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die Zukunft unserer Bildungsantstalten
1872.
Einleitung.
1.
Der Titel, den ich meinen Vorträgen gegeben habe,
sollte, wie es die Pflicht jedes Titels ist, so bestimmt,
deutlich und eindringlich wie möglich sein, ist aber,
was ich jetzt recht wohl merke, aus einem Übermaaß von
Bestimmtheit zu kurz ausgefallen und darum wieder
undeutlich geworden, so daß ich damit beginnen muß,
diesen Titel und damit die Aufgabe dieser Vorträge vor
meinen geehrten Zuhörern zu erklären, ja nöthigenfalls
zu entschuldigen. Wenn ich also über die Zukunft unserer
Bildungsanstalten zu reden versprochen habe, so denke ich
dabei zunächst gar nicht an die spezielle Zukunft und
Weiterentwicklung unsrer Baslerischen Institute dieser
Art. So häufig es auch scheinen möchte, daß viele
meiner allgemeinen Behauptungen sich gerade an unsern
einheimischen Erziehungsanstalten exemplificiren ließen,
so bin ich es nicht, der diese Exemplifikationen macht
und möchte daher ebensowenig die Verantwortung für
derartige Nutzanwendungen tragen: gerade aus dem Grunde,
weil ich mich für viel zu fremd und unerfahren halte und
mich viel zu wenig in den hiesigen Zuständen
festgewurzelt fühle, um eine so spezielle Configuration
der Bildungsverhältnisse richtig zu beurtheilen oder gar
um ihre Zukunft mit einiger Sicherheit vorzeichnen zu
können. Andrerseits bin ich mir um so mehr bewußt, an
welchem Orte ich diese Vorträge zu halten habe, in einer
Stadt nämlich, die in einem unverhältnißmäßig
großartigen Sinne und mit einem für größere Staaten
gradezu beschämenden Maaßstabe die Bildung und
Erziehung ihrer Bürger zu fördern sucht: so daß ich
gewiß nicht fehlgreife, wenn ich vermuthe, daß dort, wo
man um so viel mehr für diese Dinge thut, man
auch über sie um so viel mehr denkt. Gerade das
aber muß mein Wunsch, ja meine Voraussetzung sein, mit
Zuhörern hier in geistigem Verkehr zu stehen, welche
über Erziehungs- und Bildungsfragen ebenso sehr
nachgedacht haben, als sie Willens sind, mit der That das
als recht Erkannte zu fördern: und nur vor solchen
Zuhörern werde ich mich, bei der Größe der Aufgabe und
der Kürze der Zeit verständlich machen können—wenn
sie nämlich sofort errathen, was nur angedeutet werden
konnte, ergänzen, was verschwiegen werden mußte, wenn
sie überhaupt nur erinnert zu werden, nicht belehrt zu
werden brauchen.
Während ich es also durchaus ablehnen muß, als
unberufener Rathgeber in Baslerischen Schul- und
Erziehungsfragen betrachtet zu werden, denke ich noch
weniger daran, von dem ganzen Horizont der jetzigen
Kulturvölker aus auf eine kommende Zukunft der Bildung
und der Bildungsmittel zu prophezeien: in dieser
ungeheuren Weite des Gesichtskreises erblindet mein
Blick, wie er ebenfalls in einer allzugroßen Nähe
unsicher wird. Unter unseren Bildungsanstalten
verstehe ich demgemäß weder die speziell Baslerischen,
noch die zahllosen Formen der weitesten, alle Völker
umspannenden Gegenwart, sondern meine die deutschen
Institutionen dieser Art, deren wir uns ja auch hier
zu erfreuen haben. Die Zukunft dieser deutschen
Institutionen soll uns beschäftigen, d.h. die Zukunft
der deutschen Volksschule, der deutschen Realschule, des
deutschen Gymnasiums, der deutschen Universität: wobei
wir einstweilen ganz von allen Vergleichungen und
Werthabschätzungen absehn und uns besonders vor dem
schmeichelnden Wahne hüten, als ob unsre Zustände, im
Hinblick auf andre Kulturvölker, eben die allgemein
mustergültigen und unübertroffnen seien. Genug, es sind
unsre Bildungsschulen und nicht zufällig hängen sie mit
