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Nizza, 3. Januar 1888: Geehrtester Herr Verleger, Hier, außer einem guten Gruß und Glückwunsch zum neuen Jahre, nur die Anfrage, ob vielleicht jetzt meine Nota für die ganze Drucklegung bereit ist.2 — Das, was Sie in der Buchhändler-Anzeige meines Buches gesagt haben, hat meine ganze Billigung; auch verstand ich die Intention, ohne erst einer Erklärung zu bedürfen. — Die Adresse des Herrn Dannreuther3 in Newjork fehlt mir auch; lassen wir also diese Sendung unterwegs! — Die übersandten Recensionen sind im Grunde gar nicht zu unterschätzen: sie zeigen eine Art Erstaunen und Neugierde. Solche Prädikate wie "excentrisch" "pathologisch" "psychiatrisch" laufen regelmäßig jedem großen Ereigniß in der Geschichte und der Litteratur voraus: ich bin für meinen Theil für solche Worte dankbarer als für irgendein Lob.4 Ihr ergebenster 1. Constantin Georg Naumann (1842-1911): owner of the German printing and publishing firm C. G. Naumann in Leipzig.
Nizza, 4. Januar 1888: Dein lieber Brief sammt dem Gelde2 glücklich angelangt; schönsten Dank! Nur ein Wort hinsichtlich des Buchs:3 es war der Deutlichkeit wegen geboten, die verschiedenen Entstehungsheerde jenes complexen Gebildes, das Moral heißt, künstlich zu isoliren. Jede dieser 3 Abhandlungen bringt ein einzelnes primum mobile zum Ausdruck; es fehlt ein viertes, fünftes und sogar das wesentlichste ("der Heerdeninstinkt") — dasselbe mußte einstweilen, als zu umfänglich, bei Seite gelassen werden, wie auch die schließliche Zusammenrechnung aller verschiedenen Elemente und damit eine Art Abrechnung mit der Moral. Dafür sind wir eben noch im "Vorspiele" meiner Philosophie. (Zur Genesis des Christenthums4 bringt jede Abhandl[ung] einen Beitrag; nichts liegt mir ferner, als dasselbe mit Hülfe einer einzigen psychologischen Kategorie erklären zu wollen) Doch wozu schreibe ich das? Dergleichen versteht sich eigentlich zwischen Dir und mir von selbst. Treulich und dankbar 1. Elisabeth Förster-Nietzsche edited this postcard and attempted to pass it off as a draft to her husband. Cf. Friedrich Nietzsches gesammelte Briefe. Fünfter Band. Zweiter Theil. Leipzig: Insel-Verlag, 1909, 751.
Nizza, 6. Januar 1888: Lieber Freund, Sie haben mir nicht gesagt, ob ein Brief zwischen Venedig und hier verloren gegangen ist: fast schließe ich daraus, daß es geschehen ist und bedaure es tief. Denn, so wunderlich es klingt, die Briefe aus Venedig sind die einzigen jetzt, die ich ohne Mißtrauen und geheime frissons empfange. In Hinsicht auf alle anderen bin ich bis zur Absurdität reizbar und muß sie wörtlich büßen, mit schlaflosen Nächten und gastrisch-hypochondrischen Tierquälereien. Schlechtes Zeichen! Aber dies soll besser werden. Um gleich von dem letzten Briefe1 zu reden, den ich bekam, vom Dr. G[eorg] Brandes, so brachte er die Meldung, daß die Bücher, welche ich ihm versprochen hatte, nicht eingetroffen sind: kurz, Fritzsch, dieser unverbesserliche Esel, hat nichts gethan, ja mich nicht einmal benachrichtigt, daß er nichts von dem gethan hat, was mein Brief ihm vorschlug. Und ich hatte es in seinem Interesse vorgeschlagen, nachdem er mir seine Noth ausgedrückt hat, irgendwelche Schriftsteller und Gelehrte für mich zu interessiren! Zuletzt ist Dr. B[randes] vielleicht der Einzige, der genug Übung in der Nachrechnung complicirterer Rechen-Exempel der Psychologie hat, um über mich keine grobe Ungereimtheit zu sagen. Seine Briefe sind eminent delikat und französisch, (er sagt von sich "ich bin oft dumm, aber nie im Geringsten bornirt."2 Von Taine, den er sehr liebt, gebraucht er die hübsche Wendung in Bezug auf dessen Geschichte der Revolution, die er nicht ganz billigt, "T[aine] bedauert und haranguirt ein Erdbeben")3 Es macht mir Verlegenheit, hier etwas versprochen zu haben, das ich augenblicklich nicht halten kann. Wollen wir Herrn B[randes] einstweilen unsrerseits das Einzige senden, was im Bereiche unsrer Kräfte steht, nämlich jenes Ineditum,4 dessen Siegelbewahrer Sie sind, liebster Freund? Bitte, lassen Sie ein hübsches Exemplar des vierten Zarathustra nach Kopenhagen abgehn, unter dieser Adresse:
(— er sandte eine sehr gescheute Abhandlung über Zola5 als Schüler und "Verwandten" Taines; insgleichen gab es, zu meiner Überraschung, Nachricht über Dr. Rée und sogar über Fräulein Lou, mit großer Auszeichnung für Beide, die er von Berlin her kennt6) Miss Helen Zimmern7 hat mir von Florenz aus zum Neujahr gratulirt: wissen Sie, die gescheute Engländerin (resp. Jüdin), welche die Engländer mit Schopenh[auer] bekannt gemacht hat. Sie gehört zu den geschätztesten und "bestbezahlten" Mitarbeitern der Times und der großen Revuen. (Den vorletzten Sommer war sie in Sils-Maria, als meine Tischnachbarin) Zuletzt will ich nicht verschweigen, daß diese ganze letzte Zeit für mich reich war an synthetischen Einsichten und Erleuchtungen; daß mein Muth wieder gewachsen ist, "das Unglaubliche" zu thun und die philosophische Sensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zu formulieren. Vorigen Donnerstag habe ich meinen ersten Besuch in Monte Carlo gemacht, zu einem concert classique (welchem auch der Kaiser von Brasilien8 beiwohnte) Lauter modernste französische Musik: oder vielmehr, deutlicher zu reden, lauter schlechter Wagner. Ich halte diese pittoreske Musik ohne Ideen, ohne Form, ohne jedwede Naivetät und Wahrheit nicht mehr aus. Nervös, brutal, unausstehlich zudringlich und großthuerisch — und so geschminkt!! Das Eine war eine Art Seesturm, das Andre eine wilde Jagd, das dritte ein Erinnyen-Ballet (zur Oresteia des Aeschylus!!!)9 Dies ist décadence … Dabei gedachte ich wie eines verlorenen Glückes der Musik meines Venediger maestro; der Oktober bei Ihnen war dies Jahr mein einziges Labsal, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein. Von Herzen Ihr Freund 1. Cf. Copenhagen, 12-15-1887: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Nice.
Nizza, 8. Januar 1888: Verehrter Herr, Sie sollten sich gegen den Ausdruck "Culturmissionär"1 nicht wehren. Womit kann man dies heute mehr sein, als wenn man seinen Unglauben an Cultur "missionirt"? Begriffen zu haben, daß unsre europäische Cultur ein ungeheures Problem und durchaus keine Lösung ist — ist dieser Grad von Selbstbesinnung, Selbstüberwindung nicht eben heute die Cultur selbst? — — Es befremdet mich, daß meine Bücher noch nicht in Ihren Händen sind. Ich will es an einer Erinnerung in Leipzig nicht fehlen lassen. Um die Weihnachtszeit herum pflegt diesen Herrn Verlegern der Kopf zu rauchen. Inzwischen möge es mir gestattet sein, Ihnen ein verwegenes curiosum mitzutheilen, über das kein Verleger zu verfügen hat, ein ineditum von mir, das zum Persönlichsten gehört, was ich vermag.2 Es ist der vierte Theil meines Zarathustra; sein eigentlicher Titel in Hinsicht auf das, was vorangeht und was folgt, sollte sein:
Vielleicht beantworte ich so am besten Ihre Frage in Betreff meines Mitleids-Problems. Außerdem hat es überhaupt einen guten Sinn, gerade durch diesen Geheim-Thür den Zugang zu "mir" zu nehmen: vorausgesetzt, daß man mit Ihren Augen und Ohren durch die Thür tritt. Ihre Abhandlung über Zola4 erinnerte mich wieder wie Alles, was ich von Ihnen kennen lernte (zuletzt ein Aufsatz im Goethe-Jahrbuch5) auf das Angenehmste an Ihre Naturbestimmung, nämlich für alle Art psychologischer Optik. Wenn Sie die schwierigeren Rechenexempel der âme moderne nachrechnen, sind Sie damit ebenso sehr in Ihrem Elemente als ein deutscher Gelehrter damit aus seinem Elemente herauszutreten pflegt. Oder denken Sie vielleicht günstiger über die jetzigen Deutschen? Mir scheint es, daß sie Jahr für Jahr in rebus psychologicis plumper und viereckiger werden (recht im Gegensatz zu den Parisern, wo Alles nuance und Mosaik wird), daß ihnen alle tieferen Ereignisse entschlüpfen. Zum Beispiel mein "Jenseits von Gut und Böse" — welche Verlegenheit hat es ihnen gemacht! Nicht ein intelligentes Wort habe ich darüber zu hören bekommen, geschweige ein intelligentes Gefühl. Daß es sich hier um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität handelt und nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ich glaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen. Man hat nichts dergleichen "erlebt"; man kommt mir nicht mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegen. Ein "Immoralist"? Man denkt sich gar nichts dabei. — Anbei gesagt: die Formel "document humain" nehmen die Goncourt für sich in Anspruch, in irgend einer ihrer Vorreden. Aber auch so dürfte immer noch Ms. Taine der eigentliche Urheber sein.6 Sie haben recht mit dem "Haranguiren des Erdbebens"7: aber eine solche Don-Quixoterie gehört zum Ehrwürdigsten, was es auf der Erde giebt. Mit dem Ausdruck besonderer Hochschätzung Ihr 1. Cf. Nice, 12-02-1887: Letter to Georg Brandes in Copenhagen; Copenhagen, 12-15-1887: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Nice.
Copenhagen, 11. Januar 1888: Verehrter Herr! Ihre Bücher hat der Verleger augenscheinlich vergessen mir zu schicken.1 Aber Ihren Brief habe ich heute mit Dank erhalten. Ich erlaube mir Ihnen anbei in Masse (weil ich leider kein anderes Exemplar bei der Hand habe) eins meiner Bücher2 zu senden, eine Sammlung Essays für den Export bestimmt, daher nicht meine beste Waare. Sie stammen von verschiedenen Zeiten her, sind alle zu galant, zu lobend, zu idealistisch gehalten. Meine ganze Meinung sage ich eigentlich in ihnen nie. Der Aufsatz über Ibsen ist noch der beste, aber die Uebersetzung der Verse, die ich machen liess, ist leider miserabel. Es giebt einen nordischen Schriftsteller, dessen Werke Sie interessiren würden, wenn Sie nur übersetzt wären, Sören Kierkegaard; er lebte 1813-55 und ist meiner Ansicht nach einer der tiefsten Psychologen, die es überhaupt giebt. Ein Büchlein,3 das ich über ihn geschrieben habe (übersetzt Leipzig 1879) giebt keine hinreichende Vorstellung von seinem Genie, denn dies Buch ist eine Art von Streitschrift, geschrieben um seinen Einfluss zu hemmen. Es ist wohl aber in psychologischer Hinsicht das feinste, was ich veröffentlicht habe. Der Aufsatz4 im Goethe-Jahrbuch wurde leider um mehr als ein Drittel verkürzt, weil man den Raum für mich hatte stehen lassen. Er ist dänisch bedeutend besser. Wenn Sie vielleicht polnisch lesen, werde ich Ihnen ein kleines Buch5 schicken, dass ich nur in dieser Sprache veröffentlicht habe. Ich sehe, die neue Rivista eontemporanea in Florenz bringt einen Aufsatz6 von mir über dänische Litteratur. Sie dürfen ihn nicht lesen. Er ist von den wahnsinnigsten Fehlern voll. Er ist nämlich aus dem Russischen übersetzt. Ich hatte ihn aus meinem französischen Text ins Russische übersetzen lassen, konnte diese Uebersetzung nicht kontrolliren; nun erscheint er aus dem Russischen Italienisch mit neuen Lächerlichkeiten; u. A. in den Namen (wegen der russischen Aussprache) immer G für H. Es freut mich, dass Sie etwas für Sie brauchbares in mir sinden. In den letztes 4 Jahren bin ich hier im Norden der angefeindetste Mann. Täglich wüthen die Zeitungen gegen mich, besonders seit meiner letzten langen Fehde mit Björnson, wo die sittlichen deutschen Zeitungen alle gegen mich Partei ergriffen haben. Sie kennen vielleicht sein abgeschmacktes Drama "Der Handschuh",7 seine Propaganda für die Virginität der Männer und seinen Bund mit den weiblichen Fürsprecherinnen der "sittlichen Gleichheitsforderungen". Etwas ähnliches war gewiss bisher unerhört. In Schweden haben die tollen Frauenzimmer grosse Vereine geschlossen, in welchen Sie versprechen, "nur jungfräuliche Männer zu heimchen". Ich denke mir, sie bekommen sie garantirt wie Uhren, nur fehlt die Zukunftsgarantie. Ich habe die drei Bücher8 von Ihnen, die ich kenne, wieder und wieder gelesen. Es giebt ein paar Brücken die von meiner inneren Welt zu der Ihrigen führen, der Cäsarismus,9 der Hass gegen die Pedanterie, der Sinn für Beyle10 etc. etc., aber das meiste ist mir noch fremd. Unsere Erlebnisse scheinen so unendlich verschiedenartige zu sein. — Sie sind ohne Zweifel der anregendste aller deutschen Schriftsteller. Ihre deutsche Litteratur! Ich weiss nicht, was sie hat. Ich denke mir, alle guten Köpfe gehen in den Generalstab oder die Administration. Das ganze Leben und alle Ihre Institutionen steigern bei Ihnen die grässlichste Uniformität, und selbst das Schriftstellerthum wird vom Verlegerthum erstickt. Ihr ergebener und ehrerbietiger Georg Brandes. 1. Nietzsche had asked his publisher, Ernst Wilhelm Fritzsch, to send his complete works to Brandes. Cf. Copenhagen, 12-15-1887: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Nice.
Nizza, 15. Januar 1888: Lieber Freund, das letzte Wort Ihres Briefes überrascht und betrübt mich über alle Maaßen.1 Wie geht doch dergleichen zu? Wie unsinnig, wie zufällig erscheint Einem Alles! Mir ist in solchen Fällen immer, als ob ich aufwachte, und als ob ich im Grunde gar nicht lebte, sondern träumte. Ich weiß mich mit keiner Art Realität mehr zu arrangieren. Wenn ich es nicht zu Stande bringe, sie zu vergessen, bringt sie mich um. Ich erschrecke, wenn ich mir denke, wie Sie sich befinden mögen. Unsre Haut, unsre Einsiedlerhaut ist nicht Fell genug für solche Dinge, — um nichts vom Herzen zu sagen. — Mir fällt der stupide Egoism aufs Gewissen mit dem ich meinen letzten Brief an Sie geschrieben habe, ohne Ihnen etwas Andres zu erzählen als meine incurata und incurabilia. Sonderbar! Nicht in der schlechtesten Zeit meiner Gesundheit ist mir das Leben so sehr als Schwierigkeit erschienen wie jetzt. Es giebt Nächte, wo ich mich auf eine vollkommen demüthigende Weise nicht mehr aushalte. Trotzalledem: es bleibt so Vieles noch zu thun (Alles sogar! —) Folglich wird man's aushalten. Zu dieser "Weisheit" bringe ich's wenigstens den Vormittag. — Musik giebt mir jetzt Sensationen, wie eigentlich noch niemals. Sie macht mich von mir los, sie ernüchtert mich von mir, wie als ob ich mich ganz von Ferne her überblickte, überfühlte; sie verstärkt mich dabei, und jedes Mal kommt hinter einem Abend Musik (— ich habe 4 Mal Carmen2 gehört) ein Morgen voll resoluter Einsichten und Einfälle. Das ist sehr wunderlich. Es ist als ob ich in einem natürlicheren Elemente gebadet hätte. Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrthum, eine Strapatze, ein Exil.3 — Inzwischen hat sich in mir Ihre Pastorale-Musik4 mit dem Nachmittagslicht von San Michele5 in mir verschmolzen: ich möchte Beides um mein Leben gern noch einmal Wiederhören. Nichts Lieberes kann ich mir denken, als daß Sie ein Finale "wälzen." — Wälzen Sie nicht auch ein wenig volumina, ich meine Schreibpapier-Blätter? Herr Avenarius6 hat die letzten Nummern des "Kunstwarts" gesandt, ersichtlich, um Herrn Spitteler als arrivé zu präsentieren. — Fritzsch ist von mir aufs Neue über die Sendung nach Kopenhagen befragt worden.7 Keine Antwort. Dr. B[randes] hat gestern Abend gemeldet, daß Nichts angelangt sei. Ich nehme an, daß die Venediger Sendung8 unmittelbar nach Abgang seines Briefes in seine Hände gelangt sein wird. Meinen besten Dank für Ihre Bemühung, lieber Freund! — (Der Brief war vom 11. Januar.) Er erzählt, unter Anderem, daß er jetzt der angefeindetste Mensch im ganzen Norden sei, und das seit seiner langen letzten Fehde mit Björnson, (bei der übrigens auch alle deutschen Zeitungen gegen Brandes Partei genommen haben: ein schönes Zeichen der Zeit!) Haben Sie nicht von Björnson's Drama "der Handschuh"9 gehört, von seiner Propaganda für die Virginität der Männer und von seinem Bund mit den weiblichen Fürsprecherinnen der "sittlichen Gleichheits-Forderung"? (— dies ist die Formel) In Schweden haben die tollen Frauenzimmer große Vereine geschlossen, in welchen sie versprechen, nur "jungfräuliche Männer zu heirathen." (— also garantirt, wie Uhren, widrigenfalls usw) B[randes] jammert über die gräßliche Uniformität des deutschen Lebens; das deutsche Schriftstellerthum vom Verlegerthum erstickt; alle guten Köpfe in den Generalstab oder die Administration gehend (— "Sie sind ohne Zweifel der anregendste aller deutschen Schriftsteller." Ungefähr das Gleiche hat mir Ms. Taine gesagt)10 Ihre Worte über "reaktive Musik" haben mich sehr interessirt; der Gesichtspunkt könnte deutlicher sein als "klassisch" und "romantisch," und vielleicht der selbe. Sehen Sie, bitte, noch Hasse11 an, das Vorbild Mozarts. Absolute Herrschaft des Wissens um die delikatesten Bedingungen, welche eine schöne Stimme an die Melodie stellt … In treuer Freundschaft Ihr N. Eben langt ein Werk12 des Dr. Brandes bei mir an, das er angekündigt hatte: Aufsätze über Renan, Flaubert, de Goncourt, Turgenjew, Ibsen, St. Mill usw — feines Zeug, wie es scheint. 1. Cf. Venice, 01-09-1888: Letter from Heinrich Köselitz to Nietzsche in Nice: "— Zu Weihnachten erhielt ich die Nachricht vom Tode meiner leipziger Schwester." (On Christmas I received the news of the death of my sister in Leipzig.)
Nizza, 29. Januar 1888: Lenbach1 Ich bin so froh, daß ich wieder habe arbeiten können: oder anders ausgedrückt, daß mein Geist wieder den Muth hatte zu der Aufgabe, in deren Dienst ich bisher gelebt habe. Die Zeiten, wo dieser Muth fehlt, sind über die Maaßen schwer zu überwinden; und da, nach reichlichster Erfahrung geurtheilt, kein M[ensch] einen Begriff hat, worum es sich bei mir handelt und mit was für einer Last [ich] mir das Leben schwer gemacht habe, so weiß auch Niemand, womit man mich etwas [zu] erholen und ermuthigen vermöchte. Meine Versuche in dieser Hinsicht — im Grunde alle meine Reisen nach Deutschland seit 10 Jahren — sind mir ins Gegentheil umgeschlagen, als förmliche Niederlagen und Demüthigungen, deren Consequenz an meiner Gesundheit und leider auch an [meiner] Erinnerung ich immer erst spät losgeworden bin. Ich bin jetzt vorsichtiger… ich hoffe endlich dies absurde Bedürfniß, von den Mitmenschen etwas zu wollen, was sie mir absolut nicht geben könnten, — Erholung, Erquickung, Ermuthigung — losgeworden zu sein. Im Grunde ist es eine Tragödie; das Mißverhältniß ist zu groß geworden. Ich habe diesen Deutschen mitten in der Periode ihres geistigen Niedergangs Werke ersten Ranges gegeben, um deren willen die Nachwelt vielleicht diesem Zeitalter verzeihen wird, daß es dagewesen ist: habe ich auch nur ein Wort tiefen Dankes oder nur den Millionstel Theil der Ehre erfahren, auf den ich dafür Anspruch hätte? Ihr habt alle keinen Glauben an mich — meine Mutter ebenso wenig wie meine Schwester Ich wünsche durchaus, mich nicht wieder der Gefahr auszusetzen, in einem Augenblick, wo ich stolz darauf bin, etwas Unsterbliches gethan zu haben, beschimpft, beschmutzt, verhöhnt zu werden2 — Dergleichen vergißt man nie: [es] wurmt den wohlwollendsten Charakter. — — Wer kommt denn neben mir in diesem Zeitalter in Betracht?.. Aber ich bin von aller Welt preisgegeben… [Ich] habe keine Lust, mir das zu Gemüth zu führen. Seit 10 Jahren wirkt jede Berührung mit dem deutschen Norden auf mich wie eine Niederlage: Du kannst Dir das nicht vorstellen, welchen Eindruck es auf mich gemacht hat, nach den fürchterlichsten Jahren der tiefsten Gesundheits-Erschütterung, nachdem ich das tiefste größte Werk des ganzen J[a]hr[hundert]s hervorgebracht hatte, so behandelt worden zu sein, wie ich jahrelang behandelt worden bin. Dergleichen vergißt man nicht: und so wie jetzt Alles steht, ist nichts mehr wieder gut zu machen.3 1. Franz von Lenbach (1836-1904): German artist. Lenbach's first marriage (1887-1896) was to the daughter of Adolf von Moltke. Nietzsche became acquainted with the Moltkes while visiting Lugano in 1871. Cf. Naumburg, 01-17-1888: Letter from Franziska Nietzsche to Nietzsche in Nice. Nizza, 30. Januar 1888: Meine liebe Mutter, es scheint mir, daß es heute wieder heller und besser steht. Gestern habe ich Dir, wenn ich mich recht erinnere, einen traurigen Geburtstagsbrief1 geschrieben. Ich war halbtodt und müde vor vielen Schmerzen. Auch stand der Himmel voll dicker Schneewolken. Ich glaube, so würde ich mich oft fühlen, wenn ich den Winter im Norden lebte: denn ich bin ein schwermüthiges Thier und habe mehr als Andere den Sonnenschein jeder Art noth. Verzeihung! Dein altes Geschöpf 1. The contents of Naumburg, 02-06-1888: Letter from Franziska Nietzsche to Nietzsche in Nice shows that Nietzsche sent a letter similar to the draft above.
Nizza, 3. Februar 1888: Lieber Freund, hier ist endlich die Rechnung1 des Herrn C. G. Naumann: darf ich Dich bitten, dieselbe mit Hülfe des dazu deponirten Geldes zu berichtigen? Eile thut nicht noth; ich mache mir ein Gewissen daraus, Dich mit solchen Anliegen in Deiner Arbeits-ruhe zu stören. — Auch ich bin sehr in Thätigkeit; und die Umrisse der ohne allen Zweifel ungeheuren Aufgabe,2 die jetzt vor mir steht, steigen immer deutlicher aus dem Nebel heraus. Es gab düstere Stunden, es gab ganze Tage und Nächte inzwischen, wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine schwarze Verzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotzdem weiß ich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg entschlüpfen kann: ich habe gar keine Wahl. Diese Logik hält mich jetzt allein aufrecht: von allen andern Seiten aus betrachtet ist mein Zustand unhaltbar und schmerzhaft bis zur Tortur. Meine letzte Schrift3 verräth etwas davon: in einem Zustande eines bis zum Springen gespannten Bogens thut einem jeder Affekt wohl, gesetzt, daß er gewaltsam ist. Man soll jetzt nicht von mir "schöne Sachen" erwarten: so wenig man einem leidenden und verhungernden Thiere zumuthen soll, daß es mit Anmuth seine Beute zerreißt. Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden menschlichen Liebe,4 die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt, daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von Verwundungen wird: das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für sich, das Recht, nothwendig zu sein. — Habe ich nichts Besseres zu schreiben? Es sind mir schöne Zeichen von Pietät und tiefer Erkenntlichkeit seitens mehrerer Künstler zugekommen: darunter Dr. Brahms,5 H. von Bülow, Dr. Fuchs und Mottl.6 Insgleichen hat ein geistreicher und streitbarer Däne, Dr. G. Brandes, mehrere Ergebenheits-Briefe an mich geschrieben: erstaunt, wie er sich ausdrückt, von dem ursprünglichen und neuen Geiste, der ihm aus meinen Schriften entgegenwehe und dessen Tendenz er als "aristokratischen Radikalismus"7 bezeichnet. Er nennt mich den bei weitem ersten Schriftsteller Deutschlands. — Daß Gersdorff in der gründlichsten und rechtschaffensten Weise sein Verhältniß zu mir wiederhergestellt hat, habe ich Dir wohl schon geschrieben?8 Ich bedaure, nicht das Gleiche von Rohde melden zu können. Auf zwei Briefe, die ich mit dem herzlichsten Willen, ihm wohlzuthun und den vorgekommenen Exceß vergessen zu machen geschrieben habe, hat er nicht geantwortet;9 ebensowenig auf die Zusendung meines letzten Buches.10 Das macht ihm keine Ehre: aber er wird krank sein, er steckt in einer schlechten Haut. — Von Paraguay11 giebt es sehr beruhigende Nachrichten: die Entwicklung der ganzen an sich so gewagten Unternehmung kann nicht anders als glänzend genannt werden. In der neuen Colonie sind c. 100 Personen bereits in Thätigkeit; darunter mehrere sehr gute deutsche Familien (z.B. die Mecklenburger Baron Malzahn's12); meine Angehörigen gehören zu den größten Grundbesitzern in Paraguay; der Einfluß Dr. Försters ist, wie ich ganz indirekt und zufällig gehört habe, derartig gewachsen, daß eine Anwartschaft auf die nächste Präsidentschaft der Republik durchaus nicht außer der Wahrscheinlichkeit liegt.13 Daß er und ich eine Anstrengung sonder Gleichen zu machen haben, um uns nicht direkt als Feinde zu behandeln, kannst Du errathen ... Die antisem[itischen] Blätter fallen über mich in aller Wildheit her (— was mir hundert Mal mehr gefällt als ihre bisherige Rücksicht).14 So viel für heute! Mit besten Wünschen für Dich und Deine liebe Frau Dein N. 1. The printing costs for Zur Genealogie der Moral (On the Genealogy of Morality).
Nizza, 4. Februar 1888: Hochgeehrter Herr Doctor, die Besprechung meiner Litteratur durch Herrn Spitteler hat mir großes Vergnügen gemacht.2 Was für ein feiner Kopf! Und wie gern man sich von ihm tadeln läßt! Er beschränkt sich aus guten Gründen fast ganz auf das Formale: er läßt die eigentliche Geschichte hinter dem Gedachten, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Verhängniß hin einfach bei Seite: — das kann ich nicht genug loben, darin ist wirkliche delicatezza. Es fehlt nicht an Uebereilungen. Er hat ersichtlich die Schriften zum ersten Mal gelesen (und nicht einmal immer gelesen —). Umsomehr bewundere ich die Sicherheit des ästhetischen Taktes, mit der er die Form der verschiedenen Bücher und Epochen von einander abhebt. Ich bin sehr unzufrieden damit, daß "Jenseits" unberücksichtigt geblieben ist: Damit fehlte ihm eigentlich der Boden unter den Füßen, um über die letzterschienene "Streitschrift!" (Genealogie der Moral) mitzureden. Die Schwierigkeit meiner Schriften liegt darin, daß es in ihnen ein Uebergewicht der seltneren und neuen Zustände der Seele über die normalen giebt. Ich lobe das nicht; aber es ist so. Für diese noch ungefaßten und oft kaum faßbaren Zustände suche ich Zeichen; es scheint mir, daß ich darin meine Erfindsamkeit habe. Nichts liegt mir ferner, als der Glaube an einen "allein selig machenden Stil,"3 an den, wenn ich recht verstehe, Herr Spitteler glaubt? Hat nicht die Absicht einer Schrift nicht immer erst das Gesetz ihres Stils zu schaffen? Ich verlange, daß, wenn diese Absicht sich ändert, man auch unerbittlich das ganze Prozedurensystem des Stils ändert. Dies habe ich zum Beispiel im "Jenseits" gethan, dessen Stil meinem früheren Stil nicht mehr ähnlich sieht: die Absicht, das Schwergewicht war verlegt. Dies habe ich nochmals in der letzten "Streitschrift"4 gethan, wo ein Allegro feroce und die Leidenschaft nue, crue, verte an Stelle der raffinirten Neutralität und zögernden Vorwärtsbewegung vom "Jenseits" getreten ist. Es ist möglich, daß Herr Nietzsche mehr Artist ist, als Herr Spitteler es uns glauben machen möchte … Mit meinem verbindlichsten Dank und Gruß Ihr 1. Joseph Viktor Widmann (1842-1911): literary editor of Der Bund. Nizza, 4. Februar 1888: Nachträglich zu meinem eben abgesandten Brief.2 Wir wollen die Neujahrsnummer3 an die vier Adressen lieber nicht schicken. Ich ärgere mich über die Taktlosigkeit des letzten Satzes.4 Andre würden es noch mehr thun … N. 1. Joseph Viktor Widmann (1842-1911): literary editor of Der Bund.
Venedig, 10. Februar 1888: Verehrter Herr Professor! Der heut früh eingetroffene Aufsatz Spitteler's1 erinnert mich an die Pflicht, Ihnen für Ihren gütigen Brief vom 1. ds, wie für die Nummern des "Kunstwartes"2 und den heutigen "Bund"3 meinen freudigen Dank auszusprechen. Die beängstigenden Gefühle,4 von denen ich neulich geplagt war, habe ich mir auskurirt, wie sich meine Katze ihre Krankheiten wegkurirt: durch eine Woche starken Fastens. Jetzt geht es also wieder, und diese Hysterie, oder was es sonst für ein fauler Zustand ist, bleibt mir hoffentlich auf lange vom Leibe. Das bezaubernd helle Wetter unterstützt diese Hoffnung. — Die andere Hoffnung und Aussicht, welche Sie mir zeigten — Corsica —, muss ich freilich und leider lassen. Aber Ihre günstige Meinung über die Umstände, in denen ich stecke, freute mich. — Spitteler's Aufsatz im 'Bund' scheint mir ein tolles Gemisch von richtiger Witterung und Oberflächlichkeit, von Achtung und Unverschämtheit, von Ernst und Trivialität zu sein. Er nimmt Sie beinahe nur von der litterarisch-artistischen Seite und schiesst dabei Böcke, über die ich lachen musste. Seine Citate sind auch häufig entstellt. Über Ihre philosophische Tendenz erhält der Leser keinen Wink; das Ganze ist noch vor einem wirklichen Eindringen in Ihre Welt geschrieben. Als Anzeige wirkt es jedoch stark — und darauf kommt es zunächst allein an. Ich habe mich gewöhnt, derartige Besprechungen endlich nur nach ihrem Einfluss auf den buchhändlerischen Vertrieb anzusehn.5 11. Febr. — Avenarius scheint mir seine Zeitschrift jetzt regelmässig zuschicken zu wollen, worüber ich mich ärgere. Ich habe ein paar Tage an einigen Zeilen für ihn herumgearbeitet und schliesslich Alles wieder beiseit geworfen: Nichts will mir mehr gelingen, Alles verschwimmt vor meinem Auge und scheint mir in Worten immer nur halb wahr, ungerecht, ungenügend, leichtfertig.6 Es ist zum Verrücktwerden! In der Musik ergeht es mir noch schlimmer; da kommt vor Zaudern und ewigem Hin- oder Her-Überlegen und Andersmachen fast Nichts mehr zu Stande. Ich darf mich nicht mehr in Musik setzen. Es ist wahr, dass es mir an jener Art Stolz gebricht, durch die man sich gewisse Sensationen fern hält. Aber worauf sollte ich diesen Stolz begründen? Ist mir nicht Alles schief und verkehrt und in's Stocken gerathen? Die höchste und zugleich einzige Freude war mir der gütige Antheil, den Sie, verehrter Herr Professor, an meinen Versuchen nahmen, und zwar in den ersten Jahren meines Hierseins.7 Jedes Wort von Ihnen machte mich jubeln und heiligte meinen Tag. Ich war kindlich, enthusiastisch, fühlte ein lustvolles Drängen in mir und glaubte mich der unschätzbaren Ehre Ihres Interesses nicht ganz unwürdig; — jetzt ist mir Ihr Antheil ein Vorwurf. Sie, wie ich, haben eine ganz andere Idealität der Musik in der Phantasie, als ich erreichen kann ... Nun, ich will nicht fortfahren; mein einziger Stolz sei die Vergegenwärtigung Ihres väterlichen Wohlwollens und Ihres machtvollen Einflusses auf mich, für den ich mich nur dann erkenntlich genug bezeigen könnte, wenn ich ein höheres Wesen wäre, als ich bin. In Verehrung und Dankbarkeit grüsst Sie 1. Carl Spitteler, "Friedrich Nietzsche aus seinen Werken." In: Der Bund, Sonntagsblatt vom 1. Januar 1888, 38. Jg. Nr. 1. TNC reprint.
Nizza, 10. Februar 1888: das ist die Absurdität meiner Lage: ich habe seit 10 Jahren lauter Meisterwerke hervorgebracht — und man will, daß ich mich ihretwegen entschuldigen soll ich habe meine ungeheure Sache so kühn, so deutlich, mit so starken Gebärden vorgebracht, wie ich noch nie etwas gesagt habe. Ich habe Accente des Zorns, des Hasses darin, die mir unfaßbar sind. aber ich bin indignirt über die leichtfertige Weise,1 sich mit meinem letzten Werke auseinanderzusetzen. Haben Sie einen Begriff davon, was ich geleistet habe? — Aber Sie haben keinen Begriff von mir. [P. Michaelis' Rezension2 ist] die achtbarste Recapitulation meines Gedankengangs, die ich bisher gelesen habe: daß sie mit Abneigung gemacht ist, verarge ich dem Referenten durchaus nicht: — ihre relative Objektivität ist mir um so ehrenwerther (der schließliche Versuch, den er macht mich als Symptom einer gegenwärtigen, socialen Strömung zu verstehn, liegt natürlich abseits von meinen Interessen) 1. Cf. Carl Spitteler, "Friedrich Nietzsche aus seinen Werken." In: Der Bund, Sonntagsblatt vom 1. Januar 1888, 38. Jg. Nr. 1. TNC reprint.
Nizza, 10. Februar 1888: sehr geehrter Herr, haben Sie vielleicht die Neujahrs-Beilage des "Bund" zu sehen bekommen?1 Ich habe mich dafür bei dem ausgezeichneten Redakteur des "Bund" bedankt,2 ein wenig ironice, wie billig. — Herr Spitteler hat eine feine und angenehme Intelligenz; leider lag, wie mir scheint, die Aufgabe selbst in diesem Falle zu sehr abseits und außerhalb seiner gewohnten Perspektiven, als daß er sie auch nur gesehn hätte. Er redet und sieht Nichts als Aesthetica: meine Probleme werden geradezu verschwiegen, — ich selbst eingerechnet. Es ist nicht ein einziger wesentlicher Punkt genannt, der mich charakterisirt. Und zuletzt fehlt es auch im Reiche des Formalen, zwischen vielem Artigen, nicht an Übereilungen und Fehlgriffen. Zum Beispiel: "einen Anti-Strauß hat nur ein Professor begehn können"3 (— womit etwa das Urtheil Karl Hillebrands in "Völker, Zeiten und Menschen"4 zu vergleichen wäre, insgleichen das Unheil Bruno Bauers5 und ungefähr aller tieferen Naturen, die mir damals ihren Dank und ihre Verehrung ausgedrückt haben) Oder: "die kurzen Sprüche gerathen ihm am wenigsten"6 (— und ich Esel habe mir eingebildet, daß seit Anfang der Welt Niemand eine solche Gewalt über den prägnanten Spruch gehabt hat wie ich: Zeugniß mein Zarathustra) Zuletzt findet Herr Spitteler gar vom Stile meiner Streitschrift, er sei das Gegentheil eines guten; ich würfe Alles auf's Papier, wie es mir gerade durch den Kopf gienge, ohne mich auch nur zu besinnen.7 Es handelt sich um ein Attentat auf die Tugend (oder wie man's nennen will); ich spreche mit einer leidenschaftlichen und schmerzlichen Kühnheit von dreien der schwersten Probleme, die es giebt und in denen ich am längsten zu Hause bin; ich schone dabei, wie es in solchen Fällen der höhere Anstand will, mich selbst so wenig als irgend was und wen; ich habe mir dazu eine neue Gebärde von Sprache erfunden für diese in jedem Betracht neuen Dinge — und mein Zuhörer hört wieder nichts als Stil, noch dazu schlechten Stil und bedauert am Ende, seine Hoffnung auf Nietzsche als Schriftsteller sei damit bedeutend gesunken. Mache ich denn "Litteratur"? — Er scheint selbst meinen Zarathustra nur als eine höhere Art von Stilübung zu betrachten (—das tiefste und entscheidendste Ereigniß — der Seele, mit Erlaubniß! — zwischen zwei Jahrtausenden, dem zweiten und dem dritten —) Ein letztes Fragezeichen: warum ist mein "Jenseits" verschwiegen? Ich weiß sehr wohl, daß dasselbe als verbotenes Buch gilt — aber trotzalledem enthält es den Schlüssel zu mir, wenn es einen giebt. Man muß es zuerst lesen. (Ich lege zwei Besprechungen dieses Buchs bei: die des Dr. Widmann8 und die der Nationalzeitung.9 Letztere, abgeneigt und unehrerbietig, wie sie ist, stellt trotzdem den Gedankengang des Buchs mit leidlicher Deutlichkeit hin) Ihnen, werther Herr, zu Dank verpflichtet und, wie ich hoffe, nicht zum letzten Male Friedrich Nietzsche 1. Cf. Carl Spitteler, "Friedrich Nietzsche aus seinen Werken." In: Der Bund, Sonntagsblatt vom 1. Januar 1888, 38. Jg. Nr. 1. TNC reprint.
