Lectures | Zwei öffentliche Vorträge über die griechische Tragödie | Das griechische Musikdrama | © The Nietzsche Channel |
COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel. Vortrag von Nietzsche im Basler Museum In unserem heutigen Theaterwesen sind nicht nur Erinnerungen und Anklänge an die dramatischen Künste Griechenlands aufzufinden: nein, seine Grundformen wurzeln auf hellenischem Boden, entweder in natürlichem Wachsthum oder in Folge einer künstlichen Entlehnung. Nur die Namen haben sich vielfach verändert und verschoben: ähnlich wie die mittelalterliche Tonkunst die griechischen Tonleitern wirklich noch besaß, auch mit den griechischen Namen, nur daß z.B. das, was die Griechen "Lokrisch" nannten, in den Kirchentönen als "Dorisch" bezeichnet wird. Ähnliche Verwirrungen begegnen uns auf dem Gebiet der dramatischen Terminologie: das, was der Athener als "Tragödie" verstand, werden wir allenfalls unter den Begriff der "großen Oper" bringen: wenigstens hat dies Voltaire in einem Brief an den Kardinal Quirini gethan. [Vgl. Voltaire, Dissertation sur la tragédie ancienne et moderne à Son Éminence Monseigneur le cardinal Quirini (1748): 1, "Des Tragédies grecques imitées par quelques opéra italiens & français."] Dagegen würde ein Hellene in unserer Tragödie fast nichts wiedererkennen, was seiner Tragödie entspräche; wohl aber würde ihm beikommen, daß der ganze Aufbau und der Grundcharakter der Tragödie Shakespeare's seiner sogenannten neueren Komödie entnommen sei. Und in der That hat sich aus ihr, in ungeheuren Zeiträumen, das römische Drama, das romanisch-germanische Mysterien- und Moralitätenspiel, zuletzt die Tragödie Shakespeare's entfaltet: in ähnlicher Weise, wie in der äußeren Form der Bühne Shakespeare's die genealogische Verwandtschaft mit der der neueren attischen Komödie nicht verkannt werden darf. Während wir nun hier eine natürlich vorwärtsschreitende, durch Jahrtausende fortgesetzte Entwicklung anzuerkennen haben, ist jene wirkliche Tragödie des Alterthums, das Kunstwerk des Aeschylus und Sophokles, der modernen Kunst willkürlich eingeimpft worden. Das, was wir heute die Oper nennen, das Zerrbild des antiken Musikdrama's, ist durch direkte Nachäffung des Alterthums entstanden: ohne die unbewußte Kraft eines natürlichen Triebes, nach einer abstrakten Theorie gebildet, hat sie sich, wie ein künstlich erzeugter homunculus, als der böse Kobold unserer modernen Musikentwicklung geberdet. Jene vornehmen und gelehrt gebildeten Florentiner, die im Anfange des 17t. Jahrhunderts die Entstehung der Oper veranlaßten, hatten die deutlich ausgesprochne Absicht, die Wirkungen der Musik zu erneuern, die sie im Alterthume, nach so vielen beredten Zeugnissen, gehabt habe. Merkwürdig! Schon der erste Gedanke an die Oper war ein Haschen nach Effekt. Durch solche Experimente werden die Wurzeln einer unbewußten, aus dem Volksleben herauswachsenden Kunst abgeschnitten oder mindestens arg verstümmelt. So wurde in Frankreich das volksthümliche Drama durch die sogenannte klassische Tragödie verdrängt, also durch eine rein auf gelehrtem Wege entstandene Gattung, die die Quintessenz des Tragischen, ohne alle Beimischungen, enthalten sollte. Auch in Deutschland ist die natürliche Wurzel des Drama's das Fastnachtspiel, seit der Reformation untergraben worden; seitdem wurde die Neuschöpfung einer nationalen Form kaum wieder versucht, dagegen nach den vorhandenen Mustern fremder Nationen gedacht und gedichtet. Für die Entwicklung der modernen Künste ist die Gelehrsamkeit, das bewußte Wissen und Vielwissen der eigentliche Hemmschuh: alles Wachsen und Werden im Reiche der Kunst muß in tiefer Nacht vor sich gehen. Die Geschichte der Musik lehrt es, daß die gesunde Weiterentwicklung der griechischen Musik im frühen Mittelalter plötzlich auf das stärkste gehemmt und beeinträchtigt wurde, als man in Theorie und Praxis mit Gelehrsamkeit auf das Alte zurückgieng. Das Resultat war eine unglaubliche Verkümmerung des Geschmacks: in den fortwährenden Widersprüchen der angeblichen Überlieferung und des natürlichen Gehör's kam man dahin, Musik gar nicht mehr für das Ohr, sondern für das Auge zu componieren. Die Augen sollten das contrapunktische Geschick des Componisten bewundern: die Augen sollten die Ausdrucksfähigkeit der Musik anerkennen. Wie war dies zu bewerkstelligen? Man färbte die Noten mit der Farbe der Dinge, von denen im Texte die Rede war, also grün, wenn Pflanzen, Felder Weinberge, purpurroth, wenn die Sonne und das Licht erwähnt wurden. Es war dies