uns zusammen, nicht umgehängt sind sie uns wie ein
Gewand: sondern als lebendige Denkmäler bedeutender
Kulturbewegungen, in einigen Formationen selbst "Urväterhausrath"
verknüpfen sie uns mit der Vergangenheit des Volkes und
sind in wesentlichen Zügen ein so heiliges und
ehrwürdiges Vermächtniß, daß ich von der Zukunft
unserer Bildungsanstalten nur im Sinne einer höchst
möglichen Annäherung an den idealen Geist, aus dem sie
geboren sind, zu reden wüßte. Dabei steht es für mich
fest, daß die zahlreichen Veränderungen, die sich die
Gegenwart an diesen Bildungsanstalten erlaubte, um sie
"zeitgemäß" zu machen, zum guten Theil nur
verzogene Linien und Abirrungen von der ursprünglichen
erhabenen Tendenz ihrer Gründung sind: und was wir in
dieser Hinsicht von der Zukunft zu hoffen wagen, ist eine
so allgemeine Erneuerung, Erfrischung und Läuterung des
deutschen Geistes, daß aus ihm auch diese Anstalten
gewissermaßen neugeboren werden und dann, nach dieser
Neugeburt, zugleich alt und neu erscheinen: während sie
jetzt zuallermeist nur "modern" und "zeitgemäß"
zu sein beanspruchen.
Nur im Sinne jener Hoffnung rede ich von einer Zukunft
unserer Bildungsanstalten: und dies ist der zweite Punkt,
über den ich mich von vorn herein, zu meiner
Entschuldigung erklären muß. Es ist ja die größte
aller Anmaßungen, Prophet sein zu wollen, so daß es
bereits lächerlich klingt, zu erklären daß man es
nicht sein will. Es dürfte Niemand über die Zukunft
unserer Bildung und eine damit im Zusammenhange stehende
Zukunft unserer Erziehungsmittel und -methoden sich im
Tone der Weissagung vernehmen lassen, wenn er nicht
beweisen kann, daß diese zukünftige Bildung in irgend
welchem Maaße bereits Gegenwart ist und nur in einem
viel höheren Maaße um sich zu greifen hat, um einen
nothwendigen Einfluß auf Schule und Erziehungsinstitute
auszuüben. Man gestatte mir nur, aus den Eingeweiden der
Gegenwart, gleich einem römischen Haruspex, die Zukunft
zu errathen: was in diesem Falle nicht mehr und nicht
weniger sagen will als einer schon vorhandenen
Bildungstendenz den einstmaligen Sieg zu verheißen, ob
sie gleich augenblicklich nicht beliebt, nicht geehrt,
nicht verbreitet ist. Sie wird aber siegen, wie ich mit
höchstem Vertrauen annehme, weil sie den größten und
mächtigsten Bundesgenossen hat, die Natur: wobei
wir freilich nicht verschweigen dürfen, daß viele
Voraussetzungen unsrer modernen Bildungsmethoden den
Charakter des Unnatürlichen an sich tragen und daß die
verhängnißvollsten Schwächen unserer Gegenwart gerade
mit diesen unnatürlichen Bildungsmethoden
zusammenhängen. Wer mit dieser Gegenwart sich durchaus
eins fühlt und sie als etwas
"Selbstverständliches" nimmt, den beneiden wir
weder um diesen Glauben noch um dies skandalös gebildete
Modewort "selbstverständlich": wer aber, auf
dem entgegengesetzten Standpunkte angelangt, bereits
verzweifelt, der braucht auch nicht mehr zu kämpfen und
darf sich nur der Einsamkeit ergeben, um bald allein zu
sein. Zwischen diesen "Selbstverständlichen"
und den Einsamen stehen aber die Kämpfenden, das
heißt die Hoffnungsreichen, als deren edelster und
erhabener Ausdruck unser großer Schiller vor unseren
Augen steht, so wie ihn uns Goethe in seinem Epilog zur
Glocke schildert:
Nun glühte seine Wange roth und röther
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Muth, der, früher oder später,
Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter
Bild kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,
Damit das Gute wirke, wachse, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme.
