahrheit. Alle Fruchtbarkeit, und alle treibende Kraft liegt in diesen vorausgeworfnen Blicken.

19 [77]

Die Phantasieerzeugung kann man im Auge beobachten. Ähnlichkeit führt zur kecksten Fortbildung: aber auch ganz andre Verhältnisse, Contrast den Contrast, und unaufhörlich. Hier sieht man die außerordentliche Produktivität des Intellekts. Es ist ein Bilderleben.

19 [78]

Man muß beim Denken schon haben, was man sucht, durch Phantasie—dann erst kann die Reflexion es beurtheilen. Dies thut sie, indem sie es an gewöhnlichen und häufig erprobten Ketten mißt.

Was ist eigentlich “logisch” beim Bilderdenken? —

Der nüchterne Mensch braucht die Phantasie wenig und hat sie wenig.

Es ist jedenfalls etwas Künstlerisches, dieses Erzeugen von Formen, bei denen dann der Erinnerung etwas einfällt: diese Form hebt sie heraus und verstärkt sie dadurch. Denken ist ein Herausheben.

Es ist viel mehr von Bilderreihen im Gehirn, als zum Denken verbraucht wird: der Intellekt wählt schnell ähnliche Bilder: das Gewählte erzeugt wieder eine ganze Fülle von Bildern: schnell aber wählt er wieder eines davon usw.

Das bewußte Denken ist nur ein Herauswählen von Vorstellungen. Es ist ein langer Weg bis zur Abstraktion.

1) Die Kraft, die die Bilderfülle erzeugt 2) die Kraft, welche das Ähnliche auswählt und betont.

Fieberkranke an Wänden und Tapeten verfahren so, nur projiciren die Gesunden die Tapete mit.

19 [79]

Es ist zwiefach eine künstlerische Kraft da, die bildererzeugende und die auswählende.

Die Traumeswelt beweist die Richtigkeit: der Mensch geht hier nicht bis zur Abstraktion weiter, oder: er wird nicht von den Bildern, die durch’s Auge einströmen, geleitet und modificirt.

Sieht man jene Kraft näher an, so ist hier auch kein künstlerisches ganz freies Erfinden: das wäre etwas Willkürliches, also Unmögliches. Sondern die feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die Chladni’schen Klangfiguren zu dem Klang selbst: so diese Bilder zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit. [Ernst Friedrich Chladni (1756-1827).] Das allerzarteste sich Schwingen und Zittern! Der künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die unendliche Thätigkeit nicht.

Einen künstlerischen Vorgang ohne Gehirn zu denken ist eine starke Anthropopathie: aber ebenso steht es mit dem Willen, der Moral usw.

Das Begehren ist doch nur eine physiologische Ubertät, die sich entladen möchte, und einen Druck bis zum Gehirn ausübt.

19 [80]

Resultat: es kommt nur auf die Grade und Quantitäten an: alle Menschen sind künstlerisch philosophisch wissenschaftlich usw.

Unsre Werthschätzung bezieht sich auf Quantitäten, nicht auf Qualitäten. Wir verehren das Große. Das ist freilich auch das Unnormale.

Denn die Verehrung der großartigen Wirkungen des Kleinen ist nur ein Staunen vor dem Resultat und dem Mißverhältniß der kleinsten Ursache. Nur indem wir sehr viele Wirkungen zusammenaddiren und als Einheit anschauen, haben wir den Eindruck der Größe: d. h. wir erzeugen, durch diese Einheit, die Größe.

Die Menschheit wächst aber nur durch die Verehrung des Seltnen Großen. Selbst das als Selten Groß Gewähnte, z. B. das Wunder, übt diese Wirkung. Das Erschrecken ist der Menschheit bestes Theil.

19 [81]

Das Träumen als die auswählende Fortsetzung der Augenbilder.

Im Reiche des Intellekts ist alles Qualitative nur ein Quantitatives. Zu den Qualitäten führt uns der Begriff, das Wort.

19 [82]

Vielleicht kann der Mensch nichts vergessen. Die Operation des Sehens und des Erkennens ist viel zu complicirt, als daß es möglich wäre, sie völlig wieder zu verwischen, d. h. alle Formen, die einmal vom Gehirn und Nervensystem erzeugt sind, wiederholt es von jetzt ab so oft. Eine gleiche Nerventhätigkeit erzeugt das gleiche Bild wieder.