Litteraturmusik, Lesemusik. Was uns hier als helle Absurdität anmuthet, dürfte auf dem Gebiete, das ich besprechen will, wohl nur Wenigen sogleich als solche einleuchten. Ich behaupte nämlich, daß der uns bekannte Aeschylus und Sophokles uns nur als Textbuchdichter, als Librettisten bekannt sind, das heißt daß sie uns eben unbekannt sind. Während wir nämlich im Bereich der Musik über das gelehrte Schattenspiel einer Lesemusik längst hinaus sind, ist im Gebiete der Poesie die Unnatürlichkeit der Buchdichtung so allein herrschend, daß es Besinnung kostet, sich zu sagen, in wie fern wir gegen Pindar Aeschylus und Sophokles ungerecht sein müssen, ja weshalb wir sie eigentlich nicht kennen. Wenn wir sie als Dichter bezeichnen, so meinen wir eben Buchdichter: gerade damit aber verlieren wir jeden Einblick in ihr Wesen, das uns einzig aufgeht, wenn wir die Oper uns einmal in kräftiger phantasiereicher Stunde so idealisirt vor die Seele führen, daß uns eben die Anschauung des antiken Musikdrama's sich erschließt. Denn so verzerrt auch alle Verhältnisse an der sogenannten großen Oper sind, so sehr sie selbst ein Produkt der Zerstreuung, nicht der Sammlung ist, die Sklavin schlechtester Reimerei und unwürdiger Musik: so sehr hier alles Lüge und Schamlosigkeit ist, immerhin giebt es kein anderes Mittel, über Sophokles sich klar zu werden, als indem wir aus dieser Karikatur das Urbild zu errathen suchen und alles Verbogene und Verzerrte in begeisterter Stunde uns hinwegdenken. Jenes Phantasiebild muß dann sorgfältig untersucht und, seinen einzelnen Theilen nach, mit der Tradition des Alterthums zusammengehalten werden, damit wir nicht etwa das Hellenische überhellenisiren und ein Kunstwerk uns ausdenken, das nirgends in aller Welt eine Heimat hat. Das ist keine geringe Gefahr. Galt es doch bis vor nicht lange als unbedingtes Kunstaxiom, daß alle ideale Plastik farblos sein müsse, daß die antike Skulptur die Anwendung der Farbe nicht zulasse. Ganz langsam und unter dem heftigsten Widerstreben jener Hyperhellenen, hat sich die polychrome Anschauung der antiken Plastik Bahn gebrochen nach der sie nicht mehr nackt, sondern mit einem farbigen Überzug bekleidet gedacht werden muß. In ähnlicher Weise erfreut sich der aesthetische Satz einer allgemeinen Beliebtheit, daß eine Verbindung zweier und mehrerer Künste keine Erhöhung des aesthetischen Genusses erzeugen könne, vielmehr eine barbarische Geschmacksverirrung sei. Dieser Satz aber beweist höchstens die schlechte moderne Gewöhnung, daß wir nicht mehr als ganze Menschen genießen können: wir sind gleichsam durch die absoluten Künste in Stücke zerrissen und genießen nun auch als Stücke, bald als Ohrenmenschen, bald als Augenmenschen usw. Halten wir dagegen, wie der geistvolle Anselm Feuerbach sich jenes antike Drama als Gesammtkunst vorstellt. "Es ist nicht zu verwundern, sagt er wenn bei einer tiefbegründeten Wahlverwandtschaft die einzelnen Künste endlich wieder zu einem unzertrennlichen Ganzen, als einer neuen Kunstform sich verschmelzen. Die olympischen Spiele führten die gesonderten Griechenstämme zur politisch religiösen Einheit zusammen: das dramatische Festspiel gleicht einem Wiedervereinigungsfeste der griechischen Künste. Das Vorbild desselben war schon in jenen Tempelfesten gegeben, wo die plastische Erscheinung des Gottes vor einer andächtigen Menge mit Tanz und Gesang gefeiert wurde. Wie dort, so bildet auch hier die Architektur den Rahmen und die Basis, durch welche sich die höhere poetische Sphäre sichtbar gegen die Wirklichkeit abschließt. An der Scenerie sehen wir den Maler beschäftigt und allen Reiz eines bunten Farbenspiels in der Pracht des Kostüms ausgebreitet. Der Seele des Ganzen hat sich die Dichtkunst bemächtigt; aber diese wieder nicht als einzelne Dichtform, wie im Tempeldienst z.B. als Hymne. Jene dem griechischen Drama so wesentlichen Berichte des Angelos und des Exangelos, oder der handelnden Personen selbst, führen uns in das Epos zurück. Die lyrische Poesie hat in den leidenschaftlichen Scenen und im Chor ihre Stelle und zwar nach allen ihren Abstufungen von dem unmittelbaren Ausbruch des Gefühls in Interjektionen, von der zartesten Blume des Liedes an bis zur Hymne und Dithyrambe hinauf. In Recitation Gesang und Flötenspiel und dem Taktschritte des Tanzes ist der Ring noch nicht völlig geschlossen. Denn wenn die Poesie das innerste Grundelement des Dramas bildet, so tritt ihr in dieser ihr neuen Form die Plastik entgegen." [Vgl. August Wilhelm Ambros (1816-1876). Geschichte der Musik im Zeitalter der