Nizza, 12. Februar 1888: Lieber Freund, das war kein "stolzes Schweigen," das mir inzwischen den Mund fast gegen Jedermann verbunden hat, vielmehr ein sehr demüthiges, das eines Leidenden, der sich schämt zu verrathen, wie sehr er leidet. Ein Thier verkriecht sich in seine Höhle, wenn es krank ist; so thut es auch la bête philosophe. Es kommt so selten noch eine freundschaftliche Stimme zu mir. Ich bin jetzt allein, absurd allein; und in meinem unerbittlichen und unterirdischen Kampfe gegen Alles, was bisher von den Menschen verehrt und geliebt worden ist (— meine Formel dafür ist "Umwerthung aller Werthe"1) ist unvermerkt aus mir selber etwas wie eine Höhle geworden — etwas Verborgenes, das man nicht mehr findet, selbst wenn man ausgienge, es zu suchen.2 Aber man geht nicht darauf aus ... Unter uns gesagt, zu Dreien3 — es ist nicht unmöglich, daß ich der erste Philosoph des Zeitalters bin, ja vielleicht noch ein wenig mehr, irgend etwas Entscheidendes und Verhängnißvolles, das zwischen zwei Jahrtausenden steht. Eine solche absonderliche Stellung büßt man beständig ab — durch eine immer wachsende, immer eisigere, immer schneidendere Absonderung. Und unsre lieben Deutschen!.. In Deutschland hat man es, obwohl ich im 45.ten Lebensjahr stehe und ungefähr fünfzehn Werke herausgegeben habe (— darunter ein non plus ultra, den Zarathustra —) auch noch nicht zu einer einzigen auch nur mäßig achtbaren Besprechung auch nur eines meiner Bücher gebracht. Man hilft sich jetzt mit den Worten: "excentrisch," "pathologisch," "psychiatrisch."4 Es fehlt nicht an schlechten und verleumderischen Winken in Bezug auf mich; es herrscht ein zügellos feindseliger Ton in den Zeitschriften, gelehrten und ungelehrten — aber wie kommt es, daß nie Jemand dagegen protestirt? daß nie Jemand sich beleidigt fühlt, wenn ich beschimpft werde? — Und Jahre lang kein Labsal, kein Tropfen Menschlichkeit, nicht ein Hauch von Liebe5 — Unter diesen Umständen muß man in Nizza leben. Es wimmelt auch dies Mal von Nichtsthuern, Grecs und anderen Philosophen, es wimmelt von "Meinesgleichen": und Gott läßt, mit dem ihm eigenen Cynismus, gerade über uns seine Sonne schöner scheinen als über das so viel achtbarere Europa des Herrn von Bismarck (— das mit fieberhafter Tugend an seiner Bewaffnung arbeitet und ganz und gar den Aspekt eines heroisch gestimmten Igels darbietet).6 Die Tage kommen hier mit einer unverschämten Schönheit daher; es gab nie einen vollkommneren Winter. Und diesen Farben Nizza's: ich möchte sie Dir schicken. Alle Farben mit einem leuchtenden Silbergrau durchgesiebt; geistige, geistreiche Farben; nicht ein Rest mehr von der Brutalität der Grundtöne. Der Vorzug dieses kleinen Stücks Küste zwischen Alassio und Nizza ist eine Erlaubniß zum Africanismus in Farbe, Pflanze und Lufttrockenheit: das kommt im übrigen Europa nicht vor. Oh wie gern säße ich mit Dir und Deiner lieben verehrten Frau zusammen unter irgend einem homerisch-phäakischen Himmel7 ... aber ich darf nicht mehr südlicher (— die Augen zwingen mich bald zu nördlicheren und stupideren Landschaften) Schreibe mir, bitte, noch einmal über die Zeit, wo Du wieder in München bist und vergieb mir diesen düsteren Brief! Dein getreuer Freund Nietzsche Seltsam! Ich habe drei Tage Deine Ankunft hier im Hôtel erwartet. Es war Besuch aus München angemeldet, man wollte mir nicht sagen, wer; man machte zwei Plätze neben mir bei Tisch frei — Enttäuschung! Es waren alte Spieler und Montecarlisten, welche mir zuwider sind ... 1. Cf. Zur Genealogie der Moral (On the Genealogy of Morality). 3:27. "Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefasst werden (unter dem Titel 'Zur Geschichte des europäischen Nihilismus'; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe)." (Those things are to be more thoroughly and rigorously tackled by me in another context (under the title "On the History of European Nihilism"; I refer to a work that I am preparing: The Will to Power, Attempt at a Revaluation of All Values).) Also see the back cover of Jenseits von Gut und Böse reproduced below.
Nizza, 13. Februar 1888: Lieber Freund, ich hätte Ihnen unter allen Umständen heute geschrieben und will mich am wenigsten dadurch abhalten lassen, daß eben, als schönster Morgengruß, Ihr Brief bei mir eingetreten ist. Das, was Sie mir zuerst erzählen, von einer Art Gemüths-Reconvalescenz, correspondirt angenehmer Weise mit einem eigenen inzwischen bewerkstelligten Fortschritte zur "Vernunft": und sogar in Betreff der Art des Mittels ist unser Instinkt auf derselben Fährte gewesen. — Lieber Freund, ich sage mir jetzt in jedem gesunden Augenblick (— und dabei denke ich wenigstens so sehr an Sie als an mich): "es ist sehr Viel erreicht! Es ist trotzalledem sehr Viel erreicht! man soll bei sich den Muth zu diesem allerberechtigtsten Stolze aufrecht erhalten!" ... — In Wahrheit kommen Sie sogar, bei einer solchen Nachrechnung, was eigentlich erreicht ist, viel besser weg als ich. Ich selber bin über Versuche und Wagnisse, über Vorspiele und Versprechungen aller Art nicht hinausgekommen: aber so Etwas aus der Welt des Vollkommenen und Glücklichen, wie es Ihre ganze Oper1 ist, liegt ruhig in seinem eignen Lichte und winkt nicht, wie Alles bei mir, über sich hinweg —. Und was die "Idealität" in der Musik betrifft, so habe ich noch von meinem letzten Venediger Besuche einen unauslöschlichen Geschmack von Etwas auf der Zunge zurückbehalten, für das ich gar keinen andern Namen habe als "Idealität." Damals sagte ich mir "es steht so gut als es stehen kann mit dem Freunde Köselitz — er erfindet sich seine eignen Heilmittel und reinigt sich mit bains intérieurs von allem Unverdaulichen, das sein Leben in ihn geworfen hat (— Verzeihung für das allzu klinisch gerathene Gleichniß: eine der züchtigsten Damen Frankreichs, Madame Valmore bediente sich des Ausdrucks bains int[érieurs]2 in gewissen Fällen) — Ich fand bei Plutarch,3 mit welchen Mitteln sich Cäsar gegen Kränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfache Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, Strapazen ... — Mein Einwand gegen Venedig liegt vor allem darin, daß es zu sehr einschließt: ich sollte glauben, man müsse eine Kur von Zeit zu Zeit gegen Venedigs Einfluß nöthig haben ... Dann geht oder gienge es vielleicht. — Ein Sprung in die Venediger Alpen? — Es ist erstaunlich, was die variatio sanat.4 Für fruchtbare und weibsartig periodische Wesen (wie es alle Künstler sind) scheint mir das brüske Einlegen von Zwischenakten, Contrasten beinahe unerläßlich. Vielleicht erwägen Sie, liebster Freund, alsbald das Problem Ihres nächsten Sommers — oder schon Frühjahrs? Die Luft in der Heimat Tizian's vielleicht?5 Eine Fußreise dorthin? — Zuletzt wird Ihnen nichts übrig bleiben als sich ganz auf venetianischem Fuß einzurichten: aber dazu gehört, wie mir scheint, die Flucht vor Venedig, Land, Berg, Wald, die ganze in Venedig vergessene Welt. Schließlich möchte ich eine Anfrage nicht unterlassen. Von welchem Orte (oder Menschen) aus glauben Sie jetzt am ersten noch, daß Etwas zu Gunsten Ihres Bekanntwerdens gethan werden könnte? Ist irgend ein Musikfest in Aussicht? (— ein Stuttgarter, erste Hälfte Juni, mit Brahms, Albert, Joachim ist das Einzige, von dem ich weiß) Haben Sie an Riedel vielleicht geschrieben? — Eben fällt mir Bologna ein: großes Fest im Mai. Ist es nicht möglich, Ihrerseits dazu etwas einzuschicken? zur Concert-Aufführung? — — Über Spitteler werden Sie Recht haben.6 Die Sache ist mir verdrießlich. Fritzsch schweigt.7 — Mein Druck bei Naumann hat ca. 200 Thaler gekostet.8 — Ich habe die erste Niederschrift meines "Versuchs einer Umwerthung" fertig: es war, Alles in Allem, eine Tortur, auch habe ich durchaus noch nicht den Muth dazu. Zehn Jahre später will ichs besser machen.9 — Von Herzen (Schreiben Sie mir, bitte, etwas Genaues darüber, was und wieviel jetzt fertig geworden ist und woran Sie noch arbeiten ...) Vor der kleinen prätensiosen und absolut bis jetzt leeren Zeitschrift des Avenarius10 möchte ich eher warnen. Sie brauchen Athem, freien Raum. 1. Heinrich Köselitz's, opera, "Der Löwe von Venedig" (The Lion of Venice). Nizza, 13. Februar 1888: Hochgeehrter Herr Doctor, ich schreibe Ihnen eine Kritik über "die Kritik" ab,2 die mir eben von zuständigster Seite zugeht (— es steht Ihnen frei, dieselbe Herrn Spitteler zu übermitteln). "Spitteler's Aufsatz im 'Bund' scheint mir ein tolles Gemisch von richtiger Witterung und Oberflächlichkeit, von Achtung und Unverschämtheit, von Ernst und Trivialität zu sein. Er nimmt Sie beinahe nur von der litterarisch-artistischen Seite und schießt dabei Böcke, über die ich lachen mußte. Ueber Ihre philosophische Tendenz erhält der Leser keinen Wink; das Ganze ist noch vor einem wirklichen Eindringen in Ihre Welt geschrieben. Als Anzeige wirkt es jedoch stark, — ich habe mich gewöhnt, derartige Besprechungen endlich nur noch nach ihrem Einfluß auf den buchhändlerischen Vertrieb anzusehen." Hochachtungsvoll Ihr ergebenster 1. Joseph Viktor Widmann (1842-1911): literary editor of Der Bund.
Nizza, 19. Februar 1888: Verehrter Herr, Sie haben mich auf das Angenehmste mit Ihrem Beitrag1 zum Begriff "Modernität" verpflichtet: denn gerade diesen Winter ziehe ich in weiten Kreisen um diese Werthfrage ersten Ranges herum, sehr oberhalb, sehr vogelmäßig und mit dem besten Willen, so unmodern wie möglich aufs Moderne herunterzublicken ... Ich bewundere — daß ich es Ihnen gestehe! — Ihre Toleranz im Unheil ebensosehr wie Ihre Zurückhaltung im Urtheil. Wie Sie alle diesen "Kindlein" zu sich kommen lassen! Sogar Heyse!2 — Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen, insgleichen die Bekanntschaft mit Ihrer älteren Litteratur zu erneuern. Dies wird für mich, im besten Sinn des Worts, von Nutzen sein, — und wird dazu dienen, mir meine eigne Härte und Anmaaßung im Urtheil "zu Gemüthe zu führen." — Gestern telegraphirte mir mein Verleger, daß die Bücher an Sie abgegangen sind.3 Ich will Sie und mich mit der Erzählung verschonen, warum dies so spät geschehen ist. Machen Sie, ich bitte Sie, verehrter Herr, eine gute Miene zu dem "bösen Spiel," ich meine, zu dieser Nietzsche’schen Litteratur. Ich selber bilde mir ein, den "neuen" Deutschen die reichsten, erlebtesten und unabhängigsten Bücher gegeben zu haben, die sie überhaupt besitzen; ebenfalls selber für meine Person ein capitales Ereigniß in der Krisis der Werthurtheile zu sein. Aber das könnte ein Irrthum sein; und außerdem noch eine Dummheit —: ich wünsche, über mich nichts glauben zu müssen. Ein paar Bemerkungen noch: sie beziehen sich auf meine Erstlinge (— die Juvenilia und Juvenalia) Die Schrift gegen Strauß, das böse Gelächter eines "sehr freien Geistes" über einen solchen, der sich dafür hielt, gab einen ungeheuren Skandal ab: ich war damals schon Prof. ordin. trotz meinen 24 Jahren, somit eine Art von Autorität und etwas Bewiesenes. Das Unbefangenste über diesen Vorgang, wo beinahe jede "Notabilität" Partei für oder gegen mich nahm und eine unsinnige Masse von Papier bedruckt worden ist, steht in Carl Hillebrand's "Völker, Zeiten und Menschen" Band 2.4 Daß ich das altersmüde Machwerk jenes außerordentlichen Kritikers verspottete, war nicht das Ereigniß, sondern daß ich den deutschen Geschmack bei einer compromittirenden Geschmacklosigkeit in flagranti ertappte: er hatte Straußens "alten und neuen Glauben"5 einmüthig, trotz aller religiös-theologischen Partei-Verschiedenheit, als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geistes (auch des Stils!) bewundert. Meine Schrift war das erste Attentat auf die deutsche Bildung (— jene "Bildung," welche, wie man rühmte, über Frankreich den Sieg errungen habe —); das von mir formulirte Wort "Bildungsphilister" ist aus dem wüthenden Hinundher der Polemik in der Sprache zurückgeblieben. — Die beiden Schriften über Schopenhauer und Richard Wagner6 stellen, wie mir heute scheint, mehr Selbstbekenntnisse, vor allem Selbstgelöbnisse über mich dar als etwa eine wirkliche Psychologie jener mir ebenso tief verwandten als antagonistischen Meister. (— ich war der Erste, der aus Beiden eine Art Einheit destillirte: jetzt ist dieser Aberglaube sehr im Vordergrunde der deutschen Cultur: alle Wagnerianer sind Anhänger Schopenhauers. Dies war anders als ich jung war: damals waren es die letzten Hegelinge, die zu Wagner hielten, und "Wagner und Hegel" lautete die Parole in den fünfziger Jahren noch.) Zwischen "unzeitgemäßen Betrachtungen" und "Menschliches, Allzumenschliches" liegt eine Krisis und Häutung. Auch leiblich: ich lebte Jahre lang in der nächsten Nachbarschaft des Todes. Dies war mein größtes Glück: ich vergaß mich, ich überlebte mich ... Das gleiche Kunststück habe ich noch einmal gemacht. — — So haben wir also einander Geschenke überreicht: ich denke, wie zwei Wanderer, die sich freuen, einander begegnet zu sein? — Ich verbleibe Ihr ergebenster 1. Georg Brandes, Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert. Frankfurt am Main: Ruetten & Loening, 1887.
Nice, 26. Februar 1888: Lieber Freund, trübes Wetter, Sonntag Nachmittag, große Einsamkeit: ich weiß nichts Angenehmeres mir zu erfinden als etwas zu und mit Ihnen reden. Eben merke ich, daß die Finger blau1 sind: meine Schrift wird nur dem erräthlich sein, der die Gedanken erräth … Was Sie über den Stil Wagner in Ihrem Briefe2 sagen, erinnert mich an eine eigne irgendwo geschriebene Auslassung darüber: wie sein "dramatischer Stil" nichts weiter ist als eine Species des schlechten Stils, ja sogar des Nicht-Stils in der Musik. Aber unsre Musiker sehn darin einen Fortschritt … Eigentlich ist Alles ungesagt, ja wie ich argwöhne, fast ungedacht auf diesem Bereiche von Wahrheiten: Wagner selber, als Mensch, als Thier, als Gott und Künstler geht tausendfach über den Verstand und Unverstand unsrer Deutschen hinaus. Ob auch über den der Franzosen? — Ich hatte heute das Vergnügen, mit einer Antwort Recht zu bekommen, wo schon die Frage außerordentlich hazardirt scheinen konnte: nämlich — "wer war bisher am besten vorbereitet für Wagner? wer war am Naturgemäßesten und Innerlichsten Wagnerisch, trotz und ohne Wagner?" — Darauf hatte ich mir seit lange gesagt: das war jener bizarre Dreiviertels-Narr Baudelaire, der Dichter der Fleurs du Mal. Ich hatte es bedauert, daß dieser grundverwandte Geist W[agner]n nicht bei Lebzeiten entdeckt habe; ich habe mir die Stellen seiner Gedichte angestrichen,3 in denen eine Art Wagnerscher Sensibilität ist, welche sonst in der Poesie keine Form gefunden hat (— Baudelaire ist libertin, mystisch, "satanisch," aber vor allem Wagnerisch)4 Und was muß ich heute erleben! Ich blättere in einer jüngst erschienenen Sammlung von Oeuvres posthumes5 dieses in Frankreich auf's Tiefste geschätzten und selbst geliebten Genies: und da, mitten unter unschätzbaren Psychologicis der décadence ("mon coeur mis à nu"6 von der Art, wie man sie im Falle Schopenhauers und Byrons verbrannt hat) springt mir ein unedirter Brief Wagners7 in die Augen, bezüglich auf eine Abhandlung Baudelaire's in der Revue européenne, avril 1861. Ich schreibe ihn ab:
(Wagner war damals 48 Jahre alt, Baudelaire 40: der Brief ist rührend, obschon in miserablem Französisch.) Im selben Buche finden sich Skizzen Baudelaires,8 in denen er auf eine leidenschaftliche Weise Heinrich Heine gegen französische Kritik (Jules Janin) in Schutz nimmt. — Man hat, in der letzten Zeit seines Lebens noch, wo er halb irre war und langsam zu Grunde gieng, Wagnersche Musik wie Medizin an ihm angewandt; und selbst wenn man nur Wagner's Namen nannte, "il a souri d'allégresse."9 (— Einen Brief dieser Art Dankbarkeit und selbst Enthusiasmus hat, wenn mich nicht Alles trügt, Wagner nur noch einmal geschrieben: nach dem Empfang der Geburt der Tragödie.) — Wie geht es jetzt, lieber Freund? Ich habe mir geschworen, eine Zeit lang nichts mehr ernst zu nehmen. Auch dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich wieder "Litteratur" gemacht hätte: diesen Niederschrift10 war für mich; ich will alle Winter von jetzt ab hintereinander eine solche Niederschrift für mich machen — der Gedanke an "Publicität" ist eigentlich ausgeschlossen. — Der Fall Fritzsch ist telegraphisch in Ordnung gebracht.11 — Herr Spitteler hat geschrieben,12 nicht übel, sich für seine "Unverschämtheit" (— so sagt er selbst) entschuldigend. — Der Winter ist hart; es fehlt mir aber augenblicklich Nichts, es wäre denn eine göttliche und stille Musik, Ihre Musik, lieber Freund! Ihr N. Die Zeitungen und Zeitschriften, welchen Fritzsch durch ein artiges Circular letzten Herbst ein Gesammt-Exemplar meiner Schriften angeboten hatte, zum Zweck einer Besprechung, haben ihm sammt und sonders nicht geantwortet — Overbecks Vater ist gestorben, 84 Jahr alt.13 Overbeck selbst ist dazu nach Dresden gereist: wie ich fürchte, zum Nachtheil seiner eigenen Gesundheit, die diesen Winter wieder Schwierigkeiten macht. — Schneestürme überall, Eisbär-Humanität. Aus einem Briefe B[audelaire]s: "ich wage nicht mehr von W[agner] zu reden: man hat sich zu sehr über mich lustig gemacht. Diese Musik ist eine der ganz großen Freuden meines Daseins gewesen: ich habe gut fünfzehn Jahre keine solche Erhebung (vielmehr enlèvement) gefühlt."14 1. Nietzsche's room had no heat.
Copenhagen, 7. März 1888: Verehrter Herr! Sie leben, denke ich mir, in schönem Frühlingswetter; hier oben ist abscheuliches Schneegestöber und seit mehreren Tagen sind wir von Europa abgeschnitten. Ausserdem habe ich heute Abend vor einigen hundert imbecilen Menschen geredet, sehe viel Graues und Tristes um mich und will, um mir den Geist ein wenig zu erfrischen, Ihnen für Ihren Briefe vom 19. Febr. und die reiche Sendung Bücher danken.1 Da ich zu viel zu thun hatte um Ihnen gleich schreiben zu können, sandte ich Ihnen einen Band über die deutsche Romantik,2 den ich in meinem Schranke fand. Ich möchte aber sehr ungern, dass Sie glaubten die Sendung habe anderen Sinn als den eines stummen Dankspruchs. Das Buch ist 1873 geschrieben, 1886 umgearbeitet; aber mein deutscher Verleger3 hat sich eine Menge sprachlicher und anderer Änderungen erlaubt, so dass z. B. die ersten zwei Seiten fast gar nicht von mir sind. Ueberall wo er meine Meinung nicht versteht, schreibt er anderes, behauptend, was ich geschrieben habe, sei nicht deutsch. Ausserdem hatte der Mann mir versprochen das Verlagsrecht der alten Uebersetzung meines Buches zu kaufen. Hat es aber aus sehr unverständiger Sparsamkeit nicht gethan; die Folge ist, dass die deutschen Gerichte mein Buch (weil ich darin Fragmente der alten Uebersetzung aufgenommen) in zwei Instanzen als Nachdruck (!) unterdrückt haben, während der wahre Nachdrucker meiner Werke sie frei verkauft. Die Folge wird vermuthlich sein, dass ich von der deutschen Litteratur mich ganz zurückziehe. Ich sandte den Band weil ich keinen andern hatte. Aber sowohl der 1ste über die Emigranten wie der 4te über die Engländer und der 5te über die französischen Romantiker sind weit, weit besser; con amore geschrieben.4 Der Titel des Buchs "Moderne Geister"5 ist zufällig. Ich habe an zwanzig Bände geschrieben. Ich wollte für das Ausland einen Band über Persönlichkeiten zusammenstellen, die man im Voraus kannte. So kam er zu Stande. Einiges darin hat viel Studium gekostet; so der Aufsatz über Tegnèr,6 der zum ersten Mal etwas Wahres über ihn sagt. Ibsen7 als Persönlichkeit muss Sie interessiren. Er steht leider als Mensch nicht auf der Höhe, die er als Dichter einnimmt. Als Geist ist er von Kierkegaard8 sehr abhängig gewesen, und noch immer mit Theologie sehr durchdrängt. Björnson9 ist in seiner letzten Phase ein ganz gemeiner Laienprediger geworden. Seit mehr als 3 Jahren habe ich kein Buch herausgegeben; ich fühlte mich allzu unglücklich dazu. Die 3 Jahre waren von den schwersten meines Lebens und ich sehe keine Zeichen, dass bessere in Anbruch sind. Doch werde ich jetzt dazu schreiten den 6ten Band meines Werkes10 und noch ein anderes Buch zu veröffentlichen. Es wird viel Zeit nehmen. Ich freute mich herzlich über all die frischen Bücher, blätterte und las. Die Jünglingsbücher11 sind mir viel werth; sie erleichtern mir ja sehr das Verständniss; ich steige jetzt bequem die Stufen hinauf, die zu Ihrem Geist hinaufführen. Mit Zarathustra sing ich zu überstürzend an. Es ist mir lieber aufwärts zu schreiten als kopfüber hinunter zu springen wie in ein Meer. Ich kannte den Aufsatz von Hillebrand12 und las vor Jahren einige erbitterte Ausfälle13 gegen das Buch über Strauss. Für das Wort Bildungsphilister bin ich Ihnen dankbar; ich ahnte nicht, dass es von Ihnen komme. Ich nehme keinen Anstoss an der Kritik von Strauss, obwohl ich Pietät gegen den alten Herrn hege. Er war und blieb der Tübinger Stiftler. Von den übrigen Werken habe ich bis jetzt nur Die Morgenröthe ordentlich und genau studirt. Ich glaube das Buch völlig zu verstehen, habe viele der Gedanken selbst gehabt, andere sind mir neu oder neu ausgeformt, mir aber nicht deshalb fremd. Damit dieser Brief nicht allzu lang werde, nur ein einzelner Punkt. Ich freue mich über den Aphorismus über den Zufall der Ehen (S. 150).14 Warum aber graben Sie nicht hier. Sie sprechen einmal mit einer gewissen Andacht von der Ehe, die durch die Voraussetzung eines Gefühlsideals die Gefühle idealisirt habe — hier aber derber, kräftiger. Warum nicht einmal darüber die volle Wahrheit sagen? Ich bin der Ansicht, dass die Ehe-Institution die ja als Bändigerin der Unthiere viel Nutzen gemacht haben kann, mehr Elend noch über die Menschen bringt als die Kirche gebracht hat. Kirche, Königthum, Ehe, Eigenthum, das sind mir 4 alte ehrwürdige Institutionen welche die Menschheit von Grund aus umbilden muss um aufathmen zu können. Und die Ehe allein unter diesen tödtet die Individualität, lähmt die Freiheit, ist ein verkörpertes Paradoxon. Das aber ist das Erschreckende, dass die Menschheit noch zu roh ist um sie abschütteln zu können. Die sogenannt freiesten Schriftsteller sprechen noch immer von der Ehe mit einer gläubigen Biedermannsmiene, die mich rasend macht. Und sie bekommen Recht, weil es unmöglich ist zu sagen, was man für den Menschentross an ihre Stelle setzen könne. Es ist nichts anderes zu thun als langsam die Opinion umformen. Wie denken Sie darüber? Sehr gerne möchte ich wissen, wie es mit Ihren Augen geht. Es hat mich gefreut zu sehen wie deutlich und klar Ihre Handschrift ist. Aeusserlich geht Ihr Leben dort unten wohl ruhig hin? Das meine ist ein Kampfleben, das verzehrt. Ich bin in diesen Ländern jetzt noch gehasster als ich es vor 17 Jahren war; es ist an sich nicht angenehm doch auch insofern erfreulich als es mir beweist, dass ich noch nicht erschlafft bin und in keinem Punkt meinen Frieden mit der allein herrschenden Mittelmässigkeit gemacht habe. Ihr aufmerksamer und dankbarer Leser Georg Brandes. 1. Nietzsche had asked his publisher, Ernst Wilhelm Fritzsch, to send his complete works to Brandes. Cf. Copenhagen, 12-15-1887: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Nice.
Nice, 20. März 1888: Meine liebe Mutter, Du hast mir mit Deiner Sendung und dem sie begleitenden Briefe1 eine große Freude gemacht: beinahe als ob Du mir ein Geschenk gemacht hättest. Ich war gerade etwas knapp daran mit Finanzen; und vielleicht habe ich schon geschrieben, daß diesen Winter mein Leben im Hôtel sich vertheuert hat. Trotzdem sind auch jetzt noch die Bedingungen, unter denen ich hier lebe, bedeutend unter den durchschnittlichen, die Jedermann hier im Hause zu zahlen hat; und andrerseits habe ich auch diesen Winter etwas, das ich sonst nicht hatte: ein Zimmer, das mir gefällt, hoch, mit einem ausgezeichneten Lichte für meine Augen, neu hergerichtet, mit großem schwerem Tisch, chaise longue, Bücherschrank und mit dunklen roth-braunen Tapeten, die ich selbst ausgewählt habe. Es scheint mir immer noch, daß ich an Nizza festzuhalten habe: sein klimatischer Einfluß ist so wohlthätig wie kein andrer auf mich. Ich kann hier gerade noch einmal so viel Gebrauch von meinen Augen machen als anderswo. Der Kopf ist unter diesem Himmel freier geworden, von Jahr zu Jahr; die unheimlichen Folgen jahrelangen Siechthums in der Nähe und Erwartung des Todes treten hier milder auf. Ich will nicht vergessen, daß auch meine Verdauung hier besser ist als sonst wo; vor allem aber, mein Geist fühlt sich hier aufgeweckter und trägt im Allgemeinen seine Bürde leichter — ich meine die Bürde eines Lebenslooses, zu dem ein Philosoph einmal verurtheilt ist. Ich gehe Vormittags eine Stunde, Nachmittags drei Stunden durchschnittlich spazieren, in scharfem Schritte — Tag für Tag den gleichen Weg: er ist schön genug dazu. Nach dem Abendessen sitze ich noch bis 9 Uhr im Salon, unter fast lauter Engländern und Engländerinnen, bei einer Lampe mit Lampenschirm an meinem Tische. Ich stehe halb sieben auf und mache mir meinen Thee selbst: dazu einige Zwiebäcke. Um 12 Uhr das Frühstück; um 6 Uhr die Hauptmahlzeit. Kein Wein, kein Bier, keine Spirituosen, kein Kaffe: größte Gleichmäßigkeit in der Lebens- und Ernährungsweise. Seit vorigem Sommer habe ich mich an Wassertrinken gewöhnt: ein gutes Zeichen, ein Fortschritt. Übrigens war ich gerade jetzt drei Tage krank: doch ist heute wieder Alles in Ordnung. Für Ende März denke ich Nizza zu verlassen: der Lichtglanz ist mir bereits zu stark, auch die Luft schon zu weich, zu frühlingsmäßig. Es ist möglich, daß ich noch Besuch bekomme: nämlich Seydlitz, der auf seiner Rückreise von Aegypten "mit Weib, Mutter, Hund und Diener" bei mir eintreffen will. Auch der alte Freund Gersdorff schrieb wieder guter Dinge: er hatte gerade seinen Monat Dienst in Berlin hinter sich (— er ist Kammerherr der alten Kaiserin) Aber das Schönste war ein langer Brief2 vom Lama: acht Seiten voll lauter herzlicher und sogar gescheuter Dinge. Noch in Asuncion geschrieben; aber voll guten Muths ("gewiß, ich habe ein Lebensloos, zu dem ich passe, das ist eine schöne Sache" —) Doch drückt sie Besorgniß aus, daß es die nächste Zeit zu viel zu thun giebt: weil eine Unmasse neuer Colonisten angemeldet sind, und vielleicht noch nicht genug dazu vorbereitet ist. — Ich vergaß zu erzählen, daß ein alter Schulkamerad (mein "Unterer"), der Lieutenant Geest3 hier in Pflege der Diakonissen vom rothen Kreuz ist: ich gehe zuweilen hin. Sehr norddeutsche Atmosphäre: Frau von Münchow, Frl. von Diethfurth usw. Meine Tischnachbarin ist auch diesen Winter wieder die Baronin Plänckner, eine geb. Seckendorf So viel, meine liebe gute Mutter! Es umarmt Dich in Dankbarkeit Dein altes Geschöpf. Ich möchte Dir gerne eine förmliche Quittung6 über die Zahlung der ersten Jahres-Zinsen ausstellen: denn so ist es in der Ordnung. Nun bitte ich mir erst zu sagen, was ich schreiben soll. Grüße, mit herzlicher Antheilnahme, Herrn und Frau Rektor Volkmann7 von mir. Was macht Heinze?8 Fast habe ich ihn erwartet. Übrigens war ein Leipziger Professor zwei Tage hier im Hause. 1. Cf. Nice, 03-05-1888: Letter to Franziska Nietzsche in Naumburg. Nizza, 21. März 1888: Werthester Herr Fritzsch, inzwischen ist mir noch Jemand bekannt geworden, der auf eine intelligente Weise das Bekanntwerden meiner Schriften fördert: das ist Herr P. Michaelis, Domhülfsprediger in Bremen. Derselbe ist für die Nationalzeitung thätig: welche in den letzten zwei Jahren bereits zwei Mal über mich (resp. über Bücher von mir) Aufsätze gebracht hat.1 Ersichtlich kennt er die "Morgenröthe" und die "fröhliche Wissenschaft" nicht: ich würde Ihnen vorschlagen, diese beiden Bücher ihm zu übersenden zugleich mit der beiliegenden Karte von meiner Seite. Adresse: Bremen. Am Deich 55. Der ausgezeichnete Däne, Dr Brandes, hat seit dem Empfang der Schriften schon zwei Mal wieder geschrieben, jedes Mal sich unterzeichnend "Ihr aufmerksamer und dankbarer Leser" Mich bestens empfehlend und mit angelegentlichem Glückwunsche zu dem bevorstehenden Familien-Feste2 Ihr ergebenster 1. Paul Michaelis (1863-1934): German writer, and editor of the liberal newspaper Berliner Tageblatt. Michaelis, who had a doctorate in philosophy, reviewed three works by Nietzsche for the National-Zeitung. The two reviews in the National-Zeitung referred to by Nietzsche are: 1) Michaelis' review of Jenseits von Gut und Böse (Beyond Good and Evil). In: National-Zeitung, Berlin 4. Dezember 1886. TNC reprint; and 2) a long two-part review by Albert Lindner of the 1878 second edition of Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (The Birth Of Tragedy Out of the Spirit of Music). In: National-Zeitung, Berlin 6./7. November 1878. Lindner (1831-1888) studied philology and history at Jena and Berlin. He became a private tutor and then gymnasium teacher in Spremberg and Rudolstadt. At the same time, Lindner wrote "historical dramas." In 1872, he became head of the Reichstag library. The latter years of his life were spent in a mental asylum in Dalldorf.
Nizza, 21. März 1888: Lieber Freund inzwischen hat die Gesundheit viel Störung gegeben: sonst hätten Sie längst einen Dankesbrief erhalten. Ich war durch Alles, was Sie mir das letzte Mal in puncto Wagneri schrieben, geradezu erbaut. Sie sind heute der Einzige, der solche Geschmacks-finesses nicht nur haben, sondern auch begründen kann: während ich umgekehrt mich in meiner absurderen Weise zum bloßen Tasten und Tappen verurtheilt fühle. Ich kenne nichts mehr, ich höre nichts mehr, ich lese nichts mehr: und trotzalledem giebt es Nichts, was mich eigentlich mehr angienge als das Schicksal der Musik. Nicht zu vergessen: ich habe doch etwas gehört — drei Sachen von Offenbach (la Pericholle, la grande Duchesse, la fille du tambour-major) — und war entzückt.1 Vier, fünf Mal in jedem Werke erreicht er einen Zustand übermüthigster Bouffonerie, aber in der Form des klassischen Geschmacks, absolut logisch — und dabei noch wunderbar Pariserisch!.. Dabei hat dieses verwöhnte Menschenkind das Glück gehabt, die geistreichsten Franzosen zu Librettisten zu haben: Halévi,2 der jüngst wegen dieser Geniestreiche la belle Helène3 etc. in die Akademie aufgenommen worden ist, Meilhac4 und Andere. Die Texte Offenbachs haben etwas Bezauberndes und sind wahrscheinlich das Einzige, was die Oper zu Gunsten der Poesie bisher gewirkt hat. — Mottl,5 nach dem Sie fragten, hat nichts mehr von sich hören lassen. Ich notiere Ihnen noch ein Wort Seydlitzens, der jüngst aus Aegypten schrieb und wahrscheinlich mir, "zusammen mit Weib, Mutter, Hund und Diener" auf seiner Rückreise einen Besuch abstatten wird.6 Er beklagt sich über den dort wehenden Chamsin "der einer ins Meteorologische übersetzten Brahmsschen Symphonie gleicht: rücksichtslos, sandig, trocken, unbegreiflich, nervenzerrüttend, etwa ein zehnfacher scirocco." — Auch der alte Freund Gersdorff hat wieder geschrieben,7 mit vieler und herzlicher Erinnerung auch an Sie ("— ich denke mit Vergnügen an die guten Stunden, die ich mit ihm und durch ihn erlebte und die nur durch Nerina und Rascovicz getrübt wurden) Auch sagt er "wie viel Kraft und Muth muß man haben, um heute gute Musik zu machen. Es giebt heute kaum einen Menschen, dem Wagner nicht das Concept verrückt hätte." Gersdorff hatte eben seinen Hofdienst wieder hinter sich: er ist, wie Sie wissen werden, Kammerherr der alten Kaiserin. — Etwas ist mir gelungen, worüber Sie lachen werden: ich habe jenem Spitteler (unangenehmen Angedenkens), unaufgefordert, aber im Bewußtsein, daß sonst Niemand etwas für ihn thut, einen Verlegerfür einen dicken Band Aesthetica verschafft: Firma Veit & Co (Hermann Credner in Leipzig, ein "amateur" meiner Litteratur) Sp[itteler] hat sich gehütet, mir dafür zu danken.8 — Von Kopenhagen kommen öfters Briefe,9 immer sehr intelligent, aber auch voll vieler Zeichen einer leidenden Existenz: B[randes] ist dermaaßen im Krieg und allein, daß er Jemanden nöthig zu haben scheint, zu dem er persönlich redet. Das Angenehmste war ein langer Brief10 meiner Schwester, deren Unternehmung überraschend für sie selber geräth: sie haben jetzt 80 Deutsche und 3 Schweizer auf der Colonie "Nueva Germania," und es sind so Viele für die nächsten Monate angekündigt, daß man fürchtet, nicht genug vorbereitet zu sein. — Eben traf eine intelligente und nicht unsympathische Besprechung meiner "Genealogie" in der Nationalzeitung ein: abgesandt von dem Verfasser, P. Michaelis, Domhülfsprediger in Bremen. "Nietzsche ist grob, aber —"11 So viel, lieber Freund: es ist wenig genug. Nun stehe ich wieder vor der widerlichen Erwägung, was ich mit mir die nächsten Monate anfangen soll, bis ich wieder hinauf kann .. Es ist eine schlechte Zeit, es sind alle Versuche und Orte eigentlich mißrathen — noch vom letzten Jahr her habe ich den greulichsten Nachgeschmack von dieser Zwischenzeit, die mich schwach macht und entnervt. Wohin?.. Denn mit Nizza ist es wieder vorbei; der Lichtglanz ist zu stark, die Luft schon zu weich. Zürich? Nimmermehr! Die italiänischen Seen? — drückend, herabstimmend! Die Schweiz? noch zu winterlich, wolkig, nebelig. Ich habe diese ganze Nacht gewacht in der Unruhe solcher Fragen.12 — Mein alter Freund und maestro, es wünscht Ihnen einen guten Morgen Ihr Verzeihung, daß der Brief endet, wie er nicht enden sollte, — ich thue so viel Verkehrtes. 1. Three operettas by Jacques Offenbach (1819-1880): La Périchole (1868); La Grande-Duchesse de Gérolstein (1867); La fille du tambour-majeur (1879).
Nizza, 27. März 1888: Verehrter Herr, ich wünschte sehr, Ihnen für einen so reichen und nachdenklichen Brief schon früher gedankt zu haben: aber es gab Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit, so daß ich in allen guten Dingen arg verzögert bin. An meinen Augen, anbei gesagt, habe ich einen Dynamometer meines Gesammtbefindens: sie sind, nachdem es in der Hauptsache wieder vorwärts, aufwärts geht, dauerhafter geworden, als ich sie je geglaubt habe, — sie haben die Prophezeiungen der allerbesten deutschen Augenärzte zu Schanden gemacht. Wenn die Herren Gräfe1 et hoc genus omne Recht behalten hätten, so wäre ich schon lange blind. So bin ich — schlimm genug! — bei Nr. 3 der Brille angelangt, aber ich sehe noch. Ich spreche von dieser Misère, weil Sie die Theilnahme zeigten, mich darnach zu fragen,2 und weil die Augen in den letzten Wochen besonders schwach und reizbar waren. — Sie dauern mich in Ihrem dies Mal besonders winterlichen und düsteren Norden: wie hält man da eigentlich seine Seele aufrecht! Ich bewundere beinahe Jedermann, der unter einem bedeckten Himmel den Glauben an sich nicht verliert, gar nicht zu reden vom Glauben an die "Menschheit," an die "Ehe," an das "Eigenthum," an den "Staat" ... In Petersburg wäre ich Nihilist: hier glaube ich, wie eine Pflanze glaubt, an die Sonne. Die Sonne Nizza's — das ist wirklich kein Vorurtheil. Wir haben sie gehabt, auf Unkosten vom ganzen Reste Europa's. Gott läßt sie mit dem ihm eigenen Cynismus über uns Nichtsthuer, "Philosophen" und Grecs schöner leuchten als über dem so viel würdigeren militärisch-heroischen "Vaterlande" — Zuletzt haben auch Sie, mit dem Instinkte des Nordländers, das stärkste Stimulans gewählt, das es giebt, um das Leben im Norden auszuhalten, den Krieg, den aggressiven Affekt, den Wikinger-Streifzug. Ich errathe aus Ihren Schriften3 den geübten Soldaten; und nicht nur die "Mittelmäßigkeit," noch mehr vielleicht die Art der selbständigeren und eigeneren Naturen des nordischen Geistes mag Sie beständig zum Kampfe herausfordern. Wie viel "Pfarrer," wie viel Theologie ist in all diesem Idealismus noch rückständig! ... Dies wäre für mich schlimmer noch als bedeckter Himmel, sich über Dinge entrüsten zu müssen, die Einen nichts angehn! — Ihr Erlebniß mit dem Leipziger Verleger Herrn Hermann Credner verstehe ich nur zu gut.4 Auch ich war vor zwei Jahren tief mit ihm engagirt, habe aber bei dem ersten Anzeichen seiner absurden Verleger-Selbstherrlichkeit einen solchen Schreck gehabt, daß ich brüsk mein Manuscript telegraphisch zurückforderte. Er ist voriges Jahr gerichtlich verurtheilt worden, weil er sich erlaubt hatte, in einer Geschichte der neueren deutschen Politik hinter dem Rücken des Autors durch eine heimtückische Nachcorrektur die ganze Tendenz des Werkes umzudrehn! — Er ist der Verleger des deutschen Reichsgerichts.5 — So viel für dies Mal: es ist wenig genug. Ihre "deutsche Romantik"6 hat mich darüber nachdenken machen, wie diese ganze Bewegung eigentlich nur als Musik zum Ziel gekommen ist (Schumann, Mendelsohn, Weber, Wagner, Brahms): als Litteratur blieb sie ein großes Versprechen. Die Franzosen waren glücklicher. — Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein. Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum.7 — Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und dankbar Ihr 1. Alfred Graefe (1830-1899), famous ophthalmologist from Halle whom Nietzsche consulted in April 1878 on the advice of Erwin Rohde.