19 [83]

Das philosophische Denken ist spezifisch gleichartig mit dem wissenschaftlichen, aber bezieht sich auf große Dinge und Angelegenheiten. Der Begriff der Größe ist aber ein wandelbarer, theils ästhetisch, theils moralisch. Es ist eine Bändigung des Erkenntnißtriebes. Darin liegt die Kulturbedeutung.

Wenn aber die Metaphysik beseitigt ist, dann wird allmählich der Menschheit manches Andere wieder groß erscheinen. Ich meine, die Philosophen werden andere Gebiete bevorzugen: und hoffentlich die, wo sie auf die neue Kultur heilsam einwirken.

Es ist eine Gesetzgebung der Größe, ein “Namengeben” mit der Philosophie verbunden: “das ist groß” sagt er und dadurch erhebt er den Menschen. Es beginnt mit der Gesetzgebung der Moral: “das ist groß,” Standpunkt der sieben Weisen, den die Römer in guter Zeit nie verlassen haben.

19 [84]

Das eigentliche Material alles Erkennens sind die allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen: auf jener Fläche, in die die Nerventhätigkeit in Lust und Schmerz Formen hinzeichnet, ist das eigentliche Geheimniß: das, was Empfindung ist, projicirt zugleich Formen, die dann wieder neue Empfindungen erzeugen.

Es ist das Wesen der Lust- und Unlustempfindung, sich in adäquaten Bewegungen auszudrücken: dadurch daß diese adäquaten Bewegungen wieder andere Nerven zur Empfindung veranlassen, entsteht die Empfindung des Bildes.

19 [85]

Weisheit und Wissenschaft.
Über die Philosophen.

Arthur Schopenhauer dem Unsterblichen geweiht.

19 [86]

n@h\" und ¦B4FJZ:0. n@h\" enthält das Wählende in sich, das Geschmackhabende: während sich die Wissenschaft ohne solchen Feingeschmack auf alles Wissenswürdige stürzt.

19 [87]

Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus Recht: das kräftigere Bild verzehrt die geringeren.

19 [88]

“Im lieben niederträchtigen Deutschland!”

19 [89]

Was ist der Philosoph? Zu beantworten an den alten Griechen?
Thales. Mytholog und Philosoph.
Anaximander. Tragische Weltbetrachtung. Tragödie.
Heraclit. Illusion. Künstlerisches im Philosophen. Kunst.
Pythagoras. Mystik und Philosophie. Religion.
Anaxagoras. Zwecke. Geist und Materie.
Parmenides. Zeno. Das Logische. Logik.
Empedocles. Liebe Haß. Recht und Liebesmoral. Moral.
Democrit. Zahl und Maß, Aussicht aller Physik. Naturphilosophie.
Pythagoreer. Das Sektenwesen.
Socrates. Der Philosoph und die Kultur. Cultur.

Entstehung der Philosophen und—das Philosophentribunal für die Kultur der Zukunft.

19 [90]

Ob das Denken mit Lust oder Unlust vor sich geht, ist ganz wesentlich: wem es rechte Beschwerde macht, der ist eben weniger dazu angelegt und wird wohl auch weniger weit kommen: er zwingt sich und in diesem Bereich ist es nichts nütze.

19 [91]

Alle Naturwissenschaft ist nur ein Versuch, den Menschen, das Anthropologische zu verstehen: noch richtiger, auf den ungeheuersten Umwegen immer zum Menschen zurückzukommen. Das Aufschwellen des Menschen zum Makrokosmos, um am Ende zu sagen “du bist am Ende, was du bist.” [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:225.]

19 [92]

Mitunter erweist sich das durch Sprünge erreichte Resultat sofort als wahr und fruchtbar, von seinen Consequenzen aus.

Wird ein genialer Forscher von einer richtigen Ahnung geleitet? Ja, er sieht eben Möglichkeiten, ohne zureichende Stützen: daß er aber so etwas für möglich hält, zeigt seine Genialität. Er überschlägt sehr schnell das ungefähr für ihn Beweisbare.