Renaissance bis zu Palestrina. Bd. 1. Drittes Buch. Die Musik der antiken Welt. Grieschiche Musik. Breslau: Leuckart, 1862, 283.] Soweit Feuerbach. Sicher ist, daß wir einem solchen Kunstwerke gegenüber erst lernen müßten, wie man als ganzer Mensch zu genießen habe: während es zu befürchten ist, daß man, auch hingestellt vor ein derartiges Werk, es sich in lauter Stücke zerlegen würde, um es sich anzueignen. Ich glaube sogar, daß wer von uns plötzlich in eine athenische Festvorstellung versetzt würde zunächst den Eindruck eines gänzlich fremdartigen und barbarischen Schauspiels haben würde. Und dies aus sehr vielen Gründen. In hellster Tagessonne, ohne alle die geheimnißvollen Wirkungen des Abends und des Lampenlichts, in grellster Wirklichkeit sähe er einen ungeheuren offnen Raum mit Menschen überfüllt: alle Blicke hingerichtet auf eine in der Tiefe wunderbar sich bewegende maskirte Männerschaar und ein paar übermenschlich große Puppen, die auf einem langen schmalen Bühnenraume im langsamsten Zeitmaße auf und niederschreiten. Denn wie anders als Puppen müssen wir jene Wesen nennen, die auf den hohen Stelzen der Kothurne stehend, mit riesenmäßigen den Kopf überragenden stark bemalten Masken vor dem Gesicht, an Brust und Leib, Armen und Beinen bis in das Unnatürliche ausgepolstert und ausgestopft, sich kaum bewegen können, niedergedrückt von der Last eines tief herabfallenden Schleppgewandes und eines mächtigen Kopfputzes. Dabei haben diese Gestalten durch die weit geöffneten Mundlöcher im stärksten Tone zu reden und zu singen, um sich einer Zuschauermasse von mehr als 20 000 Menschen verständlich zu machen: fürwahr, eine Heldenaufgabe, die eines marathonischen Kämpfers würdig ist. Noch größer aber wird unsre Bewunderung, wenn wir vernehmen, daß der Einzelne von diesen Schauspieler-Sängern in 10stündiger Anspannung gegen 1600 Verse von sich zu geben hat, darunter wenigstens sechs größere und kleinere Gesangsstücke. Und dies vor einem Publikum, das jedes Übermaß im Ton, jeden unrichtigen Accent unerbittlich ahndete, in Athen wo nach Lessings Ausdruck selbst der Pöbel ein feines und zärtliches Urtheil hatte. Welche Koncentration und Übung der Kräfte, welche langwierige Vorbereitung, welchen Ernst und Enthusiasmus im Erfassen der künstlerischen Aufgabe müssen wir hier voraussetzen, kurz, welch ein ideales Schauspielerthum! Hier waren Aufgaben für die edelsten Bürger gestellt, hier entwürdigte sich, auch im Falle des Mißlingens ein Marathonkämpfer nicht, hier empfand der Schauspieler, wie er in seinem Kostüm eine Erhebung über die alltägliche Menschenbildung darstellte, auch in sich einen Aufschwung, in dem die pathetischen schwerwuchtigen Worte des Aeschylus ihm eine natürliche Sprache sein mußten. Weihevoll aber gleich dem Schauspieler lauschte auch der Zuhörer: auch über ihn breitete sich eine ungewöhnliche langersehnte Feststimmung aus. Nicht die ängstliche Flucht vor der Langeweile, der Wille sich und seine Erbärmlichkeit um jeden Preis für einige Stunden los zu sein, trieb jene Männer ins Theater. Der Grieche flüchtete sich aus der ihm so gewohnten zerstreuenden Öffentlichkeit, aus dem Leben in Markt Straße und Gerichtshalle, in die ruhig stimmende, zur Sammlung einladende Feierlichkeit der Theaterhandlung: nicht wie der alte Deutsche, der Zerstreuung begehrte, wenn er den Cirkel seines innerlichen Daseins einmal zerschnitt, und der die rechte lustige Zerstreuung in der gerichtlichen Wechselrede fand, die deshalb auch für sein Drama Form und Atmosphäre bestimmte. Die Seele des Atheners dagegen, der die Tragödie an den großen Dionysien anzuschauen kam, hatte in sich noch etwas von jenem Element, aus dem die Tragödie geboren ist. Es ist dies der übermächtig hervorbrechende Frühlingstrieb, ein Stürmen und Rasen in gemischter Empfindung, wie es alle naiven Völker und die gesammte Natur beim Nahen des Frühlings kennen. Bekanntlich sind auch unsre Fastnachtsspiele und Maskenscherze ursprünglich solche Frühlingsfeste, die nur aus kirchlichen Anlässen etwas zurückdatiert sind. Hier ist alles tiefster Instinkt: jene ungeheuren dionysischen Schwarmzüge im alten Griechenland haben ihre Analogie in den S. Johann- und S. Veitstänzern des Mittelalters, die in größter, immer wachsender Masse tanzend singend und springend von Stadt zu Stadt zogen. Mag auch die heutige Medicin von jener Erscheinung als von einer Volksseuche des Mittelalters sprechen: wir wollen nur festhalten, daß das antike Drama aus einer solchen Volksseuche erblüht ist, und daß es das Unglück der