Kopenhagen, 3. April 1888: Verehrter Herr! Sie haben den Briefboten den Vermittler unhöflicher Ueberfälle1 genannt. Das ist als Regel sehr wahr, sollte auch sat sapienti2 sein, dass er Sie nicht belästige. Ich bin von Natur nicht zudringlich, so wenig, dass ich fast isolirt lebe, schreibe auch selbst ungern Briefe, schreibe überhaupt, wie alle Schriftsteller, ungern. Gestern aber, wie ich Ihren Brief erhalten hatte und eins Ihrer Bücher vornahm, empfand ich plötzlich eine Art Aerger, dass kein Mensch hier in Skandinavien Sie kenne und entschloss mich schnell, Sie mit einem Schlag bekannt zu machen. Der kleine Zeitungsausschnitt3 wird Ihnen sagen, dass ich (der ich eben eine Reihe Vorlesungen über Russland geendigt habe4) neue Vorlesungen über Ihre Schriften5 ankündige. Seit mehreren Jahren habe ich alle meine Vorlesungen wiederholen müssen, weil die Universität die Zuhörer nicht fassen kann; dieses Mal wird es wohl nicht der Fall sein, weil Ihr Name so absolut neu ist, aber die, welche kommen und einen Eindruck Ihrer Werke erhalten werden, das sind die dümmsten nicht. Da ich sehr gern wissen möchte, wie Sie aussehen, bitte ich Sie mir ein Bild von Ihnen zu schenken. Ich lege die letzte Photographie von mir bei.6 Noch möchte ich Sie bitten, mir nur ganz kurz und knapp zu schreiben wann und wo Sie geboren sind und in welchen Jahren Sie Ihre Schriften herausgegeben (lieber: verfasst) haben, denn sie sind nicht datirt. Wenn Sie irgend eine Zeitung haben, worin diese Aeusserlichkeiten stehen, so brauchen Sie nicht zu schreiben.7 Ich bin ein unregelmässiger Mensch und besitze weder Schriftsteller-Lexika noch andere solche, worin Ihr Name sich sinden könne. Die Jugendschriften — die unzeitgemässen — sind mir sehr nützlich gewesen. Wie Sie jung waren und enthusiastisch, auch offen und naiv! Vieles in den reifen Büchern verstehe ich noch nicht recht, Sie scheinen mir oft ganz intime, ganz persönliche Data umzudeuten oder zu generalisiren und geben dem Leser einen schönen Schrein ohne den Schlüssel. Aber das Meiste verstehe ich. Mit Entzücken las ich das Jugendwerk über Schopenhauer; obwohl ich persönlich Schopenhauer wenig verdanke, war es mir aus der Seele gesprochen. Ein Paar kleine pedantische Correcturen: Fröhliche Wissenschaft S. 116. Die angeführten Worte8 sind nicht die letzten Chamforts, sie stehen bei ihm selbst: Caractères et Anecdotes9: Gespräch zwischen M. D. und M. L. als Erklärung des Satzes: Peu de personnes et peu de choses m'intéressent, mais rien ne m'intéresse moins que moi. Der Schluss ist: en vivant et en voyant les hommes, il faut que le coeur se brise ou se bronze. S. 118 sprechen Sie von der Höhe "in welche Shakespeare Cäsar stellt."10 Ich finde den Cäsar Shakespeares erbärmlich. Ein Majestätsverbrechen. Und diese Verherrlichung des armseligen Kerls, der nichts anderes konnte als ein Messer in einen grossen Mann stechen! Menschliches, Allzumenschl. II S. 59. Eine heilige Lüge. "Es ist die einzige heilige Lüge, die berühmt geworden ist."11 Nein, die letzten Worte Desdemonas12 sind vielleicht noch schöner und eben so berühmt, oft angeführt in Deutschland zur Zeit, wo Jakobi über Lessing13 schrieb. Nicht wahr? Diese Kleinigkeiten sollen Ihnen nur sagen, dass ich Sie aufmerksam lese. Ich hätte selbstverständlich ganz andere Sachen mit Ihnen zu besprechen, aber für Briefe taugt das nicht. Wenn Sie Dänisch lesen, möchte ich Ihnen eine kleine, schön ausgestattete, Arbeit über Holberg14 senden, die in 8 Tagen erscheinen wird. Sagen Sie mir, ob Sie unsere Sprache verstehen. Wenn Sie Schwedisch lesen, mache ich Sie auf das einzige Genie Schwedens, August Strindberg,15 aufmerksam. Wenn Sie über Frauen schreiben, sind Sie ihm sehr ähnlich. Möchten Sie nur Gutes an Ihren Augen erleben! Ihr ergebener 1. Cf. Der Wanderer und sein Schatten (The Wanderer and His Shadow), §261.
Turin, 7. April 1888: Lieber Freund, wie hat mir das wohlgethan! Der erste Gruß, der mich hier empfieng, war von Ihnen; und der letzte, der mich in Nizza erreichte, war auch von Ihnen. Und wie gute seltsame Dinge meldeten Sie! Daß Ihr Quartett1 in irgend welcher kalligraphischen Vollkommenheit vor Ihnen liegt und daß Sie seinethalben nun auch diesen Winter segnen! Im Grunde wird man eine sehr anspruchsvolle Art Mensch, wenn man bei sich sein Leben durch Werke sanktionirt: namentlich verlernt man damit, den Menschen zu gefallen. Man ist zu ernst, sie spüren das: es ist ein teufelsmäßiger Ernst hinter einem Menschen, der vor seinem Werke Respekt haben will.. Lieber Freund, ich benutze die erste Windstille einer sehr stürmischen Fahrt, um an Sie zu schreiben. Vielleicht giebt mir dies einige Ruhe und Haltung: denn ich war bisher außer Rand und Band und bin noch nie unter so ungünstigen Verhältnissen gereist. Ist es möglich, zwischen Montag und Samstag so viel absurde Dinge zu erleben! Es mißrieth Alles, von Anfang; ich lag zwei Tage krank, wo? — in Sampierdarena. Glauben Sie ja nicht, daß ich dahin habe reisen wollen. Nur mein Koffer hatte die ursprüngliche Intention nach Turin festgehalten; wir Andern, nämlich mein Handgepäck und ich, giengen in verschiednen Richtungen auseinander. Und wie theuer war die Reise! Wie bereicherte man sich an meiner Armut! Ich bin wirklich nicht gemacht mehr zum Alleinreisen: es regt mich zu sehr auf, so daß ich Alles dumm anfange. Auch hier gieng es zunächst drunter und drüber. Nachts schlaflos, erstaunt, nicht begreifend, was der Tag Alles gebracht hatte. — Wenn ich Sie einmal wieder sehe, will ich Ihnen eine Scene in Savona beschreiben, die einfach in die fliegenden Blätter2 gehörte. Nur machte sie mich krank. — In Genua bin ich herumgegangen wie ein Schatten unter lauter Erinnerungen. Was ich einstmals dort liebte, fünf sechs ausgesuchte Punkte, gefiel mir jetzt noch mehr: es schien mir von unvergleichlicher bleicher noblesse und hoch über Allem, was die Riviera bietet. Ich danke meinem Schicksal, daß es mich in diesen harte und düstre Stadt in den Jahren3 der décadence verurtheilt hatte: geht man aus ihr heraus, so ist man auch jedes Mal aus sich heraus gegangen — der Wille weitet sich wieder, man hat nicht den Muth mehr, feige zu sein. Ich war nie dankbarer als bei dieser Eremitage bei Genua. — Aber Turin! Lieber Freund, seien Sie beglückwünscht! Sie rathen mir nach dem Herzen! Das ist wirklich die Stadt, die ich jetzt brauchen kann! Dies ist handgreiflich für mich und war es fast vom ersten Augenblick an: wie schauderhaft auch die Umstände meiner ersten Tage waren. Vor allem miserables Regenwetter, eisig, unbeständig, auf die Nerven drückend, mit schwülen halben Stunden dazwischen. Aber was für eine würdige und ernste Stadt! Gar nicht Großstadt, gar nicht modern, wie ich gefürchtet hatte: sondern eine Residenz des 17 Jhs. welche nur Einen commandirten Geschmack in Allem hatte, den Hof und die noblesse. Es ist die aristokratische Ruhe in Allem festgehalten: es giebt keine mesquinen Vorstädte; eine Einheit des Geschmacks, die bis auf die Farbe geht (die ganze Stadt ist gelb, oder rothbraun) Und für die Füße wie für die Augen ein klassischer Ort! Was für Sicherheit, was für Pflaster, gar nicht zu reden von den Omnibus und trams, deren Einrichtung hier bis ins Wunderbare gesteigert ist! Man lebt, scheint es, billiger hier als in den andern großen Städten Italiens, die ich kenne; auch hat mich noch Niemand betrogen. Man hält mich für einen "ufficiale tedesco"4 (während ich diesen Winter im offiziellen Fremden-Verzeichniß Nizza's comme Polonais5 figurirte) Nein, was für ernste und feierliche Plätze! Und der Palaststil ohne Prätension; die Straßen sauber und ernst — und Alles viel würdiger als ich es erwartet hatte! Die schönsten Cafés, die ich sah. Diese Arkaden haben bei einem solchen Wechsel-Clima etwas Nothwendiges: nur sind sie großräumig, sie drücken nicht. Abends auf der Pobrücke: herrlich! Jenseits von Gut und Böse!! Das Problem bleibt das Wetter Turins. Ich habe außerordentlich bisher unter ihm gelitten: ich erkannte mich kaum wieder. — Es grüßt Sie in dankbarer Ergebenheit Ihr Freund Nietzsche 1. GSA 102/138: "Provençalische Hochzeit Streichquartett" (a/k/a "Minnesängers Brautfahrt").
Turin, 10. April 1888: Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! — Wo haben Sie den Muth hergenommen, von einem vir obscurissimus öffentlich reden1 zu wollen!.. Denken Sie vielleicht, daß ich im lieben Vaterlande bekannt bin? Man behandelt mich daselbst, als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nöthig hat, ernst zu nehmen ... Offenbar wittern sie, daß auch ich sie nicht ernst nehme: und wie sollte ichs auch, heute, wo "deutscher Geist" ein contradictio in adjecto2 geworden ist! — Für die Photographie3 bedanke ich mich uf das Verbindlichste. Leider giebt es nichts dergleichen auf meiner Seite: die letzten Bilder, die ich besaß, hat meine Schwester, die in Südamerika verheirathet ist, mit davon genommen. Anbei folgt eine kleine vita, die erste, die ich geschrieben habe. Was die Abfassungszeiten der einzelnen Bücher betrifft, so stehen sie auf dem Titel-Rückblatt4 von "Jenseits von Gut und Böse." Vielleicht haben Sie das Blatt nicht mehr. "Die Geburt die Tragödie"5 wurde zwischen Sommer 1870 und Winter 1871 abgefaßt (beendet in Lugano, wo ich zusammen mit der Familie des Feldmarschall Moltke6 lebte) Die "Unzeitgemäßen Betrachtungen" zwischen 1872 und Sommer 1875 (es sollten 137 werden: die Gesundheit sagte glücklicherweise Nein!) — Was Sie über "Schopenhauer als Erzieher" sagen,8 macht mir große Freude. Diese kleine Schrift dient mir als Erkennungszeichen: wem sie nichts Persönliches erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mit mir zu thun. Im Grunde steht das Schema darin, nach dem ich bisher gelebt habe: sie ist ein strenges Versprechen. "Menschliches, Allzumenschliches" sammt seinen zwei Fortsetzungen Sommer 1876-1879.9 Die "Morgenröthe" 1880.10 Die "fröhliche Wissenschaft" Januar 1882.11 Zarathustra, 1883-188512 (jeder Theil in ungefähr zehn Tagen. Vollkommener Zustand eines "Inspirirten," Alles unterwegs, auf starken Märschen concipirt: absolute Gewißheit, als ob jeder Satz Einem zugerufen wäre. Gleichzeitig mit dem Gefühl größter körperlicher Elasticität und Fülle —) "Jenseits von Gut und Böse," Sommer 1885 im Oberengadin und folgenden Winter in Nizza. Die "Genealogie," zwischen dem 10. und 30. Juli 1887 beschlossen, durchgeführt und druckfertig an die Leipziger Drukkerei geschickt. (Natürlich giebt es auch Philologica von mir. Das geht aber uns Beide nichts mehr an.) Ich mache eben einen Versuch mit Turin, ich will hier bis zum 5.ten Juni bleiben, um dann ins Engadin zu gehn. Winterlich, hart, böse bis jetzt. Aber die Stadt superb ruhig und meinen Instinkten schmeichelnd. Das schönste Pflaster der Welt. Es grüßt Sie Ihr dankbar ergebener Nietzsche Ein Jammer, daß ich weder Dänisch noch Schwedisch verstehe.13 Vita.14 Ich bin am 15. Okt. 1844 geboren, auf dem Schlachtfelde von Lützen. Der erste Name, den ich hörte, war der Gustav Adolfs. Meine Vorfahren waren polnische Edelleute15 (Niëzky); es scheint, daß der typus gut erhalten ist, trotz dreier deutscher "Mütter." Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza's comme Polonais. Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej[k]o's16 vorkomme. Meine Großmutter gehörte zu dem Schiller-Goethe'schen Kreise Weimars;17 ihr Bruder wurde der Nachfolger Herders in der Stellung des Generalsuperintendenten Weimars.18 Ich hatte das Glück, Schüler der ehrwürdigen Schulpforta19 zu sein, aus der so Viele (Klopstock, Fichte, Schlegel, Ranke20 usw. usw.), die in der deutschen Litteratur in Betracht kommen, hervorgegangen sind. Wir hatten Lehrer, die jeder Universität Ehre gemacht hätten (oder haben —) Ich studirte in Bonn,21 später in Leipzig;22 der alte Ritschl,23 damals der erste Philolog Deutschlands, zeichnete mich fast von Anfang an aus. Ich war mit 22 Jahren Mitarbeiter des "litterarischen Centralblattes" (Zarncke)24 die Gründung eines philolgischen Vereins in Leipzig,25 der jetzt noch besteht, geht auf mich zuräck. Im Winter 1868-69 trug mir die Universität Basel eine Professur an; ich war noch nicht einmal Doktor. Die Universität Leipzig hat mir die Doktorwürde hinterdrein gegeben, auf eine sehr ehrenvolle Weise, ohne jedwede Prüfung, selbst ohne eine Dissertation. Von Ostern 1869-1879 war ich in Basel; ich hatte nöthig, mein deutsches Heimatsrecht aufzugeben,26 da ich als Offizier27 ("reitender Artillerist") zu oft einberufen und in meinen akademischen Funktionen gestört worden wäre. Ich verstehe mich, nichts desto weniger, auf zwei Waffen: Säbel und Kanonen — und, vielleicht, noch auf eine dritte ... Es gieng Alles sehr gut in Basel, trotz meiner Jugend; es kam vor, bei Doktorpromotionen namentlich, daß der Examinand älter war als der Examinator. Eine große Gunst wurde mir dadurch zu theil, daß zwischen Jakob Burckhardt und mir eine herzliche Annäherung zu Stande kam: etwas Ungewöhnliches bei diesem sehr einsiedlerischen und abseits lebenden Denker. Eine noch größere Gunst, daß ich vom Anfang meiner Basler Existenz an in eine unbeschreiblich nahe Intimität28 mit Richard und Cosima Wagner gereith, die damals auf ihrem Landgute Tribschen bei Luzern wie auf einer Insel und wie abgelöst von allen früheren Beziehungen lebten. Wir haben einige Jahre alles Große und Kleine gemeinsam gehabt: es gab ein Vertrauen ohne Grenzen. (Sie finden in den gesammelten Schriften Wagners (Band 7) ein "Sendschreiben"29 desselben an mich abgedruckt, bei Gelegenheit der "Geburt der Tragödie") Von jenen Beziehungen aus habe ich einen großen Kreis interessanter Menschen (und "Menschinnen") kennen gelernt, im Grunde fast Alles, was zwischen Paris und Petersburg wächst. Gegen 1876 verschlimmerte sich meine Gesundheit. Ich brachte damals einen Winter in Sorrent30 zu, mit meiner alten Freundin der Baronin Meysenbug ("Memoiren einer Idealistin"31) und dem sympathischen Dr. Rée. Es wurde nicht besser. Ein äußerst schmerzhaftes und zähes Kopfleiden stellte sich heraus, das alle meine Kräfte erschöpfte. Es steigerte sich in langen Jahren bis zu einem Höhepunkt habitueller Schmerzhaftigkeit, so daß das Jahr damals für mich 200 Schmerzenstage hatte. Das Übel muß ganz und gar lokale Ursachen gehabt haben: es fehlt jedwede neuropathologische Grundlage. Ich habe nie ein Symptom von geistiger Störung gehabt; selbst kein Fieber, keine Ohnmacht. Mein Puls was damals so langsam wie der des ersten Napoleons (= 60) Meine Spezialität war, den extremen Schmerz cru, vert mit vollkommener Klarheit zwei bis drei Tage hintereinander auszuhalten, unter fortdauerndem Schleim-Erbrechen. Man hat das Gerücht verbreitet, als ob ich im Irenhause gewesen sei (oder gar darin gestorben sei)32 Nichts ist irrthümlicher. Mein Geist wurde sogar in dieser fürchterlichen Zeit erst reif: Zeugniß die "Morgenröthe," die ich in einem Winter von unglaublichem Elend in Genua, abseits von Ärzten, Freunden und Verwandten, geschrieben habe. Dies Buch ist eine Art "Dynamometer" für mich: ich habe es mit einem Minimum von Kraft und Gesundheit verfaßt. Von 1882 an ging es, sehr langsam freilich, wieder aufwärts: die Krisis schien überwunden (— mein Vater ist sehr jung gestorben, exakt in dem Lebensjahr, in dem ich selbst dem Tode am nächsten war33) Ich habe auch heute noch eine extreme Vorsicht nöthig; ein paar Bedingungen klimatischer und meteorologischer Art sind unerläßlich. Es ist nicht Wahl, sondern Zwang, daß ich die Sommer im Oberengadin, die Winter an der riviera zubringe ... Zuletzt hat mir die Krankheit den allergrößten Nutzen gebracht: sie hat mich heraus gelöst, sie hat mir den Muth zu mir selbst zurückgegeben ... Auch bin ich, meinen Instinkten nach, ein tapferes Thier, selbst ein militärisches: der lange Widerstand hat meinen Stolz ein wenig exasperirt. — Ob ich ein Philosoph bin? — Aber was liegt daran!.. 1. Cf. Copenhagen, 04-03-1888: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Nice.
Turin, kurz nach dem 14. April 1888: Lieber Herr Fritzsch, mit beiliegendem Briefe, den ich zu lesen bitte, meldet sich ein in New York lebender Bewunderer1 meines Zarathustra, bereit, meinen Schriften überhaupt durch einen englisch geschriebenen Essai in seinem Lande "zur gebührenden Achtung zu verhelfen." Die beigelegte Liste seiner eignen Schriften,2 litterar- und kulturhistorischen Inhalts, scheinen eine gewisse Garantie zu geben: sie geben sogar zu verstehn, daß wir es mit einer Hauptpersonnage des litterarischen Völker-Verkehrs zu thun haben. Entscheiden Sie vollkommen nach Ihrem Ermessen, ob seinem Wunsche beizupflichten ist. Principiell weisen alle meine Erfahrungen darauf hin, daß meine Wirksamkeit peripherisch beginnt und erst von da aus auf das "Vaterland" zurückströmen wird. Eben meldet man mir, daß ein im Auftrage des Florentiner Archivio Stor[ico]3 gemachter sehr umfänglicher Gesammtbericht über neuere deutsche Geschichtslitteratur meine Gesichtspunkte aus der 2. Unzeitgemäßen B[etrachtung] sehr zu Ehren bringt: diese italiänische Publikation des genannten Archivio Stor Hochachtungsvoll Ihr Adresse bis 4. Juni: Torino (Italia) ferma in posta von da an: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. 1. Karl Knortz. Cf. Sils Maria, June 21, 1888: Letter to Karl Knortz in Evansville, Indiana. Unfortunately, Knortz's letter, along with his attached list, is lost.
Nizza, 20. April 1888: Lieber Freund, wie merkwürdig ist das Alles! Daß nun doch noch der Stern über Berlin1 aufgehn soll! Daß es wieder einen kleinen Flügelschlag der Hoffnung giebt! — Eigentlich gehört die Diversion Ihrer letzten Zeit, von der Sie melden, zu den unwahrscheinlichsten und unvorhergesehensten Dingen, die auf dieser Erde möglich sind. Man glaubt wieder an's Wunder: ein großer Fortschritt in der Kunst zu leben! ... Daß da etwas Heiteres und Buntes Ihnen über den Weg geflogen ist, das macht mich ganz glücklich, lieber Freund: denn genau das hätte Ihnen geschafft werden sollen — aber was sind wir Andern alle für düstere Esel und Nachteulen! ... Da war einmal die Krause'sche Philosophie am Platz — und nicht die Nietzschesche! ... Was letztere angeht, so muß es wirklich so Etwas geben, so fern man einer dänischen Zeitung2 trauen darf, die neuerdings bei mir anlangte. Sie meldet, daß an der Universität in Kopenhagen ein Cyklus öffentlicher Vorlesungen "om den tüzke Filosof Friedrich Nietzsche" abgehalten wird. Von wem? Sie errathen es! ... Was man diesen Herrn Juden noch Alles verdanken wird! — Denken Sie einmal an meine Leipziger Freunde3 an der Universität: und wieviel Meilen weit sie von dem Gedanken entfernt sind, über mich zu lesen! — Turin, lieber Freund, ist eine capitale Entdeckung. Ich sage Einiges darüber, mit dem Hintergedanken, daß unter Umständen auch Sie davon Nutzen ziehn könnten. Ich bin guter Laune, in Arbeit von früh bis Abend — ein kleines Pamphlet über Musik4 beschäftigt meine Finger — verdaue wie ein Halbgott, schlafe, trotz dem daß die Carossen Nachts vorüber rasseln: alles Zeichen einer eminenten Adaptation von Nietzsche an Torino. Das thut die Luft: — trocken, anregend, lustig; es gab Tage mit dem allerschönsten Engadin-Charakter der Luft. Wenn ich an meine Frühlinge anderswo denke, z. B. in Ihrer unvergleichlichen Zauber-Muschel: wie groß ist der Gegensatz: der erste Ort, in dem ich möglich bin! ... Und dabei Alles entgegenkommend, die Menschen sympathisch und guten Muths. Man lebt billig: 25 fs. mit Bedienung ein Zimmer im historischen Centrum der Stadt, vis-à-vis dem grandiosen palazzo Carignano von 1780: fünf Schritt von den großen portici und dem piazzo Castello, von der Post, vom teatro Carignano! — In letzterem, seitdem ich hier angekommen bin, Carmen:5 natürlich!!! successo piramidale, tutto Torino carmenizzato!6 Der gleiche Capellmeister7 wie in Nizza. Außerdem Lala Roekh von Fél[icien] David,8 dem Lehrer Bizets. Ein junger Componist führt eine Operette auf, zu der er selbst den Text gedichtet hat, Herr Miller junior.9 Im Adreßbuch sind 21 Componisten verzeichnet, 12 Theater, eine accademia philarmonica, ein Lyceum für Musik und eine Unzahl von Lehrern aller Instrumente. Moral: beinahe ein Musik-Ort! — Die weiträumigen hohen portici sind ein Stolz: ihre Ausdehnung beträgt 20020 Meter10 d. h. zwei gute Stunden zum Marschiren. Dreisprachige große Buchhandlungen. Dergleichen habe ich noch nirgends getroffen. Die Firma Löscher11 sehr aufmerksam für mich. Ihr jetziger Chef Hr. Clausen unterrichtet mich in vielen Dingen (— ich erwäge im Stillen die Möglichkeit eines Winters hierselbst) Eine treffliche Trattoria, wo man den deutschen Professor aufs Artigste behandelt: ich zahle für jede Mahlzeit incl. Trinkgeld 1 fs. 25 ct. (minestra oder risotto, ein gutes Stück Braten, Gemüse und Brod — alles schmackhaft!) Das Wasser herrlich; der Café in den ersten Cafés 20 ct. das Kännchen; das Eis, höchste Cultur, 30 ct. Dies Alles giebt Ihnen einen Begriff. — Heute ist der Himmel bedeckt und regnerisch. Aber es scheint mir nicht, daß ich verdrießlich bin. Vom Sommer sagt man mir, daß bloß 4 Stunden des Tags wirklich heiß sind. Die Morgen und die Abende erfrischt. Man sieht mitten aus der Stadt heraus in die Schneewelt hinein: es scheint, daß man nichts zwischen sich hat, daß die Straßen direkt in die Alpen hineinlaufen. Der Herbst soll die schönste Zeit sein. Zuletzt muß ein Energie-gebendes Element hier in der Luft sein: wenn man hier heimisch ist, wird man König von Italien12 ... Soviel, mein lieber alter Freund! Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr N. Ich moralisire so: Sie brauchen einen Ort, wo Sie das ganze Jahr leben können, aber unter anderen meteorologischen Einflüssen als in Venedig, vielleicht auch der Musik benachbarter, der Aufführbarkeit ... Und Italien sollten wir festhalten!!!!!! Erzählen Sie mir noch ein wenig von Ihrem Quartett.13 Wohin es führt. 1. Heinrich Köselitz's prospective employment as a music teacher for Margarete von Krause. Klara Victoria Adelaide Margarete von Krause (1868-?) was the daughter of Friedrich Wilhelm von Krause (1838-1923), a wealthy banker in Berlin, head of "F. W. Krause & Co." Köselitz had met her in Venice. He hoped she would help get his opera, "Der Löwe von Venedig" (The Lion of Venice), produced in Berlin.
Kopenhagen, 29. April 1888: Verehrter Herr! Das erste Mal, als ich über Ihre Werke redete,1 war der Saal nicht ganz voll, vielleicht ein anderthalb hundert Zuhörer, weil man gar nicht wusste, wer und was Sie seien. Als eine grosse Zeitung aber meinen ersten Vortrag referirt und als ich selbst einen Artikel über Sie geschrieben hatte, war das Interesse rege, und die folgenden Male ist der Saal zum Bersten voll gewesen.2 Wohl ungefähr 300 Zuhörer achten mit der grössten Aufmerksamkeit auf meine Auslegung Ihrer Arbeiten. Die Vorträge zu wiederholen, wie ich seit vielen Jahren pflege, habe ich jedoch nicht gewagt, weil das Thema so wenig populär ist. Ich hoffe Ihnen auf diese Weise einige gute Leser im Norden zu schaffen. Ihre Werke stehen jetzt sehr schön gebunden in einem meiner Bücherbörte. Ich möchte gern Alles was Sie ausgeführt haben, besitzen. Da Sie mir in Ihrem ersten Brief3 ein Musikwerk von Ihnen, einen "Hymnus an das Leben" anboten, schlug ich aus Bescheidenheit die Gabe aus, weil ich in der Musik nicht sehr competent bin. Jetzt glaube ich das Werk durch mein Interesse da für verdient zu haben und würde Ihnen sehr verpflichtet sein, wenn Sie es mir zukommen lassen wollten. Ich glaube den Eindruck meiner Zuhörer darin zusammenfassen zu können, dass Sie so empfunden haben, wie ein junger Maler mir es ausdrückte: Dies ist so interessant, weil es sich nicht von Büchern handelt, sondern von dem Leben. Wo etwas in Ihren Ideen misfällt, da ist es als "allzu sehr auf die Spitze gestellt." Es war nicht hübsch von Ihnen, mir kein Bild zu senden; ich schickte wahrlich das meine nur um Sie ein wenig zu verpflichten. Es ist eine so geringe Mühe, eine Minute einem Photographen zu sitzen, und man kennt jeden Menschen weit besser wenn man eine Idee von seinem Aussehen hat.4 Ihr ganz ergebener 1. In April-May 1888 (April 10, 17, 24, May 1, 5), Georg Brandes held five lectures on Nietzsche. The lectures were reported with notices (presumably by Brandes) in the Danish newspaper Dagbladet Politiken, which also published a biographical article on Nietzsche (again, presumably by Brandes) on April 20.
Turin, 4. Mai 1888: Verehrter Herr, was Sie mir erzählen,1 macht mir großes Vergnügen und mehr noch, daß ich's gestehe — Überraschung. Seien Sie überzeugt davon, daß ich's Ihnen "nachtrage": Sie wissen, alle Einsiedler sind "nachträgerisch"? .. Inzwischen wird, wie ich hoffe, meine Photographie bei Ihnen angelangt sein. Es versteht sich von selbst, daß ich Schritte that, nicht gerade um mich zu photographiren (denn ich bin gegen Zufalls-Photograph[i]en äußerst mißtrauisch), sondern um Jemandem, der eine Photographie von mir hat, dieselbe zu entfremden.2 Vielleicht ist mir's gelungen; denn noch weiß ich es nicht. Im andren Falle will ich meine erste Reise nach München (diesen Herbst wahrscheinlich) benutzen, um mich wieder zu versinnbildlichen. Der "Hymnus auf das Leben" wird dieser Tage seine Reise nach Kopenhagen antreten. Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn man uns mit den Künstlern verwechselt. Man versichert mich übrigens von Seiten der ersten Sachverständigen, daß der Hymnus durchaus aufführbar, singebar und in Hinsicht auf Wirkung sicher sei (— "rein im Satz": dies Lob hat mir am meisten Freude gemacht) Der vortreffliche Hofkapellmeister Mottl von Carlsruhe (Sie wissen, der Dirigent der Bayreuther Festaufführungen) hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt.3 — Aus Italien meldet man mir eben, daß die Gesichtspunkte meiner 2. Unzeitgemäßen Betrachtung in einem Berichte über deutsche Geschichts-litteratur sehr zu Ehren gebracht seien, den ein Wiener Gelehrter Dr. von Zdekauer im Auftrage des Florenzer Archivio storico gemacht hat.4 Der Bericht läuft in dieselben aus. — Diese Wochen in Turin (wo ich noch bis zum 5. Juni bleibe) sind mir besser gerathen als irgend welche Wochen seit Jahren, — vor allem philosophischer. Ich habe fast jeden Tag ein, zwei Stunden jene Energie erreicht, um meine Gesammt-Conception von Oben nach Unten sehn zu können: wo die ungeheure Vielheit von Problemen, wie ein Relief und klar in den Linien, unter mir ausgebreitet lag. Dazu gehört ein maximum von Kraft, auf welches ich kaum mehr bei mir gehofft hatte. Es hängt Alles zusammen, es war schon seit Jahren Alles im rechten Gange, man baut seine Philosophie wie ein Biber, man ist nothwendig und weiß es nicht: aber das Alles muß man sehn, wie ich's jetzt gesehen habe, um es zu glauben. — Ich bin so erleichtert, so gestärkt, so guter Laune, — ich hänge den ernstesten Dingen einen kleinen Schwanz von Posse an. Woran hängt das Alles? Sind es nicht die guten Nordwinde, denen ich das verdanke, diesen Nordwinde, die nicht immer aus den Alpen kommen? — sie kommen mitunter auch aus Kopenhagen! Es grüßt Sie dankbar ergeben 1. Cf. Copenhagen, 04-29-1888: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Turin.
Turin, 23. Mai 1888: Verehrter Herr, ich möchte Turin nicht verlassen, ohne Ihnen nochmals auszudrücken, wie vielen Antheil Sie an meinem ersten wohlgerathenen Frühling haben. Die Geschichte meiner Frühlinge, seit 15 Jahren zum Mindesten, war nämlich eine Schauergeschichte, eine Fatalität von décadence und Schwäche. Die Orte machten darin keinen Unterschied; es war als ob kein Recept, keine Diät, kein Clima den wesentlich depressiven Charakter dieser Zeit verändern könnten. Aber siehe da! Turin! Und die ersten guten Nachrichten, Ihre Nachrichten,1 verehrter Herr, aus denen mir bewiesen ward, daß ich lebe … Ich pflege nämlich mitunter zu vergessen, daß ich lebe. Ein Zufall, eine Frage erinnerte mich dieser Tage daran, daß in mir ein Hauptbegriff des Lebens geradezu ausgelöscht ist, der Begriff "Zukunft." Kein Wunsch, kein Wölkchen Wunsch vor mir! Eine glatte Fläche! Warum sollte ein Tag aus meinem siebzigsten Lebensjahr nicht genau meinem Tage von heute gleichen? — Ist es, daß ich zu lange in der Nähe des Todes gelebt habe, um die Augen nicht mehr für die schönen Möglichkeiten aufzumachen? — Aber gewiß ist, daß ich jetzt mich darauf beschränke, von heute bis morgen zu denken, — daß ich heute festsetze, was morgen geschehn soll — und für keinen Tag weiter! Das mag unrationell, unpraktisch, auch vielleicht unchristlich sein — jener Bergprediger verbot gerade diese Sorge "um den andern Tag"2 — aber es scheint mir im höchsten Grade philosophisch. Ich bekam vor mir etwas Respekt mehr, als ich ihn sonst schon habe: ich begriff, daß ich verlernt hatte, zu wünschen, ohne es auch nur gewollt zu haben. — Diese Wochen habe ich dazu benutzt, "Werthe umzuwerthen."3 — Sie verstehen diesen Tropus? — Im Grunde ist der Goldmacher die verdienstlichste Art Mensch, die es giebt: ich meine der, welcher aus Geringem, Verachtetem etwas Werthvolles und sogar Gold macht. Dieser allein bereichert; die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios dies Mal: ich habe mich gefragt,4 was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist: — und daraus gerade habe ich mein "Gold" gemacht … Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man wird es thun. — — Ist meine Photographie in Ihre Hände gelangt? meine Mutter hat mir den großen Dienst erwiesen, in einem so außerordentlichen Falle nicht undankbar erscheinen zu müssen.5 Hoffentlich hat auch der Leipziger Verleger E. W. Fritzsch seine Schuldigkeit gethan und den Hymnus expediert. Ich bekenne zuletzt eine Neugierde. Da es mir versagt war, an der Thürspalte zu horchen,6 um etwas über mich zu erfahren, würde ich gern auf eine andere Weise etwas horchen mögen. Drei Worte zur Charakteristik der Themata Ihrer einzelnen Vorlesungen — wie viel wollte ich aus drei Worten lernen! Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und ergeben Ihr 1. Cf. Copenhagen, 04-29-1888: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Turin.
Turin, 23. Mai 1888: Verehrter Herr! Für Brief und Bild und Musik1 habe ich bestens zu danken. Der Brief und die Musik waren unbedingt erfreulich, das Bild hätte besser sein können. Es ist ein Profilbild aus Naumburg, charakteristisch in der Form, aber mit zu wenig Ausdruck. Sie müssen anders aussehen; der welcher Zarathustra geschrieben hat, muss viel mehr Geheimnisse in seinem Gesicht geschrieben haben. Meine Vorträge über Fr. Nietzsche habe ich vor Pfingsten geschlossen.2 Es endigte wie die Zeitungen sagen, mit einem Beifall "der die Form einer Ovation annahm."3 Die Ovation kommt Ihnen fast gänzlich zu. Ich erlaube mir Ihnen dieselbe hierdurch schriftlich mitzutheilen. Denn mein Verdienst war nur der, klar und in Zusammenhang, für nordische Zuhörer verständlich, das wiederzugeben, was bei Ihnen in ursprünglicher Form vorlag. Ich versuchte auch, Ihr Verhältnis zu verschiedenen Zeitgenossen zu bezeichnen, in die Werkstatt Ihrer Gedanken einzuführen, meine eigenen Lieblingsgedanken, wo sie mit den Ihrigen zusammentrafen, hervorzuheben, meine Abweichungen von Ihnen zu bestimmen, und ein psychologisches Bild von dem Autor Nietzsche zu geben. So viel kann ich ohne Uebertreibung sagen: Ihr Name ist jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens sehr populär, und in ganz Skandinavien wenigstens überall bekannt. Sie haben mir nicht zu danken; es ist mir ein Vergnügen gewesen, mich in Ihre Gedankenwelt zu vertiefen. Gedruckt zu werden verdienen meine Vorlesungen nicht, weil ich das rein Philosophische nicht als mein Fach ansehe und nicht gern etwas drucke, das einen Gegenstand behandelt, in welchem ich mich nicht hinreichend competent fühle. Es freut mich sehr, dass Sie sich körperlich so gestärkt und geistig so wohl aufgelegt fühlen. Hier ist nach langem Winter der milde Frühling gekommen. Wir freuen uns über das erste Grün und über eine sehr schön eingerichtete nordische Ausstellung, die wir in Kopenhagen haben. Auch alle hervorragenden französischen Künstler (Maler und Bildhauer) haben hier ausgestellt. Ich sehne mich jedoch fort, aber muss bleiben. Doch dies kann Sie nicht interessiren. Ich vergass Ihnen zu sagen: Wenn Sie die isländischen Sagen nicht kennen, müssen Sie dieselben studiren. Sie werden Manches darin sinden, dass Ihre Hypothesen und Theorien über die Moral einer Herren-Race bestärkt. In einer kleinen Einzelheit haben Sie wohl nicht das Rechte getroffen. Gotisch hat mit gut und Gott gewiss Nichts zu thun.4 Es hängt mit giessen zusammen, der den Saamen ausgiesst, bedeutet Hengst, Mann. Dagegen meinen die hiesigen Philologen, dass Ihre Andeutung bonus — duonus treffend sei.5 Ich hoffe, dass wir uns nicht in der Zukunft jemals ganz fremd werden. Ich bin Ihr treuer Leser und Verehrer 1. Cf. Turin, 05-23-1888: Letter to Georg Brandes in Copenhagen.
Turin, 25. Mai 1888: Lieber Freund, die Pariser sind eben toll vor Begeisterung für — die Matthäus-Passion!!1 Der Figaro, wirklich der Figaro! hatte eine ganze Seite2 einer Notenbeilage gewidmet: der schwermüthigen Arie "Erbarme dich, mein Gott" … Hier hat Teatro Carignano geschlossen, natürlich mit Carmen:3 es hat davon 2 Monate gelebt. Dem Publikum wurden 3 andre Opern4 angeboten: es wies sie der Reihe nach ab. Die Zahl der Vorstellungen war für mich erstaunlich: man hat mehrmals drei Abende hintereinander das Werk vorgeführt. Am Schluß sehr respektable Geschenke an den maestro Mugnone,5 goldne Remontoir-Uhr und dergl. Die Operetten-Componisten scheinen in Italien die Orchester in der Hand zu haben: ich habe 2 Fälle hier vor Augen. Der Canti6 z. B. der Componist von "la nuova befana"7 benutzt seine Stelle als maëstro, um auch sonst sich aufzuführen; in Zwischenakten ein Lied oder eine sinfonia "eigens für diesen Abend componirt." — Es grüßt Sie der verunglückte Musikus8 1. Johann Sebastian Bach (1685-1750), St. Matthews Passion (1727). Turin, 27. Mai 1888: Was Sie für Augen haben! Der Nietzsche auf der Photographie ist in der That noch nicht der Verfasser des Zarathustra, — er ist ein Paar Jahre zu jung dazu.1 Für die Etymologie von gote bin ich sehr dankbar: dieselbe ist einfach göttlich!2 — Ich nehme an, daß Sie heute auch einen Brief von mir lesen? Ihnen dankbar zugethan 1. Nietzsche probably had this photo sent to Brandes.
Turin, 31. Mai 1888: Wenn ich Ihnen sofort wieder antworte, so wird es Ihnen nicht zweifelhaft sein, woran es mir fehlt, — daß Sie mir fehlen, lieber Freund! Wie sehr auch der Frühling mir gerathen ist, er bringt mir gerade das Beste nicht, das, was auch die schlimmsten Frühlinge mir bisher brachten — Ihre Musik! Dieselbe ist mit meinem Begriff "Frühling" zusammengewachsen — seit Recoaro!1 — ungefähr so, wie das sanfte Glockenläuten über der Lagunenstadt mit dem Begriff "Ostern."2 So oft mir eine Ihrer Melodien einfällt, bleibe ich mit einer langen Dankbarkeit an diesen Erinnerungen hängen: ich habe durch Nichts so viel Wiedergeburt, Erhebung und Erleichterung erfahren wie durch Ihre Musik. Sie ist meine gute Musik par excellence, für die ich innewendig mir immer ein reinlicheres Kleid anziehe als zu aller anderen. Ich erlaubte mir, vorgestern Theaterberichte des Dr. Fuchs3 an Sie abzusenden. Es ist viel Feines und Erlebtes darin. Die Vorlesungen4 des Dr. Brandes sind auf eine schöne Weise zu Ende gegangen, — mit einer großen Ovation, von der aber B[randes] behauptet, daß sie nicht ihm gegolten habe. Er versichert mich, daß mein Name jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekannt sei. Es scheint, daß meine Probleme diesen Nordländer sehr interessirt haben; im Einzelnen waren sie besser vorbereitet, z. B. für meine Theorie einer "Herren-Moral"5 durch die allgemeine genaue Kenntniß der isländischen Sage,6 die das reichste Material dafür abgiebt. Es freut mich, zu hören, daß die dänischen Philologen meine Ableitung von bonus gutheißen und acceptiren: an sich ist es ein starkes Stück, den Begriff "gut" auf den Begriff "Krieger" zurückzuführen. Ohne meine Voraussetzungen würde nie ein Philologe auf einen solchen Einfall gerathen können.7 — Es ist wirklich schade, daß Sie nicht eine Ausschweifung in's Cadore8 gemacht statt in's Papierschwärzerische.9 Mein schlechtes Beispiel verdirbt ersichtlich Ihre an sich sehr viel besseren Sitten. Das Wetter war sehr geeignet zu einer solchen Gebirgs-Entdeckung: ich selbst zwar habe auch keinen Gebrauch davon gemacht und bin in ähnlicher Weise darüber mit mir unzufrieden. Eine wesentliche Belehrung verdanke ich diesen letzten Wochen: ich fand das Gesetzbuch des Manu in einer französischen Übersetzung,10 die in Indien, unter genauer Controle der hochgestelltesten Priester und Gelehrten daselbst, gemacht worden ist. Dies absolut arische Erzeugniß, ein Priestercodex der Moral auf Grundlage der Veden, der Kasten-Vorstellung und uralten Herkommens — nicht pessimistisch, wie sehr auch immer priesterhaft — ergänzt meine Vorstellungen über Religion in der merkwürdigsten Weise. Ich bekenne den Eindruck, daß mir alles Andere, was wir von großen Moral-Gesetzgebungen haben, als Nachahmung und selbst Carikatur davon erscheint: voran der Aegypticismus; aber selbst Plato scheint mir in allen Hauptpunkten einfach bloß gut belehrt durch einen Brahmanen. Die Juden erscheinen dabei wie eine Tschandala-Rasse, welche von ihren Herren die Principien lernt, auf die hin eine Priesterschaft Herr wird und ein Volk organisirt ... Auch die Chinesen scheinen unter dem Eindruck dieses klassischen uralten Gesetzbuchs ihren Confucius und Laotse hervorgebracht zu haben. Die mittelalterliche Organisation sieht wie ein wunderliches Tasten aus, alle die Vorstellungen wieder zu gewinnen, auf denen die uralte indisch-arische Gesellschaft ruhte — doch mit pessimistischen Werthen, die ihre Herkunft aus dem Boden der Rassen-décadence haben. — Die Juden scheinen auch hier bloß "Vermittler" — sie erfinden nichts. Soviel, mein lieber Freund, zum Zeichen, wie gern ich mich mit Ihnen unterhielte —. Dienstag Abreise.11 — Von Herzen 1. In 1881, Köselitz played for Nietzsche the score of his comic opera "Scherz, List und Rache" when they were together in Recoaro. Cf. explanatory note of Heinrich Köselitz. In: Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe. Vierter Band. Friedrich Nietzsches Briefe an Peter Gast. Hrsg. von Peter Gast. Leipzig: Insel Verlag, 1908, 450.