Der Mißbrauch der Erkenntniß im ewigen Wiederholen von Experimenten und von Materialsammeln, während der Schluß sich schon aus wenigen ergiebt. Auch in der Philologie ist es so: die Vollständigkeit des Materials ist in vielen Fällen etwas Unnützes. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:428.]

19 [93]

Auch das Moralische hat keine andere Quelle als den Intellekt, aber die verbindende Bilderkette wirkt hier anders als bei dem Künstler und Denker: sie reizt zur That. Ganz gewiß ist das Empfinden des Ähnlichen, das Identificiren nothwendige Voraussetzung. Sodann Erinnerung an eignen Schmerz. Gut sein hieße also: sehr leicht identificiren und sehr schnell. Es ist also eine Verwandlung, ähnlich wie bei dem Schauspieler.

Alle Rechtschaffenheit und alles Recht dagegen kommt aus einem Gleichgewicht der Egoismen: gegenseitige Anerkennung sich nicht zu schädigen. Also aus Klugheit. In der Form von festen Grundsätzen sieht es dann wieder anders aus: als Charakterfestigkeit. Liebe und Recht Gegensätze: Kulminationspunkt Aufopfern für die Welt.

Das Vorausnehmen von möglichen Unlustempfindungen bestimmt die Handlung des rechtlichen Menschen: er kennt empirisch die Folgen der Verletzung des Nächsten: aber auch der Verletzung seiner selbst.

Dagegen ist die christliche Ethik der Gegensatz: sie beruht auf dem Identificiren seiner selbst mit dem Nächsten, anderen wohlthun ist hier ein Sich-selbst-wohlthun, mit anderen leiden ist hier gleich dem eignen Leid. Liebe ist mit einer Begierde zur Einheit verbunden. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:362ff.]

19 [94]

Es genügte ein ehrliches Wort des edlen Zöllner, um in unserer gelehrten Pöbel-Republik fast einstimmig verfehmt zu werden. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:XIII.]

19 [95]

Ich nehme in diesem Buche auf die gegenwärtigen Gelehrten keine Rücksicht und errege dadurch den Schein, als ob ich sie den gleichgültigen Dingen zurechne. Will man aber ruhig über ernste Dinge nachdenken, so muß man nicht durch ekelhaften Anblick gestört werden. Jetzt wende ich meine Augen mit Widerstreben auf sie, um ihnen zu sagen, daß sie mir nicht gleichgültig sind, daß ich aber wünschen möchte, sie wären’s mir.

19 [96]

Es war ein großer Mathematiker, mit dem die Philosophie in Griechenland anhebt. Dorther stammt sein Gefühl für das Abstrakte, Unmythische. Bei einer antimythischen Gesinnung gilt er doch als der “Weise” in Delphi:—Orphiker zeigen den abstrakten Gedanken in Allegorie.

Die Griechen übernehmen die Wissenschaft von den Orientalen. Die Mathematik und Astronomie ist älter als die Philosophie.

19 [97]

Die Wahrheit fordert der Mensch und leistet sie im moralischen Verkehr mit Menschen, darauf beruht alles Zusammenleben. Man anticipirt die schlimmen Folgen gegenseitiger Lügen. Von hier aus entsteht die Pflicht der Wahrheit. Dem epischen Erzähler gestattet man die Lüge, weil hier keine schädliche Wirkung zu ersehen ist.— Also wo die Lüge als angenehm gilt, ist sie erlaubt: die Schönheit und Anmuth der Lüge, vorausgesetzt daß sie nicht schadet. So erfindet der Priester Mythen seiner Götter: sie rechtfertigt ihre Erhabenheit. Außerordentlich schwer, das mythische Gefühl der freien Lüge wieder sich lebendig zu machen. Die großen griechischen Philosophen leben noch ganz in dieser Berechtigung zur Lüge.

Wo man nichts Wahres wissen kann, ist die Lüge erlaubt.

Jeder Mensch läßt sich Nachts im Traume fortwährend belügen.

Das Wahrheitsstreben ist ein unendlich langsamer Erwerb der Menschheit. Unser historisches Gefühl etwas ganz Neues in der Welt. Es wäre möglich, daß es die Kunst ganz unterdrückte.