modernen Künste ist, nicht aus solchem geheimnißvollen Quell entflossen zu sein. Es ist nicht etwa Muthwille und willkürliche Ausgelassenheit, wenn in den ersten Anfängen des Dramas wildbewegte Schwärme, als Satyrn und Silene kostümirt, die Gesichter mit Ruß Mennig und andern Pflanzensäften beschmiert, mit Blumenkränzen auf dem Kopf, durch Feld und Wald schweiften: die allgewaltige, so plötzlich sich kundgebende Wirkung des Frühlings steigert hier auch die Lebenskräfte zu einem solchen Übermaß, daß ekstatische Zustände, Visionen und der Glaube an die eigne Verzauberung allerwärts hervortreten, und gleichgestimmte Wesen schaarenweise durchs Land ziehen. Und hier ist die Wiege des Dramas. Denn nicht damit beginnt dasselbe, daß jemand sich vermummt und bei Anderen eine Täuschung erregen will: nein vielmehr, indem der Mensch außer sich ist und sich selbst verwandelt und verzaubert glaubt. In dem Zustande des "Außer sich seins," der Ecstase ist nur ein Schritt noch nöthig: wir kehren nicht wieder in uns zurück, sondern gehen in ein anderes Wesen ein, so daß wir uns als Verzauberte geberden. Daher rührt im letzten Grunde das tiefe Erstaunen beim Anblick des Drama's: der Boden wankt, der Glaube an die Unlöslichkeit und Starrheit des Individuums. Und wie der dionysische Schwärmer an seine Verwandlung glaubt, recht im Gegensatz zu Zettel im Sommernachtstraum, so glaubt der dramatische Dichter an die Wirklichkeit seiner Gestalten. Wer diesen Glauben nicht hat, der kann zwar noch zu den Thyrsusschwingern, den Dilettanten gehören, nicht aber zu den rechten Dienern des Dionysos, den Bacchen. Etwas von diesem dionysischen Naturleben war in der Blüthezeit des attischen Dramas auch noch in der Seele der Zuhörer. Das war kein faules fatiguirtes allabendliches Abonnementspublikum, das mit müden abgehetzten Sinnen zum Theater kommt, um sich hier in Emotion versetzen zu lassen. Im Gegensatz zu diesem Publikum, das die Zwangsjacke unseres heutigen Theaterwesens ist, hatte der athenische Zuschauer seine frischen morgendlichen, festlich angeregten Sinne noch, wenn er sich auf den Stufen des Theaters niederließ. Das Einfache war für ihn noch nicht zu einfach. Seine aesthetische Gelehrsamkeit bestand in den Erinnerungen an frühere glückliche Theatertage, sein Zutrauen zu dem dramatischen Genius seines Volkes war grenzenlos. Was das Wichtigste aber ist, er schlürfte den Trank der Tragödie so selten, daß er ihn jedesmal wie zum ersten Male genoß. In diesem Sinne will ich das Wort des bedeutendsten lebenden Architekten anführen, der für die Deckengemälde und ausgemalten Kuppeln sein Votum abgiebt. "Nichts ist vortheilhafter, sagt er, für das Kunstwerk, als das Entrücktsein aus der vulgären unmittelbaren Berührung mit dem Nächsten und aus der gewohnten Sehlinie des Menschen. Durch die Gewohnheit des Bequemsehen's wird der Sehnerv so abgestumpft, daß er den Reiz und die Verhältnisse der Farben und Formen nur noch wie hinter einem Schleier erkennt." [Vgl. Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Erster Band. Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst. Frankfurt a. M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860: 75.] Es wird sicher erlaubt sein, etwas Analoges auch für den seltnen Genuß des Dramas zu beanspruchen: es kommt den Bildern und den Dramen zu Gute, die mit etwas ungewohnter Haltung und Empfindung angeschaut werden: wenn damit auch noch nicht die altrömische Sitte, im Theater zu stehen, anempfohlen werden soll. Wir haben bis jetzt nur den Schauspieler und den Zuschauer in's Auge gefaßt. Denken wir zu dritt auch an den Poeten: und zwar fasse ich hier das Wort in seinem weitesten Sinne, so wie es die Griechen verstanden. Es ist richtig, daß die griechischen Tragiker ihre unermeßlichen Einwirkungen auf die neuere Kunst nur als Librettisten geübt haben: wenn das aber wahr ist, so lebe ich der Überzeugung, daß eine wirkliche und ganze Vergegenwärtigung einer aeschyleischen Trilogie, mit attischen Schauspielern, Publikum und Poeten, auf uns geradezu eine zerschmetternde Wirkung thun müßte, weil sie uns den künstlerischen Menschen in einer Vollkommenheit und Harmonie offenbaren würde, gegen die unsre großen Dichter gleichsam als schön begonnene, doch nicht zu Ende gearbeitete Statuen erscheinen möchten. Die Aufgabe war im griechischen Alterthum für den Dramatiker so schwer als möglich gestellt: eine Freiheit, wie sie unsere Bühnendichter nach Wahl des Stoffs, der Schauspielerzahl und unzähliger Dinge genießen, würde dem attischen Kunstrichter als