Lectures | Über die Zukunft unserer Bildungsantstalten | Einleitung und Vorrede © The Nietzsche Channel

COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel.

Über die Zukunft unserer Bildungsantstalten

1872.

Einleitung.

1.

Der Titel, den ich meinen Vorträgen gegeben habe, sollte, wie es die Pflicht jedes Titels ist, so bestimmt, deutlich und eindringlich wie möglich sein, ist aber, was ich jetzt recht wohl merke, aus einem Übermaaß von Bestimmtheit zu kurz ausgefallen und darum wieder undeutlich geworden, so daß ich damit beginnen muß, diesen Titel und damit die Aufgabe dieser Vorträge vor meinen geehrten Zuhörern zu erklären, ja nöthigenfalls zu entschuldigen. Wenn ich also über die Zukunft unserer Bildungsanstalten zu reden versprochen habe, so denke ich dabei zunächst gar nicht an die spezielle Zukunft und Weiterentwicklung unsrer Baslerischen Institute dieser Art. So häufig es auch scheinen möchte, daß viele meiner allgemeinen Behauptungen sich gerade an unsern einheimischen Erziehungsanstalten exemplificiren ließen, so bin ich es nicht, der diese Exemplifikationen macht und möchte daher ebensowenig die Verantwortung für derartige Nutzanwendungen tragen: gerade aus dem Grunde, weil ich mich für viel zu fremd und unerfahren halte und mich viel zu wenig in den hiesigen Zuständen festgewurzelt fühle, um eine so spezielle Configuration der Bildungsverhältnisse richtig zu beurtheilen oder gar um ihre Zukunft mit einiger Sicherheit vorzeichnen zu können. Andrerseits bin ich mir um so mehr bewußt, an welchem Orte ich diese Vorträge zu halten habe, in einer Stadt nämlich, die in einem unverhältnißmäßig großartigen Sinne und mit einem für größere Staaten gradezu beschämenden Maaßstabe die Bildung und Erziehung ihrer Bürger zu fördern sucht: so daß ich gewiß nicht fehlgreife, wenn ich vermuthe, daß dort, wo man um so viel mehr für diese Dinge thut, man auch über sie um so viel mehr denkt. Gerade das aber muß mein Wunsch, ja meine Voraussetzung sein, mit Zuhörern hier in geistigem Verkehr zu stehen, welche über Erziehungs- und Bildungsfragen ebenso sehr nachgedacht haben, als sie Willens sind, mit der That das als recht Erkannte zu fördern: und nur vor solchen Zuhörern werde ich mich, bei der Größe der Aufgabe und der Kürze der Zeit verständlich machen können—wenn sie nämlich sofort errathen, was nur angedeutet werden konnte, ergänzen, was verschwiegen werden mußte, wenn sie überhaupt nur erinnert zu werden, nicht belehrt zu werden brauchen.