Das bisher von mir Gesagte möge von meinen geehrten
Zuhörern im Sinne eines Vorwortes aufgenommen werden,
dessen Aufgabe nur sein durfte, den Titel meiner
Vorträge zu illustriren und ihn gegen mögliche
Mißverständnisse und unberechtigte Anforderungen zu
schützen. Um nun sofort, am Eingange meiner
Betrachtungen, vom Titel zur Sache übergehend, den
allgemeinen Gedankenkreis zu umschreiben, von dem aus
eine Beurtheilung unserer Bildungsanstalten versucht
werden soll, soll, an diesem Eingange, eine deutlich
formulirte These, als Wappenschild jeden Hinzukommenden
erinnern, in wessen Haus und Gehöft er zu treten im
Begriff ist: falls er nicht, nach Betrachtung eines
solchen Wappenschildes, es vorzieht einem solchen damit
gekennzeichneten Haus und Gehöft den Rücken zu kehren.
Meine These lautet:
Zwei scheinbar entgegengesetzte, in ihrem Wirken
gleich verderbliche [und] in
ihren Resultaten endlich zusammenfließende Strömungen [beher]rschen in der Gegenwart
unsere ursprünglich auf ganz anderen Fundamenten
gegründeten Bildungsanstalten: einmal der Trieb nach
möglichster Erweiterung der Bildung, andererseits
der Trieb nach Verminderung und Abschwächung
derselben. Dem ersten Triebe gemäß soll die Bildung
in immer weitere Kreise getragen werden, im Sinne der
anderen Tendenz wird der Bildung zugemuthet, ihre
höchsten selbstherrlichen Ansprüche aufzugeben und sich
dienend einer anderen Lebensform, nämlich der des
Staates unterzuordnen. Im Hinblick auf diese
verhängnißvollen Tendenzen der Erweiterung und der
Verminderung wäre hoffnungslos zu verzweifeln, wenn es
nicht irgendwann einmal möglich ist, zweien
entgegengesetzten, wahrhaft deutschen und überhaupt
zukunftreichen Tendenzen zum Siege zu verhelfen, das
heißt dem Triebe nach Verengerung und Koncentration
der Bildung, als dem Gegenstück einer möglichst großen
Erweiterung, und dem Triebe nach Stärkung und
Selbstgenugsamkeit der Bildung, als dem Gegenstück
ihrer Verminderung. Daß wir aber an die Möglichkeit
eines Sieges glauben, dazu berechtigt uns die
Erkenntniß, daß jene beiden Tendenzen der Erweiterung
und Verminderung ebenso den ewig gleichen Absichten der
Natur entgegenlaufen als eine Concentration der Bildung
auf Wenige ein nothwendiges Gesetz derselben Natur,
überhaupt eine Wahrheit ist, während es jenen zwei
anderen Trieben nur gelingen möchte, eine erlogene
Kultur zu begründen.
Vorrede, zu lesen
vor den Vorträgen, obwohl sie sich eigentlich nicht auf
sie bezieht.
1.
Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muß drei
Eigenschaften haben: er muß ruhig sein und ohne Hast
lesen, er muß nicht immer sich selbst und seine "Bildung"
dazwischen bringen, er darf endlich nicht, am Schlusse,
etwa als Resultat, Tabellen erwarten. Tabellen und neue
Stundenpläne für Gymnasien und Realschulen verspreche
ich nicht, bewundere vielmehr die überkräftige Natur
jener, welche im Stande sind die ganze Bahn, von der
Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der
eigentlichen Kulturprobleme, und wieder von dort hinab in
die Niederungen der dürrsten Reglements und der
zierlichsten Tabellen zu durchmessen; sondern zufrieden,
wenn ich, unter Keuchen, einen ziemlichen Berg erklommen
habe und mich des freieren Blicks erfreuen darf, werde
ich eben in diesem Buche die Tabellenfreunde nie
zufrieden stellen können.
Wohl sehe ich eine Zeit kommen, in der ernste
Menschen, im Dienste einer gänzlich erneuten und
gereinigten Bildung und in gemeinsamer Arbeit, auch
wieder zu Gesetzgebern der alltäglichen Erziehung—der
Erziehung zu jener neuen Bildung werden; wahrscheinlich
werden sie dann wiederum Tabellen machen—aber wie
ferne ist die Zeit! Und was muß inzwischen geschehn
sein! Vielleicht liegt zwischen ihr und der Gegenwart die
Vernichtung des Gymnasiums, vielleicht selbst die
Vernichtung der Universität oder mindestens eine so
totale Umgestaltung der eben genannten Bildungsanstalten,
daß deren alte Tabellen sich späteren Augen wie
Überreste aus der Pfahlbautenzeit darstellen möchten.