Zuchtlosigkeit erschienen sein. Durch die gesammte griechische Kunst geht das stolze Gesetz, daß nur das Schwerste eine Aufgabe für den freien Mann ist. So hieng die Autorität und der Ruhm eines plastischen Kunstwerkes sehr von der Schwierigkeit der Bearbeitung, der Härte des verwendeten Stoffes ab. Zu den besonderen Schwierigkeiten, vermöge deren der Weg zur dramatischen Berühmtheit niemals ein sehr breiter geworden ist, gehört die beschränkte Zahl der Schauspieler, die Verwendung des Chors, der begrenzte Mythenkreis, vor allem aber jene Fünfkämpfertugend, die Nothwendigkeit, als Dichter und Musiker, in der Orchestik und der Regie, zuletzt als Schauspieler produktiv begabt zu sein. Das was für unsre dramatischen Dichter immer der Rettungsanker ist, das ist die Neuheit und damit das Interessante ihres Stoffes, den sie für ihr Drama gewählt haben. Sie denken, wie die italienischen Improvisatoren, die eine neue Geschichte bis zu ihrem Höhepunkt und zur höchsten Steigerung der Spannung erzählen und dann überzeugt sind, daß niemand mehr vor Schluß davongeht. Das Festhalten bis zum Schluß durch den Reiz des Interessanten war nun bei den griechischen Tragikern etwas Unerhörtes: die Stoffe ihrer Meisterwerke waren altbekannt und in epischer und lyrischer Form den Zuhörern von Kindheit an vertraut. Es war bereits eine Heldentat für einen Orest und einen Ödipus wahrhafte Teilnahme zu erwecken: aber wie beschränkt, wie eigensinnig eingeengt waren die Mittel, die zur Erregung dieser Theilnahme gebraucht werden durften! Hier kommt vor allem der Chor in Betracht, der für den antiken Dichter ebenso wichtig war wie für den französischen Tragiker die vornehmen Personen, die zu beiden Seiten der Scene ihre Sitze hatten und die Bühne gewissermaßen in ein fürstliches Vorzimmer verwandelten. Wie der französische Tragiker diesem sonderbaren nicht mitspielenden und doch mitspielenden "Chor" zu liebe die Dekorationen nicht ändern durfte, wie sich Sprache und Geste auf der Bühne nach ihm modelte: so verlangte der antike Chor für die ganze Handlung in jedem Drama Öffentlichkeit der Handlung, den freien Platz als die Aktionsstätte der Tragödie. Dies ist eine verwegene Forderung: denn die tragische That und die Vorbereitung zu ihr pflegt sich gerade nicht auf der Straße finden zu lassen, sondern erwächst am Besten in der Verborgenheit. Alles öffentlich, alles im hellen Licht, alles in Gegenwart des Chors—das war die grausame Forderung. Nicht daß man aus irgend einer aesthetischen Spitzfindigkeit dies irgendwann einmal als Forderung ausgesprochen hätte: vielmehr war in dem langen Entwicklungsprozeß des Dramas diese Stufe erreicht worden, und man hatte sie festgehalten mit dem Instinkt, daß hier für den tüchtigen Genius eine tüchtige Aufgabe zu lösen sei. Es ist ja bekannt, daß ursprünglich die Tragödie nichts als ein großer Chorgesang war: diese historische Erkenntniß giebt aber in der That den Schlüssel zu jenem wunderlichen Problem. Die Haupt- und Gesamtwirkung der antiken Tragödie beruhte in der besten Zeit immer noch auf dem Chore: er war der Faktor, mit dem vor allem gerechnet werden mußte, den man nicht bei Seite lassen durfte. Jene Stufe, in der sich das Drama ungefähr von Aeschylus bis Euripides hielt, ist die, in der der Chor soweit zurückgedrängt war, um eben gerade noch die Gesamtfärbung anzugeben. Noch ein einziger Schritt weiter und die Scene herrschte über die Orchestra, die Kolonie über die Mutterstadt; die Dialektik der Bühnenpersonen und ihre Einzelgesänge traten vor und überwältigten den bisher gültigen chorisch-musikalischen Gesamteindruck. Dieser Schritt ist gethan worden, und der Zeitgenosse desselben, Aristoteles, fixierte ihn in seiner berühmten, viel verwirrenden, das Wesen des aeschyleischen Dramas gar nicht treffenden Definition. Der erste Gedanke also beim Entwurfe einer dramatischen Dichtung mußte sein, eine Gruppe von Männern oder Frauen zu erdenken, die mit den handelnden Personen eng verbunden sind: sodann mußten Anlässe gesucht werden, bei denen lyrisch-musikalische Massenstimmungen zum Ausbruch kommen konnten. Der Dichter sah gewissermaßen vom Chor aus nach den Bühnenpersonen, und mit ihm das athenische Publikum: wir, die wir nur das libretto haben, sehen von der Bühne aus nach dem Chor. Die Bedeutung desselben ist nicht mit einem Gleichniß zu erschöpfen. Wenn Schlegel ihn als den "idealischen Zuschauer" bezeichnet hat, so will das doch nur sagen, daß der Dichter in der Art, wie der Chor die Ereignisse auffaßt, zugleich andeutet, wie nach seinem Wunsche