Während ich es also durchaus ablehnen muß, als unberufener Rathgeber in Baslerischen Schul- und Erziehungsfragen betrachtet zu werden, denke ich noch weniger daran, von dem ganzen Horizont der jetzigen Kulturvölker aus auf eine kommende Zukunft der Bildung und der Bildungsmittel zu prophezeien: in dieser ungeheuren Weite des Gesichtskreises erblindet mein Blick, wie er ebenfalls in einer allzugroßen Nähe unsicher wird. Unter unseren Bildungsanstalten verstehe ich demgemäß weder die speziell Baslerischen, noch die zahllosen Formen der weitesten, alle Völker umspannenden Gegenwart, sondern meine die deutschen Institutionen dieser Art, deren wir uns ja auch hier zu erfreuen haben. Die Zukunft dieser deutschen Institutionen soll uns beschäftigen, d.h. die Zukunft der deutschen Volksschule, der deutschen Realschule, des deutschen Gymnasiums, der deutschen Universität: wobei wir einstweilen ganz von allen Vergleichungen und Werthabschätzungen absehn und uns besonders vor dem schmeichelnden Wahne hüten, als ob unsre Zustände, im Hinblick auf andre Kulturvölker, eben die allgemein mustergültigen und unübertroffnen seien. Genug, es sind unsre Bildungsschulen und nicht zufällig hängen sie mit uns zusammen, nicht umgehängt sind sie uns wie ein Gewand: sondern als lebendige Denkmäler bedeutender Kulturbewegungen, in einigen Formationen selbst "Urväterhausrath" verknüpfen sie uns mit der Vergangenheit des Volkes und sind in wesentlichen Zügen ein so heiliges und ehrwürdiges Vermächtniß, daß ich von der Zukunft unserer Bildungsanstalten nur im Sinne einer höchst möglichen Annäherung an den idealen Geist, aus dem sie geboren sind, zu reden wüßte. Dabei steht es für mich fest, daß die zahlreichen Veränderungen, die sich die Gegenwart an diesen Bildungsanstalten erlaubte, um sie "zeitgemäß" zu machen, zum guten Theil nur verzogene Linien und Abirrungen von der ursprünglichen erhabenen Tendenz ihrer Gründung sind: und was wir in dieser Hinsicht von der Zukunft zu hoffen wagen, ist eine so allgemeine Erneuerung, Erfrischung und Läuterung des deutschen Geistes, daß aus ihm auch diese Anstalten gewissermaßen neugeboren werden und dann, nach dieser Neugeburt, zugleich alt und neu erscheinen: während sie jetzt zuallermeist nur "modern" und "zeitgemäß" zu sein beanspruchen.

Nur im Sinne jener Hoffnung rede ich von einer Zukunft unserer Bildungsanstalten: und dies ist der zweite Punkt, über den ich mich von vorn herein, zu meiner Entschuldigung erklären muß. Es ist ja die größte aller Anmaßungen, Prophet sein zu wollen, so daß es bereits lächerlich klingt, zu erklären daß man es nicht sein will. Es dürfte Niemand über die Zukunft unserer Bildung und eine damit im Zusammenhange stehende Zukunft unserer Erziehungsmittel und -methoden sich im Tone der Weissagung vernehmen lassen, wenn er nicht beweisen kann, daß diese zukünftige Bildung in irgend welchem Maaße bereits Gegenwart ist und nur in einem viel höheren Maaße um sich zu greifen hat, um einen nothwendigen Einfluß auf Schule und Erziehungsinstitute auszuüben. Man gestatte mir nur, aus den Eingeweiden der Gegenwart, gleich einem römischen Haruspex, die Zukunft zu errathen: was in diesem Falle nicht mehr und nicht weniger sagen will als einer schon vorhandenen Bildungstendenz den einstmaligen Sieg zu verheißen, ob sie gleich augenblicklich nicht beliebt, nicht geehrt, nicht verbreitet ist. Sie wird aber siegen, wie ich mit höchstem Vertrauen annehme, weil sie den größten und mächtigsten Bundesgenossen hat, die Natur: wobei wir freilich nicht verschweigen dürfen, daß viele Voraussetzungen unsrer modernen Bildungsmethoden den Charakter des Unnatürlichen an sich tragen und daß die verhängnißvollsten Schwächen unserer Gegenwart gerade mit diesen unnatürlichen Bildungsmethoden zusammenhängen. Wer mit dieser Gegenwart sich durchaus eins fühlt und sie als etwas "Selbstverständliches" nimmt, den beneiden wir weder um diesen Glauben noch um dies skandalös gebildete Modewort "selbstverständlich": wer aber, auf dem entgegengesetzten Standpunkte angelangt, bereits verzweifelt, der braucht auch nicht mehr zu kämpfen und darf sich nur der Einsamkeit ergeben, um bald allein zu sein. Zwischen diesen "Selbstverständlichen" und den Einsamen stehen aber die Kämpfenden, das heißt die Hoffnungsreichen, als deren edelster und erhabener Ausdruck unser großer Schiller vor unseren Augen steht, so wie ihn uns Goethe in seinem Epilog zur Glocke schildert:

Nun glühte seine Wange roth und röther
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Muth, der, früher oder später,
Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter
Bild kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,
Damit das Gute wirke, wachse, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme.