[Sils-Maria], 16. Juni 1888: Meine liebe Mutter, es geht nicht zum Besten. Verzeih, wenn ich etwas kurz schreibe. Das Geld von Kürbitz1 mußt Du unter allen Umständen acceptiren, sonst kann ich ja nicht meine Bestellungen machen, wie ich’s nöthig habe! Du hast vielleicht nicht mehr im Gedächtniß, was ich von Turin aus schrieb. Ich will dies Mal meinen ganzen Bedarf von Schinken aus Naumburg haben. Im vorigen Sommer habe ich ihn aus Basel, aus Zürich, aus St. Gallen und anderswoher bezogen, mit allerhand Verdruß und Enttäuschung: so daß ich’s nicht wiederholen will. Ich mußte es, wie Du Dir denken kannst, immer mit meiner Gesundheit abbüßen, wenn eine Bestellung schlecht oder halb-genügend ausfiel. Was mir eigentlich allein gut bekommen ist, das war die allerletzte Naumburger Sendung vom September: die runde dicke Lachsschinken-wurst.2 Deshalb schrieb ich von Turin, daß ich dies Mal von vornherein vernünftig sein wolle und nicht erst alle möglichen schlechten Experimente machen. Da mein Sommer die Länge von 4 Monaten ungefähr hat, so brauche ich mindestens noch 12 Pfund = 6 Kilo Lachsschinken. Es handelt sich um meine ganze Abendmahlzeit für 4 Monate. Wenn Du einen Begriff von der Schwierigkeit meiner Ernährung gerade hier unter den enorm kostspieligen Fremdenverkehr-Verhältnissen hättest, so würdest Du auch sofort verstehn, daß diese sehr einförmige und langweilige Diät relativ bei weitem die billigste und auch gesündeste für mich ist. Ich darf absolut nichts mehr riskiren; je regelmäßiger, desto besser. In einer großen Stadt, wie Turin, steht mir natürlich jede Abwechslung zu Gebote: hier aber nicht (— es wird sofort schrecklich theuer, da ich schon für ein sehr einfaches Mittagessen 2 frs. 25 ct. = 19 Groschen (ohne Trinkgeld) gebe. — Wenn es Dir Mühe macht, meine gute Mutter, so gieb mir eine gute Adresse für ein Geschäft in Gotha oder in Braunschweig. Am Liebsten wäre es mir freilich, so, wie ich’s mir ausgedacht hatte: daß Du selbst den Schinken aussuchtest und zusendetest (— die Kosten des Transport fallen natürlich ebenfalls mir zu —)[.] Ich bin mit der kleinen Wurst fertig: sie war zu trocken, wegen ihrer Kleinheit. Die größere ist besser, doch lange nicht so gut, wie die dicke runde vom letzten Herbst. Ich glaube, man thut gut, recht große zu schicken. Die übersandten 3 Pfund reichen etwa im Ganzen 14 Tage: das heißt, ich habe noch für 6 Tage zu essen. Sei nicht böse, daß ich Dir solche Mühe mache: aber ich bitte Dich, sofort wieder eine größere Sendung als das letzte Mal abzuschicken: und vom Allerbesten. Die Kosten dafür kommen bei mir gar nicht in Betracht, wenn es sehr gut und gesund ausfällt, gieb also gerne etwas mehr, vorausgesetzt, daß es prima Qualität ist. — Und geh, bitte, zu Kürbitz!!!! Der Honig ist mir leider sehr schlecht bekommen: ganz wie im vorigen Sommer. Es trat Erbrechen ein. Das ist Wachs-Honig: aber mein Magen weiß auf keine Art mit Wachs fertig zu werden. — Ich lege den Einen Brief vom Lama3 bei; der andre folgt das nächste Mal, damit der Brief nicht doppelt wird. Es wundert mich, daß Lisbeth nichts von meinen 8 Briefen sagt, die ich ihr von Nizza diesen Winter geschrieben habe. In Liebe Ich habe Dir noch gar nicht für Deinen herzlichen Brief gedankt.4 Nach Naumburg kommen, unter meinen Gesundheits-Verhältnissen, ist freilich nicht möglich: es ist nicht Liebhaberei, was mich zum Engadin und zu Nizza verurtheilt[.] — — Als Adresse genügt eigentlich Sils-Engadin, Schweiz: es giebt nämlich noch 2 andre Sils, nicht im Engadin. 1. Nietzsche had transferred 30 marks to his mother's account with the Naumburg banker Ernst Julius Kürbitz (1845-?).
Turin, 17. Juni 1888: Verehrtes Fräulein es schneit eben aus Leibeskräften: ich sitze in meiner Höhle und überlege mit einiger Schwermuth, ob nicht das Wetter (oder der Wettermann) den Verstand verloren hat. Als ich hier ankam,1 war es schwül, lästig, eine Hitze von 24 Grad; es kam mich fast eine Reue an, Turin verlassen zu haben, wo wir zwar täglich 31 C. hatten, aber aria limpida elastica und jenen berühmten Zephyr, von dem ich früher nur durch die Dichter wußte. Hier oben schmolzen 26 Lawinen; wohin man spazieren ging, fand man Haufen weichen Schnees: — ich war 6 Tage krank, ehe ich mich wieder mit Sils und dem Leben vertrug. — Dies schreibe ich im Grunde, um Sie einzuladen, hier herauf zu kommen. Ich zweifle nicht, daß Sie besseres Wetter mitbringen — und jene Vernunft, die das Wetter verloren hat. In der "Alpenrose"2 sind vierzehn Personen — fast lauter Hamburger und Hamburgerinnen. Das flieht Alles vor dem tropischen Gluth-Sommer, der uns versprochen ist — und sitzt nun im Schnee. Ich habe eben, mit Hülfe meteorologischer Tabellen, folgende ganz unwahrscheinlich klingende Wahrheit festgestellt. "Der Januar in Italien"
Das bedeutet, daß im Winter, je tiefer man nach Süden steigt, das Wetter schlechter ist (— weniger helle Tage, mehr Regentage und ein immer trüberer Himmel —) Und wir glauben alle instinktiv das Gegentheil!! Das schreibe ich im Grunde, um zu fragen, was Sie in Rom und mit Rom erlebt haben. Ich habe oft meine Zweifel gehabt, ob gerade dieser Winter, wo Rom außerdem noch im Pilgrim-Dunst3 lag, Ihnen Freude gemacht hat. Aber zuletzt waren Sie gar nicht dort: ich habe so lange nichts mehr von Ihnen gehört. Von meiner Schwester sind die allerbesten Nachrichten da: zuletzt eine Beschreibung des festlichen Einzugs in die neue Residenz Nueva-Germania, die mich ganz bezaubert hat. Die Unternehmung gedeiht; sie hat bereits jetzt einen großartigen Aspekt.4 Haben Sie davon gehört, daß ich inzwischen berühmt geworden bin? Nämlich in Dänemark, woselbst, zu meinem größten Erstaunen, der Dr. Georg Brandes für meine Philosophie Propaganda macht. Er hat einen längeren Cyklus Vorlesungen "über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche" an der Kopenhagener Universität gelesen — und ich habe Gründe zu glauben, daß er damit einen großen Erfolg gehabt hat. Man spricht im ganzen Norden jetzt von mir ("Herren-Moral" scheint das Schlagwort)5 Mit der Bitte, mir ein freundliches Wort hier herauf zu sagen bin ich Ihr ergebenster Diener Was macht Fräulein Resa? Ist sie bereits promota?6 — Und Ihre dichterische Freundin?7 1. On June 5, 1888.
Sils-Maria, 21. Juni 1888: Hochgeehrter Herr! Das Eintreffen von zwei Werken Ihrer Feder, das mich Ihnen zu Dank verpflichtet, scheint mir zu verbürgen, daß inzwischen meine Litteratur in Ihren Besitz übergegangen ist.1 Die Aufgabe, ein Bild von mir, sei es vom Denker, sei es vom Schriftsteller und Dichter zu geben, scheint mir außerordentlich schwer. Der erste größere Versuch der Art ist letzten Winter von dem ausgezeichneten Dänen Dr. Georg Brandes gemacht worden, der Ihnen als Litterarhistoriker bekannt sein wird. Derselbe hat unter dem Titel "Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche" einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität über mich veranstaltet, deren Erfolg, nach allem, was mir von dort gemeldet worden ist, ein glänzender gewesen sein muß. Er hat eine Zuhörerschaft von 300 Personen für die Kühnheit meiner Problem-Stellungen lebhaft interessirt und, wie er selbst sagt, meinen Namen im ganzen Norden populär gemacht.2 Sonst habe ich eine mehr verborgene Hörer- und Verehrerschaft, zu der auch einige Franzosen, wie Mr. Taine3 gehören. Meine innerste Überzeugung ist, daß diese meine Probleme, diese ganze Position eines "Immoralisten" für heute noch viel zu früh, noch viel zu unvorbereitet ist. Mir selbst liegt der Gedanke an Propaganda vollkommen fern; ich habe noch nicht einen Finger dafür gerührt. Von meinem Zarathustra glaube ich ungefähr, daß es das tiefst Werk ist, das in deutscher Sprache existirt, auch das sprachlich vollkommenste. Aber das nachzufühlen, dazu bedarf es ganzer Geschlechter, die erst die inneren Erlebnisse nachholen, auf Grund deren jenes Werk entstehen konnte. Fast möchte ich rathen, mit den letzten Werken anzufangen, die die weitgreifendsten und wichtigsten sind ("Jenseits von Gut und Böse" und "Genealogie der Moral"). Mir selbst sind am sympathischsten meine mittleren Bücher, "Morgenröthe" und "Die fröhliche Wissenschaft" (es sind die persönlichsten). Die "Unzeitgemäßen Betrachtungen," Jugendschriften in gewissem Sinne, verdienen die höchste Beachtung für meine Entwicklung. In "Völker, Zeiten und Menschen" von Karl Hillebrand4 stehen ein paar sehr gute Aufsätze über "Unzeitgemäßen." Die Schrift5 gegen Strauß erregte einen großen Sturm; die Schrift6 über Schopenhauer, deren Lektüre ich besonders empfehle, zeigt, wie ein energischer und instinktiv jasagender Geist auch von einem Pessimisten die wohlthätigsten Impulse zu nehmen versteht. Mit Richard Wagner und Frau Cosima Wagner war ich einige Jahre, die zu den werthvollsten meines Lebens gehören, in tiefem Vertrauen und innerstem Einvernehmen verbunden. Wenn ich jetzt zu den Gegnern der Wagner'schen Bewegung gehöre, so liegen, wie es sich von selbst versteht, dahinter keine mesquinen Motive. In den gesammelten Werken Wagner's Band IX (wenn ich mich recht erinnere) steht ein Brief an mich, der von unserm Verhältniß Zeugniß ablegt.6 Ich bilde mir ein, daß meine Bücher durch Reichthum psychologischer Erfahrungen, durch Unerschrockenheit vor dem Gefährlichsten, durch eine erhabene Freimüthigkeit ersten Ranges sind. Ich scheue auch, hinsichtlich der Kunst der Darstellung und der artistischen Ansprüche, keine Vergleichung. Mit der deutschen Sprache verbindet mich eine lange Liebe, eine heimliche Vertrautheit, eine tiefe Ehrfurcht! Grund genug, um fast keine Bücher mehr zu lesen, die in dieser Sprache geschrieben werden. Empfangen Sie, hochgeehrter Herr, die ergebensten Grüße Ihres Professor Dr. Nietzsche. 1. See above letter to E. W. Fritzsch. On May 7, 1888, Nietzsche advised C. G. Naumann to send copies of his writings to Knortz in New York. Two works by Knortz are in Nietzsche's library, presumably sent by Knortz: Amerikanische Gedichte der Neuzeit. Frei ins Deutsche übertragen von Karl Knortz. Leipzig: Wartig (Hoppe), 1883; Walt Whitman. Vortrag gehalten im Deutschen Gesellig-Wissenschaftlichen Verein von New York am 24. März 1886. New York: Hermann Bartsch, 1886.
Sils-Maria, 28. Juni 1888: Lieber Freund, nichts ist dümmer als die Dummheit — nämlich meine. Der Gedanke, daß ein Brief Dich noch südöstlich zu suchen habe, ist nicht einen Augenblick mir am Horizonte aufgestiegen.1 Und was hätte es Gutes gegeben, wenn wir alle zusammen ein paar Tage Torinesi gewesen wären! Denn ich hatte dort eine Laune wie seit 20 Jahren nicht und funkelte, einem Drachen vergleichbar, an Geist und Bosheit. Selbst die Hitze that mir nichts an: wobei ich nicht umhin kann, einzuschalten, daß die Café-haus-Cultur Turin‘s in wahrhaft schwindelnde Höhen stieg! Ich glaubte mich Kenner in gelati, spumoni, pezzi duri, aber siehe da … Daß Du in Nizza gewesen bist, thut mit geradezu wehe.2 Und in Rapallo, an der heiligen Stelle, wo das „Buch der Bücher," Zarathustra, geboren ist!3 — — Hier muß ich irgend Etwas wieder gut machen. Schon gestern kam mir der Gedanke, einmal hübsch wieder "unter Menschen" zu wandeln: in Anbetracht, daß ich als "Unmensch," als "Unbehauster" einem Thiere immer ähnlicher werde.4 Rückzug über München in der zweiten Hälfte des September??? Aber da bist Du sicher nicht dort. — Ich lege, für Deine liebe Frau, zu geneigter Belustigung, den Brief meiner Schwester bei, in dem sie den Einzug in die neue Residenz schildert. Derselbe ist eigentlich an meine Mutter gerichtet und von ihr für mich abgeschrieben worden. Er scheint mir ein angenehmes document humain, mit den Parisern zu reden. — Dieser Tage ist mein ausgezeichneter Freund und maëstro di Venezia Herr Heinrich Köselitz in München eingetroffen: das Menschenkind, welches die einzige Musik macht, welche vor meinem allerverwöhntesten Ohre noch Gnade findet. Die erste moderne Oper (heiter, gemüthsreich, meisterhaft, nicht dilettantisch à la Wagner ...) ist sein Werk: sie heißt "Der Löwe von Venidig." Eben hat er ein tiefsinnig-schönes Quartett fertig gemacht—eine "Provençalische Hochzeit"5 darstellend. Wenn besagtes Wunderthier sich bei Dir präsentiren sollte, so nimm ihn mit Herzlichkeit auf6 — [+ + +] Ich bitte, Deiner verehrten Frau Mutter meinen ergebensten Dank für Ihren Gruß auszudrücken. Dein 1. Reinhart von Seydlitz acknowledged receiving Nietzsche's 05-13-1888 letter from Turin, when it finally "tracked him down" in Munich after an "unsuccessful and breathless chase through the continents." Seydlitz had spent the previous winter in Greece and Egypt. He wrote a travel serial about his journey, entitled "Wo die Sonne scheint, ziellose Reisebriefe eines Malers" for the art journal Die Kunst für Alle. For further information, see Nietzsche's Library: Research Material. Reinhart von Seydlitz (1850-1931).
Sils-Maria, 17. Juli 1888: Lieber Freund, großes Vergnügen! nämlich darüber, daß Sie wieder für mich erreichbar sind. Mir fehlte Ihre Münchner Adresse — oh! und wie sehr sie mir fehlte! — Doch davon nachher! Ich empfehle durchaus, H. v. Bülow ein Exemplar des Duetts1 zu senden: mein Vorschlag ist, in Anbetracht, daß wir unter einander nicht ohne Rücksichten sind (Bülow und ich —) darauf zu setzen: Im Namen eines Freundes (NB. Er ist auch für nächsten Winter der Hamburger Theater Capellmeister.2 Avis au lecteur.) Übrigens hat man mir hier, wo gerade Hamburger Gesellschaft prädominirt, nicht genug Bülow's Theater-Direktion rühmen können. Unvergleichlich delikate Mozart-Aufführungen: insgleichen Carmen,3 geradezu nicht wiederzuerkennen im Vergleich zu älteren Aufführungen (— Bülow habe sich eine Ehrensache daraus gemacht, das Werk nicht in üblich-deutscher Manier zu compromittiren) — Sie können denken, in welche Menagerie ich Ihren Löwen sperren möchte? Pollini!!!4 Gestern kam ein sehr erfreulicher Brief des Herrn Spitteler, geschrieben und nach Nizza geschickt vor mehr als 2 Monaten: einen Dank für meine Verleger-Vermittlung ausdrückend. Es handelt sich um ein Hauptwerk5 Sp[itteler]s, die Aesthetik des ganzen französischen Drama's darstellend. Die competentesten Sachkenner scheinen außer sich vor Bewunderung desselben (— er hat, mit großer Bescheidenheit, überall erst angefragt) Mit mir gieng und geht es schlecht. Der alte miserable Zustand von Kopfschmerz und Erbrechen fast permanent; viel zu Bett; wenig Kraft selbst zum Spazierengehn. Im Übrigen ein Hundewetter, so lange ich hier oben bin. Unerschöpflicher Regen, dazwischen Schneetage, durchweg sehr niedrige Temperatur, in 5 Wochen Einen, noch dazu eiskalten hellen Tag (— an dem ich zu Bett lag) Die allerletzten Tage schien mir die Gesundheit ein paar Schritte vorwärts zu machen: allerdings gieng unmittelbar ihnen der härteste Anfall meines Leidens voraus, den ich hier oben gehabt habe. — Dr. Fuchs hat so viel geschrieben, daß es eine Litteratur ist.6 Ein kleines Paket Recensionen geht, auf seinen besonderen Wunsch, dieser Tage an Sie ab. — Lieber Freund! Erinnern Sie sich, daß ich in Turin ein kleines Pamphlet geschrieben habe? Wir drucken es jetzt; und Sie sind auf das Inständigste ersucht, dabei mitzuhelfen. Naumann hat bereits Ihre Adresse. Der Titel ist: Der Fall Wagner. Es ist etwas Lustiges, mit einem fond von fast zu viel Ernst. — Können Sie sich die ges[ammelten] Schriften W[agner]s zu Gebote stellen? Ich hätte gern ein Paar Stellen, um sie genau, mit Band- und Seitenzahl citiren zu können, 1) es giebt im Texte des "Rings" eine Variante von Brünnhildens letztem Liede, die ganz buddhistisch ist: ich will nur die Seiten- und Bandzahl haben, nicht die Worte7 2) wie heißt wörtlich die Stelle des Tristan:
ist es so richtig?8 — 3) in einer seiner letzten Schriften hat W[agner] einmal ausgesprochen, sogar fettgedruckt, wenn ich mich recht erinnere, daß "die Keuschheit Wunder thut" Hier hätte ich gern den Wortlaut.9 — Im Übrigen ersuche ich [Sie] mir jede Art von Ausstellung, von Wort- und Geschmackskritik zu machen. Es steht viel Verwegenes in diesem kleinen Machwerk. — Correktur-Gang wie herkömmlich. Über Ausstattung, Papier u.s.w. bin ich mit Naumann bereits in Ordnung. Das Manuscript ist den 19. Juli in seinen Händen. Mit den herzlichsten Grüßen Mich Ihren verehrten Eltern10 angelegentlich empfehlend. 1. From Heinrich Köselitz's opera, "Der Löwe von Venedig" (The Lion of Venice). Cf. Chur, 06-08-1887: Letter to Heinrich Köselitz in Venice. For Bülow's harsh criticism of his comic opera "Scherz, List und Rache," cf. Genoa, 01-29-1882: Postcard to Heinrich Köselitz in Venice.
Sils-Maria, 18. Juli 1888: Lieber Herr Doctor, seien Sie nicht böse, aber ich setze mich, nothgedrungen, gegen Ihre Briefe zur Wehre. Es ist mir vollkommen verboten, dergleichen privatissima,1 personalissima anzuhören: das wirkt auf mich, ich wage nicht zu sagen wie—es klänge zu medizinisch. Versetzen Sie sich einen Augenblick in die Umstände dessen, der einen Zarathustra auf der Seele hat. Wenn Sie begriffen haben, welche Mühe es mir gekostet, zur ganzen Thatsache Mensch ein ungefähres Gleichgewicht zu erlangen, so werden Sie auch die extreme Vorsicht begreifen, mit der ich jetzt jeden menschlichen Verkehr behandle. Ich will, ein für alle Mal, sehr Vieles nicht mehr wissen, sehr Vieles nie mehr hören—um diesen Preis halte ich es ungefähr aus. Ich habe den Menschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen Zarathustra: ein Buch, das dermaßen auszeichnet, daß wer sagen kann "ich habe sechs Sätze davon verstanden, das heißt erlebt" damit zu einer höheren Ordnung der Sterblichen gehört.— Aber wie man das büßen muß! abzahlen muß! es verdirbt beinahe den Charakter! Die Kluft ist zu groß geworden. Ich treibe seitdem eigentlich nur Possenreißerei, um über eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit Herr zu bleiben. Dies unter uns. Der Rest ist Schweigen.2 Ihr Freund
Sils-Maria, kurz vor dem 20. Juli 1888: Seien Sie nicht böse! Das Eine ist, daß ich mich absolut nicht dazu überreden kann, Zeitschriften regelmäßig zu lesen.2 Meine ganze Aufgabe verlangt, mein Geschmack begehrt von mir Entfremdung, Gleichgültig-werden, Vergessen des Gegenwärtigen … Das Andere ist, daß ich wirklich verstimmt war — durch das Preisgeben H[einrich] Heine's;3 gerade jetzt, wo ein verfluchter Wind von Deutschthümelei bläst, bin ich ohne Milde für solche Condescen[den]zen. Ich habe in Turin eigens das Buch des verfluchten Hehn4 darauf hin gelesen: diesem Herrn, der zuletzt mit einem sehr kleinen Apparat von Proben seinen Begriff deutsch resumirt (zB. die Deutschen als Musiker einfach vergessen hat) mag es wohl nicht in den Kopf gekommen sein, daß der Cultur-Werth eines Künstlers oder Denkers in Hinsicht auf sein Volk noch ganz und gar nicht mit seinem Werth an sich zusammenfällt — und daß z. B. die Deutschen Lessing und Heine mehr verdanken dürfen, als sie z. B. Goethe verdanken — sie haben sie nöthiger gehabt. Das sagt nichts gegen Goethe (im Gegentheil) — aber sagt Etwas gegen die Miserabilität und Undankbarkeit die jetzt gegen Lessing und Heine eifert. Ich bin an die andere Art gewöhnt, mit der Heines Andenken in Frankreich behandelt wird: wo ihm z. B. die Goncourts die Ehre erweisen, zusammen mit dem Abbé Galiani und dem Prince de Ligne die sublimste Form des esprit Parisien darzustellen (— drei Ausländer! merkwürdig!)5 1. Ferdinand Avenarius (1856-1923), founding editor of Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. See the entry for Der Kunstwart in "Miscellaneous Titles: Catalogs / Periodicals / Series" in Nietzsche's Library.
Sils-Maria, 20. Juli 1888: Lieber Freund, nichts hat sich verbessert, weder das Wetter, noch die Gesundheit, — beides bleibt absurd. Aber heute erzähle ich Dir Etwas, das noch absurder ist: das ist der Dr. Fuchs. Derselbe hat mir inzwischen eine ganze Litteratur geschrieben (darunter einen Brief von 12 großen engen Bogen!1) Ich bin allmählich dabei zum Igel geworden, und mein altes Mißtrauen hat sich völlig wieder hergestellt. Sein Egoismus ist so schlau und andrerseits so ängstlich und unfrei, daß ihm Alles nichts hilft — sein großes Talent nicht und vieles ächt Artistische seiner Natur. Er beklagt sich, daß er in Danzig 7 Jahre alle Welt gegen sich gehabt habe; und aus hundert Zeichen geht hervor, daß er auch jetzt dort kein Vertrauen genießt. Er möchte fort; er verhandelt mit Dresden, nachdem es mit der Berliner Musikschule mißlungen ist. Und er hat es an keiner Form des Bewerbs und der Adulation fehlen lassen! Ein neues Paket Recensionen2 ist nur zu belehrend darüber. Vieles Feine und Gute, so lange es sich um Sachen handelt; kommen Personen in Betracht, so regiert das "Unendlich-Kleine." Er hat, für mich, Randbemerkungen gemacht. "Dies ist stark übertrieben; aber ich verdanke ihm das und das." Oder: "sie haßt mich wegen dieses Worts: es war dumm von mir." Nachdem es mit der Bewerbung um eine Professur an der Berliner Hochschule schief gegangen war, kamen 3 Professoren derselben nach Danzig und gaben ein Concert.3 F[uchs] hebt sie in der impudentesten Weise in den Himmel. Zur Entschuldigung dafür schreibt er an mich, er habe sich seinen Verdruß über seinen Mißerfolg nicht anmerken lassen wollen. In Wahrheit bewarb er sich um drei der einflußreichsten Stimmen. — Er hat mir einen Essai über meine Schriften in Aussicht gestellt: dabei drückt er eine wahre Höllenangst aus, daß das Eintreten für mich Atheisten ihm in seiner Stellung als Organist von St. Peter schadet. Natürlich pseudonym!! er hat bereits meine beiden Verleger beschworen, seine Pseudonymität geheim zu halten. Derselbe F[uchs] hatte jahrelang eine Höllenangst, daß seine Beziehung zu mir ihm bei Wagner schade; ein paar Jahre vorher, wo mein Einfluß in der Wagnerschen Welt unbestreitbar war, hatte er sich nur zu eifrig um mich bemüht. Ich habe es vorausgesagt, daß, mit dem Tode Wagners,4 ihm der Muth zurückkommen würde, an mich zu schreiben.5 Es traf ein, in fast komischer Weise. — Er ist auch Organist an der Synagoge in Danzig; Du kannst Dir denken, daß er sich in der schmutzigsten Weise über den jüdischen Gottesdienst lustig macht6 (— aber er läßt sich's bezahlen!!) Schließlich hat er mir einen Brief über seine Herkunft geschrieben,7 mit so viel ekelhaften und unanständigen Indiskretionen über seine Mutter und seinen Vater, daß ich die Geduld verlor und mir in der gröbsten Weise solche Briefe verbeten habe. Ich habe durchaus keine Lust, mir meine Einsamkeit durch den Zufall von Briefen stören zu lassen. — So weit sind wir. Leider kenne ich diese Art Menschen zu gut, um hoffen zu dürfen, daß wir damit zu Ende sind. Herr Spitteler hat an mich mit viel Dankbarkeit geschrieben.8 Es ist mir gelungen, etwas durchzusetzen, woran er verzweifelte: nämlich einen Verleger zu finden. Es handelt sich um eine Aesthetik des französischen Dramas:9 und siehe da, Herr Credner10 in Leipzig (Firma Veit, Verlagshandlung des Reichsgerichts) hat mir in der artigsten Weise seine Bereitwilligkeit zugesagt. Diese kleine Humanität meinerseits hat noch einen Humor hinter sich: es war meine Art Rache für einen extrem taktlosen und unverschämten Artikel11 Spittelers über meine gesammte Litteratur, der letzten Winter im "Bund" erschienen ist. — Ich habe eine viel zu gute Meinung vom Talente dieses Schweizers, als mich durch eine Rüpelei beirren zu lassen (— ich habe Respekt vor seinem Charakter — was leider in Bezug auf den Dr. F[uchs] nicht der Fall ist) Sp[itteler] ist durch meine Fürsprache auch Mitarbeiter des "Kunstwarts" und, nach meinem Geschmack, dessen einzige interessante Feder.12 Im Übrigen habe ich das Blatt abgeschafft: auf einen jüngst eingetroffenen Brief des Hr. Avenarius,13 der sich schmerzlich über die Abmeldung beklagte, habe ich ihm kräftig die Wahrheit gesagt (— das Blatt bläst in das deutschthümelnde Horn und hat z. B. in der schnödesten Weise Heinrich Heine preisgegeben — Herr Avenarius, dieser Jude!!!)14 Jetzt eben wird von mir ein kleines musikalisches Pamphlet15 gedruckt, etwas sehr Lustiges (— in Turin geschrieben) — Mit herzlichem Gruß und Glückwunsch für Dich und Deine liebe Frau Dein Nietzsche 1. Cf. long postscript by Carl Fuchs in his Danzig, 06-22/07-04-1888: Letter to Nietzsche in Sils Maria, containing information about his family problems; Sils Maria, 07-18-1888: Letter to Carl Fuchs in Danzig.
Sils-Maria, kurz nach dem 20. Juli 1888: Lieber Freund ich schreibe Dir noch ein paar Worte, doch ganz für uns, ganz unter uns. Die Schwierigkeit, in der ich lebe, ist außerordentlich; doch liegt sie nicht dort, wo Du und andere Freunde sie suchen. Ich weiß kaum, sie begreiflich zu machen. Aber seit der Zeit, wo ich meinen Z[arathustra] auf dem Gewissen habe, bin ich wie ein Thier, das auf eine unbeschreibliche Weise fortwährend verwundet wird.1 Diese Wunde besteht darin, keine Antwort, keinen Hauch von Antwort gehört zu haben ... Dies Buch steht so abseits, ich möchte sagen jenseits aller Bücher, daß es eine vollkommene Qual ist, es geschaffen zu haben — es stellt seinen Schöpfer ebenso abseits, ebenso jenseits. Ich wehre mich gegen eine Art Schlinge, die mich erwürgen will — das ist die Vereinsamung — ich verstehe es andererseits aus aller Tiefe, warum mir Niemand ein Wort sagen kann, das mich noch erreicht ... Die Moral ist: man kann daran zu Grunde gehen etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man büßt es hinterdrein in jedem Augenblick ab. Es verdirbt den Charakter, es verdirbt den Geschmack, es verdirbt die Gesundheit. Sechs Sätze jenes Buches zu verstehen und erlebt zu haben — das scheint mir Jeden bereits in eine höhere, fremdere Ordnung des Sterblichen zu heben. Aber die ganze Welt jenes Buches, die unausmeßlich schwere Welt von Tiefe, von Ferne, von Noch-niemals-bisher Gesehenem und Geschehenem auf sich haben und nach einem Versuch, sie mitzutheilen d. h. ihre Last sich geringer zu machen, der todten stupiden Einsamkeit sich gegenüber zu finden, ist ein Gefühl über alle Gefühle. Ich wehre mich, wie Du denken kannst, mit viel Erfindsamkeit gegen diesen Excess des Gefühls. Meine letzten Bücher2 gehören dahin: sie sind leidenschaftlicher als Alles, was ich sonst gemacht habe. Die Leidenschaft betäubt. Sie thut mir wohl, sie macht ein wenig vergessen ... Ich bin außerdem Artist genug, um einen Zustand festhalten zu können, bis er Form, bis er Gestalt wird. Ich habe, mit Willkür, mir jene Typen erfunden, die in ihrer Verwegenheit mir Vergnügen machen, z. B. den "Immoralisten" — einen bisher unerhörten Typus.3 Jetzt eben wird ein kleines Pamphlet4 musik[alischer] Natur gedruckt, das von der heitersten Laune eingegeben scheint: auch die Heiterkeit betäubt. Sie thut mir wohl, sie macht vergessen ... Ich lache wirklich sehr viel bei solchen Erzeugnissen — Die Schwierigkeit, eine Distraktion zu finden, die stark genug [sei], wird immer größer. Ich bin mitunter auf eine unbeschreibliche [Weise] melancholisch. 1. Cf. Sils Maria, end July 1888: Letter to Malwida von Meysenbug in Rome.
Sils-Maria, 29. Juli 1888: Lieber Freund, inzwischen habe ich den Auftrag gegeben, daß Ihnen eines der wenigen Exemplare meines ineditum1 zugestellt wird: zum Zeichen, daß Alles wieder zwischen uns2 in Ordnung ist und daß der farouche Augenblick einer allzuverwundbaren und allzuvereinsamten Seele überwunden ist. Der vierte Theil Zarathustra, von mir mit jener Scham vor dem "Publico" behandelt, welche in Hinsicht auf die drei ersten Theile nicht gewahrt zu haben mir bittere Reue macht ... Genauer ist es ein Zwischenakt zwischen dem Zarathustra und dem, was folgt ("Namen nennen dich nicht ... "3) Der genauere Titel, der bezeichnender wäre: "Die Versuchung Zarathustra's." Herr C. G. Naumann4 hat sicherlich Ihnen inzwischen zu Gebote gestellt, was er von mir in Verlag hat; ich gab den Wink dazu.5 Was Herr Fritzsch gethan hat, weiß ich nicht; ich kann im Augenblick nichts von ihm verlangen und erlangen — aus Gründen! — Es hat sich mir ein wirklich intelligenter Musiker präsentirt, der Prof. von Holten aus Hamburg,6 der mit großem Interesse Ihrer gedachte und mich zu einer Diskussion über die Riemann'schen Prinzipien führte (— auch über andere Prinzipien: wir sind beide sehr antidécadence-Musiker, will sagen antimoderne Musiker) Er wünscht Ihnen übrigens dasselbe, was ich wünsche — einen freieren Wirkungskreis und nicht mehr Danzig. Das Wetter ist äußerst ungleich und wechselt alle drei Stunden; meine Gesundheit wechselt mit ihm. Gestern kam ein Brief aus Bayreuth an mich an, aus vollem Parsifal heraus geschrieben. Ein mir unbekannter Wiener Verehrer, der mich seinen "Meister" nennt (oh!!!) und mich zu einer Art Großmuths-Akt gegen den Parsifal auffordert: — ich sollte großmüthiger sein als Siegfried gegen den alten Wanderer. Sprach übrigens im Namen von einem ganzen Kreise meiner "Jünger," wie er sich ausdrückte, lauter für "Jenseits von Gut und Böse" sehr dankbaren "freien Geistern" ... (— ich hätte ihnen so viele große, tiefe, auch furchtbare Worte gesagt ..)7 Von dem glänzenden Erfolge des Dr. Brandes in Kopenhagen habe ich Ihnen wohl erzählt. Mehr als 300 Zuhörer für seinen längeren Cyklus über mich; am Schluß eine große Ovation. Er schreibt mir, daß mein Name jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekannt sei.8 Von New-York aus wurde mir ein englischer Essay über meine Schriften in Aussicht gestellt.9 Wenn Sie je daran kommen sollten (— es fehlt Ihnen ja an Zeit dazu, werther Freund!!) über mich etwas zu schreiben, so haben Sie die Klugheit, die leider noch Niemand gehabt hat, mich zu charakterisiren, zu "beschreiben," — nicht aber "abzuwerthen." Es giebt dies eine angenehme Neutralität, es scheint mir, daß man sein Pathos dabei bei Seite lassen darf und die feinere Geistigkeit um so mehr in die Hände bekommt. Ich bin noch nie charakterisirt — weder als Psychologe, noch als Schriftsteller ("Dichter" eingerechnet), noch als Erfinder einer neuen Art Pessimismus (eines dionysischen, aus der Stärke geborenen, der sich das Vergnügen macht, das Problem des Daseins an seinen Hörnern zu packen), noch als Immoralist10 (— die bisher höchsterreichte Form der "intellektuellen Rechtschaffenheit," welche die Moral als Illusion behandeln darf, nachdem sie selbst Instinkt und Unvermeidlichkeit geworden ist —) Es ist durchaus nicht nöthig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstände, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir. — Verzeihung! Ich schrieb eben einige Naivetäten — ein kleines Recept, sich glücklich aus etwas Unmöglichem herauszuziehn ... Mit freundlichstem Gruße Die fröhliche Wissenschaft "la gaya scienza" müssen Sie jedenfalls lesen: es ist mein mittelstes Buch, — sehr viel feines Glück, sehr viel Halkyonismus ... 1. Written in the winter of 1884 in Menton and Nice, Also sprach Zarathustra, IV (Thus Spoke Zarathustra, IV) was privately printed in May 1885 for select friends, with a run of 45 copies. Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Sils-Maria, Ende Juli 1888: Hochverehrte Freundin, endlich! nicht wahr? — Aber ich verstumme unwillkürlich gegen Jedermann, weil ich immer weniger Lust habe, Jemand in die Schwierigkeiten meiner Existenz blicken zu lassen. Es ist wirklich sehr leer um mich geworden. Wörtlich gesagt, es giebt Niemanden, der einen Begriff von meiner Lage hätte. Das Schlimmste an ihr ist ohne Zweifel, seit 10 Jahren nicht ein Wort mehr gehört zu haben, das mich noch erreichte — und dies zu begreifen, dies als nothwendig zu begreifen! Ich habe der Menschheit das tiefste Buch1 gegeben, das sie besitzt, ein Buch, gegen das gerechnet die Bücher überhaupt bloß Litteratur sind.2 Wie man das büßen muß! — Es stellt aus jedem menschlichen Verkehr heraus, es macht eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit, man ist wie ein Thier, das beständig verwundet wird.3 Die Wunde ist, keine Antwort, keinen Laut Antwort zu hören und die Last, die man zu theilen, die man abzugeben wünschte (— wozu schriebe man sonst?) in einer entsetzlichen Weise allein auf seinen Schultern zu haben. Man kann daran zu Grunde gehn, "unsterblich" zu sein! — Zufällig habe ich noch das Mißgeschick, mit einer Verarmung und Verödung des deutschen Geistes gleichzeitig zu sein, die Erbarmen macht. Man behandelt mich im lieben Vaterlande wie Einen, der ins Irrenhaus gehört: dies ist die Form des "Verständnisses" für mich!4 Außerdem steht mir auch der Bayreuther Cretinismus im Wege. Der alte Verführer Wagner nimmt mir auch nach seinem Tode noch den Rest von Menschen weg,5 auf die ich wirken könnte. — Aber in Dänemark — es ist absurd, zu sagen! — hat man mich diesen Winter gefeiert!! Der geistreiche Dr. Georg Brandes hat es gewagt, einen längeren Cyklus von Vorlesungen6 an der Kopenhagener Universität über mich zu halten! Und mit glänzendem Erfolge! Mehr als 300 Zuhörer regelmäßig! Und eine große Ovation am Schluß! — Eben stellt man mir etwas Ähnliches für New York in Aussicht.7 Ich bin der unabhängigste Geist Europa's und der einzige deutsche Schriftsteller — das ist Etwas! — Das erinnert mich an eine Frage Ihres letzten verehrten Briefes.8 Daß ich für Bücher, wie ich sie schreibe, kein Honorar erhalte, werden Sie voraussetzen. Aber was Sie vielleicht nicht voraussetzen, ich habe auch die ganzen Herstellungs- und Vertriebs-Kosten zu bestreiten (— in den letzten Jahren c. 4000 frs.) In Anbetracht, daß ich bei Presse und Buchhandel verfehmt und ausgeschlossen bin, verkauft sich nicht ein Hundert der gedruckten Exemplare. Ich bin ohne Vermögen, meine Pension in Basel ist bescheiden (3000 frs. jährlich) Doch habe ich von letzterer immer etwas zurückgelegt: so daß ich bis jetzt keinen Pfennig Schulden habe. Mein Kunststück ist, das Leben immer mehr zu vereinfachen, die langen Reisen zu vermeiden, eingerechnet das Leben in Hôtels. Es gieng bisher; ich will es auch nicht anders haben. Nur giebt es für den Stolz diese und jene Schwierigkeit. — Unter diesem mannichfachen Druck von Innen und Außen her hat leider meine Gesundheit sich nicht zum Besten befunden. In den letzten Jahren gieng es nicht mehr vorwärts. Die letzten Monate, wo die Ungunst des Wetters dazu kam, sahen sogar meinen schlechtesten Zeiten zum Verwechseln ähnlich. — Um so besser ist es inzwischen meiner Schwester gegangen. Die Unternehmung9 scheint glänzend gelungen, der festliche, beinahe fürstliche Einzug in der Colonie vor ungefähr 4 Monaten hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Es sind jetzt c. 120 Deutsche, nebst einem reichlichen Zubehör einheimischer Peons; es sind gute Familien darunter, z. B. die Mecklenburger Baron Malzahns.10 — Ich wurde kürzlich sehr lebhaft an Sie, verehrteste Freundin, erinnert, Dank einem Buche,11 in dem eine Vordergrunds-Figur des ersten Bandes der "Memoiren einer Idealistin"12 in hellstes Licht trat. Insgleichen hat mir Frl. von Salis sehr dankbar über ihr Zusammensein mit Ihnen geschrieben.13 Mit den herzlichsten Wünschen für Ihr Wohlbefinden und der Bitte um fortdauernde, wenn auch stille Antheilnahme Ihr treu ergebener — Es bedarf Größe der Seele, um meine Schriften überhaupt auszuhalten. Ich habe das Glück, Alles, was schwach und tugendhaft ist, gegen mich zu erbittern. 1. Also sprach Zarathustra (Thus Spoke Zarathustra).