sie der Zuschauer auffassen solle. [Vgl. August Wilhelm von Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur. Dritte Ausgabe, besorgt von Eduard Böcking. Erster Theil. Leipzig: Weidmann, 1846: 77.] Damit ist aber doch nur eine Seite richtig hervorgehoben: vor allem ist wichtig, daß der Heldenspieler durch ihn wie durch ein Schallrohr seine Empfindungen in einer kolossalen Vergrößerung dem Zuschauer zuschreit. Obschon eine Mehrheit von Personen, stellt er doch musikalisch keine Masse vor, sondern nur ein ungeheures, mit übernatürlicher Lunge begabtes Einzelwesen. Es ist nicht am Orte darauf hinzuweisen, welcher ethische Gedanke in der unisonen Chormusik der Griechen liegt: die den stärksten Gegensatz zur christlichen Musikentwicklung bildet, in der die Harmonie, das eigentliche Symbol der Mehrheit, lange Zeit so dominirt, daß die Melodie ganz erstickt war und erst wieder entdeckt werden mußte. Der Chor ist es, der die Grenzen der in der Tragödie sich erweisenden Dichterphantasie vorgeschrieben hat: der religiöse Chortanz mit seinem feierlichen Andante umschränkte den sonst so übermüthigen Erfindungsgeist der Dichter: während die englische Tragödie, ohne eine solche Schranke, mit ihrem phantastischen Realismus sich viel ungestümer, dionysischer, aber doch im Grunde wehmüthiger geberdet, ungefähr wie ein Beethovensches Allegro. Daß der Chor mehrere große Gelegenheiten zu lyrisch-pathetischen Kundgebungen hatte, das ist eigentlich der wichtigste Satz in der Ökonomie des alten Dramas. Dies ist aber leicht auch in dem kürzesten Theilstück der Sage erreicht: und deshalb fehlt durchaus alles Verwickelte, alles Intriguenhafte, alles fein und künstlich Kombinirte, kurz alles das was gerade den Charakter des modernen Trauerspiels ausmacht. Im antiken Musikdrama gab es nichts, was man hätte ausrechnen müssen: auch die Schlauheit einzelner Helden des Mythus hat in ihm etwas Einfach-ehrliches an sich. Niemals, auch nicht bei Euripides ist das Wesen des Schauspiels in das des Schachspiels umgewandelt: während allerdings das Schachspielartige zum Grundzug der sogenannten neueren Komödie geworden ist. Deshalb gleichen die einzelnen Dramen der Alten, ihrem einfachen Aufbau nach, einem einzigen Akte unserer Tragödien und zwar am meisten dem fünften Akte, der in kurzen raschen Schritten zur Katastrophe führt. Die französische klassische Tragödie mußte, weil sie ihr Vorbild, das griechische Musikdrama, eben nur als libretto kannte, und mit der Einführung des Chors in Verlegenheiten gerieth, ein ganz neues Element in sich aufnehmen, nur um die von Horaz vorgeschriebnen 5 Akte auszufüllen: dieser Ballast, ohne den sich jene Kunstform nicht auf die See wagen mochte, war die Intrigue, d.h. eine Räthselaufgabe für den Verstand und eine Tummelstätte der kleinen, im Grunde untragischen Leidenschaften: womit sich ihr Charakter dem der neuen attischen Komödie bedeutend näherte. Die alte Tragödie war, mit ihr verglichen, arm an Handlung und Spannung: man kann sogar sagen, daß es auf ihren früheren Entwicklungsstufen gar nicht auf das Handeln das drama [Drama] abgesehn war, sondern auf das Leiden das paJoV [Pathos]. Die Handlung trat erst hinzu als der Dialog entstand: und alles wahrhafte und ernste Thun wurde auch in der Blüthezeit des Dramas nicht auf offner Scene vorgeführt. Was war die Tragödie ursprünglich anders als eine objektive Lyrik, ein Lied aus dem Zustande bestimmter mythologischer Wesen herausgesungen, und zwar im Kostüm derselben. Zuerst mußte ein dithyrambischer Chor von zu Satyrn und Silenen verkleideten Männern selbst zu verstehen geben, was ihn in solche Aufregung versetzt habe: er deutete hin auf einen den Zuhörern schnell verständlichen Zug aus der Kampf- und Leidensgeschichte des Dionysos. Später wurde die Gottheit selbst eingeführt, zu einem doppelten Zwecke: einmal um persönlich von seinen Abenteuern zu erzählen, in denen er eben darin steckt und durch die sein Gefolge zu lebhaftester Theilnahme erregt wird. Andernseits ist Dionysos während jener leidenschaftlichen Chorgesänge gewissermaßen das lebende Bild, die lebende Statue des Gottes: und in der That hat der antike Schauspieler etwas vom steinernen Gast bei Mozart. Ein neuerer Musikschriftsteller macht hierüber folgende richtige Bemerkung. "In unserem kostümirten Schauspieler, sagt er, tritt uns ein natürlicher Mensch, den Griechen trat in der tragischen Maske ein künstlicher, wenn man will, heroisch stylisirter entgegen. Unsere tiefen Bühnen, auf denen oft an hundert Personen gruppiert sind, machen