Für die ruhigen Leser ist das Buch bestimmt, für
Menschen, welche noch nicht in die schwindelnde Hast
unseres rollenden Zeitalters hineingerissen sind und
welche noch nicht ein götzendienerisches Vergnügen
daran empfinden, von seinen Rädern zermalmt zu werden—das
heißt für wenige Menschen! Diese aber können sich
nicht daran gewöhnen den Werth jedes Dinges nach der
Zeitersparniß oder Zeitvergeudung abzuschätzen, diese
"haben noch Zeit"; ihnen ist es noch erlaubt,
ohne vor sich selbst Vorwürfe zu empfinden, die guten
Stunden des Tages und ihre fruchtbaren und kräftigen
Momente auszuwählen und zusammenzusuchen, um über die
Zukunft unserer Bildung nachzudenken, diese dürfen
selbst glauben auf eine recht nutzbringende und würdige
Art ihren Tag verlebt zu haben, nämlich in der meditatio
generis futuri. Ein solcher Mensch hat noch nicht
verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch
das Geheimniß zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist so
verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das
Gelesene nachdenkt, vielleicht lange nachdem er das Buch
aus den Händen gelegt hat. Und zwar nicht um eine
Recension oder wieder ein Buch zu schreiben, sondern nur
so, um nachzudenken! Strafwürdiger Verschwender! Er, der
ruhig und unbesorgt genug ist, um mit dem Autor zusammen
einen weiten Weg anzutreten, dessen Ziele erst eine viel
spätere Generation in voller Deutlichkeit schauen wird!
Wenn der Leser dagegen, heftig erregt, sofort zur That
emporspringt, wenn er vom Augenblick die Früchte
pflücken will, die sich ganze Geschlechter kaum
erkämpfen möchten, so müssen wir fürchten, daß er
den Autor nicht verstanden hat.
Die dritte und wichtigste Forderung endlich ist, daß
er auf keinen Fall, nach Art des modernen Menschen, sich
selbst und seine Bildung unausgesetzt dazwischen bringen
darf, gleichsam als ein sicheres Maaß und Kriterium
aller Dinge. Wir wünschen vielmehr, er möge gebildet
genug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja
verächtlich zu denken; dann dürfte er wohl am
zutraulichsten sich der Führung des Verfassers
überlassen, der es nur gerade von dem Nichtswissen und
dem Wissen des Nichtswissens aus wagen durfte, so zu ihm
zu reden. Nichts anderes will er eben für sich in
Anspruch nehmen, als ein stark entzündetes Gefühl für
das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen
Barbarei, für das, was uns als Barbaren des neunzehnten
Jahrhunderts so merkwürdig von den Barbaren anderer
Zeiten unterscheidet.
Nun sucht er, mit diesem Buche in der Hand, nach
Solchen, die von einem ähnlichen Gefühle hin- und
hergetrieben werden. Laßt euch finden, ihr Vereinzelten,
an deren Dasein ich glaube! Ihr Selbstlosen, die ihr die
Leiden und Verderbnisse des deutschen Geistes an euch
erleidet, ihr Beschaulichen, deren Auge nicht etwa mit
hastigem Spähen an dem Äußeren der Dinge herumtastet,
sondern den Zugang zum Kern ihres Wesens zu finden weiß,
ihr Hochsinnigen, denen Aristoteles nachrühmt, daß ihr
zögernd und thatenlos durch's Leben geht, außer wo
eine große Ehre und ein großes Werk nach euch
verlangen! Euch rufe ich auf! verkriecht euch nur diesmal
nicht in den Höhlen eurer Abgeschiedenheit und eures
Mißtrauens! Seid wenigstens Leser dieses Buchs, um es
nachher, durch eure That, zu vernichten und vergessen zu
machen! Denkt euch, es sei bestimmt euer Herold zu sein:
wenn ihr erst selbst, in eurer eignen Rüstung, auf dem
Kampfplatz erscheint, wen möchte es dann noch gelüsten,
nach dem Herold, der euch rief, zurückzuschauen?
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