Sils-Maria, 10. August 1888: Verehrter Herr, inzwischen nahm ich mir die Freiheit, einem Freunde zur Übersendung der Anfangs-Nummer einer Oper Muth zu machen.1 Vielleicht, dachte ich mir, wirkt sie "appetitmachend." Die Oper heißt "der Löwe von Venedig": ich sähe diesen Löwen mit größtem Vergnügen in der Menagerie Pollini2 ... Diese Oper ist ein Vogel der seltensten Art. Man macht jetzt so Etwas nicht mehr. Alle Eigenschaften im Vordergrunde, die heute, skandalös, aber thatsächlich, der Musik abhanden kommen. Schönheit, Süden, Heiterkeit, die vollkommen gute, selbst muthwillige Laune des allerbesten Geschmacks — die Fähigkeit, aus dem Ganzen zu gestalten, fertig zu werden und nicht zu fragmentarisiren (vorsichtiger Euphemismus für "wagnerisiren") Mein Freund, Herr Peter Gast, ist eine der tiefsten und reichsten Naturen, die der Zufall in diesen verarmende Zeit hineingeworfen hat. Mein "Schüler,"3 ich bekenne es, im engsten Sinne, aus meiner Philosophie gewachsen, wie Niemand sonst. 32 Jahr, bis jetzt in vollkommener Unabhängigkeit, gebürtig aus dem sächsischen Erzgebirge (einer erstaunlich tüchtigen Familie zugehörig, die seit Jahrhunderten die Cultur der ersten Stadt des Erzgebirgs in der Hand gehabt hat) Strengste musikalische Erziehung, bevorzugter Schüler des alten Richter4 in Leipzig, eine Periode überwundener Wagnerei hinterdrein. Seitdem Isolation in Venedig, in wunderbarer Einfalt der Verhältnisse, ohne "Öffentlichkeit," ohne "Cant," "Würden" und andre Eitelkeiten. — Seine Mutter Wienerin. Der Text der Oper ist einfach das matrimonio segreto,5 von meinem Freunde übersetzt. Dasselbe galt im vorigen Jahrhundert als Muster-libretto; der erste Entwurf ist von Garrik.6 Einer Andeutung Stendhals7 folgend haben wir das Werk ins Venetianische übersetzt, das heißt, es nicht nur dort spielen lassen, vielmehr versucht, Venedig in dies Werk zu übersetzen ... Mein Freund, der seit 6 Jahren daselbst in einer geheimnißvollen und glücklichen Verborgenheit daselbst lebt, hat, wie mir wenigstens scheint, einen Zauber von Venediger Farbe der morbidezza für die Musik erfunden, hinzuzurechnen viele reizend-derbe Realitäten des südlichen Lazzaronismus. Wirkungsvollster vierter Akt mit einem Gondoliere-chor am Schluß, couleur locale ersten Ranges. — Es existirt ein ausgezeichnet lesbar und schön geschriebener Clavier-Auszug, das kalligraphische Meisterstück meines Freundes, gleich der Partitur selbst. — Die Ouvertüre ist in Zürich zum ersten Male (in der Tonhalle) aufgeführt worden.8 Kein Mensch schreibt eine solche Ouvertüre mehr — aus ganzem Holze ... Jetzt, wo Wagner von St. Petersburg bis Montevideo die Theater beherrscht, gehört ein Bülow'scher Muth dazu, gute Musik zu riskiren ... Mit dem Ausdruck alter Verehrung 1. The opening duet from Heinrich Köselitz's opera, "Der Löwe von Venedig" (The Lion of Venice). Cf. Sils Maria, 07-17-1888: Letter to Heinrich Köselitz in Annaberg; Chur, 06-08-1887: Letter to Heinrich Köselitz in Venice. For Bülow's harsh criticism of his comic opera "Scherz, List und Rache," cf. Genoa, 01-29-1882: Letter to Heinrich Köselitz in Venice.
Sils-Maria, 26. August 1888: Lieber Freund, ein paar Tage Ruhe. Es gab auch ein Paar Tage Krankheit. Doch soll es gehn — und es geht. Dies Mal bin ich an der Reihe zu erzählen. — Zuerst von Dr. Brandes. Derselbe hat für mich nur gethan, was er seit 30 Jahren für alle unabhängigen Geister Europa's thut — er hat mich seinen Landsleuten vorgestellt.1 Was ich in meinem Falle hoch zu ehren habe, das ist, daß er da seinen leidenschaftlichen Widerwillen gegen alle jetzigen Deutschen überwunden hat. Eben hat er wieder, nach dem Besuch des Kaisers,2 in "einer wahren Teufels-Laune," wie die Kölnische Zeitung sagt, seine Verachtung gegen alles Deutsche ausgedrückt. Nun, man giebt es ihm reichlich zurück. In den gelehrten Kreisen genießt er des allerschlechtesten Rufs: mit ihm in Beziehung zu stehn gilt als entehrend (Grund genug, für mich, so wie ich bin, der Geschichte von den Winter-Vorlesungen die allerweiteste Publizität zu geben). Er gehört zu jenen internationalen Juden, die einen wahren Teufels-Muth im Leibe haben, — er hat auch im Norden Feinde über Feinde. Er ist mehrsprachig, hat sein bestes Auditorium in Rußland, kennt die gute geistige Welt Englands und Frankreichs auf's Persönlichste — und ist ein Psycholog (was ihm die deutschen Gelehrten nicht verzeihen ...) Sein größtes Werk, mehrmals erschienen, "die Hauptströmungen der Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts"3 ist immer noch das beste deutsch geschriebene Cultur-Buch über dieses große Objekt. — Zur Musik steht er, wie er mir im Winter schrieb,4 zu seinem Bedauern in keinem Verhältniß. — Vor 4 Tagen hat uns Herr von Holten5 verlassen. Wir sind alle betrübt. Eine solche Vereinigung von Liebenswürdigkeit und Bosheit ist ein ganz selten Ding. Ein alter Abbé, mit den Launen eines großen Schauspielers. Dabei eine ganz merkwürdige Erfindsamkeit im Wohlthun, im Freude-machen — Jedermann hat eine Geschichte davon zu erzählen. Er muß in der That in den glücklichsten Verhältnissen sein, ich meine nicht des Beutels sondern des Herzens, denn es vergieng kein Tag, wo er nicht Etwas derart "verbrochen" hätte. — Für mich hatte er sich folgende Artigkeit ausgedacht: er hatte sich eine Composition6 des einzigen Musikers, den ich heute gelten lasse, meines Freundes Peter Gast eingeübt und spielte sie mir privatissime sechs Mal auswendig vor, entzückt über "das liebenswürdige und geistreiche Werk." — In rebus musicis et musicantibus7 vertrugen wir uns zum besten d. h. wir waren ohne jede Toleranz und secirten den "Einäugigen" unter den Blinden ... Was Riemann8 betrifft, so haben wir ernst genug darüber gesprochen, doch auch im gleichen Sinn, nämlich daß eine "phrasirte" Ausgabe schlimmer ist als jede andere — nämlich als eine bösartige Schulmeisterei. Was "unrichtig" ist, läßt sich in der That in zahllosen Fällen bestimmen, was richtig ist, fast nie. Die Illusion der "phraseurs" in diesem Punkte schien uns außerordentlich. Die Grundvoraussetzung, auf die sie bauen, daß es überhaupt eine richtige d. h. Eine richtige Auslegung giebt, scheint mir psychologisch und erfahrungsmäßig falsch. Der Componist, im Zustande des Schaffens wie des Reproduzirens, sieht diesen feinen Schatten in einem bloß labilen Gleichgewicht — jeder Zufall, jede Erhöhung oder Ermattung des subjektiven Kraftgefühls faßt bald größere, bald nothwendig engere Kreise als Einheiten zusammen. Kurz, der alte Philologe sagt, aus der ganzen philologischen Erfahrung heraus: es giebt keine alleinseligmachende Interpretation, weder für Dichter, noch für Musiker (Ein Dichter ist absolut keine Autorität für den Sinn seiner Verse: man hat die wunderlichsten Beweise, wie flüssig und vag für sie der "Sinn" ist —). — Ein andrer Gesichtspunkt, über den wir sprachen (— es könnte sein, daß ich ihn auch schon einmal gegen Sie, lieber Freund, berührte, vor ein paar Jahren). Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten Redetheile der Musik (— ich möchte, Sie und Riemann wendeten die Worte an, die Jeder aus der Rhetorik kennt: Periode (Satz), Kolon, Komma, je nach der Größe, insgleichen Fragesatz, Conditionalsatz, Imperativ — denn die Phrasirungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie die Interpunktionslehre ist), — also: wir betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Theile, wie sie in der Musik zur Praxis Wagner's gehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen in anderen Künsten: es ist ein typisches Verfalls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriirt. Die "Phrasirung" wäre demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisirenden Kraft: anders ausgedrückt: der Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen — eine Entartungsform des Rhythmischen ... Dies klingt beinahe paradox. Die ersten und leidenschaftlichsten Förderer der rhythmischen Präzision und Eindeutigkeit wären nicht nur Folgeerscheinungen der rhythmischen décadence, sondern auch deren stärkste und erfolgreichste Werkzeuge! In dem Maße, in dem sich das Auge für die rhythmische Einzelform ("Phrase") einstellt, wird es myops für die weiten, langen, großen Formen: genau wie in der Architektur des Berninismus.9 Eine Veränderung der Optik des Musikers — die ist überall im Werke: nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit begrenzt sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge ... folglich macht man nur auch noch solche — — Moral: Sie sind mit Riemann ganz und gar auf dem "rechten Wege" — dem einzigen nämlich den es noch giebt ... Wir besprachen auch einen Punkt, der Sie besonders angeht. Von Holten meinte, mit solchen Phrasirungs-Concerten, wie Sie sie veranstalten, werde absolut nichts erreicht. Es sei da die Illusion des Vortragenden vollkommen. Man höre eben gar nicht, inwiefern der Vortrag von jedem früher gehörten abweiche: selbst dem professionellen Klavierspieler sei durchaus nicht mit der wünschenswerthen Deutlichkeit (einzelne Fälle, wie billig, ausgenommen) die von ihm gewohnte und festgehaltene Interpretation dergestalt Bewußtseins-Sache, um in jedem Augenblick eine Verschiedenheit zu spüren. Solche Concerte überzeugten absolut von nichts, weil sie gar keinen Unterschied zum Bewußtsein brächten. Ein Anderes sei es, natürlich auch nur in Hinsicht auf ganz raffinirte Musiker, verschiedene Vortrags-Arten dicht hinter einander zu stellen; was er leugne, sei, daß die Evidenz des Richtigen sich damit beweisen lasse. Sie möchten nur abstimmen lassen ... Alles, was Sie mir schreiben, bestärkt mich in dem Wunsche, daß Danzig delenda est,10 — Bonn: das klingt viel heiterer ... Ich nehme im Stillen an, daß daselbst noch als Kapellmeister der gutartige Schumannianer Brambach fungirt (— ich habe unter ihm mit in Köln in dem großen Gürzenich-Musikfeste11 gesungen — z. B. Schumann's Faust —). Es lebt viel gute Welt daselbst, auch Ausländerinnen. Die klimatische Differenz ist unbeschreiblich günstig ... Die gesamte Welt-Färbung verändert sich am Rhein im "lieben Gemüth" — crede experto12 —. Zuletzt giebt es wirklich ein rheinisches Musik-Leben. — Sie haben einmal in Naumburg meinen Freund Krug13 gesehn: derselbe, jetzt ein großes Thier, das 80 Angestellte unter sich hat, Justizrath und Direktor der linksrheinischen Eisenbahn, Sitz Köln, hat ganz vor Kurzem in Köln einen Wagner-Verein großen Stils in's Leben gerufen: er ist dessen Präsident. — Mit vielen herzlichen Wünschen und für alles Nicht-Willkommne dieses Briefs um Verzeihung bittend Ihr ergebenster NB. bis 14. Sept. Sils. Am 15. Abreise — — — Sie haben hoffentlich mein "litterarisches Recept"14 nicht ernst genommen?? — Ich mache in puncto "Publizität" und "Ruhm" nichts als Bosheiten. — Einige werden posthum geboren.15 — 1. In April-May 1888 (April 10, 17, 24, May 1, 5), Brandes held five lectures on Nietzsche. The lectures were reported with notices (presumably by Brandes) in the Danish newspaper Dagbladet Politiken, which also published a biographical article on Nietzsche (again, presumably by Brandes) on April 20.
Sils-Maria, vmtl. Ende August 1888:
1. Daß es außer dem Wortaccent noch einen andern Accent gegeben habe, dafür fehlt bei den Rhythmikern (z. B. Aristoxenos2) jedes Zeugniß, jede Definition, selbst ein dazu gehöriges Wort. — Arsis und Thesis wird erst seit Bentley3 in dem fälschlichen Sinne der modernen Rhythmik verstanden — die Definitionen, die die Alten von diesen Worten geben, sind völlig unzweideutig. 2. Man warf, in Athen sowohl, wie in Rom, den Rednern, selbst den berühmtesten vor, Verse unversehens gesprochen zu haben. Es werden zahlreiche Beispiele solcher entschlüpften Verse citirt. Der Vorwurf ist, nach unsrer üblichen Art, griechische und lateinische Verse zu sprechen, einfach unbegreiflich (— erst der rhythmische Ictus macht bei uns aus einer Abfolge von Silben einen Vers: aber gerade das ganz gewöhnliche Sprechen enthielt, nach antikem Unheil, sehr leicht vollkommene Verse —) 3. Nach ausdrücklichen Zeugnissen war es nicht möglich, den Rhythmus von gesprochenen lyrischen Versen zu hören, wenn nicht mit Taktschlägen die größeren Zeit-Einheiten dem Gefühle zum Bewußtsein gebracht wurden. So lange der Tanz begleitete (— und die antike Rhythmik ist nicht aus der Musik, sondern aus dem Tanz her gewachsen), sah man die rhythmischen Einheiten mit Augen. 4. Es giebt Fälle bei Homer, wo eine kurze Silbe ungewöhnlicher Weise den Anfang eines Daktylus macht. Man nimmt philologischer Seits an, daß in solchen Fällen der rhythmische Ictus die Kraft habe, den Zeit-Mangel auszugleichen. Bei den antiken Philologen, den großen Alexandrinern, die ich eigens auf diesen Punkt hin befragt habe, findet sich nicht die leiseste Spur einer solchen Rechtfertigung der kurzen Silbe (dagegen fünf andere). 5. Es tritt sowohl auf griechischem als auf lateinischem Boden ein Zeitpunkt ein, wo die nordischen Lied-Rhythmen Herr werden über die antiken rhythmischen Instinkte. Unschätzbares Material dafür in dem Hauptwerk über christlich-griechische Hymnologie (aus einem südfranzösischen gelehrten Kloster hervorgegangen). Von dem Augenblick an, wo unsre Art rhythmischer Accent in den antiken Vers eindringt, ist jedes Mal die Sprache verloren: sofort geht der Wortaccent und die Unterscheidung von langen und kurzen Silben flöten. Es ist ein Schritt in die Bildung barbarisirender Idiome. 6. Endlich die Hauptsache. Die beiden Arten der Rhythmik sind conträr in der ursprünglichsten Absicht und Herkunft. Unsere barbarische (oder germanische) Rhythmik versteht unter Rhythmus die Aufeinanderfolge von gleich starken Affekt-Steigerungen, getrennt durch Senkungen. Das giebt unsere älteste Form der Poesie: drei Silben, jede einen Hauptbegriff ausdrückend, drei bedeutungsvolle Schläge gleichsam an das Sensorium des Affekts — das bildet unser ältestes Versmaß. (In unsrer Sprache hat im Durchschnitt die bedeutungsschwerste Silbe, die Affekt-dominirende Silbe den Accent, grundverschieden von den antiken Sprachen.) Unser Rhythmus ist ein Ausdrucksmittel des Affekts: der antike Rhythmus, der Zeit-Rhythmus, hat umgekehrt die Aufgabe, den Affekt zu beherrschen und bis zu einem gewissen Grade zu eliminiren. Der Vortrag des antiken Rhapsoden war extrem leidenschaftlich (— man findet im Jon Platon's eine starke Schilderung der Gebärden, der Thränen u.s.w.): das Zeit-Gleichmaß wurde wie eine Art Oel auf den Wogen empfunden. Rhythmus im antiken Verstande ist, moralisch und ästhetisch, der Zügel, der der Leidenschaft angelegt wird. In summa: unsre Art Rhythmik gehört in die Pathologie, die antike zum "Ethos" ... Herrn Dr. Carl Fuchs zu freundlicher Erwägung anheimgegeben. F. N. 1. Cf. Basel, 11-23-1870: Letter to Erwin Rohde in Hamburg; 12-30-1870: Tribschen, Letter to Friedrich Ritschl in Leipzig; Rosenlauibad, end July 1877: Letter to Carl Fuchs in Hirschberg; 08-26-1888: Sils Maria Letter to Carl Fuchs in Danzig. See Nietzsche's notes on rhythm and meter that were a by-product of his lectures from WS1870-71 on Greek rhythmics. The relevant notes include: "Aufzeichnungen zur Metrik und Rhythmik" (Notes on Rhythm and Meter) in: KGW 2:3, 203-262; "Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik" (On the Theory of Quantitative Rhythm) in: KGW 2:3, 263-280 (a translation by James W. Halporn in: Arion 6 (1967): 233-43; "Rhythmische Untersuchungen" (Rhythmical Investigations) in: KGW 2:3, 281-338. In addition, for an analysis of the lecture notes, see James Porter's Nietzsche and the Philology of the Future, 127ff. (Ch. 3, "The Studies in Ancient Rhythm and Meter (1870-72)"). Earlier, in 1869, for the Literarisches Centralblatt für Deutschland, Nietzsche had reviewed Die harmonischen Fragmente des Aristoxenus. Griechisch und deutsch mit kritischem und exegetischem Commentar und einem Anhang die rhythmischen Fragmente des Aristoxenus enthaltend, herausgegeben von Paul Marquard. Berlin: Weidmann, 1868. (The Harmonic Fragments of Aristoxenus. Greek and German with critical and exegetical commentary and an appendix containing the rhythmical fragments of Aristoxenus, edited by Paul Marquard.)
Sils-Maria, vmtl. Anfang September 1888: Antwort auf einen durch Artigkeit sich auszeichnenden Brief der Wittwe Wagner's1 Sie erweisen mir die Ehre, mich auf Grund meiner Schrift,2 die die erste Aufklärung über W[agner] gab, öffentlich anzugreifen,3 — Sie machen selbst den Versuch, auch über mich aufzuklären. Ich bekenne, warum ich im Nachtheil bin: ich habe zuviel Recht, zu viel Vernunft, zu viel Sonne auf meiner Seite, als daß mir ein Kampf unter solchen Umständen erlaubt wäre. Wer kennt mich? — Frau Cosima am allerletzten. Wer kennt Wagner? Niemand außer mir, hinzugenommen noch Frau C[osima] welche weiß daß ich Recht habe ... sie weiß, daß der Gegner [Recht] hat — ich gebe Ihnen auf diese Position hin Alles zu. Unter solchen Umständen verliert das Weib seine Anmuth, beinahe seine Vernunft ... Man hat damit nicht Unrecht, daß man schweigt: namentlich wenn man Unrecht hat ... Si tacuisses, Cosima mansisses4 ... Mit dem Ausdruck Sie wissen sehr gut, wie sehr ich den Einfluß kenne den Sie auf W[agner] ausgeübt haben — Sie wissen noch besser, wie sehr ich diesen Einfluß verachte ... Ich habe in dem Augenblick Ihnen und Wagner den Rücken gekehrt, als der Schwindel los ging ... Wenn die Tochter Liszt5 in Dingen der deutschen Cultur, oder gar der Religion mitreden will, so habe ich kein Erbarmen ... 1. Unknown letter. Der Fall Wagner (The Case of Wagner) was published on September 22, so this draft had to be written afterwards.
Nueva Germania, 6. September 1888: Mein lieber Herzensfritz Gewiß ist ein Brief von Dir oder mir verloren gegangen denn in unserer Correspondenz ist eine riesige Lücke entstanden. Ich denke ich müßte Dir zuletzt im Juni geschrieben haben, aber ich weiß es nicht ganz genau, indeßen es scheint mir schon eine Ewigkeit her und noch länger ist es jedenfalls, daß Du uns nichts von Dir mitgetheilt hast.2 Durch Mamachen vernehme ich nun Vielerlei von Deinem aufsteigenden Ruhm3 und so sehr es mich freute so habe ich doch seitdem jede Hoffnung aufgegeben, daß Du je zu uns herüberkommst4 denn Ruhm ist ein süßer Trank! Natürlich muß denn auch die gute Mama drüben bleiben, wenn ich auch annehmen muß, daß sie es hier bequemer und sorgloser haben könnte. Aber die Begriffe über angenehmes Leben sind so verschieden, mir z. B. würde diese Vermietherei an junge Herren ein solches Greuel sein, daß ich lieber sonst was thäte um mich dessen zu entziehen; aber der Geschmack ist verschieden und mir scheint es als machte diese Wirthschaft mit den jungen Herren der guten Mama einiges Vergnügen. In der nächsten Woche kommt ein lieber dänischer Freund zu uns, da hoffe ich er bringt mir einige dänische Zeitungen5 mit und übersetzt mir was darin über Dich steht. Ich persönlich hätte Dir einen andern Apostel als Hr. Brandes gewünscht, er hat in zu vielerlei Töpfchen geguckt6 und von zu vielen Tellern gegessen, indeßen man kann sich seine Verehrer nicht wählen und ganz sicher ist es: er wird Dich in Mode bringen, denn das versteht er. Einen gutgemeinten Rath kann ich aber doch nicht unterdrücken: Triff lieber nicht persönlich mit ihm zusammen, schreibt Euch Eure angenehmen Empfindungen aber sieh ihn Dir nicht in der Nähe an. Zwei unserer Freunde Hr. Johannsen und Hr. Haug kennen ihn persönlich und sind nicht gerade begeistert, darin aber stimmen Alle überein, daß er einen ausgezeichneten Spürsinn für die interessantesten Erscheinungen aller Zeiten hat und sich durch sie interessant macht. Meinem Herzen thut es unendlich wohl, daß nun von Todtschweigen nicht mehr die Rede sein kann und daß durch Brandes nun vielleicht die echten guten Verehrer, die zu Dir passen, von Dir hören. Mein lieber Herzensfritz nun ist Dein lieber Geburtstag7 wieder einmal da und man denkt daran wie viele Jahre wir schon miteinander und jetzt leider weit von einander durchs Leben gewandert sind. Wie viel Freud und Schmerz ist schon an uns vorübergezogen, verlohnt es eigentlich zu leben? Für so zartempfindende Menschen wie wir nun einmal sind hat das Leben mehr Schmerz als Freude und es muß uns ganz unbändig gut gehen damit man den Schmerz ganz vergißt. Aber Manches überwindet man doch nie so z. B. eine warme ja zuweilen ganz unbeschreibliche Sehnsucht Dich wiederzusehen. Möchte dies Wiedersehen uns doch in nicht allzuferner Zeit beschieden sein. Ich kann es jetzt nicht mehr wünschen, daß Du zu uns herüber kommst, da mir die Witterungsverhältniße dies Jahr hier recht ungünstig erscheinen. So viel Wechsel und niedriger Barometerstand wie es in keinem der vergangenen Jahre gewesen ist. Freilich auf der ganzen Welt scheint es nicht besonders mit dem Wetter bestellt zu sein. Mamachen schreibt Du säßest im Schnee, na das braucht man hier nicht zu fürchten. Lieber Herzensfritz möge Dir das neue Lebensjahr der Freuden so viele bringen, daß Du keine Zeit zu schmerzlichen Empfindungen hast und möchte sich Deine Gesundheit kräftigen! Ich meine immer daß Du von Jahr zu Jahr gesünder wirst oder werden solltest. Du wirst sicherlich noch als Greis erst recht frisch und lebensfroh sein. Nun weißt Du wir möchten so gern etwas für Dein Alter sorgen und so wollen wir Dir ein Stück schönes Land verschreiben, was vielleicht einmal ein hübsches Stück Geld werth ist. Wir schicken Dir mit der nächsten Post einen Kaufcontract der Dir alles Nähere sagt, ich schicke ihn zu der lieben Mama weil sie doch immer weiß wo Du bist. Ich betrachte als Kaufgeld die 1000 Mark, welche die gute Mama damals für meine Möbel zahlte, die 600 M. welche sie stiftete und die 300 M. welche Du gestiftet hast, wir sagen aber, daß es volleingezahlt ist. Es sind acht Loose. Du darfst aber nicht vergessen uns d. h. meinen Mann zu Deinem Vertreter und Verwalter zu ernennen.8 Da ich Dir nun so bald wiederschreibe, so will ich nun heute aufhören denn wir haben so viel zu thun mit dem Grundbuch und dem Ausfertigen der Verkaufsurkunden. So lebe wohl Du liebes Herz! Bern wünscht Dir von ganzem Herzen Glück und alles Gute! In zärtlicher Liebe 1. Nietzsche received this letter after writing from Sils Maria to Elisabeth in Paraguay on September 14, 1888. For his response, cf. Turin, mid-November 1888: Draft of a letter to Elisabeth Förster-Nietzsche.
Sils-Maria, 12. September 1888: Lieber Freund, noch weiß ich Ihre Adresse nicht, aber in Anbetracht, daß ich Ihnen noch vor meiner Abreise schreiben möchte, will ich annehmen, daß auch ein nach Annaberg gesandter Brief in Ihre Hände kommt. Sonntag soll es fortgehen, nach Turin, versuchsweise: daß der Schluß meines Silser Aufenthaltes mir noch die schwerste Geduldsprobe auferlegen würde, habe ich mir nicht träumen [lassen]. Ein unerhörtes Hochwasser-Wetter seit einer Woche; Alles überschwemmt; Tag und Nacht strömt es, mit Schnee untermischt. In 4 Tagen allein sind 220 millimeter Niederschlag gefallen (während der Monats-Durchschnitt hier 80 mm zu sein pflegt) Meine Gesundheit ist dabei nicht zum Besten weggekommen: ich schreibe auch augenblicklich etwas mit Kopfschmerz. Ich sende dieser Tage noch ein Paket an Sie ab, lauter Drucksachen, darunter, mit bestem Dank, das Heft Bayreuther Blätter.1 Das Andere sind Fuchsiana: eine Anzahl Recensionen2 und etwas von seinen sehr merkwürdigen Briefen (— darunter einer, der einen ausgezeichnet guten Begriff von Riemann's ganzer Unternehmung3 giebt: Sie werden finden, daß F[uchs] von ihm Dasselbe erhofft, was Sie erhoffen — eine Stärkung und Wiedergewinnung des großen rhythmischen Sinns) Eben höre ich, daß von Hans von Bülow eine Schrift4 erscheinen wird "Alt- und Neu-Wagnerianer" betitelt. Das Zusammentreffen mit meinem Pamphlet5 ist curios. Sonst warte ich immer noch auf eine Antwort von ihm. — Es giebt noch etwas Curioses zu melden. Ich habe vor wenig Tagen Herrn C. G. Naumann wieder ein Manuscript6 zugesandt, das den Titel führt "Müssiggang eines Psychologen." Unter diesem harmlosen Titel verbirgt sich eine sehr kühn und präcis hingeworfne Zusammenfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien: so daß die Schrift als einweihend und appetitmachend für meine Umwerthung der Werthe (deren erstes Buch7 beinahe in der Ausarbeitung fertig ist) dienen kann. Es ist viel darin von Urtheilen über Gegenwärtiges, über Denker, Schriftsteller usw. Der letzte Abschnitt heißt Streifzüge eines Unzeitgemäßen; der erste Sprüche und Pfeile. Im Ganzen sehr heiter, trotz sehr strengem Urtheile (— es scheint mir, unter uns, daß ich erst in diesem Jahre deutsch — will sagen französisch — schreiben gelernt habe). Capitel, außer den genannten: das Problem des Sokrates; die "Vernunft" in der Philosophie. Wie die "wahre" Welt endlich zur Fabel wurde. Moral als Widernatur. Die vier großen Irrthümer. Die "Verbesserer" der Menschheit. Es sind wirkliche psychologica und vom Unbekanntesten und Feinsten. (— Den Deutschen werden manche Wahrheiten gesagt, insbesondere wird meine geringe Meinung über die reichsdeutsche Geistigkeit begründet) Diese Schrift, in Allem als Zwilling zum "Fall Wagner" auftretend (wenn auch etwa doppelt so stark) muß möglichst bald heraus: weil ich eine Zwischenzeit brauche bis zur Veröffentlichung der Umwerthung (— diesen mit einem rigorosen Ernst und hundert Meilen weit abseits von allen Toleranzen und Liebenswürdigkeiten) Meine Hoffnung ist, daß dieser Brief Sie in einer angenehmen Ungewohntheit von Existenz vorfindet. Ein paar Worte von Ihnen werden mir in Torino (ferma in posta) sehr willkommen sein. Treulich und dankbar — Was macht inzwischen das Quartett?8 1. Richard Wagner, "Religion und Kunst." In: Bayreuther Blätter. Monatschrift des Bayreuther Patronatvereines. Unter Mitwirkung Richard Wagner's, redigirt von Hans von Wolzogen. Dritter Jahrgang. zehntes Stück, Oktober 1880, 269-300 (273f.). Sent to Nietzsche by Köselitz; cf. Annaberg, 08-06-1888: Postcard from Heinrich Köselitz to Nietzsche in Sils Maria.
Sils-Maria, 13. September 1888: Verehrter Herr, Hiermit mache ich mir ein wahres Vergnügen — nämlich mich Ihnen wieder in's Gedächtniß zurück zu rufen: und zwar durch Übersendung einer kleinen boshaften, aber trotzdem sehr ernst gemeinten Schrift,1 die noch in den guten Tagen von Turin entstanden ist. Inzwischen nämlich gab es böse Tage in Überfluß: und einen solchen Niedergang von Gesundheit, Muth und "Willen zum Leben," Schopenhauerisch geredet, daß mir jene kleine Frühlings-Idylle kaum mehr glaublich erschien. Zum Glück besaß ich noch ein Dokument daraus den "Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem." Böse Zungen wollen lesen "der Fall Wagner's" ... So sehr und mit so guten Gründen Sie sich auch gegen Musik vertheidigen mögen (— die zudringlichste aller Musen), so sehen Sie sich doch einmal dies Stück Musiker-Psychologie an. Sie sind, verehrter Herr Cosmopoliticus, viel zu europäisch gesinnt, um nicht dabei hundert Mal mehr zu hören, als meine sogenannten Landsleute, die "musikalischen" Deutschen ... Zuletzt bin ich, in diesem Falle, Kenner in rebus et personis2 — und, glücklicher Weise, bis zu dem Grade Musiker von Instinkt, daß mir über die hier vorliegende letzte Werthfrage von der Musik aus das Problem zugänglich, löslich erscheint. Im Grunde ist diesen Schrift beinahe französisch geschrieben, — es möchte leichter sein, sie ins Französische zu übersetzen als ins Deutsche ... Würden Sie mir noch ein Paar russische oder französische Adressen geben können, in deren Fall es Vernunft hätte, die Schrift mitzutheilen? Ein paar Monate später giebt es etwas Philosophisches zu erwarten: unter dem sehr wohlwollenden Titel Müssiggang eines Psychologen3 sage ich aller Welt Artigkeiten und Unartigkeiten — eingerechnet dieser geistreichen Nation, den Deutschen — Dies Alles sind in der Hauptsache nur Erholungen von der Hauptsache: letztere heißt Umwerthung aller Werthe4 — Europa wird nöthig haben, noch ein Sibirien zu erfinden, um den Urheber dieser Werth-Tentative dorthin zu senden. Hoffentlich begrüßt Sie dieser heitere Brief in einer bei Ihnen gewohnten resoluten Verfassung — Sich gern Ihrer erinnernd Adresse bis Mitte November: Torino (Italia) ferma in posta. 1. Der Fall Wagner (The Case of Wagner).
Sils-Maria, 14. September 1888: Lieber Freund, ich möchte Sils nicht verlassen, ohne Dir nochmals die Hand zu drücken, in Erinnerung an die größte Überraschung, die mir dieser an Überraschungen reiche Sommer gebracht hat.1 Auch darf ich jetzt wieder muthiger reden als damals, wo ich Dir zu antworten hatte: die Gesundheit ist seitdem wiedergekommen, mit dem "besseren" Wetter, denn der Begriff "gut" ist für Meteorologen und Philosophen impraktikabel. Zwar hatten wir die allerletzte Woche noch den eigentlichen Exceß des ganzen Jahrs — eine wahre Sündfluth, die die ernstesten Überschwemmungs-Nothstände im Ober- und Unterengadin hervorrief. Es fiel in 4 Tagen 220 millim. Niederschlag, während das Normal-Quantum eines ganzen Monats hier 80 m[illimeter] ist. — Du wirst noch in diesem Monate eine Zusendung erhalten: eine kleine aesthetische Streitschrift,2 in der ich, zum ersten Male und auf die unbedingteste Weise das psychologische Problem Wagner an's Licht stelle. Es ist eine Kriegserklärung ohne pardon an diesen ganze Bewegung: zuletzt bin ich der Einzige, der Umfang und Tiefe genug hat, um hier nicht unsicher zu sein. — Daß eine Schrift von mir, ein Pamphlet, wenn man will, gegen Wagner, eine gewisse Aufregung mit sich bringt, giebt mir schon der letzte Bericht meines Verlegers3 zu verstehn. Bloß auf die vorläufige Ankündigung im Buchhändler-Börsenblatt hin sind so viel Bestellungen eingelaufen, daß die Auflage von 1000 Ex. als erschöpft betrachtet werden kann (d. h. wenn die Exemplare, die verlangt sind, später nicht den Krebsgang gehn ...). Lies die Schrift einmal auch vom Standpunkt des Geschmacks und Stils: so schreibt heute kein Mensch in Deutschland. Es würde ebenso leicht sein die Schrift ins Französische zu übersetzen als schwer, fast unmöglich, sie ins Deutsche zu übersetzen ... — Es ist bereits ein andres M[anu]s[kript] bei meinem Verleger, das einen sehr strengen und feinen Ausdruck meiner ganzen philosophischen Heterodoxie giebt — unter vieler Anmuth und Bosheit versteckt. Es heißt: Müssiggang eines Psychologen.4 — Zuletzt sind diese beiden Schriften nur wirkliche Erholungen inmitten einer unermeßlich schweren und entscheidenden Aufgabe, welche, wenn sie verstanden wird, die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Der Sinn derselben heißt in drei Worten: Umwerthung aller Werthe.5 Es steht Vieles hinterdrein nicht mehr frei, was bis jetzt frei stand: das Reich der Toleranz ist durch Werth-Entscheidungen ersten Rangs zu einer bloßen Feigheit und Charakter-Schwäche heruntergesetzt. Christ sein — um nur Eine Consequenz zu nennen — wird von da an unanständig. — Auch von dieser radikalsten Umwälzung, von der die Menschheit weiß, ist Vieles bei mir schon in Fluß und Gang. Nur, nochmals gesagt, habe ich jede Art Erholung und Seitensprung nöthig, um das Werk ohne jedwede Mühe, wie ein Spiel, wie eine "Freiheit des Willens" hinzustellen. Das erste Buch6 davon ist zur Hälfte vollendet. — Mein alter Freund, Du erräthst, daß es Etwas in diesem und in den nächsten Jahren zu drucken giebt — und daß wirklich jene seltsame Geld-Großmuth in einem entscheidend guten Augenblick an meine Thür klopfte. Man muß zu Allem Glück haben, selbst noch zum Gutes-Thun ... Ein Paar Jahre früher — wer weiß, was ich Dir geantwortet hätte! — Mit dem herzlichsten Gruße Dein Freund — Ich sende auch ein Exemplar an Hrn. Rechtsanwalt Volkmar.7 — 1. Deussen had forwarded the sum of 2000 francs from Richard M. Meyer, a fan of Nietzsche from Berlin. Read Deussen's account of the donation in Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Leipzig: Brockhaus, 1901, 94f.
Sils-Maria, 14. September 1888: Mein liebes Lama,1 sehr anders als es mein Wunsch war, komme ich erst am Schluß meines Engadiner Sommers (—?—) dazu, Dir zu schreiben.2 Es gieng dies Jahr in allen Stücken sehr außergewöhnlich zu: man konnte nichts versprechen, nichts beschließen. Dabei kam meine Gesundheit recht in die Brüche; und als es wieder besser gieng, habe ich den großen Zeitverlust für meine Aufgabe durch eine um so angespanntere Arbeit auszugleichen gesucht. Nun ist wirklich Etwas erreicht: und ich kann zu menschenfreundlicheren Arbeiten und selbst zu Briefen mir wieder Zeit nehmen. Wie lange schon lag mir es auf dem Herzen, Dir meine große Freude über das Definitivum der Übersiedelung3 und die festliche Art und Weise, in der sie vollzogen wurde, auszudrücken! Auch daß Deine Gesundheit der Menge neuer Pflichten und Sorgen so tapfer Stand hält, ist keine kleine Beruhigung. Wir haben es Beide, auf eine etwas verschiedene Weise, schwer — wir haben es Beide andrerseits auch wieder gut. Wir lassen uns nicht so leicht fallen — uns nicht und auch die Sachen nicht, die uns angehen. Das eigentliche malheur in der Welt ist Alles bloß Schwäche ... Von mir wäre zu erzählen, daß zu den bewiesenen Orten Nizza und Sils noch ein dritter als Zwischenakt hinzugekommen ist: Turin. Klimatisch und menschlich der mir sympathischste Ort, den ich bisher gefunden habe. Großstadt, aber ruhig, vornehm, aristokratisch, Universität, gute Bibliotheken, sehr viel Entgegenkommen für mich, ausgezeichnete Theater-Verhältnisse — und sehr billige Preise. Kost und Luft, Wasser und Spaziergänge — alles vollkommen nach meinem Geschmack. Die größeren Buchhandlungen dreisprachig (französisch, deutsch, italiänisch, so daß ich für neue wissenschaftliche Litteratur dort bei weitem besser daran bin als in Leipzig selbst.) Der Ring von Hochgebirge, der auf 3 Seiten Turin einschließt, hält dieselbe trockne und dünne Luft aufrecht, wie sie, aus gleichen Gründen, Sils und Nizza haben. Da ich mitten in der entscheidenden Arbeit meines Lebens bin, so ist mir eine vollkommne Regel für eine Anzahl Jahre die erste Bedingung. Winter Nizza, Frühling Turin, Sommer Sils, zwei Herbstmonate Turin — dies ist der Plan. Entsprechend ist auch meine Diät normal gemacht d. h. absolut persönlich, und den eigensten Bedürfnissen gemäß eingerichtet. Dazu gehört natürlich die Emancipation von jedem Essen in Gesellschaft. Der Erfolg des allmählich von mir ausprobirten Optimum von Existenz zeigt sich in einer enormen Steigerung der Arbeitskraft. Die drei Abhandlungen4 vom vorigen Sommer, denen Ihr die Ehre Eurer Antheilnahme geschenkt habt, sind in weniger als 25 Tagen beschlossen, ausgeführt und druckfertig fortgeschickt worden. Dasselbe habe ich diesen Sommer bei dem ersten Umschwung zum Bessern, noch einmal geleistet.5 In Turin ist, mit spielender Leichtigkeit, ein entscheidendes Stück Musiker-Psychologie6 zu Stande gekommen, das Euch diesen Herbst zugehen wird. Auch von der Umwerthung aller Werthe giebt es, beinahe wenigstens, das erste Buch.7 — Diese Nachrichten sind nicht schlecht, nicht wahr? mein liebes Lama? — Der Haken liegt darin, daß ich meine Schriften selbst drucken muß — und daß die Zeit für immer vorbei ist, wo es zwischen mir und der Gegenwart irgend noch ein andres Verhältniß gäbe als Krieg aufs Messer! — Mit diesem etwas indianerhaft gerathenen Schluß grüßt und umarmt Dich, mein liebes Lama, Dein Bruder Fritz. — Das Herzlichste an Deinen Bernhard.8 — 1. Nietzsche's pet name for Elisabeth Förster-Nietzsche.