die Darstellungen zu farbigen Gemälden, so lebendig sie nur sein können. Die schmale antike Bühne, mit der nahe vorgerückten Hinterwand, machte die wenigen, sich gemessen bewegenden Figuren zu lebenden Basreliefs oder belebten Marmorbildern eines Tempelgiebels. Hätte ein Wunder jenen Marmorgestalten des Streites zwischen Athene und Poseidon im Parthenongiebel Leben eingehaucht, sie würden wohl die Sprache des Sophokles gesprochen haben." [Vgl. August Wilhelm Ambros (1816-1876). Geschichte der Musik im Zeitalter der Renaissance bis zu Palestrina. Bd. 1. Drittes Buch. Die Musik der antiken Welt. Grieschiche Musik. Breslau: Leuckart, 1862, 288.] Ich kehre zu dem vorhin angedeuteten Gesichtspunkte zurück, daß im griechischen Drama der Accent auf dem Erleiden, nicht auf dem Handeln ruht; jetzt wird es leichter sein zu begreifen, weshalb ich meine, daß wir gegen Aeschylus und Sophokles ungerecht sein müssen, daß wir sie eigentlich nicht kennen. Wir haben nämlich keinen Maßstab, das Urtheil des attischen Publikums über ein Dichterwerk zu controlieren, weil wir nicht wissen oder nur zum geringsten Theile wissen, wie das Erleiden, überhaupt das Gefühlsleben in seinen Ausbrüchen, zum ergreifenden Eindrucke gebracht wurde. Wir sind einer griechischen Tragödie gegenüber incompetent, weil ihre Hauptwirkung zu einem guten Theil auf einem Element beruhte, das uns verloren gegangen ist, auf der Musik. Für die Stellung der Musik zum alten Drama gilt vollkommen, was Gluck in der berühmten Vorrede zu seiner Alceste als Forderung ausspricht. Die Musik sollte die Dichtung unterstützen, den Ausdruck der Gefühle und das Interesse der Situationen verstärken, ohne die Handlung zu unterbrechen oder durch unnütze Verzierungen zu stören. Sie sollte für die Poesie das sein, was die Lebhaftigkeit der Farben und eine glückliche Mischung von Schatten und Licht für eine fehlerfreie und wohlgeordnete Zeichnung sind, welche nur dazu dienen, die Figuren zu beleben, ohne die Umrisse zu zerstören. Die Musik ist also durchaus nur als Mittel zum Zweck verwendet worden: ihre Aufgabe war es, das Erleiden des Gottes und des Helden in stärkstes Mitleiden bei den Zuhörern umzusetzen. Nun hat ja auch das Wort dieselbe Aufgabe, aber es wird ihm viel schwerer und nur auf Umwegen möglich, dieselbe zu lösen. Das Wort wirkt zunächst auf die Begriffswelt und von da aus erst auf die Empfindung, ja häufig genug erreicht es, bei der Länge des Wegs, sein Ziel gar nicht. Die Musik dagegen trifft das Herz unmittelbar, als die wahre allgemeine Sprache, die man überall versteht. Freilich findet man noch jetzt über die griechische Musik Ansichten verbreitet, als ob sie am allerwenigsten eine solche allgemein verständliche Sprache gewesen sei, sondern vielmehr eine auf gelehrtem Wege erfundene, aus akustischen Lehren abstrahirte, uns gänzlich fremdartige Tonwelt bedeute. Man trägt sich hier und da z.B. noch mit dem Aberglauben, in der griechischen Musik sei die große Terz als ein Mißklang empfunden worden. Von solchen Vorstellungen muß man sich gänzlich freimachen und sich immer vorhalten, daß unserem Gefühl die Musik der Griechen viel näher steht als die des Mittelalters. Was uns von alten Kompositionen erhalten ist, erinnert in seiner scharfen rhythmischen Gliederung durchaus an unsere Volkslieder: aus dem Volkslied aber ist die gesammte antike Dichtkunst und Musik hervorgewachsen. Zwar giebt es auch reine Instrumentalmusik: doch machte sich in ihr nur das Virtuosenthum geltend. Der echte Grieche empfand bei ihr immer etwas Unheimisches, etwas aus der asiatischen Fremde Importirtes. Die eigentlich griechische Musik ist durchaus Vokalmusik: das natürliche Band der Wort- und Tonsprache ist noch nicht zerrissen: und dies bis zu dem Grade, daß der Dichter nothwendig auch der Komponist seines Liedes war. Die Griechen lernten ein Lied gar nicht anders kennen, als durch den Gesang: sie empfanden aber auch beim Anhören das innigste Eins-sein von Wort und Ton. Wir, die wir unter dem Einflusse der modernen Kunstunart, der Vereinzelung der Künste aufgewachsen sind, sind kaum mehr im Stande, Text und Musik zusammen zu genießen. Wir haben uns eben gewöhnt, getrennt zu genießen, den Text bei der Lektüre—weshalb wir unserem Urtheil nicht trauen, wenn wir ein Gedicht vorlesen, ein Drama vorspielen sehen und nach dem Buch verlangen—und die Musik beim Anhören. Auch finden wir den absurdesten Text erträglich, wenn nur die Musik schön ist: etwas was einem Griechen so recht eigentlich als Barbarei vorkommen würde. Außer der eben betonten