Das bisher von mir Gesagte möge von meinen geehrten Zuhörern im Sinne eines Vorwortes aufgenommen werden, dessen Aufgabe nur sein durfte, den Titel meiner Vorträge zu illustriren und ihn gegen mögliche Mißverständnisse und unberechtigte Anforderungen zu schützen. Um nun sofort, am Eingange meiner Betrachtungen, vom Titel zur Sache übergehend, den allgemeinen Gedankenkreis zu umschreiben, von dem aus eine Beurtheilung unserer Bildungsanstalten versucht werden soll, soll, an diesem Eingange, eine deutlich formulirte These, als Wappenschild jeden Hinzukommenden erinnern, in wessen Haus und Gehöft er zu treten im Begriff ist: falls er nicht, nach Betrachtung eines solchen Wappenschildes, es vorzieht einem solchen damit gekennzeichneten Haus und Gehöft den Rücken zu kehren. Meine These lautet:

Zwei scheinbar entgegengesetzte, in ihrem Wirken gleich verderbliche [und]   in   ihren   Resultaten  endlich  zusammenfließende  Strömungen [beher]rschen in der Gegenwart unsere ursprünglich auf ganz anderen Fundamenten gegründeten Bildungsanstalten: einmal der Trieb nach möglichster Erweiterung der Bildung, andererseits der Trieb nach Verminderung und Abschwächung derselben. Dem ersten Triebe gemäß soll die Bildung in immer weitere Kreise getragen werden, im Sinne der anderen Tendenz wird der Bildung zugemuthet, ihre höchsten selbstherrlichen Ansprüche aufzugeben und sich dienend einer anderen Lebensform, nämlich der des Staates unterzuordnen. Im Hinblick auf diese verhängnißvollen Tendenzen der Erweiterung und der Verminderung wäre hoffnungslos zu verzweifeln, wenn es nicht irgendwann einmal möglich ist, zweien entgegengesetzten, wahrhaft deutschen und überhaupt zukunftreichen Tendenzen zum Siege zu verhelfen, das heißt dem Triebe nach Verengerung und Koncentration der Bildung, als dem Gegenstück einer möglichst großen Erweiterung, und dem Triebe nach Stärkung und Selbstgenugsamkeit der Bildung, als dem Gegenstück ihrer Verminderung. Daß wir aber an die Möglichkeit eines Sieges glauben, dazu berechtigt uns die Erkenntniß, daß jene beiden Tendenzen der Erweiterung und Verminderung ebenso den ewig gleichen Absichten der Natur entgegenlaufen als eine Concentration der Bildung auf Wenige ein nothwendiges Gesetz derselben Natur, überhaupt eine Wahrheit ist, während es jenen zwei anderen Trieben nur gelingen möchte, eine erlogene Kultur zu begründen.

Vorrede, zu lesen vor den Vorträgen,
obwohl sie sich eigentlich nicht auf sie bezieht.

1.

Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muß drei Eigenschaften haben: er muß ruhig sein und ohne Hast lesen, er muß nicht immer sich selbst und seine "Bildung" dazwischen bringen, er darf endlich nicht, am Schlusse, etwa als Resultat, Tabellen erwarten. Tabellen und neue Stundenpläne für Gymnasien und Realschulen verspreche ich nicht, bewundere vielmehr die überkräftige Natur jener, welche im Stande sind die ganze Bahn, von der Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der eigentlichen Kulturprobleme, und wieder von dort hinab in die Niederungen der dürrsten Reglements und der zierlichsten Tabellen zu durchmessen; sondern zufrieden, wenn ich, unter Keuchen, einen ziemlichen Berg erklommen habe und mich des freieren Blicks erfreuen darf, werde ich eben in diesem Buche die Tabellenfreunde nie zufrieden stellen können.

Wohl sehe ich eine Zeit kommen, in der ernste Menschen, im Dienste einer gänzlich erneuten und gereinigten Bildung und in gemeinsamer Arbeit, auch wieder zu Gesetzgebern der alltäglichen Erziehung—der Erziehung zu jener neuen Bildung werden; wahrscheinlich werden sie dann wiederum Tabellen machen—aber wie ferne ist die Zeit! Und was muß inzwischen geschehn sein! Vielleicht liegt zwischen ihr und der Gegenwart die Vernichtung des Gymnasiums, vielleicht selbst die Vernichtung der Universität oder mindestens eine so totale Umgestaltung der eben genannten Bildungsanstalten, daß deren alte Tabellen sich späteren Augen wie Überreste aus der Pfahlbautenzeit darstellen möchten.