Sils-Maria, 14. September 1888: Meine alte Mutter hat mir aber einen ganz traurigen Brief geschrieben und jedenfalls die Gedanken die ganze Zeit über wo anders gehabt: sonst würde ihr eingefallen sein, daß der Sohn in jedem Briefe seine Abreise von Sils auf den 15. Sept. festgesetzt hat. Nun haben wir heute den 14. Sept., es ist Nachmittag und nichts außer Deinem lieben Briefe eingetroffen. Um mir einen kleinen Scherz zu machen, schrieb ich ein Paar Worte an Herrn Kürbitz:1 derselbe wird der guten Mutter ein ganz kleines Geldchen überreichen, von dem als von einer "Ehrengabe"2 kleinsten Stils gar nicht geredet werden soll. Vielleicht stopft es etwas für den Monat September noch die Kasse der guten Mutter aus, die mich, in aller Noth des Augenblicks, durchaus noch beschenken will. (Herrn Kürbitz habe ich genau denselben Auftrag gegeben, wie das letzte Mal; er wird denken, daß Du wieder etwas für mich besorgen sollst) — Ich habe diesen Sommer recht ökonomisch gelebt: wozu mir Deine schönen Naumburger Sendungen wesentlich geholfen haben. Ein Brief meines Freundes Overbeck, der seit Monaten geschwiegen hatte, gab Nachricht von einem langen und schweren Erschöpfungs-Zustand, aus dem er nur sehr langsam auftaucht. Er hat jetzt ein eignes Haus in Basel, aber er hat vergessen, auch nur ein Wort davon zu schreiben. Frau Rothpletz3 soll 3 Tage gar nicht weit von hier gewesen sein, aber im Schrecken über unsren vollkommenen Winter schnell die Flucht ergriffen haben. Das Letzte war eine höchst bedenkliche Überschwemmung, bei der aller Ort schwer zu Schaden gekommen, mit Ausnahme von Sils, das bei Zeiten (vor 20 Jahren) große Dämme aufgeworfen hatte. Trotzdem war auch hier Alles ein See; und man konnte längere Zeit nicht spazieren gehn. Der Regen, mit Schnee untermischt, floß Tag und Nacht; es ist in 4 Tagen 3 Mal so viel gefallen als sonst in einem Monat. — Heute morgen habe ich noch einen wohlgemuthen Brief4 an's Lama5 abgeschickt. Es nützt gar nichts, sich über Dinge, in die wir nicht klar sehn, Sorgen zu machen.6 Nach dem, was Du von Claire Heinze erzählst, nehme ich an, daß man in Leipzig viel Bestimmteres weiß als in Naumburg. Die Leipziger Colonial-Gesellschaft muß ja vollkommen über die Vertrags-Bedingungen unterrichtet sein, unter denen die dortige Regierung sich mit Förster eingelassen. Sie selbst hat offenbar nicht das Gleiche versprechen können. Wir sind in der That über die Hauptsachen nicht unterrichtet: ich merke das jedes Mal, wenn meine guten Köchlin's in Nizza darüber Auskunft haben wollen. Dann fragen sie wohl der Reihe nach "ist Dr. Förster reich, um ein so ungeheures Besitzthum an sich zu bringen?" Dann "steht wohl eine Colonial-Gesellschaft hinter ihm?" — "Oder ein großes deutsches Bankhaus?" — "Aber er wird sich das Geld doch nicht geborgt haben?" — Colonien gründen ohne Einiges sogar zu viel zu haben, soll kaum möglich sein. Es steht da wie mit den großen Hôtels. Die erste Gesellschaft risquirt sich dabei; die zweite, die es billig übernimmt, gedeiht. Wie viele große Schweizer Vermögen sind mit Colonie-Gründung in Südamerika drauf gegangen! — Das Ermuthigende liegt hier genau in dem Vertrauen der Paraguayer: man darf durchaus nicht annehmen, daß sie bloß auf persönliche Sympathie hin Förster eine so große Sache in die Hände gegeben haben, sondern auf wirkliche Garantien hin. Zuletzt sind es Südamerikaner — sehr kluge Leute. Offen gesagt, wenn die vertrauen, dürfen wir es hundert Mal. — 2ter Bogen — In diesem Augenblick trifft Deine Sendung ein — großes Vergnügen! Ich habe sofort den Kamm probirt und ihn bereits achten gelernt. Diese kleine Arbeit der Reinigung jeden Abend vor Schlafengehn wird mit diesem gründlichen Instrument mir noch mehr zu Nutzen kommen. Insgleichen kam die sehr vermißte Brille an, an der ein Arm zerbrochen war. Die Theemaschine mag hier bleiben; für unterwegs habe ich nicht den geringsten Platz mehr. — Sehr erbaut bin ich nun doch noch die Federn bekommen zu haben: denn es ist in meinem Leben, einem rechten Schreibthier-leben, eine Sache ersten Ranges, für sich selber lesbar zu schreiben. Dies hatte im Frühling vollkommen aufgehört. Es thut mir nur leid, daß die Besorgung Dir so viel Noth gemacht hat. Eine Postkarte nach Leipzig mit der Adresse "Sönnecke Stahlfederfabrik" hätte Dir alles erspart. — Zuletzt: meine gute Mutter, wir wollen nicht den Muth verlieren. Eigentlich glaube ich, daß wir Beide jetzt etwas krank sind und deshalb Alles zu schwer nehmen. Ich bin wirklich krank und denke nicht daran, morgen abzureisen: ich werde einen verdorbenen Magen seit 8 Tagen nicht mehr los. Sobald ich den Brief an Dich expedirt habe, will ich mich zu Bett legen, — der Kopf taugt nichts, Appetit fehlt auch. Meine Hauptsache ist die militärische Genauigkeit im Kleinsten der Lebensweise: ich muß die Versuche und Abweichungen außer allem Verhältnisse büßen. — Die Reise, meine Mutter, ist nichts Langes. Turin ist Mitte Wegs nach Nizza: so daß ich eigentlich keinen Umweg mache. Vormittags setze ich mich hier in die Post; Mittags bin ich in Chiavenna; Abends in Mailand. Dort bleibe ich die Nacht. Am andren Tage komme ich in 3 Stunden Schnellzug nach Turin. — Eine Reise, wie sonst, nach Venedig und von dort nach Nizza ist doppelt und dreifach so weit. — Es umarmt Dich das alte Geschöpf. (Vom Schinken lebe ich die nächsten Tage und auf der Reise.) Adresse: Torino (Italia) 1. Cf. Sils Maria, 09-14-1888: Letter to Ernst Julius Kürbitz in Naumburg. Ernst Julius Kürbitz (1845-?): Naumburg banker.
Sils-Maria, 14. September 1888: Lieber Freund, mit einer wahren Erleichterung empfieng ich Deinen Brief; denn nach Allem, was ich aus Deinen letzten Berichten schließen durfte, stand es nicht zum Besten um Dich. Eine kleine Wendung zum Guten, mindestens zum Besseren, scheint doch festgestellt. Zuletzt glaube ich, daß die merkwürdige Ungunst der meteorologischen Zustände jede Art Erschöpfung in diesem Jahre bedenklich macht, — ich rede aus Erfahrung.2 Man ist durchaus nicht isolirt vom ganzen Naturleben: wenn der Wein nicht aus Mangel an Sonne geräth, werden wir auch sauer ... Seltsam, daß hier oben uns die stärkste Geduldsprobe bis zuletzt aufgespart war: es gab gerade schauderhafte Zustände die ganze letzte Woche: — ich lag wieder Tage lang wie betäubt. Die Wasser-Masse, die allein in 4 Tagen gefallen ist, beträgt 220 millimeter: während das normale Quantum eines ganzen Monats in Sils 80 mill. ist. Trotzdem war Sils der einzige Ort im Engadin, der ohne Schaden durch diesen Katastrophe (— unerhört in der Geschichte des Engadin!) durchgekommen ist. — Mein Hôtel, die Alpenrose, in der ich immer verkehre, aber allein esse hatte diesen Sommer die Auszeichnung, Herrn Bädecker3 und Frau aus Leipzig ein paar Monate zu Gaste zu haben: eine wirkliche Censur, auch für Sils! — Ein sehr angenehmer, witziger und raffinirter Musiker, in übrigens glänzenden Verhältnissen, war hier ein Umgang für mich: Herr von Holten, aus Hamburg, vom Conservatorium. Er gab mir ein kleines Privatconcert, wo er lauter Köselitziana (die er sich für mich eingeübt hatte) auswendig spielte, — entzückt "über die feine und liebenswürdige Musik."4 — Bei der Berufung Harnack's5 habe ich sehr Deiner gedacht: dieser junge Kaiser präsentirt sich allmählich vortheilhafter als man erwarten durfte, — er ist neuerdings scharf anti-antisemitisch aufgetreten und hat den Beiden, die ihn in der rechten Zeit von der compromittirenden Gesellschaft Stöcker und Co. taktvoll auslösten (Bennigsen und dem Baron v. Douglas) jetzt vor aller Welt seine große Erkenntlichkeit dafür ausgedrückt.6 — Man sagt mir selbst, daß sein Benehmen gegen seine Mutter7 hundert Mal rücksichtsvoller ist, als die Parteileidenschaft es in Deutschland und England wünschen möchte. — Darf ich von mir erzählen? In der Hauptsache fühle ich mehr als je die große Ruhe und Gewißheit, auf meinem Wege und sogar in der Nähe eines großen Ziels zu sein. Ich habe, zu meiner eignen Überraschung, bereits das erste Buch meiner Umwerthung aller Werthe bis zur Hälfte in seiner endgültigen Form fertig. Es hat eine Energie und Durchsichtigkeit, welche vielleicht von keinem Philosophen je erreicht worden ist. Es scheint mir, als ob ich mit Einem Male schreiben gelernt hätte. Was den Inhalt, die Leidenschaft des Problems betrifft, so schneidet dieses Werk durch Jahrtausende hindurch — das erste Buch,8 unter uns gesagt, heißt "der Antichrist," und ich will schwören, daß Alles, was je zur Kritik des Christenthums gedacht und gesagt worden, eitel Kinderei dagegen ist. — Ein solches Unternehmen macht tiefe Pausen und Distraktionen selbst hygienisch nöthig. Eine solche wird in etwa 10 Tagen bei Dir aufwarten: sie heißt "Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem." Es ist eine Kriegserklärung ohne Pardon — mein Verleger meldet mir, daß schon seit ein paar Wochen (auf die erste Ankündigung im Buchhändler-Blatt) so viel Bestellungen darauf eingelaufen sind, daß die Auflage von 1000 Ex. als erschöpft gelten kann.* — Auch ein zweites Manuscript, vollkommen druckbereit, ist bereits in den Händen des Herrn C. G. Naumann. Doch wollen wir es einige Zeit noch liegen lassen. Es heißt "Müssiggang eines Psychologen"9 und ist mir sehr werth, weil es in der allerkürzesten (vielleicht auch geistreichsten) Form meine wesentliche philosophische Heterodoxie zum Ausdruck bringt. Im Übrigen ist es sehr "zeitgemäß": ich sage über alle möglichen Denker und Künstler des heutigen Europa meine "Artigkeiten" — eingerechnet, daß darin den Deutschen in puncto Geist, Geschmack und Tiefe die unerbittlichsten Wahrheiten ins Gesicht gesagt werden. — In wenig Tagen will ich nach Turin abreisen: der Versuch, den Herbst daselbst kennen zu lernen, nachdem mir der Frühling so ausnahmsweise gut gethan hat, ist nicht zu unterlassen. Es wäre mir eine große Wohlthat, mein Leben für eine Anzahl tief arbeitsamer und innerlich entscheidender Jahre in die regelmäßige Ordnung Sils, Turin, Nizza, Turin, Sils usw. gebracht zu haben. Für Nizza habe ich eine Neuerung nöthig: mich vollkommen so unabhängig in Diät und Gesellschaft zu machen, als ich es in Sils bin. Ich habe entdeckt, daß die unnöthige Verdüsterung und selbst ein gewisses Mißrathen fast aller meiner Nizzaer Winter an Concessionen liegt, die ich in diesen beiden Punkten gemacht. Genau so war's in Sils: erst seit vorigem Sommer stehe ich auf meinen Füßen — und seitdem erst weiß ich, wie unschätzbar gerade mir dies Sils ist. — Ich habe für meine Lebensweise keine andere Kritik als das Maaß meiner Arbeits-Kraft. Im vorigen Sommer schrieb ich die drei Abhandlungen der "Genealogie" in weniger als einem Monate druckfertig; in diesem habe ich jenen "psychologischen Müßiggang" in 20 Tagen abgemacht. — Diese Leistungs-Fähigkeit drückt sich besonders auch in der Sehkraft aus: während jeder Diätfehler, jedes böse Wetter mich sofort darin depotenzirt. — Es bleibt Etwas zu erzählen, aber, alter Freund, privatissime unter uns. Man hat mir, von Berlin aus, seitens "unbekannt bleiben wollender" Freunde und Verehrer (unter denen aber Prof. Deussen als Vermittler und wahrscheinlich Hauptbetheiligter sich zu erkennen gegeben hat) eine "Ehrengabe" von 2000 Mark zugestellt.10 Ich habe dieselbe, mit ausdrücklicher Ablehnung des Gedankens, als ob ich in einer Nothlage wäre und mit einem Ausdruck der Dankbarkeit für die Basler Liberalität, nur in Hinsicht der Nöthigung, meine Schriften selbst drucken zu müssen, acceptirt. Thatsächlich kam das Geld sehr zur rechten Zeit, — ich athme in dieser absurden Druck-Necessität wieder freier. — Nach dieser Seite hin werde ich also die Basler Ersparnisse nicht in Anspruch nehmen. — Die 1000 frs., welche zunächst fällig werden, bitte ich mir erst für Nizza, das heißt ungefähr für den 16. November11 (ha! was für ein Tag!) aus. Du erräthst, daß ich eine kleine Ökonomie getrieben habe, sowohl in Turin, wie hier, so daß ich es ein paar Monate noch aushalte. — Verzeihung, lieber Freund! Ich sehe eben, daß der Brief etwas zu lang für Deine Gesundheit gerathen sein möchte. Mit dem allerbesten Wunsche und der Bitte, Deiner lieben Frau angelegentlich empfohlen zu werden bin ich in alter Liebe und Anhänglichkeit Dein Nietzsche. Adresse, etwa vom 18. Sept. an bis 14. Nov. Torino (Italia) ferma in posta. Die große Hochzeit12 daselbst, Savoyen-Bonaparte, soll erst vorüber sein. Jetzt sind alle Hôtels dort überfüllt. * Vorausgesetzt, daß die geforderten Exemplare nicht später den Krebsgang machen: sie sind bloß auf condition bestellt. 1. For the publication history of Der Antichrist (The Antichrist), see William H. Schaberg, The Nietzsche Canon. A Publication History and Bibliography. Chicago; London: Univ. of Chicago Press, 1995, 177-180.
Sils-Maria, 16. September 1888: Lieber Freund, unsre Briefe haben sich gekreuzt, — dies ist aber am wenigsten ein Grund, Ihnen nicht sofort zu antworten. Denn Ihr Brief kam sehr willkommen, zumal gar keine Briefe mich mehr erreichen: alle Welt glaubt mich abgereist. Ich wäre es gern: aber was hilft es! Die "höhere" Naturgewalt, nachdem sie mich den ganzen sogenannten Sommer hindurch hier oben maltraitirt hat, hält mich zuletzt noch hier oben fest ... Ich schrieb heute nach Turin, wo ich mich angemeldet hatte, "Non si può partire. Grandi inondazioni. La ferrovia Chiavenna-Colico molte volte interrotta."1 — Der Postmeister will mir melden, wenn Alles in Ordnung ist: eine Woche sitze ich wohl noch fest. — Das Wetter ist zum Glück mild und nicht September ... Ich habe beim Schreiben eben als Unterlage das erste fertige Exemplar vom "Fall Wagners" ... Naumann2 meldet, daß die öffentliche Versendung am 22. September beginnt. — Beim sorgsamen Durchlesen der Schrift fand ich zwanzig Gründe mehr, Ihnen dankbar zu sein. Eine ganze Anzahl feiner technisch-buchdruckerischer Arrangements geht sicher auf Sie zurück. Daß in dem Bücher-Verzeichniß auf der Rückseite die "Unzeitgemäßen Betrachtungen" fehlen, ist geradezu bewunderungswürdig. — In Einem Fall von Correktur haben Sie Recht, — aber ich auch: "seinen Geschmack an Jemanden verlieren"3 (Accusativ) ist nur eine andre Nuance als "an Jemandem." — Ich war beim Durchlesen äußerst erbaut, den "Epilog" hinzugeschrieben zu haben: das Niveau der Schrift erhebt sich damit ungeheuer, — sie erscheint nicht mehr als Einzelnheit, als Curiosum inmitten meiner Aufgabe. — Daß ich unsern jungen deutschen Kaiser als einen "unästhetischen Begriff"4 bezeichnet habe, wird man schon heraushören ... Übrigens gefällt er mir immer mehr: er thut fast jede Woche einen Schritt, um zu zeigen, daß er weder mit "Kreuzzeitung," noch mit "Antisemitismus" verwechselt werden will.5 Gestern sandte ich ein dickes Packet Fuchsiana6 an Sie ab, — die Briefe sind zum Theil hochbelehrend und immer sehr geistreich. Er hat mich besonders noch drum gebeten, in einer letzten Karte, Ihnen seinen Brief über Riemann7 zu lesen zu geben. — Die Gesundheit bei mir wackelt wieder: ich bin seit 10 Tagen meines Lebens nicht mehr froh geworden, — habe auch heute wieder das Mittagsessen weislich unterlassen. — Ihre prachtvolle vornehme Wald- und Schloß-Wildniß, eingerechnet die "Wilden und Zahmen," die in ihr wandeln, macht mir viel Vergnügen. Irgendwer erzählte mir, daß Ihre v. Krauses8 in Beziehungen zum Grafen Hochberg9 stünden: leider ist letzterer nun auch ad acta gelegt, irgendein unzweideutiger Wagnerianer soll sein Nachfolger werden. — Im Grunde bin ich dieses Mal neugierig, was man mit meiner "Kriegserklärung" gegen Wagner anfängt. Herrn Naumann habe ich bereits gemeldet, daß wir jetzt unter keinen Umständen etwas Neues herausgeben dürfen: es würde die Wirkung brechen und beinahe annulliren (— bis Ostern darf das übersandte Manuscript10 in Leipzig warten) — Meine Absicht bleibt immer noch, Turin für den Herbst zu versuchen: Mitte November etwa Nizza, doch mit einigen wesentlichen Änderungen der Lebensweise daselbst (— Freiheit in der Diät und gegen alle Gesellschaft: ein Zustand, wie er hier in Sils erreicht ist —) Sonst möchte ich diesen auch räumlich kleinen Kreislauf festhalten: Sils, Turin, Nizza, Turin, Sils. Es grüßt Sie lieber Freund, auf das Herzlichste Ihr — Ich habe dem Avenarius den "Fall" auch zugeschickt: sollten Sie wirklich noch eine Absicht haben, sich drüber zu äußern, so geben Sie, bitte, umgehend dem Avenarius eine Mittheilung davon, — damit er niemand anders beauftragt.11 N.B. Wollen Sie gefälligst die Recension an Dr. Fuchs, Danzig zurücksenden? — Die Briefe selber nicht an mich zurück. — 1. Italian: "Unable to leave. Large floods. The Chiavenna-Colico railway line disrupted several times."
Ostrichen, 23. September 1888: Mein lieber Freund, Deine Schrift über Wagner, für deren Zusendung durch den Verleger1 ich Dir herzlichst danke, ist recht zeitgemäss, d. h. sie kommt zu einer Zeit, wo es wahrlich nichts schaden kann, einen kalten Strahl der Erkenntniss auf das durch Leibgardetrompeter zu neuer Gluth angefachte Wagnerfieber unserer Frauen, Jungfrauen und Jünglinge loszulassen. Es ist aber gut, dass Du nur ferma in posta aufzufinden bist: denn die Nägel der ersteren werden zu Krallen wachsen, die Deine Augen bedrohen, wenn sie Deiner habhaft werden. Ich bin so glücklich Dein Büchelchen ohne Verstimmung zu lesen und nach dem vollen Verständnisse seines Inhaltes zu streben, denn auch ich habe die Krankheit mit durchgemacht und wenn ich auch auf andere Weise und aus verschiedenen Gründen meine Flucht aus Klingsors Schlosse2 bewerkstelligt habe, so hat mein Widerstreben gegen jede Annäherung nicht bloss äusserlichen Anlass; ich fühle einen tiefen innerlichen Abscheu dagegen, mich je wieder in solche Fesseln schlagen zu lassen. So war auch die florentinische Circe3 doch zu etwas gut! Deine Geduld, diesen Deinen Gedanken so spät einen öffentlichen Ausdruck zu geben, bewundere ich: denn wenn ich nicht irre, so hast Du schon Anfang der 80er Jahre Alles das in Dir bereit gehabt. Ob es Dir beschieden sein wird, verstanden zu werden, wer wagte das zu hoffen? Es wird sich grosser Lärm erheben, die Blätter in „Kreta"4 werden Dich verfluchen, alle heimlich und offenkundig Widerstrebenden werden jubeln, nachbeten, abschreiben; aber ob auch einige diese Betrachtung in Verbindung mit Deinem ganzen Denken bringen und Deine moralistischen Studien ihres Nachdenkens würdigen werden, dazu scheint mir in Deutschland vor lauter Politik die Zeit und die Kraft und vor lauter Devotion der Muth zu fehlen. Ich verarge es dem jungen feurigen Caesar5 nicht, dass er seinen Trompetern einen Spass und seinem Enthusiasmus Luft machte. Mit 29 Jahren ist man für Wagner reif. Ich will nur hoffen, dass auch er diesen Zustand als Krankheitsprocess überwindet und von seiner machtvollen Stellung aus bei guten Anlagen Besseres fördern helfe. Ich könnte Dich darum beneiden, dass Du Carmen6 so oft hast anhören können; bei uns zu Lande ist es ein seltener Gast, und doch soll nach dem Ausspruch meiner pariser Verwandten7 erst von Deutschland aus den Franzosen ein Licht darüber aufgegangen sein, welchen Künstler sie in Bizet verloren haben. In der Villa Angri,8 wo ich zum letzten Male im Bannkreise Wagners aber schon mit stärkerem Widerstreben einige Zeit verlebte, war ich Zeuge eines jener Wuthausbrüche, wie Du ihn einmal nach Schilderung eines Eindruckes vom Brahmsschen Triumphgesang,9 über dich ergehen lassen musstest. Damals war Minnie Hauk10 in Neapel und sang Carmen. Jemand erzählte das Erlebniss dieses Theaterabends, ich weiss nicht wer, aber es bekam ihm schlecht. Wenn Du Peter Gast sehen solltest, an welchen ich unter Venezia ferma in posta bald nach dem Empfang seines liebenswürdigen Duettes aus dem Löwen von Venedig11 (ex ungue leonem!) geschrieben habe, so sag ihm doch, daß ich mich des Umweges über Annaberg12 hätte bedienen müssen, um ihn aufzufinden. Das ist Musik, wie ich sie liebe. Wo sind die Ohren, sie zu hören, wo die Musikanten, um sie zu spielen? Overbeck schrieb mir neulich, und ich freute mich, alte Bande wieder angeknüpft zu sehen. Du musst einen schrecklichen Sommer verlebt haben. Hier waren fast 3 Monate Regen und Kälte, furchtbare Ueberschwemmungen auch in unserem lieblichen Wittichthal. Wie muss er in den Bergen getobt haben der Gott des schlechten Wetters! Es muss auf der Sonne etwas vorgegangen sein, grosse Blähungen in Folge eines Uebermasses hineingestürzter Asteroiden. Weisst Du, daß Rudolf Liechtenstein13 zu seinen Vätern versammelt ist? Und dass er als Haupt-Spiritist gestorben ist? Wer hätte das gedacht! Eine solche Atrophie des guten Gehirns! Er war einer von denen, welche Dich verstanden, er betrachtete Deine Hedschrah aus Bayreuth und das Erscheinen des „Menschlichen, Allzumenschlichen" als das Gesunden Deines Wesens. Und nun im Dunst und Wust dieses jammervollen Humbugs aufzugehen und zu sterben! Woran starb Heinrich von Stein?14 Ich hoffte noch, er würde sich aus der Umklammerung von Bayreuth losreissen und sich zu Dir gesellen. Was für ein Sterben von Menschen mit guten Anlagen. Woher soll noch ein neues Geschlecht freigeistischer Menschen kommen? Ist es in Deutschland möglich? Ich bezweifle es und betraure die Aussichtslosigkeit. Ja, die Rhinoxera!15 Du hast den Wurm erkannt. Ein jeder wird von ihm benagt, und Wipfeldürre ist die Folge. Ich sehe wenig Menschen und begehre nicht danach. Es gibt auch Besseres, das sind die guten Bücher, die man ganz heimlich für sich liest: z. B. die Briefe Galianis,16 Stendhal.17 Meiner Frau18 geht es leidlich, nachdem sie ein Augenleiden mit kleiner Operation fast ganz überwunden hat. Dein Buch über Wagner soll sie nicht lesen, sie ist keine Wagnerianerin,19 aber sie soll Dich nicht missverstehen, und ich möchte die Frau sehen, die Dich hier verstehen könnte. Hier heisst es: taceat mulier!20 Fahre fort im Licht! Dies mit einem herzlichen Lebewohl von Deinem alten Freunde 1. Der Fall Wagner (The Case of Wagner) was published on September 22, 1888.
Kopenhagen, 6. October 1888: Verehrter und lieber Herr! Ihr Brief und Ihre werthe Sendung1 haben mich in einem wüthenden Arbeitsfieber getroffen. Deshalb die Verzögerung meiner Antwort. Ihre Handschrift schon erweckte eine freudige Spannung in meinem Gemüth. Es ist schlimm und traurig, dass Sie einen schlechten Sommer gehabt haben. Ich glaubte thöricht, Sie seien schon endgültig aus allem körperlichen Leid hinaus. Die Broschüre2 hab ich mit grösster Aufmerksamkeit und grossem Genuss gelesen. So unmusikalisch bin ich nicht, dass ich nicht an solchem meinen Spass habe. Ich bin nur nicht kompetent. Wenige Tage bevor ich das kl. Buch erhielt, habe ich eben einer sehr schönen Aufführung von "Carmen"3 beigewohnt, welche herrliche Musik! Indessen mit Gefahr Sie zu erzürnen gestehe ich ein, dass Wagner's "Tristan und Isolde" mir einen unverlöschlichen Eindruck gemacht haben. Ich hörte diese Oper in Berlin einmal in verzweifeltem, ganz zerrissenem Seelenzustand, und ich fühlte mit jedem Ton. Ich weiss nicht ob der Eindruck so tief war, weil ich so krank.4 Kennen Sie die Wittwe Bizets5? Sie sollten ihr die Broschüre senden. Es würde ihr Freude machen. Es ist die lieblichste, charmanteste Frau mit einem nervösen tic, der ihr sonderbar steht, aber ganz acht, ganz wahr und feurig. Nur hat sie sich wieder verheirathet (mit einem sehr wackeren Mann, dem Advocaten Strauss6 in Paris). Ich glaube, dass sie etwas deutsch versteht. Ich könnte Ihnen ihre Adresse schaffen, wenn es Sie nicht degoutirt, dass sie — so wenig wie die Jungfrau Marie, die Wittwe Mozarts und Marie-Louise7 — ihrem Gotte treu geblieben ist. Das Kind Bizets8 ist von idealer Schönheit und Lieblichkeit. — Doch ich schwatze. Ich habe ein Exemplar des Buchs an den grössten schwedischen Schriftsteller August Strindberg gegeben, den ich ganz für Sie gewonnen habe. Er ist ein wahres Genie, nur ein Bischen verrückt wie die meisten Genies (und Nicht-Genies). Das andere Exemplar werde ich noch mit Sorgfalt placiren. Paris kenne ich jetzt wenig. Senden Sie aber ein Exemplar an die solgende Adresse Madame la Princesse Anna Dmitrievna Ténicheff,9 Quai Anglais 20 Petersburg. Diese Dame ist meine Freundin; sie kennt auch die musikalische Welt Petersburgs und wird Sie dort bekannt machen. Ich hatte sie früher gebeten, Ihre Werke zu kaufen, aber Alles, selbst "Menschliches, Allzumenschliches," war in Russland verboten.10 Auch wäre es klug an den Fürsten Urussow11 (der in Turgeniews Briefen vorkommt) ein Exemplar zu senden. Er interessirt sich sehr für alles Deutsche, ist fein begabt, ein geistiger Feinschmecker. Ich erinnere mich aber im Augenblick nicht seiner Adresse, kann sie jedoch erfahren. Ich freue mich, dass Sie trotz aller körperlichen Unannehmlichkeiten so rüstig und kühn arbeiten. Ich freue mich auf Alles, was Sie mir versprechen. Es würde mir eine grosse Freude sein von Ihnen gelesen zu werden, aber leider verstehen Sie meine Sprache nicht. Ich habe in diesem Sommer enorm geschaffen. Ich habe zwei grosse Bücher (von 24 und 28 Bogen) neu geschrieben "Eindrücke aus Polen" und "Eindrücke aus Russland,"12 ausserdem eins meiner ältesten Bücher "Aesthetische Studien"13 für eine neue Ausgabe ganz umgearbeitet, und die Correcturen von allen drei Büchern allein verbessert. Jetzt bin ich in einer Woche ungefähr mit dieser Arbeit fertig, dann halte ich eine Reihe neue Vorlesungen, schreibe indessen andere französische Vorlesungen14 und fahre im Herzen des Winters nach Russland um dort aufzuleben. Das ist der Plan, den ich für meinen Winterfeldzug hege. Möchte er keine russische Campagne werden im schlimmen Sinn. Bewahren Sie mir freundlichst Ihr Interesse. Ich bin Ihr treu ergebener Georg Brandes. 1. Der Fall Wagner (The Case of Wagner). Turin, 9. Oktober 1888: Verehrter Herr, Sie haben auf meinen Brief1 nicht geantwortet, — Sie sollen ein für alle Mal vor mir Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich denke, Sie haben einen Begriff davon, daß der erste Geist des Zeitalters Ihnen einen Wunsch ausgedrückt hatte. Friedrich Nietzsche. 1. Cf. Sils Maria, 08-10-1888: Letter to Hans von Bülow in Hamburg.
Turin, 14. Oktober 1888: Lieber Freund, ich werde mich hüten, Ihnen von meinen Recepten zur "himmlischen und irdischen Reconvalescenz"2 zu sprechen, da Sie, nicht nur dem Anscheine nach, sich hundert Mal besser auf dies Problem, die "Lösung" eingerechnet, verstehn. Unter diesen Umständen ist selbst Berlin kein Umstand: es macht mir das größte Vergnügen, Sie gerade dort zu wissen. Selbst Turin3 ist eigentlich kein Gesichtspunkt mehr. — In Sachen des "Löwen" hat Bülow nicht geantwortet: was ihm schlecht bekommen ist.4 Denn dies Mal war ich's, der ihm einen groben und vollkommen berechtigten Brief5 geschrieben hat, um ein für alle Mal mit ihm zu Ende zu sein. Ich habe ihm zu verstehn gegeben, daß "ihm der erste Geist des Zeitalters einen Wunsch ausgedrückt habe": ich erlaube mir jetzt dergleichen. — Heute kam Bogen 6 von Naumann an; es werden doch wohl noch 2 Bogen mehr. In der That hat man mich mit dieser Schrift in nuce: sehr Viel auf kleinem Raum.6 — Eben trifft ein Brief des Professor Deussen aus Madrid ein: er will noch ganz Spanien durchreisen und doch zur rechten Zeit für die Berliner Vorlesungen wieder am Platz sein. "Die Luft von Madrid, einzig an Reinheit, Trockenheit, Dünne und Durchsichtigkeit, — Alles erscheint in einen farbigen Aether getaucht, glänzend, wie ein überfirnißtes Gemälde." — Wissen Sie, wer den "Fall" zugeschickt bekommt? Die Wittwe Bizet's. Und zwar auf eifrigste Fürsprache des Dr. Brandes: er nennt sie "die lieblichste charmanteste Frau mit einem kleinen nervösen tic, der ihr sonderbar gut steht, aber ganz echt, ganz wahr und feurig." Er meint, daß sie etwas deutsch versteht. "Das Kind Bizet's ist von idealer Schönheit und Lieblichkeit."7 — Er hat ein Exemplar meiner Schrift an den größten schwedischen Schriftsteller, der ganz für mich gewonnen sei, August Strindberg gegeben, er nennt ihn ein "wahres Genie," nur etwas verrückt. Insgleichen bittet er für ein paar Personnagen der höchsten Petersburger Gesellschaft um Exemplare, die bereits auf mich aufmerksam gemacht sind, so weit dies bei dem Verbot meiner Schriften in Rußland möglich ist: der Fürst Urussow und die Prinzessin Anna Dmitrievna Ténicheff. Das sind "höhere Feinschmecker" ...8 Die Franzosen haben den Hauptroman Dostoiewsky's auf die Bühne gebracht.9 Insgleichen ist eine Oper "Bacchos"10 mir im Gedächtniß hängen geblieben, Musik und Dichtung vom Gleichen, der Name ist mir entwischt. Nicht aufgeführt, nur in Aussicht. Gegen Turin ist Nichts einzuwenden: es ist eine herrliche und seltsam wohlthuende Stadt. Das Problem, innerhalb der besten Quartiere einer Stadt, nahe, ganz nahe ihrem Centrum, eine Einsiedler-Ruhe, in ungeheuer schönen und weiten Straßen zu finden — dies für Großstädte anscheinend unlösbare Problem ist hier gelöst.11 Die Stille ist hier noch die Regel, die Belebtheit, die "Großstadt" gleichsam Ausnahme. Dabei annähernd 300 000 Einwohner. Das Wetter ist seit einigen Tagen von Nizzahafter Reinheit und Leuchtkraft der Farben, nur etwas zu frisch für mich, der ich durch die Engadiner Winter-Einsperrung geradezu eine Angst vor dem neuen Winter im Leibe habe. Seit Juni habe ich gefroren und wie! Ohne jedwedes Gegenmittel! — Es kommt dazu, daß meine Gesundheit über einen choc nicht hinwegkommt, der durch eine etwas zu lange Dysenterie (Kolik auf deutsch) bedingt ist. Ich glaubte zuerst an Vergiftung: doch haben die normalen Mittel Bismuth und Dower'sches Pulver ihre Schuldigkeit gethan. Immerhin resultirt eine Entkräftung daraus, die auch gegen Kälte empfindlicher macht. — Es grüßt und umarmt Sie auf das Herzlichste Ihr getreuer Freund Nietzsche Soeben, am 15. Morgens, finde ich einen liebenswürdigen Gratulationsbrief12 vor: schönsten Dank! Um so mehr, als es der einzige ist! — Daß ein Orchester Ihnen wohlthut, erfreut mich über die Maaßen, — Ihre Reise bekommt immer mehr Sinn, — zuviel bereits ... Bogen 613 eben ab an Naumann. 1. "Théâtre de l'Odéon. 'Crime et châtiment,' drame en sept tableaux, par MM. Hugues Le Roux et Paul Ginisty, d'après le roman de Th. Dostoïewski. Septième tableau. Dessin de M. Paul Destez." In: L'Univers illustré. Journal hebdomadaire. 31 Année. 22. Sept. 1888, 596. See note 9. Malwida von Meysenbug. From b/w etching. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Turin, 18. October 1888: Verehrte Freundin, das sind keine Dinge, worüber ich Widerspruch zulasse.1 Ich bin, in Fragen der décadence, die höchste Instanz, die es auf Erden giebt: diesen jetzigen Menschen, mit ihr[er] jammervollen Instinkt-Entartung, sollten sich glücklich schätzen, Jemanden zu haben, der ihnen in dunkleren Fällen reinen Wein einschenkt. Daß dieser Hanswurst2 es verstanden hat, von sich den Glauben zu erwecken (— wie Sie es mit verehrungswürdiger Unschuld ausdrücken), der "letzte Ausdruck der schöpferischen Natur," gleichsam ihr "Schlußwort" zu sein, dazu bedarf es in der That des Genie's, aber eines Genie's der Lüge ... Ich selber habe die Ehre, etwas Umgekehrtes zu sein — ein Genie der Wahrheit — — Friedrich Nietzsche. 1. Cf. Versailles, ca. mid-Oct. 1888: Fragment of a letter from Malwida von Meysenbug to Nietzsche in Turin. "Il palazzo Carignano a Torino." Xylograph, Fratelli Treves, Milano, 1888. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Turin, 18. October 1888: Lieber Freund, ich machte gestern, mit Deinem Brief1 in der Hand, meinen gewohnten Nachmittags-Spaziergang außerhalb Turins. Reinstes Oktoberlicht überall; der herrliche Baumweg, der mich ungefähr eine Stunde dicht am Po entlang führte, vom Herbste noch kaum berührt. Ich bin jetzt der dankbarste Mensch von der Welt — herbstlich gesinnt in jedem guten Sinne des Wortes: es ist meine große Erntezeit. Alles wird mir leicht, Alles geräth mir, obwohl schwerlich schon Jemand so große Dinge unter den Händen gehabt hat. Daß das erste Buch2 der Umwerthung aller Werthe fertig ist, druckfertig, das melde ich Dir mit einem Gefühle, für das ich kein Wort habe. Es werden vier Bücher;3 sie erscheinen einzeln. Dies Mal führe ich, als alter Artillerist, mein großes Geschütz4 vor: ich fürchte, ich schieße die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften aus einander. — Mit jener Schrift,5 über die ich im letzten Brief eine Andeutung machte, sind wir bald am Ende: es ist, um mir möglichst wenig Zeit von meiner jetzt ganz unschätzbaren Zeit zu nehmen, mit ausgezeichneter Präcision gedruckt worden. Dein Citat aus "Menschl. Allzumenschl." kam vollkommen zur rechten Zeit, um eingetragen zu werden.6 — Diese Schrift ist bereits eine hundertfache Kriegserklärung, mit einem fernen Donner im Gebirge; im Vordergrund viel "Lustiges," von der Art meiner bedingten Lustigkeit* ... Man kann sich zum Erstaunen leicht mit dieser Schrift über meinen Grad von Heterodoxie unterrichten, die in der That keinen Stein auf dem andern läßt. Gegen die Deutschen gehe ich darin in ganzer Front vor: Du wirst Dich nicht über "Zweideutigkeit" zu beklagen haben. Diese unverantwortliche Rasse, die alle großen malheurs der Cultur auf dem Gewissen hat und in allen entscheidenden Momenten der Geschichte etwas "Andres" im Kopfe hatte (— die Reformation zur Zeit der Renaissance; Kantische Philosophie, als eben eine wissenschaftliche Denkweise in England und Frankreich mit Mühe erreicht war; "Freiheits-Kriege" beim Erscheinen Napoleon's, des Einzigen, der bisher stark genug war, aus Europa eine politische und wirtschaftliche Einheit zu bilden —) hat heute "das Reich," diesen Recrudescenz der Kleinstaaterei und des Cultur-Atomismus, im Kopfe, in einem Augenblicke, wo die große Werthfrage zum ersten Mal gestellt wird. Es gab nie einen wichtigeren Augenblick in der Geschichte: aber wer wüßte Etwas davon? Das Mißverhältniß, das hier zu Tage tritt, ist vollkommen nothwendig: im Augenblick, wo eine noch nie geahnte Höhe und Freiheit der geistigen Leidenschaft Besitz ergreift von dem höchsten Problem der Menschheit und für deren Schicksal die Entscheidung heraufbeschwört, muß sich die allgemeine Kleinheit und Stumpfheit um so schärfer dagegen abheben. Gegen mich giebt es durchaus noch keine "Feindschaft": man hat einfach keine Ohren für irgend Etwas von mir, folglich weder ein Für, noch ein Wider ... Lieber Freund, lege, wenn ich bitten darf, auch noch die 500 frs. von denen Du schreibst, bei der Handwerkerbank nieder. Ich muß jetzt mit aller Kraft Ökonomie machen, um den außerordentlichen Druckkosten der nächsten drei Jahre gewachsen zu sein. (Ich nehme also an, daß die am 1. Oktober fällig gewordenen 1000 frs. jetzt ganz daselbst deponirt sind.) Ende Dezember werde ich dann freilich die 500 frs. sehr dringend nöthig haben. Mein Plan ist, bis zum 20. November hier auszuhalten (— ein etwas frostiges Vorhaben, da der Winter früh kommt!) Dann will ich nach Nizza und daselbst, mit vollkommenem Bruch aller bisherigen usances, mir die Existenz herstellen, die ich jetzt brauche. Ich habe bisweilen auch an Bastia auf Corsica gedacht: doch fürchte ich mich, mitten in der tiefen Selbstbesinnung, die mir noth thut, vor dem Experiment und seinen Gefahren. Herr Köselitz ist nach Berlin übergesiedelt;7 seine Briefe athmen die allerbeste Seelenverfassung, die man auf Erden wünschen kann. Auch geschieht Etwas für ihn: darüber einmal später. Adresse: Berlin SW. Lindenstraße 116 IV 1. — Es grüßt Dich und Deine liebe Frau auf das Dankbarste Dein Nietzsche * Inmitten der ungeheuren Spannung dieser Zeit war ein Duell mit Wagner8 für mich eine vollkommene Erholung: auch that es Noth, jetzt, wo ich in offnem Krieg auftrete, einmal öffentlich zu beweisen, daß ich "das Handgelenk frei habe" ... 1. Cf. Basel, 10-14-1888: Letter from Franz Overbeck to Nietzsche in Turin.