Das Aussprechen der Wahrheit um jeden Preis ist sokratisch.

19 [98]

Der Philosoph.

Betrachtungen über den Kampf von Kunst und Erkenntniss

19 [99]

Die “Gelehrten-Ochlokratie” statt Gelehrten-Republik. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:XIII.]

19 [100]

Sehr lehrreich, wenn Heraclit seine Sprache mit Apollo und Sibylle vergleicht. [Vgl. Heraclit, Fragment 92.]

19 [101]

Die Sinne machen uns etwas vor.

19 [102]

Wahrheit und Lüge physiologisch. Wahrheit als Moralgesetz—zwei Quellen der Moral. Das Wesen der Wahrheit nach den Wirkungen beurtheilt.

Die Wirkungen verführen zur Annahme von unbewiesenen “Wahrheiten.”

Im Kampf solcher durch die Kraft lebenden “Wahrheiten” zeigt sich das Bedürfniß, einen andern Weg zu ihnen zu finden. Entweder von dort alles erklärend, oder von den Exempeln, Erscheinungen zu ihr hinaufsteigend.

Wunderbare Erfindung der Logik.

Allmähliches Überwiegen der logischen Kräfte und Beschränkung des Wissens möglichen.

Fortwährende Reaktion der künstlerischen Kräfte und Beschränkung auf das Wissens würdige (nach der Wirkung beurtheilt).

19 [103]

Kampf im Philosophen.

Sein universaler Trieb zwingt ihn zum schlechten Denken das ungeheure Pathos der Wahrheit, am Weitblick seines Standpunktes erzeugt, zwingt ihn zur Mittheilung und diese wieder zur Logik.

Auf der einen Seite erzeugt sich eine optimistische Metaphysik der Logik—allmählich alles vergiftend und belügend. Die Logik, als Alleinherrscherin, führt zur Lüge: denn sie ist nicht die Alleinherrscherin.

Das andre Wahrheitsgefühl stammt aus der Liebe, Beweis der Kraft.

Das Aussprechen der beseligenden Wahrheit aus Liebe: bezieht sich auf Erkenntnisse des Einzelnen, die er nicht mittheilen muß, aber deren überquellende Beseligung ihn zwingt.

19 [104]

Ganz wahrhaftig zu sein—herrliche heroische Lust des Menschen, in einer lügenhaften Natur! Aber nur sehr relativ möglich! Das ist tragisch. Das ist das tragische Problem Kants! Jetzt bekommt die Kunst eine ganz neue Würde. Die Wissenschaften dagegen sind einen Grad degradirt.

19 [105]

Wahrhaftigkeit der Kunst : sie ist allein jetzt ehrlich.

So kommen, wir, auf ungeheurem Umweg, wieder auf das natürliche Verhalten (bei den Griechen) zurück. Es hat sich unmöglich erwiesen, eine Kultur auf das Wissen zu bauen.

19 [106]

Kämpfen für eine Wahrheit und Kämpfen um die Wahrheit ist etwas ganz Verschiedenes.

19 [107]

Die unbewußten Schlüsse erregen mein Bedenken: es wird wohl jenes Übergehn von Bild zu Bild sein: das letzterreichte Bild wirkt dann als Reiz und Motiv.

Das unbewußte Denken muß sich ohne Begriffe vollziehn: also in Anschauungen.

Dies ist aber das Schlußverfahren des beschaulichen Philosophen und des Künstlers. Er thut dasselbe, was Jeder in physiologischen persönlichen Antrieben thut, übertragen auf eine unpersönliche Welt.

Dieses Bilderdenken ist nicht von vorn herein streng logischer Natur, aber doch mehr oder weniger logisch. Der Philosoph bemüht sich dann, an Stelle des Bilderdenkens ein Begriffsdenken zu setzen. Die Instinkte scheinen auch ein solches Bilderdenken zu sein, das zuletzt zum Reiz und Motiv wird. [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872, besonders "Zur Geschichte und Theorie der unbewussten Schlüsse" und "Die Theorie der unbewussten Schlüsse in Ihrer Anwendung auf die Gesichtswahrnehmungen": 342-425.]

19 [108]

Wie stark die ethische Kraft der Stoiker war, zeigt sich darin, daß sie ihr Princip zu Gunsten der Willensfreiheit durchbrechen.