Schwesterschaft von Poesie und Tonkunst ist für die antike Musik noch zweierlei charakteristisch, ihre Einfachheit, ja Armuth in der Harmonie, ihr Reichthum an rhythmischen Ausdrucksmitteln. Ich habe schon angedeutet, daß der Chorgesang sich vom Sologesang nur durch die Zahl der Stimmen unterschied, und daß nur den begleitenden Instrumenten eine sehr beschränkte Vielstimmigkeit, also Harmonie in unserm Sinne gestattet war. Die aller erste Forderung war, daß man den Inhalt des vorgetragnen Liedes verstand: und wenn man ein pindarisches oder aeschyleisches Chorlied mit seinen verwegnen Metaphern und Gedankensprüngen wirklich verstand: so setzt dies eine erstaunliche Kunst des Vortrags und zugleich eine äußerst charakteristische musikalische Accentuation und Rhythmik voraus. Dem musikalisch-rhythmischen Periodenbau, der sich im strengsten Parallelismus mit dem Text bewegte, lief nun andernseits, als äußerliches Ausdrucksmittel, die Tanzbewegung zur Seite, die Orchestik. In den Evolutionen der Choreuten, die sich vor den Augen der Zuschauer wie Arabesken auf der breiten Fläche der Orchestra hinzeichneten, empfand man die gewissermaßen sichtbar gewordne Musik. Während die Musik die Wirkung der Dichtung steigerte, so erklärte die Orchestik die Musik. Es erwuchs somit für den Dichter und Tondichter zugleich noch die Aufgabe, ein produktiver Balletmeister zu sein. Hier ist noch ein Wort über die Grenzen der Musik im Drama zu sagen. Die tiefere Bedeutung dieser Grenzen als der Achillesferse des antiken Musikdramas, insofern an ihnen sein Zersetzungsprozeß beginnt, soll heute nicht erörtert werden, da ich den Verfall der antiken Tragödie und damit auch den eben angeregten Punkt in meinem nächsten Vortrag zu besprechen gedenke. Hier genüge nur die Thatsache: nicht alles was gedichtet war, konnte gesungen werden, und mitunter wurde auch, wie in unserem Melodram, gesprochen, unter der Begleitung der Instrumentalmusik. Aber jenes Sprechen haben wir uns immer als Halbrecitativ vorzustellen, so daß der ihm eigenthümliche dröhnende Ton keinen Dualismus in das Musikdrama brachte; vielmehr war auch in der Sprache der dominierende Einfluß der Musik mächtig geworden. Man hat eine Art Nachklang dieses Recitativ-Tons in dem sogenannten Lektionston, mit welchem in der katholischen Kirche die Evangelien, die Episteln, manche Gebete vorgetragen werden. "Der lesende Priester macht bei den Interpunktionen und Schlüssen der Sätze gewisse Flexionen der Stimme, wodurch die Deutlichkeit des Vortrags gesichert und zugleich Monotonie vermieden wird. Aber bei wichtigen Momenten der heiligen Handlung hebt sich die Stimme des Geistlichen, das pater noster, die Präfation, der Segen wird zum deklamatorischen Gesange." [Vgl. August Wilhelm Ambros (1816-1876). Geschichte der Musik im Zeitalter der Renaissance bis zu Palestrina. Bd. 1. Drittes Buch. Die Musik der antiken Welt. Grieschiche Musik. Breslau: Leuckart, 1862, 290.] Überhaupt erinnert in dem Rituale des Hochamtes vieles an das griechische Musikdrama, nur daß in Griechenland alles viel heller sonniger überhaupt schöner war, dafür auch weniger innerlich und ohne jene räthselvolle unendliche Symbolik der christlichen Kirche. Hiermit bin ich, geehrteste Versammlung, zum Schluß gekommen. Ich verglich vorhin den Schöpfer des antiken Musikdrama's mit dem Pentathlos, dem Fünfkämpfer: ein anderes Bild wird uns die Bedeutung eines solchen musikdramatischen Fünfkämpfers für die gesammte alte Kunst näher bringen. Für die Geschichte der antiken Bekleidung hat Aeschylus eine außerordentliche Bedeutung, insofern er den freien Faltenwurf, die Zierlichkeit Pracht und Anmuth des Hauptgewandes einführte, während vor ihm die Griechen in ihrer Kleidung barbarisirten und den freien Faltenwurf nicht kannten. Das griechische Musikdrama ist für die gesammte alte Kunst jener freie Faltenwurf: alles Unfreie, alles Isolirte der einzelnen Künste ist mit ihm überwunden: bei ihrem gemeinsamen Opferfeste werden der Schönheit und zugleich der Kühnheit Hymnen gesungen. Gebundenheit und doch Anmuth, Mannichfaltigkeit und doch Einheit, viele Künste in höchster Thätigkeit und doch ein Kunstwerk—das ist das antike Musikdrama. Wer aber bei seinem Anblick an das Ideal des jetzigen Kunstreformators erinnert wird, der wird sich zugleich sagen müssen, daß jenes Kunstwerk der Zukunft durchaus nicht etwa eine glänzende, doch täuschende Luftspiegelung ist: was wir von der Zukunft erhoffen, das war schon einmal Wirklichkeit—in einer mehr als zweitausendjährigen Vergangenheit. |