Turin, 20. Oktober 1888: Werther und lieber Herr, wiederum kam ein angenehmer Wind von Norden mit Ihrem Briefe: zuletzt war es bisher der einzige Brief, der ein "gutes Gesicht," der überhaupt ein Gesicht zu meinem Attentat auf Wagner1 machte. Denn man schreibt mir nicht. Ich habe selbst bei Näheren und Nächsten einen heillosen Schrecken hervorgebracht. Da ist zum Beispiel mein alter Freund Baron Seydlitz in München unglücklicher Weise gerade Präsident des Münchener Wagner-Vereins; mein noch älterer Freund der Justizrath Krug2 in Köln Präsident des dortigen Wagner-Vereins; mein Schwager Dr. Bernhard Förster3 in Südamerika, der nicht unbekannte Antisemit, einer der eifrigsten Mitarbeiter der Bayreuther Blätter;4 und meine verehrenswürdige Freundin Malvida von Meysenbug, die Verfasserin der "Memoiren einer Idealistin"5 verwechselt nach wie vor Wagner mit Michel Angelo6 ... Andrerseits hat man mir zu verstehn gegeben, ich solle auf der Hut sein vor der "Wagnerianerin":7 die hätte in gewissen Fällen keine Skrupel — Vielleicht wehrt man sich, von Bayreuth aus, auf reichsdeutsche und kaiserliche Manier, durch eine Interdiktion meiner Schrift — als "der öffentlichen Sittlichkeit gefährlich": der Kaiser ist ja in diesem Falle Partei.8 Man könnte selbst meinen Satz "wir kennen Alle den unaesthetischen Begriff des christlichen Junkers"9 als Majestäts-Beleidigung verstehn - - - Ihre Intervention zu Ehren der Wittwe Bizet's hat mir großes Vergnügen gemacht. Bitte, geben Sie mir ihre Adresse; insgleichen die des Fürsten Urussow. Ein Exemplar ist an Ihre Freundin die Fürstin Dmitrievna Ténicheff abgesandt.10 — Bei meiner nächsten Veröffentlichung, die nicht gar zu lange mehr auf sich warten lassen wird (— der Titel ist jetzt: Götzen-Dämmerung. Oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt) möchte ich sehr gern auch an den von Ihnen mit so ehrenden Worten mir vorgestellten Schweden11 ein Exemplar senden. Nur weiß ich seinen Wohnort nicht. — Diese Schrift ist meine Philosophie in nuce — radikal bis zum Verbrechen ... Über die Wirkung des Tristan12 hätte auch ich Wunder zu berichten. Eine tüchtige Dosis Seelen-Qual scheint mir ein ausgezeichnetes Tonicum vor einer Wagnerischen Mahlzeit. Der Reichsgerichtsrath Dr. Wiener in Leipzig gab mir zu verstehn, auch eine Karlsbader Kur diene dazu ... Ach was Sie arbeitsam sind! Und ich Idiot, der ich nicht einmal dänisch verstehe! — Daß man gerade "in Rußland wieder aufleben" kann, glaube ich Ihnen vollkommen; ich rechne irgend ein russisches Buch, vor allem Dostoiewsky (französisch übersetzt, um des Himmels Willen nicht deutsch!!) zu meinen größten Erleichterungen.13 Von Herzen und mit einem Recht, dankbar zu sein 1. Der Fall Wagner (The Case of Wagner) was published on 09-22-1888.
Turin, 30. Oktober 1888: Lieber Freund, ich sah mich eben im Spiegel an, — ich habe nie so ausgesehn. Exemplarisch gut gelaunt, wohlgenährt und zehn Jahre jünger als es erlaubt wäre. Zualledem bin ich, seitdem ich Turin zur Heimat gewählt habe, sehr verändert in den honneurs, die ich mir selber erweise, — erfreue mich zum Beispiel eines ausgezeichneten Schneiders und lege Werth darauf, überall als distinguirter Fremder empfunden zu werden. Was mir auch zum Verwundern gelungen ist. Ich bekomme in meiner Trattoria unzweifelhaft die besten Bissen, die es giebt: man macht mich immer aufmerksam, was gerade besonders gelungen ist. Unter uns, ich habe bis heute nicht gewußt, was mit Appetit essen ist; ebensowenig, was ich nöthig habe, um bei Kräften zu sein. Meine Kritik der Winter in Nizza ist jetzt sehr herbe: unzureichende und gänzlich gerade mir unzuträgliche Diät. Dasselbe, vielleicht verstärkt, gilt, es hilft nichts, lieber Freund! von Ihrem Venedig. Ich esse hier mit der allerheitersten Verfassung an Seele und Eingeweide, gut vier Mal so viel wie in Panada.1 — Auch sonst ist Nizza die reine Thorheit gewesen. Landschaftlich ist Turin mir in einer Weise mehr sympathisch als dies kalkige baumarme und stupide Stück Riviera, daß ich mich gar nicht genug ärgern kann, so spät davon loszukommen. Ich sage kein Wort von der verächtlichen und feilen Art Mensch daselbst, — die Fremden nicht ausgenommen. Hier kommt Tag für Tag mit gleicher unbändiger Vollkommenheit und Sonnenhelle herauf: der herrliche Baumwuchs in glühendem Gelb, Himmel und der große Fluß zart blau, die Luft von höchster Reinheit — ein Claude Lorrain,2 wie ich ihn nie geträumt hatte, zu sehn. Früchte, Trauben in braunster Süße — und billiger als in Venedig! In allen Stücken finde ich [es] hier lebenswerth. Der Café in den ersten Cafés, ein kleines Kännchen, von merkwürdiger Güte, sogar erster Güte, wie ich sie noch nicht fand, 20 ct. — und man zahlt in Turin nicht Trinkgelder. Mein Zimmer, erste Lage im Centrum, Sonne von früh bis Nachmittag, Blick auf den palazzo Carignano, die piazza Carlo Alberto und darüber weg auf die grünen Berge — monatlich 25 frs. mit Bedienung, auch Stiefelputzen.3 In der Trattoria zahle ich für jede Mahlzeit 1 fr. 15 und lege, was entschieden als Ausnahme empfunden wird, noch 10 ct. bei. Dafür habe ich ganz große Portion minestra sei es trocken, sei es in Bouillon: allergrößte Auswahl und Abwechslung, und die italienischen Mehlfabrikate alle von erster Güte (— ich lerne hier erst die großen Unterschiede) Dann ein ausgezeichnetes Stück zartes Fleisch, vor Allem Kalbsbraten, den ich nirgends so gegessen habe, mit einem Gemüse dazu, Spinat usw. Drei Brödchen, hier sehr schmackhaft, für den Liebhaber die grissini, die ganz dünnen Brodröhrchen, die Turinischer Geschmack sind. — Ein Ofen ist bestellt, aus Dresden: wissen Sie, Carbon-Natron-Heizung — ohne Rauch, folglich ohne Schornstein. Insgleichen lasse ich aus Nizza meine Bücher kommen. Es ist übrigens wundervoll mild, auch die Nächte. Mein Frostgefühl, von dem ich schrieb, hat nur interne Gründe. Es war übrigens sofort wieder in Ordnung. — Mit Ihrem Brief haben Sie mir eine große Freude gemacht. Im Grunde habe ich's nicht annähernd von irgend Jemand erlebt, zu hören, wie stark meine Gedanken wirken. Die Neuheit, der Muth der Neuerung ist wirklich ersten Rangs: — was die Folgen betrifft, so sehe ich jetzt mitunter meine Hand mit einigem Mißtrauen an, weil es mir scheint, daß ich das Schicksal der Menschheit "in der Hand" habe. — Sind Sie zufrieden, daß ich den Schluß mit der Dionysos-Moral4 gemacht habe? Es fiel mir ein, daß diesen Reihe Begriffe um keinen Preis in diesem Vademecum meiner Philosophie fehlen dürfe. Mit den paar Sätzen über die Griechen darf ich Alles herausfordern, was über sie gesagt ist. — Zum Schluß jene Hammer-Rede5 aus dem Zarathustra — vielleicht, nach diesem Buche, hörbar ... Ich selbst höre sie nicht ohne einen eiskalten Schauder durch den ganzen Leib. Das Wetter ist so herrlich, daß es gar kein Kunststück ist, etwas gut zu machen. An meinem Geburtstag6 habe ich wieder Etwas angefangen, das zu gerathen scheint und bereits bedeutend avancirt ist. Es heißt Ecce homo. Oder Wie man wird, was man ist. Es handelt, mit einer großen Verwegenheit, von mir und meinen Schriften: ich habe nicht nur damit mich vorstellen wollen vor dem ganz unheimlich solitären Akt der Umwerthung, — ich möchte gern einmal eine Probe machen, was ich bei den deutschen Begriffen von Preßfreiheit eigentlich risquiren kann. Mein Argwohn ist, daß man das erste Buch der Umwerthung7 auf der Stelle confiscirt, — legal mit allerbestem Recht. Mit diesem "Ecce homo" möchte ich die Frage zu einem derartigen Ernste, auch Neugierde steigern, daß die landläufigen und im Grunde vernünftigen Begriffe über das Erlaubte hier einmal einen Ausnahmefall zuließen. Übrigens rede ich von mir selber mit aller möglichen psychologischen "Schläue" und Heiterkeit, — ich möchte durchaus nicht als Prophet, Unthier und Moral-Scheusal vor die Menschen hintreten. Auch in diesem Sinne könnte dies Buch gut thun: es verhütet vielleicht, daß ich mit meinem Gegensatz verwechselt werde. — Auf Ihre Kunstwart-Humanität8 bin ich sehr neugierig. Wissen Sie eigentlich, daß ich Herrn Avenarius im Sommer einen extrem groben Brief geschrieben habe, wegen der Art, mit der sein Blatt Heinrich Heine fallen ließ?9 — Grobe Briefe — bei mir das Zeichen von Heiterkeit ... Es grüßt Sie auf das Herzlichste, mit lauter unaussprechbaren Neben-, Hinter- und Vorder-Wünschen (— "Eins ist nothwendiger, als das Andre": also sprach Zarathustra10) N. 1. A cheap bohemian restaurant in Venice.
Turin, 5. November 1888: Warten Sie nur ein wenig, verehrteste Freundin! Ich liefere Ihnen noch den Beweis,1 daß "Nietzsche est toujours haïssable."2 Ohne allen Zweifel, ich habe Ihnen Unrecht gethan: aber da ich diesen Herbst an einem Überfluß von Rechtschaffenheit leide, so ist es mir eine wahre Wohlthat, Unrecht zu thun ... Der "Immoralist." 1. The first being Der Fall Wagner (The Case of Wagner).
Turin, 6. November 1888: Geehrter Herr Verleger, wundern Sie sich jetzt über Nichts mehr bei mir! Zum Beispiel, daß wir, sobald die Götzen-Dämmerung in jedem Sinne erledigt ist,2 sofort einen neuen Druck beginnen müssen. Ich habe mich vollkommen davon überzeugt, noch eine Schrift3 nöthig zu haben, eine im höchsten Grade vorbereitende Schrift, um nach Jahresfrist ungefähr mit dem ersten Buche der Umwerthung4 hervortreten zu können. Es muß eine wirkliche Spannung geschaffen sein — im andern Falle geht es wie beim Zarathustra.5 Nun war ich die letzten Wochen auf das Allerglücklichste inspirirt, Dank einem unvergleichlichen Wohlbefinden, das einzig in meinem Leben dasteht, Dank insgleichen einem wunderbaren Herbst und dem delikatesten Entgegenkommen, das ich in Turin gefunden habe. So habe ich eine extrem schwere Aufgabe — nämlich mich selber, meine Bücher, meine Ansichten, bruchstücksweise, so weit es dazu erfordert war, mein Leben zu erzählen6 — zwischen dem 15. Okt. und 4. November gelöst. Ich glaube, das wird gehört werden, vielleicht zu sehr ... Und dann wäre Alles in Ordnung. — Nun die Frage der Herstellung. Meine Absicht ist, diesem Werke bereits die Form und Ausstattung zu geben, die jenes Hauptwerk haben soll, zu dem es in jedem Sinne eine lange Vorrede darstellt. Hören Sie nun, werthester Herr Verleger, was ich in Vorschlag bringe. Das gleiche Format, wie das der letzten Schriften. Die Spatien zwischen den Zeilen exakt wie in dem Vorwort vom "Fall Wagner" und der "Götzen-Dämmerung." Die Zahl der Zeilen 29. Keine Linie um den Text; dagegen die Zeile breiter. Das Papier nicht anders als das der letzten zwei Schriften. — Würde es Ihnen gefällig sein, mir einen Probedruck einer derartigen Seite einmal zuzusenden, damit ich sie mit Augen sehe? Nehmen Sie irgend ein Manuscript-Stück der Götzen-Dämmerung, das eine ganze Seite füllt, dazu! — Die neue Schrift heißt: Ecce homo Mit freundlichstem Gruß 1. Constantin Georg Naumann (1842-1911): owner of the German printing and publishing firm C. G. Naumann in Leipzig.
Turin, 13. November 1888: Lieber Freund, der Ausnahmefall des 16. November1 mag es entschuldigen, wenn ich meinem letzten Briefe2 heute schon einen Brief nachschicke. Vielleicht seid Ihr schon im Winter: wir sind es beinahe, — die nächsten Berge haben schon eine leichte Perrücke. Hoffentlich wird der Winter entsprechend wie der Herbst gewesen ist: wenigstens hier war er ein wahres Wunder von Schönheit und Lichtfülle, — ein Claude Lorrain3 in Permanenz. Ich habe über den ganzen Begriff "schönes Wetter" umgelernt und denke mit Erbarmen an meine stupide Anhänglichkeit an Nizza. — Meine Bücher, die ich dort gelassen habe, sind bereits unterwegs nach Turin. Bei diesem Anlaß erfuhr ich, daß in der pension de Genève meine lustige Tischnachbarin von Ehedem, Frau von Brandeis,4 eingetroffen ist. — Auch der Carbon-Natron-Ofen5 ist unterwegs, zu sehr honnetten Preisen, wie ich es dem Dresdener Nieske zu Ehren sagen muß. Ein paar süperbe englische Winter-Handschuhe habe ich mir heute gekauft. — Beim besten Willen, alter Freund Overbeck, gelingt es mir nicht, Dir etwas Schlimmes von mir zu erzählen. Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune. Auch behandelt man mich hier comme il faut,6 als irgend etwas extrem Distinguirtes, es giebt eine Art, mir die Thüre aufzumachen, die ich noch nirgends wo erlebt habe. Zugegeben, daß ich nur sehr gute Orte besuche, auch mich eines klassischen Schneiders erfreue. — Wir hatten dieser Tage den düstern Pomp eines großen Begräbnisses, an dem ganz Italien betheiligt war: der Conte Robilant,7 der verehrteste Typus des Piemonteser Adels, übrigens leiblicher Sohn des König Carlo Alberto, wie man hier weiß. An ihm hat Italien einen Premier verloren, der nicht zu ersetzen ist. — Etwas Heiteres dicht nebenbei: Die Schönheiten der Turiner Aristokratie sind ganz übermüthig geworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in Spaa hier anlangten. Sie haben sofort für den Januar auch einen concorso di bellezza8 in's Auge gefaßt — ich glaube, sie haben alles Recht dazu! Ich sah, bei der Frühlings-Ausstellung, bereits einen solchen concours in Portraits vor mir. Auch unsre neue Turinerin, die princesse Laetitia Buonaparte, neuvermählt mit dem duc d'Aosta wird mit Vergnügen bei der Partie sein.9 — Ich habe inzwischen für meinen "Fall Wagner" wahre Huldigungsschreiben10 bekommen. Man nennt die Schrift nicht nur ein psychologisches Meisterstück ersten Ranges, auf einem Gebiete, wo Niemand überhaupt bisher Augen gehabt hat — in der Psychologie der Musiker; man nennt die Aufklärung über den décadence-Charakter unserer Musik überhaupt ein culturhistorisches Ereigniß, Etwas, das Niemand außer mir gekonnt hätte: die Worte über Brahms seien das Äußerste von psycholog. Sagacität.11 — Hr. Spitteler hat in der Donnerstag-Nummer des "Bund"12 sein Entzücken ausgedrückt, Herr Köselitz im "Kunstwart";13 aus Paris meldet man mir einen Artikel in der Nouvelle Revue14 als bevorstehend. — Auch sonst gute Nachrichten. Der größte schwedische Schriftsteller, "ein wahres Genie," wie Dr. Brandes schreibt,15 August Strindberg, hat sich inzwischen ganz für mich erklärt; auch die Petersburger Gesellschaft sucht Beziehungen zu mir herzustellen, sehr erschwert durch das Verbot meiner Schriften (Fürst Urussow, Fürstin Anna Dimitrievna Ténicheff)16 Endlich die charmante Wittwe Bizet's!17… Der Druck der "Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt" ist beendet; das Manuscript des "Ecce homo. Wie man wird, was man ist" ist bereits in der Druckerei. — Letzteres, von absoluter Wichtigkeit, giebt einiges Psychologische und selbst Biographische über mich und meine Litteratur: man wird mich mit Einem Male zu sehn bekommen. Der Ton der Schrift heiter und verhängnißvoll, wie Alles, was ich schreibe. — Ende nächsten Jahres erscheint dann das erste Buch der Umwerthung.18 Es liegt fertig da. — Mit dem allerherzlichsten Glückwunsch für Dein Wohl an Leib und Seele Dein Nietzsche 1. Franz Overbeck 's birthday.
Turin, 14. November 1888: Verehrtes Fräulein, da ich fortdauernd an einem kleinen Überfluß von guter Laune und andern Glücksgütern leide, so dürfen Sie mir einen völlig sinnlosen Brief wohl nachsehen. Bis jetzt ist Alles besser als gut gegangen; ich habe meine Last gewälzt, wie als ob ich von Natur ein "unsterblicher" Lastträger wäre. Nicht nur, daß das erste Buch der Umwerthung2 schon am 30. September zu Ende kam,3 inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück Litteratur, das den Titel führt "Ecce homo. Wie man wird, was man ist" — auch schon wieder mit Flügeln begabt und flattert, wenn mich nicht Alles täuscht, in der Richtung von Leipzig ... Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schrecken zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen. Das letzte Capitel hat zum Beispiel die unerquickliche Überschrift: warum ich ein Schicksal bin. Daß dies nämlich der Fall ist, wird dermaßen stark bewiesen, daß man, am Schluß, bloß noch als "Larve," bloß noch als "fühlende Brust"4 vor mir sitzen bleibt. — Daß es einiger Aufklärung über mich bedarf, bewies mir jüngst noch der Fall Malvida. Ich sandte5 ihr, mit einer kleinen Bosheit im Hintergrunde, vier Exemplare des "Falls Wagner," mit dem Ersuchen, für eine gute französische Übersetzung einige Schritte zu thun. "Kriegserklärung"6 an mich: Malvida gebraucht diesen Ausdruck. — Ich habe, unter uns, mich noch einmal mehr davon überzeugt, daß der berühmte "Idealismus" in diesem Falle im Grunde eine extreme Form der Unbescheidenheit ist, — "unschuldig," wie es sich von selbst versteht. Man hat sie immer mitreden lassen und, wie mir scheint, hat ihr Niemand gesagt, daß sie mit jedem Satze nicht nur irrt, sondern lügt ... Das machen ja die "schönen Seelen" so, die die Realität nicht sehen dürfen.7 Verwöhnt, durch ihr ganzes Leben hindurch, sitzt sie zuletzt, wie eine kleine komische Pythia,8 auf ihrem Sopha und sagt "Sie irren sich über Wagner! Das weiß ich besser! Genau dasselbe, wie Michel Angelo" — Ich schrieb ihr darauf, daß Zarathustra die Guten und Gerechten abschaffen wolle, weil sie immer lügen. Darauf antwortete sie, sie stimme mir darin völlig bei, denn es gäbe so wenig Wirklich-Gute ... Und das hat mich zeitweilig vor Wagnern9 vertheidigt! — Turin ist kein Ort, den man verläßt. Ich habe Nizza ad acta gelegt, insgleichen den romantisme eines korsischen Winters (— es lohnt sich zuletzt nicht mehr, die Herrn Banditen sind wirklich abgeschafft, sogar die Könige, die Bellacoscia10) — Der Herbst war hier ein Claude Lorrain11 in Permanenz, — ich fragte mich oft, ob so Etwas auf Erden möglich sei. Seltsam! gegen die Sommer-Misère da oben gab es also wirklich eine Ausgleichung. Da haben wir's: der alte Gott lebt noch ... — Auch ist man hier sehr delikat gegen mich, meine Lage hat sich gegen die des Frühlings in einem unausrechenbaren Grade verbessert. — Von meiner Gesundheit wage ich gar nicht mehr zu reden: das ist ein überwundener Standpunkt. — Die noch im Engadin fertig gewordene Schrift, die radikalste vielleicht, die es giebt, führt jetzt den Titel: Götzen-Dämmerung Der Druck ist beendet.12 — Erwäge ich, was ich Alles zwischen dem 3 Sept. und 4 November13 verbrochen habe, so fürchte ich, daß allernächst die Erde zittert. Dies Mal in Turin; vor zwei Jahren, als ich in Nizza war, wie billig, in Nizza. In der That meldete der letzte Observatoriumsbericht von gestern bereits eine leichte Oscillation ... Wir hatten den düsteren Pomp eines großen Begräbnisses. Einer der verehrenswürdigsten Piemontesen, der Conte di Robilant,14 Mit ausgezeichneter Ergebenheit Herr Spitteler hat im "Bund" einen Schrei des Entzückens über den "Fall" ausgestoßen.15 — 1. This letter's publication history has various redactions and/or omissions. It first appeared in Elisabeth Förster-Nietzsche, "Friedrich Nietzsche / Briefe aus dem Jahre 1888." In: Die Neue Rundschau, Jg. 18. Bd. 2. Berlin: S. Fischer, 1907, 1367-1390 (1381f.). Thereafter, in Elisabeth Förster-Nietzsche, Friedrich Nietzsche und die Frauen seiner Zeit. München: Beck, 1935, 243-46. It was then published with new redactions in Friedrich Nietzsche, Briefe ausgewählt und hrsg. von Richard Oehler. Leipzig, P. Reclam jun. [1944], 234f. Other publications followed with Maria Bindschedler, "Nietzsches Briefe an Meta von Salis. Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin am 1. März 1955." In: Neue Schweizer Rundschau. H. 12. Zürich: April 1955, 717f. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Bd. 3. München: Hanser, 1956, 1332f. See note 9.
Turin, Mitte November 1888: Meine Schwester! Ich habe Deinen Brief2 empfangen und nachdem ich ihn mehrere Male gelesen habe, sehe ich mich in die ernste Nothwendigkeit versetzt, von Dir Abschied zu nehmen.3 Jetzt, wo sich mein Schicksal entschieden hat, empfinde ich jedes Deiner Worte an mich mit verzehnfachter Schärfe: Du hast nicht den entferntesten Begriff davon, nächstverwandt mit dem Menschen und Schicksal zu sein, in dem sich die Frage von Jahrtausenden entschieden hat, — ich habe, ganz wörtlich geredet, die Zukunft der M[ensch]h[eit] in der Hand. Ich kenne die menschliche Natur und bin unsäglich fern davon, in irgend einem einzelnen Falle zu verurtheilen, was das Verhängniß der Menschheit überhaupt ist; mehr noch: ich verstehe, wie gerade Du, aus vollkommner Unmöglichkeit, die Dinge zu sehn, in denen ich lebe, fast in den Gegensatz von mir hast flüchten müssen. Was mich dabei beruhigt, ist, zu denken, daß Du es auf Deine Weise gut gemacht hast, daß Du Jemanden hast, den Du liebst und der Dich liebt, daß von Dir eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen bleibt, der Dein Vermögen sowohl wie Deine Kraft geweiht ist, — endlich, was ich nicht verschweigen will, daß eben diesen Aufgabe Dich etwas fern weg von mir geführt hat, so daß die nächsten chocs dessen, was sich jetzt vielleicht mit mir begiebt, Dich nicht erreichen. — Das Letzte wünsche ich um Deinetwillen: ich bitte vor Allem inständig darum, Dich von keiner freundlichen und in diesem Falle gerade gefährlichen Neugierde verführen zu lassen, die Schriften,4 die jetzt von mir herauskommen, zu lesen. Dergleichen könnte Dich über alle Maßen verwunden — und mich, in dieser Vorstellung, noch dazu ... In diesem Sinne bedaure ich selbst die Schrift gegen Wagner an Dich abgeschickt zu haben, die, inmitten der ungeheuren Spannung, in der ich lebe, eine wahre Wohlthat für mich war — als ein honnettes Duell eines Psychologen mit einem frommen Verführer, den Niemand leicht als solchen erkennt. Zu aller Beruhigung will ich von mir selber soviel sagen, daß mein Befinden ausgezeichnet ist, von einer Festigkeit und Geduld, wie ich in meinem ganzen früheren Leben keine Stunde gehabt habe; daß das Schwerste mir leicht wird, daß Alles geräth, was ich unter die Hände nehme. Die Aufgabe, die auf mir liegt, ist trotzdem meine Natur — so daß ich jetzt erst einen Begriff von dem habe, was mein mir vorbestimmtes Glück war. Ich spiele mit der Last, welche jeden Sterblichen zerdrücken würde ... Denn das, was ich zu thun habe, ist furchtbar, in jedem Sinne des Wortes: ich fordre nicht Einzelne, ich fordre die Menschheit mit meiner entsetzlichen Anklage als Ganzes heraus; wie auch die Entscheidung fällt, für mich oder gegen mich, in jedem Fall haftet unsäglich viel Verhängniß an meinem Namen ... Indem ich Dich von Herzen bitte, in diesem Brief keine Härte, sondern das Gegenstück dazu zu sehn, eine wirkliche Humanität, die sich bemüht, überflüssigem Unheil vorzubeugen, empfehle ich mich auch über die Notwendigkeit hinweg, Deiner Liebe ... Dein Bruder. 1. Hans Olde (1855-1917): German artist.
Kopenhagen, 16. November 1888: Verehrter Herr! Vergeblich habe ich auf Antwort aus Paris gewartet um die Adresse von Madame Bizet zu erfahren. Dagegen habe ich jetzt die Adresse des Fürsten Urussow. Er wohnt in Petersburg Sergiewskaia 79.1 Meine drei Bücher sind jetzt erschienen. Meine Vorlesungen habe ich hier angefangen.2 Merkwürdig ist es wie ein Wort in Ihrem Briefe3 und in Ihrem Buche4 über Dostojewski mit meinen Eindrücken über ihn zusammenfällt. Ich habe Sie auch in meinem Werk über Russland genannt, wo ich Dostojewski behandle.5 Er ist ein grosser Poet, aber ein abscheulicher Kerl, ganz christlich in seinem Gefühlsleben und zugleich ganz sadique. All seine Moral ist was Sie Sklavenmoral getauft haben. Der tolle Schwede heisst August Strindberg; er wohnt hier. Seine Adresse ist Holte bei Kopenhagen. Er liebt Sie besonders, weil er meint, seinen Frauenhass6 bei Ihnen zu sinden. Deshalb sind Sie ihm "modern" (Ironie des Schicksals). Als er in den Zeitungen die Referate über meine Frühlingsvorlesungen7 las, sagte er: es ist erstaunlich mit diesem Nietzsche, vieles bei ihm ist, als ob ich es geschrieben hätte. In französischer Sprache ist sein Drama Père8 mit einem Vorwort von Zola erschienen. Ich bin traurig, so oft ich an Deutschland denke. Welche Entwickelung die jetzige dort! Wie traurig zu denken, dass man allem Anscheine nach in seiner Lebenszeit nie geschichtlich das geringste Gute erleben werde. Wie Schade, dass Sie, ein so gelehrter Philologe, nicht Dänisch verstehen. Ich verhindere nach Vermögen, dass meine zwei Bücher über Polen und Russland übersetzt werden, damit man mich nicht ausweise oder wenigstens das Recht zu reden dort verweigere, wenn ich wieder dahin reisen will. Hoffend dass diese Zeilen Sie noch in Turin sinden oder Ihnen doch nachgeschickt werden bin ich Ihr ganz ergebener 1. Cf. Copenhagen, 10-06-1888: Letter from Georg Brandes to Nietzsche in Turin.
Turin, 17. November 1888: Meine alte Mutter, — dies ist der merkwürdigste Zufall,1 den es geben kann. Mein Verstand stand einen Augenblick still. Stelle Dir vor, daß ich eben im Begriff bin, Dich um die Abschrift einer Stelle aus den gesammelten Werken Wagners zu bitten: Band 7,2 in dem ein Brief Wagners an mich steht. Davon wollte ich den letzten Satz haben, den ich einer bestimmten Arbeit wegen nöthig habe. Der Brief enthält diesen Satz:3 jene dritte Seite, die Dir solches Vergnügen gemacht hat. Vollkommen mährchenhaft! — Es macht mir große Freude, von der wesentlichen Existenz-Verbesserung meines Onkel Oskar4 zu hören; noch mehr, daß es mir erlaubt ist, ihm ein wenn auch bescheidenes Zeichen meiner Anhänglichkeit zu geben. Ich bitte ihn sehr darum, sich den Frak "anzuhängen,"5 — ich habe nie daran gedacht, daß ihm noch eine so würdige Zukunft beschieden sein würde. — (Daß ich meine Kleider verkaufe wie ein alter Jude, darfst Du mir nicht zumuthen, meine gute Mutter. —) Zu meinem Bedauern fehlt das Couvert des curiosen Briefs: ich habe nicht die entfernteste Ahnung, woher er kommt.6 Hättest Du den Poststempel mir lieber mitgetheilt, statt der Wanderung von Ort zu Ort, so wäre ich schon auf der Spur. Es muß ein genauer Bekannter sein, darauf weist der Scherz in der Adresse "Röcken bei Lützen" hin. Kommt er nicht aus Wien? — Der Ofen7 ist also, wie ich Deinem Briefe entnehme, von Herrn Kürbitz8 bezahlt? Es war alles zusammen 68 Mark. Schreibe mir doch im nächsten Brief ausdrücklich, daß die Sache abgemacht ist. Die Sendung an mich konnte erst nach Zahlung abgehn. — Bis jetzt sind die zwei großen Säcke Heizmaterial angekommen, nebst 4 Kästchen Anzünder. An der Kälte habe ich noch mäßig gelitten, ein paar regnerische Tage abgerechnet: da ist man immer empfindlicher. Jetzt ist es wieder schön mild, sogar die Nacht. Das Kälteste war ein einziger Oktobertag, wo wir zwar nicht den Gefrierpunkt, aber beinahe erreichten. Gleich darauf wieder wonnevolle Herbsttage. — Deine Muß-Geschichte im großen Stile hat mir Vergnügen gemacht, ich stimme Dir bei, daß es etwas Gutes ist, — es hält den Kopf und vielleicht auch den Leib frei. Wir sind immer noch im Überfluß der schönsten Trauben: das Pfund allererste Qualität 24 Pfennige nach Eurem Geld. Die Ernährung ist über alle Maßen gut und zuträglich. Man lebt nicht umsonst im Lande der allerberühmtesten Viehzucht und zwar in dessen königl. Residenz. Die Zartheit des Kalbfleisches ist einfach für mich etwas Neues, insgleichen das von mir hochgeschätzte delikate Lammfleisch. Und welche Zubereitung! welche solide, saubere, sogar raffinirte Küche! Ich habe bis jetzt nicht gewußt, was guter Appetit ist: aufrichtig, ich esse 4 mal so viel wie in Nizza, zahle weniger und habe noch nie eine Magenbeschwerde gehabt. Zugegeben, daß man mich, hierin und in andern Dingen, auszeichnet; ich bekomme entschieden die besten Bissen. Aber das ist überall der Fall, wo ich hier verkehre: man nimmt mich für etwas sehr Distinguirtes, Du würdest Dich selber erstaunen, wie stolz und voll Haltung Dein altes Geschöpf hier einherwandelt. Gegen Nizza hat sich Alles gerade umgedreht. — Ein leichter Paletot, mit blauer Seide gefüttert, genügt einstweilen über meinem Gesellschafts-Anzug vollkommen. Der dicke, immer noch ganz ordentliche Überzieher von Hillebrand kommt erst diesen Winter zu Ehren. Zwei Paar Schuhe mit Schnüren. Ungeheure englische Winter-Handschuh. Eine goldne Brille (nicht unterwegs). Jetzt kannst Du Dir das alte Geschöpf vorstellen. In Liebe Suche die Stelle und schreibe, von welchem Tag der Brief ist (— er erschien in der Norddeutschen Zeitung)9 — Ich vergaß die Chamäleons unter meinem Prunke: sie sind hier ganz fremd, — um so besser!10 1. With her Naumburg, 11-15-1888 letter to Nietzsche in Turin, Franziska Nietzsche enclosed an anonymous letter from Vienna that had arrived in Naumburg on the 14th after having been addressed to "Röcken near Lutzen," and then Basel. A handwriting analysis incorrectly attributed the letter to Nietzsche's friend, Heinrich Romundt (1845-1919); it was probably written by a Viennese admirer. The letter's reaction to Der Fall Wagner (The Case of Wagner) consists almost entirely of quotes from Richard Wagner's "Offener Brief An Friedrich Nietzsche" (Open Letter to Friedrich Nietzsche), a defense of Nietzsche's The Birth of Tragedy published in the 06-23-1872 edition of the Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, and reprinted in Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 9. Leipzig: Fritzsch, 1873, 350-358. The anonymous letter contains a quote from Wagner's letter that Nietzsche had been searching for to use in Ecce Homo. Nietzsche eventually discarded the quote when he replaced the section with another version.
Turin, 18. November 1888: Werther Herr Verleger, Sie haben die Auszeichnung, die Werke des ersten Menschen aller Jahrtausende in Verlag zu haben. Daß Sie einer alten Gans wie Pohl1 erlauben können, über mich zu reden, gehört zu den Dingen, die nur in Deutschland möglich sind. Glauben Sie nicht, daß ich dergleichen lese: man schreibt mir eben wörtlich aus Leipzig "die Einbildung Pohls, mit seinem beschränkten Artikel Etwas gegen Ihr Weltgericht gethan zu haben ist urkomisch."2 — Ich bekomme von allen Seiten wahre Huldigungs-Schreiben, wie über ein Meisterstück psychologischer Sagacität, das nicht seines Gleichen hat, wie eine wahre Erlösung von einem gefährlichen Mißverständniß ... Fragen Sie doch Herrn von Bülow, was er darüber denkt. — Und der Verleger des "Zarathustra" nimmt gegen mich Partei? — In aufrichtiger Verachtung 1. Richard Pohl (1826-1896): German music critic and proponent of Richard Wagner, whom Wagner had called "the oldest Wagnerite." Fritzsch had published Pohl's scathing review of Der Fall Wagner (The Case of Wagner), in which Pohl wrote: "Aber beim Verfasser der 'Geburt der Tragödie ans dem Geiste der Musik' ist das einfach beklagenswerth. Denn zwanzig Mal hintereinander 'Carmen' mit einer 'sanften Andacht' hören können — das ist ein Symptom von Geistesschwäche." (But this is simply deplorable from the author of "The Birth of Tragedy Out of the Spirit of Music." For being able to listen to "Carmen" twenty times in a row with a "tender devotion" — this is a symptom of mental deficiency.) See Richard Pohl, "Der Fall Nietzsche." In: Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde. Leipzig: Fritzsch. Jahrg. 19. Nr. 44. Oct. 25, 1888, 517-520 (518).
Turin, 19. November 1888: Werthester Herr, Ihre Worte1 über Nietzsche en bloc sind das Achtbarste, was ich bis jetzt gelesen habe. — Daß ich meine "Bekehrung" an Carmen2 anknüpfe, ist natürlich — Sie werden keinen Augenblick daran zweifeln — eine Bosheit mehr von mir. Ich kenne den Neid, die Wuthausbrüche3 Wagners gegen den Erfolg von Carmen — den größten, anbei gesagt, den die Geschichte der Oper hat. — Mit aufrichtiger Neigung 1. Cf. the final sentence of Carl Spitteler, "Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem." In: Der Bund. 39. Jg. Nr. 309. 8. November 1888. TNC reprint: "Das Entscheidende bleibt der Umstand, daß sechs Denker wie Nietzsche eine Nation weiter fördern würden, als Myriaden von Gelehrten und von Philosophen das während eines ganzen Jahrhunderts vermögen." (The decisive point is the fact that six thinkers like Nietzsche would be able to advance a nation further than myriads of scholars and philosophers in the course of an entire century.)
Turin, 20. November 1888: Verehrter Herr, Vergebung, daß ich auf der Stelle antworte. Es giebt jetzt in meinem Leben curiosa von Sinn im Zufall,1 die nicht ihres Gleichen haben. Vorgestern erst; jetzt wieder. — Ach, wenn Sie wüßten, was ich eben geschrieben hatte, als Ihr Brief mir seinen Besuch machte ... Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt: das Buch heißt "Ecce homo" und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten: es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist, bei denen Einem Sehn und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christenthums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz2 vorfahren, von dem kein Gegner des Christenthums auch nur die Existenz vermuthet hat. — Das Ganze ist das Vorspiel der Umwerthung aller Werthe, das Werk, das fertig3 vor mir liegt: ich schwöre Ihnen zu, daß wir in zwei Jahren die ganze Erde in Convulsionen haben werden. Ich bin ein Verhängniß. — — Errathen Sie, wer in "Ecce homo" am schlimmsten wegkommt? Als die zweideutigste Art Mensch, als die im Verhältniß zum Christenthum fluchwürdigste Rasse der Geschichte? Die Herrn Deutschen! — Ich habe ihnen furchtbare Dinge gesagt ... Die Deutschen haben es zum Beispiel auf dem Gewissen, die letzte große Zeit der Geschichte, die Renaissance, um ihren Sinn gebracht zu haben4 — in einem Augenblick, wo die christlichen Werthe, die décadence-Werthe, unterlagen, wo sie in den Instinkten der höchsten Geistlichkeit selbst überwunden durch die Gegeninstinkte waren, die Lebens-Instinkte! ... Die Kirche angreifen — das hieß ja das Christenthum wiederherstellen. — Cesare Borgia als Papst5 — das wäre der Sinn der Renaissance, ihr eigentliches Symbol ... — Auch dürfen Sie darüber nicht böse sein, daß Sie selber an einer entscheidenden Stelle des Buchs auftreten6 — ich schrieb sie eben — in diesem Zusammenhange, daß ich das Verhalten meiner deutschen Freunde gegen mich stigmatisire, das absolute In-Stichgelassen-sein mit Ehre wie mit Philosophie. — Sie kommen, eingehüllt in eine artige Wolke von Glorie, auf einmal zum Vorschein ... Ihren Worten über Dostoiewsky7 glaube ich unbedingt; ich schätze ihn andererseits als das werthvollste psychologische Material, das ich kenne, — ich bin ihm auf eine merkwürdige Weise, dankbar, wie sehr er auch immer meinen untersten Instinkten zuwidergeht. Ungefähr mein Verhältniß zu Pascal,8 den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige logische Christ ... — Vorgestern las ich, entzückt und wie bei mir zu Hause, les mariés9 von Herrn August Strindberg. Meine aufrichtige Bewunderung, der nichts Eintrag thut, als das Gefühl, mich dabei ein wenig mitzubewundern ... Turin bleibt meine Residenz — Ihr Nietzsche, jetzt Unthier ... Wohin darf ich Ihnen die "Götzen-Dämmerung Oder : wie man mit dem Hammer philosophirt" senden? Im Fall, daß Sie noch 14 Tage in Kopenhagen sind, ist keine Antwort nöthig. — 1. Cf. Turin, 11-17-1888: Letter to Franziska Nietzsche in Naumburg.