19 [109]

Zur Theorie der Moral: in der Politik anticipirt oft der Staatsmann das Thun seines Gegners und thut die That vorher: “wenn ich sie nicht thue, thut er sie.” Eine Art Nothwehr als politischer Grundsatz. Standpunkt des Kriegs.

19 [110]

Die alten Griechen ohne normative Theologie: jeder hat das Recht daran zu dichten und er kann glauben was er will.

Die ungeheure Masse philosophischen Denkens bei den Griechen (mit der Fortsetzung als Theologie durch alle Jahrhunderte).

Die großen logischen Kräfte erweisen sich z. B. im Ordnen der Kultsphären der einzelnen Städte.

19 [111]

Die Orphiker unplastisch in ihren Phantasmen, grenzen an die Allegorie.

Logische — — —

19 [112]

Die Götter der Stoiker bekümmern sich nur um das Große, vernachlässigen das Kleine und Einzelne.

19 [113]

Schopenhauer leugnet die Wirksamkeit der moralischen Philosophie auf die Moralitäten: wie der Künstler nicht nach Begriffen schaffe. Merkwürdig! Es ist wahr, jeder Mensch ist schon ein intelligibles Wesen (durch zahllose Generationen bedingt?). Aber das stärkere Erregen bestimmter Reizempfindungen durch Begriffe wirkt doch stärkend für diese moralischen Kräfte. Es bildet sich nichts Neues, aber es concentrirt sich nach einer Seite hin die schaffende Energie. Z. B. der kategorische Imperativ hat die uneigennützige Tugendempfindung sehr bestärkt.

Wir sehen auch hier, daß der einzelne hervorragende moralische Mensch einen Zauber der Nachahmung ausübt. Diesen Zauber soll der Philosoph verbreiten. Was für die höchsten Exemplare Gesetz ist, muß allmählich überhaupt als Gesetz gelten: wenn auch nur als Schranke der Anderen.

19 [114]

Die Stoiker haben Heraklit in’s Flache umgedeutet und mißverstanden. Auch die Epikureer haben in die strengen Principien des Democrit Weichliches eingeschwärzt (Möglichkeiten).

Die höchste Gesetzmäßigkeit der Welt, aber doch kein Optimismus bei Heraclit.

19 [115]

Der Prozeß aller Religion und Philosophie und Wissenschaft gegenüber der Welt: er beginnt mit den gröbsten Anthropomorphismen und hört nie auf sich zu verfeinern.

Der einzelne Mensch betrachtet sogar das Sternensystem als ihm dienend oder mit ihm im Zusammenhang.

Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze Natur in Griechen aufgelöst. Sie sahen gleichsam die Natur nur als Maskerade und Verkleidung von Menschen-Göttern an. Sie waren darin das Gegenstück aller Realisten. Der Gegensatz von Wahrheit und Erscheinung war tief in ihnen. Die Metamorphosen sind das Spezifische.

Dies drückte Thales in seinem Satz aus: daß alles Wasser sei.

19 [116]

Bezieht sich die Intuition auf die Gattungsbegriffe oder auf die vollendeten Typen? Aber der Gattungsbegriff bleibt immer weit hinter einem guten Exemplar zurück, der Vollkommenheitstypus geht über die Wirklichkeit hinaus.

Ethische Anthropomorphismen: Anaximander: Gericht.
Heraklit: Gesetz.
Empedokles: Liebe und Haß.
Logische Anthropomorphismen: Parmenides: nur Sein.
Anaxagoras: <@Øl.
Pythagoras: alles Zahl.

19 [117]

Die Weltgeschichte ist am Kürzesten, wenn man sie nach den bedeutenden philosophischen Erkenntnissen bemißt und die ihnen feindlichen Zeiträume bei Seite läßt. Wir sehen da eine Regsamkeit und schöpferische Kraft, wie nirgends, bei den Griechen: sie füllen den größten Zeitraum aus, sie haben wirklich alle Typen erzeugt.

Es sind die Entdecker der Logik.

Hat nicht die Sprache schon die Befähigung des Menschen zur Erzeugung der Logik verrathen?