Für die ruhigen Leser ist das Buch bestimmt, für Menschen, welche noch nicht in die schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen sind und welche noch nicht ein götzendienerisches Vergnügen daran empfinden, von seinen Rädern zermalmt zu werden—das heißt für wenige Menschen! Diese aber können sich nicht daran gewöhnen den Werth jedes Dinges nach der Zeitersparniß oder Zeitvergeudung abzuschätzen, diese "haben noch Zeit"; ihnen ist es noch erlaubt, ohne vor sich selbst Vorwürfe zu empfinden, die guten Stunden des Tages und ihre fruchtbaren und kräftigen Momente auszuwählen und zusammenzusuchen, um über die Zukunft unserer Bildung nachzudenken, diese dürfen selbst glauben auf eine recht nutzbringende und würdige Art ihren Tag verlebt zu haben, nämlich in der meditatio generis futuri. Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch das Geheimniß zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist so verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das Gelesene nachdenkt, vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen gelegt hat. Und zwar nicht um eine Recension oder wieder ein Buch zu schreiben, sondern nur so, um nachzudenken! Strafwürdiger Verschwender! Er, der ruhig und unbesorgt genug ist, um mit dem Autor zusammen einen weiten Weg anzutreten, dessen Ziele erst eine viel spätere Generation in voller Deutlichkeit schauen wird! Wenn der Leser dagegen, heftig erregt, sofort zur That emporspringt, wenn er vom Augenblick die Früchte pflücken will, die sich ganze Geschlechter kaum erkämpfen möchten, so müssen wir fürchten, daß er den Autor nicht verstanden hat.

Die dritte und wichtigste Forderung endlich ist, daß er auf keinen Fall, nach Art des modernen Menschen, sich selbst und seine Bildung unausgesetzt dazwischen bringen darf, gleichsam als ein sicheres Maaß und Kriterium aller Dinge. Wir wünschen vielmehr, er möge gebildet genug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja verächtlich zu denken; dann dürfte er wohl am zutraulichsten sich der Führung des Verfassers überlassen, der es nur gerade von dem Nichtswissen und dem Wissen des Nichtswissens aus wagen durfte, so zu ihm zu reden. Nichts anderes will er eben für sich in Anspruch nehmen, als ein stark entzündetes Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen Barbarei, für das, was uns als Barbaren des neunzehnten Jahrhunderts so merkwürdig von den Barbaren anderer Zeiten unterscheidet.

Nun sucht er, mit diesem Buche in der Hand, nach Solchen, die von einem ähnlichen Gefühle hin- und hergetrieben werden. Laßt euch finden, ihr Vereinzelten, an deren Dasein ich glaube! Ihr Selbstlosen, die ihr die Leiden und Verderbnisse des deutschen Geistes an euch erleidet, ihr Beschaulichen, deren Auge nicht etwa mit hastigem Spähen an dem Äußeren der Dinge herumtastet, sondern den Zugang zum Kern ihres Wesens zu finden weiß, ihr Hochsinnigen, denen Aristoteles nachrühmt, daß ihr zögernd und thatenlos durch's Leben geht, außer wo eine große Ehre und ein großes Werk nach euch verlangen! Euch rufe ich auf! verkriecht euch nur diesmal nicht in den Höhlen eurer Abgeschiedenheit und eures Mißtrauens! Seid wenigstens Leser dieses Buchs, um es nachher, durch eure That, zu vernichten und vergessen zu machen! Denkt euch, es sei bestimmt euer Herold zu sein: wenn ihr erst selbst, in eurer eignen Rüstung, auf dem Kampfplatz erscheint, wen möchte es dann noch gelüsten, nach dem Herold, der euch rief, zurückzuschauen?

Lectures | Über die Zukunft unserer Bildungsantstalten | Einleitung und Vorrede © The Nietzsche Channel