Gewiß, es ist die bewunderungswürdigste logische Operation und Distinktion. Aber sie ist nicht auf einmal geworden, sondern endlos langer Zeiträume logisches Ergebniß. Hier ist an die Entstehung der Instinkte zu denken: ganz allmählich erwachsen.

Die geistige Thätigkeit von Jahrtausenden in der Sprache niedergelegt.

19 [118]

Der Mensch kommt erst ganz langsam dahinter, wie unendlich complicirt die Welt ist. Zuerst denkt er sie sich ganz einfach, d. h. so oberflächlich als er selbst ist.

Er geht von sich aus, von dem allerspätesten Resultat der Natur, und denkt sich die Kräfte, die Urkräfte so, wie das ist, was in sein Bewußtsein kommt.

Er nimmt die Wirkungen der complicirtesten Mechanismen, des Gehirns, an, als seien die Wirkungen seit Uranfang gleicher Art. Weil dieser complicirte Mechanismus etwas Verständiges in kurzer Zeit hervorbringt, nimmt er das Dasein der Welt für sehr jung: es kann dem Schöpfer nicht so viel Zeit gekostet haben, meint er.

So glaubt er mit dem Wort “Instinkt” irgendetwas erklärt und er überträgt wohl gar die unbewußten Zweckhandlungen auf das Urwerden der Dinge.

Zeit Raum und Kausalitätsempfindung scheint mit der ersten Empfindung gegeben zu sein.

Der Mensch kennt die Welt in dem Grade, als er sich kennt: d. h. ihre Tiefe entschleiert sich ihm in dem Grade, als er über sich und seine Komplicirtheit erstaunt.

19 [119]

Es muß durchaus zu zeigen sein, daß alles Vorhandene und Seiende irgendwann nicht war und deshalb auch irgendwann nicht sein wird. Das Werden Heraclits.

19 [120]

Die moralischen künstlerischen religiösen Bedürfnisse des Menschen der Welt zu Grunde zu legen ist ebenso rationell als die mechanischen: d. h. wir kennen weder den Stoß, noch die Schwere.(?)

19 [121]

Wir kennen nicht das wahre Wesen einer einzigen Kausalität.

Absolute Skepsis: Nothwendigkeit der Kunst und Illusion.

19 [122]

Die Schwere vielleicht aus dem bewegten Aether zu erklären, der um ein ungeheures Gestirn, mit dem gesammten Sonnensystem rotirt.

19 [123]

Zu erweisen ist weder die metaphysische, noch die ethische, noch die aesthetische Bedeutung des Daseins.

19 [124]

Die Ordnung in der Welt, das mühsamste und langsamste Resultat entsetzlicher Evolutionen als Wesen der Welt begriffen—Heraklit!

19 [125]

Es ist zu beweisen, daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind: ja alle Wissenschaften, wenn Kant Recht hat. Freilich giebt es hier einen Cirkelschluß—haben die Wissenschaften Recht, so stehen wir nicht auf Kant’s Grundlage: hat Kant Recht, so haben die Wissenschaften Unrecht.

Gegen Kant ist dann immer noch einzuwenden, daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt, daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Persönlich ist übrigens diese ganze Position unbrauchbar. In dieser Skepsis kann niemand leben.

Wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen! Wie viel müssen wir nicht vergessen in dieser Welt! Kunst, die Idealgestalt, die Temperatur.

Nicht im Erkennen, im Schaffen liegt unser Hell! Im höchsten Scheine, in der edelsten Wallung liegt unsre Größe. Geht uns das Weltall nichts an, so wollen wir das Recht haben es zu verachten.

19 [126]

Furchtbare Einsamkeit des letzten Philosophen! Ihn umstarrt die Natur, Geier schweben über ihm. Und so ruft er in die Natur: Gieb Vergessen! Vergessen!— Nein, er erträgt das Leiden als Titan—bis die Versöhnung ihm geboten wird in der höchsten tragischen Kunst.

19 [127]

Den “Geist,” das Gehirnerzeugniß als übernatürlich zu betrachten! gar zu vergöttern, welche Tollheit!

19 [128]

Unter Millionen verderbender Welten ein Mal eine mögliche! Auch sie verdirbt! Sie war die erste nicht!

19 [129]

Vorplatonische Philosophen.Poetik.
Plato.Rhythmik.
Sokratische Schulen.Rhetorik.

19 [130]

Choephoren.Lateinische Grammatik.
Erga.Griechische Grammatik.
Lyriker.Rhetorik.
Theognis. 

19 [131]

Oedipus.
Reden
des letzten Philosophen
mit sich selbst.

Ein Fragment
aus der Geschichte der Nachwelt.

Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre.

Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt—der Mensch.— Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch Einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.

19 [132]

Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte. Alle unsre Verehrung bezieht sich auf Qualitäten, die wir für ewig halten: moralisch, künstlerisch, religiös usw.

Mit den Instinkten kommt man keinen Schritt weiter, um die Zweckmäßigkeit zu erklären. Denn eben diese Instinkte sind bereits das Erzeugniß endlos lang fortgesetzter Prozesse.

Der Wille objektivirt sich nicht adäquat, wie Schopenhauer sagt: so scheint es, wenn man von den vollendetsten Formen ausgeht.

Auch dieser Wille ist ein höchst complicirtes Letztes in der Natur. Nerven vorausgesetzt.

Und selbst die Schwerkraft: ist doch kein einfaches Phänomen, sondern wieder Wirkung von einer Sonnensystembewegung, von Aether usw.

Und der mechanische Stoß ist auch etwas Complicirtes.

Der Weltaether als Urstoff.

19 [133]

Alles Erkennen ist ein Wiederspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von vornherein nicht existiren. Die Natur kennt keine Gestalt, keine Größe, sondern nur für ein Erkennendes treten die Dinge so groß und so klein auf. Das Unendliche in der Natur: sie hat keine Grenze, nirgends. Nur für uns giebt es Endliches. Die Zeit in’s Unendliche theilbar.

19 [134]

Von Thales bis Sokrates—lauter Übertragungen des Menschen auf die Natur—ungeheure Schattenspiele des Menschen auf der Natur, wie auf Gebirgen!

Sokrates und Plato. Erkennen und Gut universal. Das Schöne in dem Anfang. Ideen des Künstlers.

Pythagoreer    die Zahl.
Demokrit    der Stoff.
Pythagoras    der Mensch nicht Produkt der Vergangenheit, sondern Wiederkehr. Einheit alles Lebendigen.
Empedokles    Thier und Pflanzenwelt moralisch verstanden, der universale Geschlechtstrieb und Haß. “Wille” universal.
Anaxagoras    Geist als uranfänglich.
Eleaten     
Heraclit    die bildende Kraft des Künstlers uranfänglich.
Anaximander    Gericht und Strafe universal.
Thales.     

Vorher die Götter und die Natur. Die Religionen sind nur unverhülltere Ausdrücke. Astrologie. Der Mensch als Zweck. “Weltgeschichte.”

Kant’s Ding an sich als Kategorie.

Der Philosoph ist die Fortsetzung des Triebes, mit dem wir fortwährend, durch anthropomorphische Illusionen, mit der Natur verkehren. Das Auge. Zeit.

19 [135]

Der Philosoph in den Netzen der Sprache eingefangen.

19 [136]

Ich will die ungeheure Entwicklung des einen Philosophen, der die Erkenntniß will, des Menschheits-Philosophen, schildern und nachempfinden.

Die meisten stehen so unter der Leitung des Triebes, daß sie gar nicht merken, was geschieht. Ich will es sagen und merken lassen, was geschieht.

Der eine Philosoph ist hier identisch mit allem Wissenschaftsstreben. Denn alle Wissenschaften ruhen nur auf dem allgemeinen Fundamente des Philosophen.

Die ungeheure Einheit in allen Erkenntnißtrieben nachzuweisen: der zerbrochene Gelehrte.

19 [137]

Aufgaben:
Die sogenannten Abstraktionen.
Formen als Oberflächen.

19 [138]

Apologie der Kunst.

Einleitung.

Nothlüge und die veracite du dieu des Descartes.

Plato gegen die Kunst.

1. Sprache und Begriff.
2. Formen als Oberflächen.
3. Pathos der Wahrheit.
4. — — —

19 [139]

Die Unendlichkeit ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären, woher das Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d. h. eine Täuschung.

Wie kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden wagen!

In der unendlichen Zeit und dem unendlichen Raume giebt es keine Ziele: was da ist, ist ewig da in irgend welchen Formen. Was für eine methaphysische Welt es geben soll, ist gar nicht abzusehn.

Ohne jede derartige Anlehnung muß die Menschheit stehen können—ungeheure Aufgabe der Künstler!

19 [140]

Zeit an sich ist Unsinn: nur für ein empfindendes Wesen giebt es Zeit. Ebenso Raum. [Vgl. Otto Liebmann, Über subjective, objective und absolute Zeit. In: Philosophische Monatshefte, VII. Berlin: Loewenstein, 1871-72:476.]

Alle Gestalt ist dem Subjekt zugehörig. Es ist das Erfassen der Oberflächen durch Spiegel. Alle Qualitäten müssen wir abziehn.

Wir können uns die Dinge nicht denken, wie sie sind, weil wir sie eben nicht denken dürften.

Es bleibt alles so, wie es ist: d. h. alle Qualitäten verrathen einen undefinirbaren absoluten Sachverhalt.— Das Verhältniß etwa wie die Chladnischen Klangfiguren zu den Schwingungen.

19 [141]

Alles Wissen entsteht durch Separation, Abgrenzung, Beschränkung; kein absolutes Wissen eines Ganzen!

19 [142]

Lust und Unlust als universale Empfindungen? Ich glaube nicht.

Aber wo treten die künstlerischen Kräfte auf? Gewiß im Krystall. Die Bildung der Gestalt: doch ist da nicht ein anschauendes Wesen vorauszusetzen? [Vgl. Johann Karl Friedrich Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig: Engelmann, 1872:320f.]

19 [143]

Die Musik als Supplement der Sprache: viele Reize, und ganze Reizzustände, die die Sprache nicht darstellen kann, giebt die Musik wieder.

19 [144]

Es giebt keine Form in der Natur, denn es giebt kein Inneres und kein Äußeres.

Alle Kunst beruht auf dem Spiegel des Auges.

19 [145]

Die menschliche Sinnenerkenntniß ist sicherlich auf Schönheit aus, sie verklärt die Welt. Was haschen wir nach einer anderen? Was wollen wir über unsere Sinne hinaus? Die rastlose Erkenntniß geht in’s Oede und Häßliche.— Zufriedensein mit der künstlerisch angeschauten Welt!

19 [146]

Sobald man das Ding an sich erkennen will, so ist es eben diese Welt—erkennen ist nur möglich, als ein Wiederspiegeln und Sichmessen an einem Maße (Empfindung).

Wir wissen, was die Welt ist: absolute und unbedingte Erkenntniß ist Erkennenwollen ohne Erkenntniß.

19 [147]

Die sogenannten unbewußten Schlüsse sind zurückzuführen auf das alles aufbewahrende Gedächtniß, das Erfahrungen paralleler Art darbietet und somit die Folgen einer Handlung schon kennt. Es ist nicht Anticipation der Wirkung, sondern das Gefühl: gleiche Ursachen gleiche Wirkungen, hervorgebracht durch ein Gedächtnißbild.

19 [148]

Gar zu leicht verwechseln wir Kants Ding an sich und das wahre Wesen der Dinge der Buddhisten: d. h. die Wirklichkeit zeigt ganz Schein oder eine der Wahrheit ganz adäquate Erscheinung.

Schein als Nichtsein und Erscheinung des Seienden werden mit einander verwechselt.

In das Vacuum setzen sich alle möglichen Superstitionen.

19 [149]

Der Gang der Philosophie: es werden zuerst Menschen als Urheber aller Dinge gedacht—allmählich erklärt man sich die Dinge nach Analogie einzelner menschlicher Eigenschaften—zuletzt langt man bei der Empfindung an. Große Frage: ist die Empfindung eine Urthatsache aller Materie?

Anziehung und Abstoßung?

19 [150]

Der historische Erkenntnißtrieb—sein Ziel den Menschen im Werden zu begreifen, auch hier das Wunder zu beseitigen.

Dieser Trieb entzieht dem Kulturtriebe die größte Kraft: das Erkennen ist rein luxuriirend, dadurch wird die gegenwärtige Kultur um nichts höher.

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