Kopenhagen, 23. November 1888: Verehrter Herr! Ihr Brief traf mich heute in vollem Arbeitsfeuer, ich halte hier Vorlesungen über Goethe,1 repetire jeden Vortrag zwei mal und doch stehen die Leute drei Viertel Stunde vorher auf dem Platze vor der Universität aufgestellt um sich einen Stehplatz zu erobern. Es amüsirt mich, vor so Vielen den Grössten unter den Grossen zu studieren. Ich muss hier bleiben bis Ende des Jahrs. Dann kommt aber auch der leidige Umstand dazu, dass — wie ich benachrichtigt worden — eins meiner alten Bücher, kürzlich Russisch übersetzt, dazu verurtheilt ist, als "irreligiös" in Russland öffentlich verbrannt zu werden.2 Wegen meiner zwei letzten Werke über Polen und Russland3 musste ich schon fürchten ausgewiesen zu werden; jetzt muss ich versuchen, jegliche Protection in Bewegung zu setzen, um die Erlaubniss, in Russland zu reden, in diesem Winter zu erhalten. Dazu kommt, dass jetzt fast alle Briefe an mich und von mir konsiscirt werden. Man ist nach dem Unglück in Borki4 sehr ängstlich. Es war ebenso kurz nach den berühmten Attentaten.5 Alle Briefe wurden aufgeschnappt. Mit lebhafter Freude seh' ich, dass Sie so Vieles wieder hinter sich haben. Glauben Sie mir, ich mache Propaganda für Sie, wo ich nur kann. Noch in der vorigen Woche forderte ich ernstlich Henrik Ibsen6 auf, Ihre Werke zu studiren. Auch mit ihm haben Sie etwas Verwandtes, wenn auch sehr entfernt Verwandtes. Gross und stark und unliebenswürdig aber doch liebenswerth ist der Sonderling. Es wird Strindberg freuen, dass Sie ihn schätzen. Ich kenne nicht die französische Uebersetzung,7 die Sie nennen. Aber man sagt hier, dass all die besten Partien in "Giftas" (mariés) weggelassen sind, besonders die witzige Polemik gegen Ibsen. Lesen Sie aber sein Drama "Père";8 es ist ein sehr grosser Zug darin. Er würde es Ihnen gewiss gerne schicken. Aber ich sehe ihn so selten, er ist menschenscheu wegen einer unendlich unglücklichen Ehe. Denken Sie sich, er verabscheut seine Frau seelisch und kann Sie physisch nicht entbehren. Er ist ein monogamer Misogyn! Es ist mir merkwürdig, dass der polemische Zug in Ihnen noch so stark ist. In meiner frühen Jugend war ich leidenschaftlich polemisch; jetzt kann ich nur darstellen; bekämpse nur durch Schweigen. Das Christenthum anzugreisen läge mir so sern als gegen die Wehrwölse, ich meine gegen den Glauben an Wehrwölse, eine Broschüre zu schreiben. Aber ich sehe, wir verstehen uns. Auch ich liebe Pascal. Aber ich war schon jung für die Jesuiten gegen Pascal (in den Provinciales). Die Weltklugen, sie hatten ja Recht; er hat sie nicht verstanden; sie aber haben ihn verstanden und — welch Meisterstück von Frechheit und Klugheit! — sie haben seine Provinciales mit Noten selbst herausgegeben. Die beste Ausgabe ist die der Jesuiten.9 Luther gegen den Papst,10 das ist dieselbe Collision. Victor Hugo hat in der Vorrede zu den Feuilles d'Automne dies feine Wort: On convoque la diète de Worms mais on peint la chapelle Sixtine. Il y a Luther, mais il y a Michel Ange ... et remarquons en passant que Luther est dans les vieilleries qui croulent autour de nous et que Michel-Ange n'y est pas.11 — — Sehen Sie sich das Gesicht von Dostojewski12 an: halbwegs ein russisches Bauerngesicht, halbwegs eine Verbrecherphysiognomie, flache Nase, kleine durchbohrende Augen unter Lidern, die vor Nervosität zittern, diese Stirn gross und durchgeformt, den ausdrucksvollen Mund, der von Qualen ohne Zahl, von abgrundtiefer Wehmuth, von ungesunden Gelüsten spricht, von unendlichem Mitleid, leidenschaftlichem Neid! Ein epileptisches Genie, dessen Aeusseres schon spricht von dem Strom der Milde, der sein Gemüth erfüllte, von der Welle eines fast wahnsinnigen Scharfsinnes, die ihm zum Kopse stieg, endlich von dem Ehrgeiz, der Grösse der Bestrebung und von der Missgunst, welche Kleinheit der Seele erschafft. Seine Helden sind nicht nur Arme und Bedauernswerthe, sondern einsältige Feinfühlende, edle Dirnen, häusig Hallucinirte, begabte Epileptiker, begeisterte Sucher des Martyriums, eben die Typen, die wir bei den Aposteln und Disciplen des ersten christlichen Zeitalters vermuthen müssen. Gewiss steht keine andere Seele der Renaissance ferner. Ich bin darauf gespannt, wie an mich in Ihrem Buche gedacht sein kann.13 Ich bin in treuer Ergebenheit 1. In Copenhagen, Brandes held lectures on Johann Wolfgang von Goethe from December 11-17, 1888.
Turin, 25. November 1888: Geehrter Herr Verleger, die "Götzen-Dämmerung" gefällt mir sehr, ich fühle mich noch einmal in dem bestärkt, was ich zuletzt schrieb,2 daß wir die gleiche Ausstattung für das "Ecce homo" festhalten. — Zwei sehr dumme Fehler, die, wie ich fürchte, auf meine Verantwortung resp. schlechte Augen zurückgehn p. 137 Z. 7 Agleoph statt Aglaop p. 52 Z. 5 Symptomologie statt Symptomatologie. — Die Worte, mit denen die Schrift in dem Buchhändler-Börsenblatt anzuzeigen wäre, habe ich Herrn Köselitz überlassen, der Ihnen darüber Mittheilung machen wird. Es schadet Nichts, wenn dieselben etwas stark sind; es ist bei dieser Schrift nicht erlaubt, Recensions-Exemplare an Zeitungen zu senden. Einige sehr klug gewählte Inserate müssen dies Mal versucht werden. — Ein sehr urteilsfähiger älterer Herr, Mitarbeiter der Hauptrevuen ("Gegenwart" "deutsche Revue," "unsere Zeit," auch "Bl[ätter] für litter. Unterhaltung") Dr. Fleischmann,3 Justizamtmann früher, hat auf die artigste Weise mir von München aus seine Bereitheit erklärt, über den "Fall Wagner" des Längeren zu berichten (— man hat ihn in München allgemein drum gebeten) Der Dichter Martin Greif in München hat mir zum Dank seine Werke überschickt.4 — Was die Freiexemplare der Götz[en]-D[ämmerung] betrifft, so will ich 3 (von den 4 übersandten) auf mich nehmen: Ihnen bleibe dann die Versendung an folgende Adressen anheimgestellt:
Wenn es Ihnen möglich wäre, mir für den "Fall Wagner" baldigst mein conto einzuhändigen, so würde ich Ihnen verpflichtet sein. Herr E. W. Fritzsch hat eine haarsträubende Taktlosigkeit gegen mich verübt und einer alten Gans erlaubt, mich in der armselig persönlichsten Weise in seinem eignen Blatt zu verhöhnen.5 Darauf habe ich Fritzsch angefragt, wieviel er für meine ganze Litteratur haben wolle, — es sei mir nicht erlaubt, dieselbe in solchen Händen zu lassen. Die Antwort6 liegt bei. Aufrichtig, ich verstehe sie nicht. Es scheint mir, er will 10 000 Thaler haben Hochachtungsvoll Ihr Sobald "Ecce homo" gewirkt hat — es wird ein Erstaunen ohne Gleichen hervorrufen — thue ich die bereits erwogenen Schritte, um Übersetzungen der "Umwerthung"7 in 7 Hauptsprachen durch lauter ausgezeichnete Schriftsteller Europas vorzubereiten. Das Werk soll zugleich in allen Sprachen erscheinen. — NB. Ich sehe einer schwedischen Übersetzung8 der "Götzen-Dämmerung" entgegen Aufrichtig, ich möchte meine Schr[ifte]n weg von Fritzsch. In zwei Jahren ha[be]n sie einen vertausendfachten Werth. An meinem "Zarathustra" allein kann man Millionär werden: es ist das entscheidendste Werk, das es giebt. 1. Constantin Georg Naumann (1842-1911): owner of the German printing and publishing firm C. G. Naumann in Leipzig.
Turin, 25. November 1888: Lieber Freund, vielleicht, daß auch bei Ihnen schon die Götzen-Dämmerung eingetroffen ist? Bei mir langten gestern die ersten Exemplare an. Zwei dumme Fehler: "Symptomologie" statt "Symptomatologie" und "Agleophamus" statt "Aglaophamus": dergleichen macht einen Philologen wüthend. — Ich habe als Preis für dies Buch 1 1/2 Mark festgesetzt: Sie verstehen? — Dieselbe Ausstattung, derselbe Preis auch "Ecce homo," das jetzt in Arbeit kommt. — Erlösen Sie mich von einer Schwierigkeit und geben Sie Naumann Etwas über die Götzen-Dämmerung für das Buchhändler-Börsenblatt. Sie dürfen die Ausdrücke so stark als möglich nehmen. — Fritzsch will circa 10 000 Thaler von mir.1 — Die Frage der "Preßfreiheit" ist, wie ich jetzt mit aller Schärfe empfinde, eine bei meinem "Ecce homo" gar nicht aufzuwerfende Frage. Ich habe mich dergestalt jenseits gestellt, nicht über das, was heute gilt und obenauf ist, sondern über die Menschheit, daß die Anwendung eines codex eine Komödie sein würde. Übrigens ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire: — das Buch ist so "unheilig" wie möglich ... Ich bekenne, daß mir die Götzen-Dämmerung als vollkommen erscheint; es ist nicht möglich, entscheidendere Dinge deutlicher und delikater zu sagen ... Man kann 10 Tage nicht nützlicher verwenden, denn mehr Zeit hat mich das Buch nicht gekostet. — Jakob Burckhardt hat von mir das erste Exemplar bekommen.2 Wir haben nach wie vor ein bezauberndes Frühjahr-Wetter; ich sitze eben mit aller Heiterkeit und leicht bekleidet, vor offnem Fenster. Eine letzte Erwägung. Sehen Sie, lieber Freund, "Kreise stören"3 — das ist wirklich in meiner jetzigen Existenz unmöglich. Es hat etwas auf sich mit dem "Kreise" ... Aber etwas Anderes: ich bin mitunter vollkommen außer mir, kein aufrichtiges und unbedingtes Wort zu irgend Jemand sagen zu können — ich habe gar Niemanden dazu außer Herrn Peter Gast4 ... Auch finden Sie in meiner im Grunde heiteren und boshaften "Aktualität" vielleicht mehr Inspiration zur "Operette" als sonstwo: ich mache so viele dumme Possen mit mir selber und habe solche Privat-Hanswurst-Einfälle, daß ich mitunter eine halbe Stunde auf offner Straße grinse, ich weiß kein andres Wort. ... Neulich fiel mir ein, Malvida an einer entscheidenden Stelle von "Ecce homo" als Kundry vorzuführen,5 welche lacht ... Ich habe 4 Tage lang die Möglichkeit verloren, einen gesetzten Ernst in mein Gesicht zu bringen — Ich denke, mit einem solchen Zustand ist man reif zum "Welt-Erlöser"? ... Kommen Sie ... Ihr Freund N. — Die Art Öfen,6 die ich mir für schweres Geld aus Deutschland bestellt habe (68 Mark) sind jetzt hochobrigkeitlich verboten, als lebensgefährlich. — Ein artiger Ofen mit Gas-Heizung tritt an seine Stelle. Preis 65 frs. — man steckt das Streichholz hinein, da gehts los; hat man genug Wärme im Zimmer, löscht man es — Eben ist eine Wagnerisirende Oper, Nerone, furchtbar hier durchgefallen.7 Der Hauptsänger hat die Flucht ergriffen.8 Das Neueste ist der Beschluß Turins, ein Opernhaus allerersten Ranges zu baun.9 — 1. Cf. Leipzig, 11-25-1888: Letter from Ernst Wilhelm Fritzsch to Nietzsche in Turin.
Turin, 26. November 1888: Geehrtester Herr Verleger, ich schreibe Ihnen noch einmal; die Frage, um die es sich handelt, ist ersten Ranges. Alles erwogen, ist die unqualificirbare Handlung des E. W. Fritzsch ein Glücksfall, der nicht hoch genug zu schätzen ist.2 Ohne diesen Handlung, welche nicht nur eine Taktlosigkeit, sondern eine Ehren-Verletzung ist (— er hat mir die armseligsten persönlichen Motive für meine Schrift gegen Wagner untergeschoben, mir dem Unpersönlichsten Menschen, den es vielleicht gegeben hat) würde ich kein Mittel haben, meine Schriften aus seinen Händen zu ziehn. Jetzt aber kann ich es nicht nur, ich muß es: in einem Augenblick, wo mein Leben in einer ungeheuren Entscheidung ist und eine Verantwortlichkeit auf mir liegt, für die es keinen Ausdruck giebt, vertrage ich es nicht, daß man Gemeinheiten an mir begeht. Der Verleger des "Zarathustra"! des ersten Buches aller Jahrtausende! in dem das Schicksal der Menschheit einbegriffen ist! das in wenig Jahren in Millionen von Exemplaren sich verbreiten wird! ... Sobald "Ecce homo" heraus ist, bin ich der erste Mensch, der jetzt lebt. Verhandeln Sie, geeintester Herr Verleger, doch einmal persönlich mit E. W. Fritzsch, sagen Sie ihm, mein Entschluß sei unwiderruflich, er habe mich in meiner Ehre beleidigt. Ich möchte, daß Sie meine ganze Litteratur zusammen haben, — ich möchte andrerseits, daß jetzt, wo Alles sich bei mir entscheidet, auch wir unter uns über ein normaleres Verhältniß zwischen Autor und Verleger nachdächten. Ich werde niemals Honorare wollen, das gehört zu meinen Principien; aber ich möchte, daß Sie vollen Antheil an dem Erfolg, an dem Sieg meiner Litteratur hätten. — Die "Umwerthung aller Werthe"3 wird ein Ereigniß ohne Gleichen, [nic]ht etwa ein litterarisches, sondern ein alles Bestehende Erschütternde[s]. Es ist möglich, daß es die Zeitrechnung verändert.4 — Die in den Händen von Fr[itzsch] befindliche Litteratur5 müßte so schnell wie möglich in Ihre Hände übergehn, bevor F[ritzsch] einen Begriff davon bekommt, was er an ihr hat. Schon die Götzen-Dämmerung ist darin gefährlich. Ich weiß im Augenblick nicht, wie ich die von ihm verlangte Summe beschaffe, — vielleicht gelingt es Ihnen, dieselbe etwas zu verringern. Ihr ergebenster Anbei ein Nachtrag zum E. h.,6 — es wird noch mehr kommen Dies Papier, worauf ich schreibe, gefällt mir am besten. 1. Constantin Georg Naumann (1842-1911): owner of the German printing and publishing firm C. G. Naumann in Leipzig.
Torino, 26. November 1888: Lieber Freund, ich habe nöthig, in einer Sache2 allerersten Rangs mit Dir zu reden. Mein Leben kommt jetzt auf seine Höhe: noch ein paar Jahre, und die Erde zittert von einem ungeheuren Blitzschlage. — Ich schwöre Dir zu, daß ich die Kraft habe, die Zeitrechnung3 zu verändern. — Es giebt Nichts, das heute steht, was nicht umfällt, ich bin mehr Dynamit als Mensch.4 — Meine Umwerthung aller Werthe, mit dem Haupttitel "der Antichrist" ist fertig.5 In den nächsten zwei Jahren habe ich die Schritte zu thun, um das Werk in 7 Sprachen übersetzen zu lassen; die erste Auflage in jeder Sprache c. eine Million Exemplare. — Bis dahin erscheint noch von mir: 1) Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt. Das Werk ist fertig, ich habe gestern den Auftrag gegeben,6 daß Dir eins der ersten Exemplare zugeht. Lies es, ich bitte Dich, mit dem tiefsten Ernste, wie sehr es auch immer im Verhältniß zu dem, was kommt, ein heiteres Buch ist. 2) Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Dies Buch handelt nur von mir, — ich trete zuletzt darin mit einer welthistorischen Mission auf. Es ist bereits im Druck.7 — Darin wird zum ersten Mal Licht über meinen Zarathustra gemacht, das erste Buch aller Jahrtausende, die Bibel der Zukunft, der höchste Ausbruch des menschlichen Genius, in dem das Schicksal der Menschheit einbegriffen ist. — Und hier kommt mein Anliegen, dessenthalben ich schreibe. Ich will meinen Zarathustra zurück aus den Händen von E. W. Fritzsch, ich will meine ganze Litteratur selbst in den Händen haben, als deren Alleinbesitzer. Sie ist nicht nur ein ungeheures Vermögen, denn mein Zarathustra wird wie die Bibel gelesen werden, — sie ist einfach in den Händen von E. W. Fritzsch nicht mehr möglich. Dieser unsinnige Mensch hat mich eben jetzt in meiner Ehre8 beleidigt: ich kann gar nicht anders, ich muß ihm die Bücher wegnehmen. Auch habe ich schon mit ihm verhandelt: er will für meine ganze Litteratur c. 10,000 Thaler. Zum Glück hat er nicht den geringsten Begriff davon, was er besitzt. — In summa: ich brauche 10,000 Thaler. Denke nach, alter Freund! Ich will nichts geschenkt, es handelt sich um ein Anleihen zu jeden Zinsen, die gewünscht werden. Ich habe übrigens keinen Pfennig Schulden, besitze einige Tausende noch zum Verbrauchen und bin durch meine Basler Pension außer Sorge. (— Die "Götzen-Dämmerung" und der "Ecce homo" werden mit einem gewissen Gelde9 gedruckt, das irgend ein Wunder mir seiner Zeit aus Berlin zukommen ließ.) Nur müßte das Geld mir bald zu Gebote stehn, bevor nämlich F[ritzsch] eine Witterung bekommt, was er hat. Dann würde ich Alles beieinander in den Händen des vertrauenswürdigen Naumann10 in Leipzig haben. Dein Freund Nietzsche (— mit bestem Gruß an die "tapfere Kameradin"11 —) Karte aus Madrid12 erhalten. — Meine Gesundheit ist jetzt wundervoll, ich bin dem Stärksten gewachsen, — Du würdest Deinen Ohren nicht trauen, wenn Du hörtest, daß die 3 genannten Ungeheuer von Büchern zwischen dem 24 August und 4 Nov. entstanden sind! 1. This letter was omitted from Elisabeth Förster-Nietzsche's 1900 edition of Nietzsche's collected letters since it contains Nietzsche's statement that his "Umwerthung aller Werthe" (Revaluation of All Values) was complete with Der Antichrist (The Antichrist) — thus delegitimizing her pending publication of the 1901 edition of the spurious "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe."
Torino, 27. November 1888: Hochgeehrter Herr, ich denke, unsre Sendungen1 haben sich gekreuzt? — Ich las zwei Mal mit tiefer Bewegung Ihre Tragödie;2 es hat mich über alle Maaßen überrascht, ein Werk kennen zu lernen, in dem mein eigner Begriff von der Liebe — in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter — auf eine grandiose Weise zum Ausdruck gebracht ist. — Aber dies Werk ist ja prädestinirt, jetzt in Paris im théâtre libre des Ms. Antoine3 aufgeführt zu werden! Fordern Sie das einfach von Zola!4 Im Augenblick legt er großen Werth darauf, daß man sich seiner erinnert. — — Ich bedaure im Grunde die Vorrede,5 obwohl ich sie nicht missen möchte: sie enthält lauter unbezahlbare Naivetäten. Daß Z[ola] nicht "für die Abstraktion" ist, erinnert mich an einen deutschen Übersetzer eines Romans von Dostoiewsky,6 der auch nicht "für die Abstraktion" war: er hatte "des raccourcis d'analyse" einfach weggelassen, — sie "genirten" ihn ... Und daß Z[ola] Typen nicht von "êtres de raison" auseinander zu halten weiß! daß er den état civil complet für die Tragödie verlangt! Aber fast geschüttelt vor Lachen habe ich mich, als er zuletzt gar eine Rassen-Frage daraus macht! So lange es überhaupt Geschmack in Frankreich gab, hat man immer aus Rassen-Instinkt gerade das abgelehnt, was Zola will: gerade la race latine protestirt gegen Zola. Zuletzt ist er ein moderner Italiäner, — er huldigt dem verismo7 ... In aufrichtiger Hochschätzung 1. Strindberg had sent Nietzsche his Père. Tragédie en trois actes par Auguste Strindberg. Précédée d’une lettre de M. Émile Zola. Helsingborg: Osterling, 1888. Nietzsche had sent Strindberg a copy of Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols). The copy is now owned by the Stadtbibliothek in Örebro, Sweden. It contains the following dedication: "Herrn August Strindberg. Sollte man das nicht übersetzen? Es ist Dynamit. Der Antichrist." (Mr. August Strindberg. Should this not be translated? It is dynamite. The Antichrist.)
Turin, 29. November 1888: Lieber Freund, sehr gute Nachrichten aus Berlin. Die Aufführung des "provençalischen Quartetts"1 (mir gewidmet) durch Joachim selbst wahrscheinlich geworden. In Anbetracht, daß J[oachim] bloß klassische Musik in seinen Quartetten aufführt, eine Auszeichnung ersten Ranges. Auch de Ahna ist entzückt. — Der Rival K[öselitz]'s in puncto puncti ist ein junger Graf Schlieben — leider ein ganz hoffnungsloser Rival ...2 Eine andere Neuigkeit. Das schwedische Genie Strindberg hält mich für den größten Psychologen des — Ewig-Weiblichen.3 Er hat mir seine Tragödie "Père" (mit begeisterter Vorrede Zola's) geschickt,4 die in der That meine Definition der Liebe5 (— sie steht z. b. im Fall Wagner) auf eine grandiose Art zum Ausdruck bringt. Ich bemühe mich eben darum, das Werk im théatre libre in Paris aufführen zu lassen.6 N. 1. Heinrich Köselitz's compostion, GSA 102/138: "Provençalische Hochzeit Streichquartett" (a/k/a "Minnesängers Brautfahrt").
Turin, Anfang Dezember 1888: Werther Freund, ich halte für nöthig, Ihnen ein paar Dinge aller ersten Rangs mitzutheilen: geben Sie Ihr Ehrenwort drauf, daß die Geschichte unter uns bleibt. Wir sind eingetreten in die große Politik,1 sogar in die allergrößte ... Ich bereite ein Ereigniß vor, welches höchst wahrscheinlich die Geschichte in zwei Hälften spaltet, bis zu dem Punkte, daß wir eine neue Zeitrechnung2 haben werden: von 1888 als Jahr Eins an. Alles, was heute oben auf ist, Triple-Allianz,3 sociale Frage geht vollständig über in eine Individuen-Gegensatz-Bildung: wir werden Kriege haben, wie es keine giebt, aber nicht zwischen Nationen, nicht zwischen Ständen: Alles ist auseinander gesprengt, — ich bin das furchtbarste Dynamit,4 das es giebt. — Ich will in 3 Monaten Aufträge zur Herstellung einer Manuscript-Ausgabe geben von "Der Antichrist. Umwerthung aller Werthe",5 sie bleibt vollkommen geheim: sie dient mir als Agitations-Ausgabe. Ich habe Übersetzungen in alle europäischen Hauptsprachen nöthig: wenn das Werk erst heraus soll, so rechne ich eine Million Exemplare in jeder Sprache als erste Auflage. Ich habe an Sie für die dänische, an Herrn Strindberg für die schwedische Ausgabe gedacht. — Da es sich um einen Vernichtungsschlag gegen das Christenthum handelt, so liegt auf der Hand, daß die einzige internationale Macht, die ein Instinkt-Interesse an der Vernichtung des Christenthums hat, die Juden sind — hier giebt es eine Instinkt-Feindschaft, nicht etwas "Eingebildetes" wie bei irgend welchen "Freigeistern" oder Socialisten — ich mache mir den Teufel was aus Freigeistern. Folglich müssen wir aller entscheidenden Potenzen dieser Rasse in Europa und Amerika sicher sein — zu alledem hat eine solche Bewegung das Großcapital nöthig. Hier ist der einzige natürlich vorbereitete Boden für den größten Entscheidungs-Krieg der Geschichte: das Übrige von Anhängerschaft kann erst nach dem Schlage in Betracht gezogen werden. Diese neue Macht, die sich hier bilden wird, dürfte im Handumdrehn die erste Weltmacht sein: zugegeben daß zunächst die herrschenden Stände die Partei des Christenthums ergreifen, so ist die Axt ihnen insofern an die Wurzel [gelegt], als gerade alle starken und lebendigen Individuen aus ihnen unbedingt ausscheiden werden. Daß alle geistig ungesunden Rassen im Christenthum den Glauben der Herrschenden bei dieser Gelegenheit empfinden, folglich für die Lüge Partei nehmen werden, das zu errathen braucht man nicht Psycholog zu sein. Das Resultat ist, daß hier das Dynamit alle Heeresorganisation alle Verfassung sprengt: daß die Gegnerschaft nicht Anderes constituirt und auf Krieg ungeübt dasteht. Alles in Allem, werden wir die Offiziere in ihren Instinkten für uns haben: daß es im aller höchsten Grad unehrenhaft, feige, unreinlich ist, Christ zu sein, dies Urtheil trägt man unfehlbar aus meinem "Antichrist" mit sich fort. — (Zunächst erscheint das "Ecce homo"6 von dem ich sprach, worin das letzte Capitel einen Vorgeschmack giebt, was bevorsteht, und wo ich selbst als Mensch des Verhängnisses7 auftrete ...) Was den deutschen Kaiser betrifft, so kenne ich die Art, solche braunen Idioten8 zu behandeln: das giebt einem wohlgerathenen Offizier das Maß ab. Friedrich der Große war besser, der wäre sofort in seinem Elemente. — Mein Buch ist wie ein Vulkan, man hat keinen Begriff aus der bisherigen Litteratur, was da gesagt wird, und wie die tiefsten Geheimnisse der menschlichen Natur plötzlich mit entsetzlicher Klarheit herausspringen. Es giebt eine Art darin, das Todesurtheil zu sprechen, die vollkommen übermenschlich ist. Und dabei weht eine grandiose Ruhe und Höhe über das Ganze — es ist wirklich ein Weltgericht,9 obwohl Nichts zu klein und versteckt ist, was hier nicht gesehen und ans Licht gezogen werde. Wenn Sie endlich das Gesetz gegen das Christenthum10 unterzeichnet, der "Antichrist" lesen, das den Schluß macht, wer weiß, so schlottern vielleicht selbst Ihnen, fürchte ich, die Gebeine ... Das Gesetz gegen das Christenthum hat als Überschrift: Todkrieg dem Laster: das Laster ist das Christenthum Der erste Satz: Lasterhaft ist jede Art Widernatur; die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: der lehrt die Widernatur. Gegen den P[riester] hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus nöthig. Der vierte (Satz) Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff "unrein" ist die eigentliche Sünde gegen den heiligen Geist des Lebens. Der 6. Satz heißt Man soll die heilige Geschichte nennen mit dem Namen den sie verdient, als verfluchte Geschichte; man soll die Worte "Gott" "Heiland" "Erlöser" "Heiliger" zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen benutzen. Umwerthung aller Werthe? Da wird erst — — — Siegen wir, so haben wir die Erdregierung in den Händen — den Weltfrieden eingerechnet ... Wir haben die absurden Grenzen der Rasse Nation und Stände überwunden: es giebt nur noch Rangordnung zwischen Mensch und Mensch und zwar eine ungeheure lange Leiter von Rangordnung. Da haben Sie das erste welthistorische Papier: Große Politik par excellence. NB. Suchen Sie mir einen Meister als ersten Übersetzer — ich kann nur Meister der Sprache brauchen. 1. Nietzsche scrapped his plan for a different ending of Ecce Homo (Ecce Homo). Cf. Nachlass (From Nietzsche's Notebooks), Dezember 1888-Anfang Januar 1889 25[1]; and Ecce Homo, "Warum ich ein Schicksal bin," 1 (Ecce Homo, "Why I Am a Destiny," 1).
Turin, Anfang Dezember 1888: Ich erweise hiermit dem Kaiser der Deutschen die höchste Ehre, die ihm widerfahren kann, eine Ehre, die um so viel mehr wiegt, als ich dazu meinen tiefen Widerwillen gegen Alles, was deutsch ist, zu überwinden habe: ich lege ihm das erste Exemplar [m]eines Werks2 in die Hand, mit dem sich die Nähe von etwas Ungeheurem ankündigt — von einer Crisis, wie es keine a[uf] Erden gab, von der tiefsten Gewissens-Collision innerhalb der Menschheit, von einer Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bisher geglaubt, gefordert, geheiligt worden war.3 — Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Fanatiker:4 wer mich kennt, hält mich für einen schlichten, höchstens ein wenig boshaften Gelehrten, der mit Jedermann heiter zu sein weiß. Diese Schrift giebt wie ich hoffe ein ganz anderes Bild als von einem "Propheten": und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem — denn alle Propheten waren bisher Lügner — redet aus mir die Wahrheit. — Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit ... Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, — mein Loos will es, daß ich tiefer, muthiger, rechtschaffener in die Fragen aller Zeiten hinunter[zu]blicken wußte als je ein Mensch bisher. Ich fordere nicht das, was jetzt lebt heraus, ich fordere mehrere Jahrtausende gegen mich heraus: ich widerspreche und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes ... Es giebt neue Hoffnungen, es giebt Ziele, Aufgaben von einer Größe für die der Begriff bis jetzt fehlte: ich bin ein froher Botschafter par excellence, wie sehr ich auch immer der Mensch des Verhängnisses sein muß ... Denn wenn dieser Vulkan in Thätigkeit tritt, so haben wir Convulsionen auf Erden wie es noch keine gab: der Begriff Politik ist gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Macht-Geb[ilde] sind in die Luft gesprengt, — es wird Kriege geben, wie es noch nie Kriege gab.5 — 1. Kaiser Wilhelm II (1859-1941; r. 1888-1918): German Emperor and King of Prussia. Nietzsche had planned to send this letter along with a copy of Ecce Homo (Ecce Homo).
Turin, Anfang Dezember 1888: Seiner Durchlaucht dem Fürsten Bismarck. Ich erweise dem ersten Staatsmann unsrer Zeit die Ehre, ihm durch Überreichung des ersten Exemplars von "Ecce homo" meine Feindschaft anzukündigen. Ich lege ein zweites Exemplar bei: dasselbe in die Hände des jungen deutschen Kaisers2 zu legen, wäre die einzige Bitte, die ich jemals an den Fürsten Bismarck zu stellen gesonnen bin. — Der Antichrist Turin, via Carlo Alberto 6, III Zuletzt, um nichts halb zu thun, muß es mir nachgesehen werden, wenn ich noch zwei Exemplare meines letzterschienenen Werks4 beilege: in dem selben sind die wissenschaftlichen Voraussetzungen meiner Denkweise mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit ausgesprochen. 1. Otto von Bismarck (1815-1898): Chancellor of Germany. Nietzsche had planned to send this letter along with a copy of Ecce Homo (Ecce Homo).
Turin, 2. Dezember 1888: Sonntag Nachmittag, nach 4 Uhr, unbändig schöner Herbsttag. Eben zurückgekommen von einem großen Concert, das im Grunde der stärkste Concert-Eindruck meines Lebens ist — mein Gesicht machte fortwährende Grimassen, um über sein extremes Vergnügen hinwegzukommen, eingerechnet, für 10 Minuten, die Grimasse der Thränen. Ach, daß Sie nicht dabei waren! Im Grunde war's die Lektion von der Operette auf die Musik übertragen. Unsre 90 ersten Musiker der Stadt; ein ausgezeichneter Dirigent;1 das größte Theater2 von hier mit herrlicher Akustik; 2500 Zuhörer, Alles, ohne Ausnahme, was hier in Musik mitlebt und mitredet. Pubblico sceltissimo,3 aufrichtig: ich hatte nirgendswo noch das Gefühl, daß dermaaßen nuances verstanden wurden. Es waren lauter extrem raffinirte Sachen, und ich suche vergebens nach einem intelligenteren Enthusiasmus. Nicht Eine Zuthat an einen Durchschnitts-Geschmack. — Anfang Egmont-Ouvertüre4 — sehen Sie, dabei dachte ich nur an Herrn Peter Gast5 ... Darauf Schubert's Ungarischer Marsch6 (aus dem Moment musical), prachtvoll von Liszt auseinandergelegt und instrumentirt. Ungeheurer Erfolg, da capo. — Darauf Etwas für das ganze Streichorchester allein: nach dem 4ten Takte war ich in Thränen. Eine vollkommen himmlische und tiefe Inspiration, von wem? von einem Musiker, der 1870 in Turin starb, Rossaro7 — ich schwöre Ihnen zu, Musik allerersten Ranges, von einer Güte der Form und des Herzens, die meinen ganzen Begriff vom Italiäner verändert. Kein sentimentaler Augenblick — ich weiß nicht mehr, was "große" Namen sind ... Vielleicht bleibt das Beste unbekannt. — Folgte: Sakuntala-Ouvertüre,8 achtmaliger Beifallssturm. Alle Teufel, dieser Goldmark! Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Diese Ouvertüre ist hundert Mal besser gebaut als irgend etwas von Wagner und psychologisch so verfänglich, so raffinirt, daß ich wieder die Luft von Paris zu athmen begann. Curios: es fehlt die musikalische "Gemeinheit" so sehr, daß mir die Tannhäuser-Ouvertüre9 wie eine Zote vorkam. Instrumental durchdacht und ausgerechnet, lauter Filigran. — Jetzt wieder Etwas für Streichorchester allein "cyprisches Lied" von Vilbac,10 wieder das Äußerste von delicatesse der Erfindung und der Klangwirkung, wieder ungeheurer Erfolg und da capo, obschon ein langer Satz. — Endlich: Patrie! Ouvertüre von Bizet.11 Was wir gebildet sind! Er war 35 Jahre, als er dies Werk, ein langes sehr dramatisches Werk, schrieb, Sie sollten hören, wie der kleine Mann heroisch wird12 ... Ecco! Kann man sich besser ernähren lassen? Und ich habe 1 fr. Eintritt gezahlt ... Heute Abend Francesca da Rimini im Carignano: ich legte dem letzten Brief einen Bericht darüber bei. Der Componist Cagnoni wird zugegen sein.13 — Es scheint mir nachgerade, daß Turin auch im Musik-Urtheil, wie sonst, die solideste Stadt ist, die ich kenne. Ihr Freund N. Druckbogen werden jetzt wohl noch ausbleiben: ich habe gestern das ganze Manuscript14 noch einmal zurückverlangt. — Fritzsch will 10 000 Mark, nicht Thaler.15 — Die Auflagen sind sehr complet. 1. Giovanni Bolzoni (1841-1919): Italian conductor, composer, violinist, and director of the conservatory of music in Turin. St. Petersburg, 20. [November] / 2. Dezember 1888: Geehrter Herr Doctor, Erlauben Sie mir ihnen meinen innigsten Dank auszusagen für ihre liebenswürdige Zusendung ihrer interessanten Brochüre "Der Fall Wagner." Obwohl ich, leider, persönlich noch nicht die Gelegenheit gehabt Sie zu kennen, habe ich doch eine mächtige Vorstellung der Tiefe ihres Denkens und ihrer ganzen Persönlichkeit, besonders durch die Vorlesungen welche Georg Brandes über sie gehalten hat. Mit inniger Hochachtung 1. English translation: Dear Herr Doctor, // Allow me to declare to you my warmest thanks for your gracious delivery of your interesting brochure "The Case of Wagner." Although I, unfortunately, have not had the opportunity to know you personally, I do have a strong idea of the depth of your thinking and your entire personality, especially by means of the lectures about you that Georg Brandes has delivered. // With most sincere respect // Princess Anna Tenischeff.
Holte, 4. Dezember 1888: Monsieur, Sans aucun doute, Vous avez donné à l'humanité le livre2 le plus profond qu'elle possède et ce qui n'est pas le moins, vous avez eu le courage, les rentes peut-être, pour cracher ces mots superbes à la figure de la racaille! et je vous remercie! Cependant, avec l'esprit si affranchi il me semble que Vous Vous êtes leurré du type criminal!3 Regardez ces centaines de photographies accompagnant L'homme criminel de Lombrose,4 et avouez que le fourbe est un animal inférieur, un dégénéré, un faible dépossédé des facultés nécessaires pour éluder les paragraphes de la loi, obstacles trop puissants à sa volonté au pouvoir. (Observer bien comme ils ont l'air stupidement moral tous ces bêtes honnêtes! Quel désaveau de la morale!) Et vous voulez être traduit en notre langue Groenlandoise!5 Pourquoi pas en Français en Anglais? Jugez de notre intelligence lorsqu'on m'a voulu interner dans un hôpital à cause de ma tragédie,6 et qu'on esprit si souple, si riche que M. Brandes est reduit au silence par ce butor de majorité! Je termine toutes mes lettres à mes amis: lisez Nietzsche! C'est mon Carthgo est delenda!7 Toutefois, au moment où Vous êtes connu et compris votre grandeur est amoindrie et la sainte et sacrée canaille ira vous tutoyer comme un de leurs semblables. Mieux vaut garder la solitude distinguée, et laisser nous autres dix mille supérieurs aller en pélerinage secret à votre sanctuaire afin d'y puiser à notre gré. Gardons la doctrine esotérique afin de la conserver pure et intacte et ne la divulguons pas san l'intermédiare des catéchumèbes devoués, au nombre desquel je me signe August Strindberg 1. English translation: Sir, // Without a doubt, you have given mankind the most profound book that it possesses and, not the least, you have had the courage, the means perhaps, to spew these superb words in the face of this rabble! and I thank you! // However, in your generosity of spirit, it seems to me you have been taken in by the criminal type! Look at the hundreds of photographs in Lombroso's L'Homme criminel and you will conclude that the swindler is an inferior animal, a degenerate, a weakling devoid of the faculties necessary for getting round the paragraphs of the law, which are too strong for his will to power! (Consider the stupid moral expressions of all those candid beasts! What a repudiation of morality!) // And you wish to be translated into our Greenlandish tongue! Why not into French or English? You may judge of our intelligence when you hear that they wanted to commit me to an asylum because of my tragedy, and that so tough and rich a spirit as M. Brandes has been reduced to silence by this loutish majority! // I end all my letters to my friends: Read Nietzsche! That is my Carthago es delenda! // Yet the moment you are known and understood, your stature will be diminished, and the sacred and revered rabble will address you with familiarity as their equal. Better to preserve your distinguished solitude, and allow us ten thousand other élite spirits to make a secret pilgrimage to your sanctuary in order to imbibe at our pleasure. Let us protect your esoteric teaching by keeping it pure and inviolate, and not divulge it except through the medium of your devoted catechumens, among whom I sign myself // August Strindberg
Turin, 6. Dezember 1888: Verehrteste Frau, wo werden Sie mich suchen? Gewiß nicht so nah, in meiner Residenz Turin, die ich ein für alle Mal, auch für die Winter, gewählt habe. Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr mir hier Alles wohl thut — ich habe keinen Ort gesehen, der meinen innersten Instinkten so entgegen käme. Großstadt, und dabei still, vornehm, mit einem ausgezeichneten Schlag von Menschen in jeder Classe der Gesellschaft. Wir haben den düsteren Pomp eines großen Begräbnißes gehabt: es galt einem der verehrtesten Piemontesen, dem Conte di Robilant.2 Und wenn mir Turin gefällt, ich weiß nicht wie es zugeht; man behandelt mich hier mit einer ausgesuchten Délicatesse. Unter diesen Umständen hat sich mein Befinden geradezu wunderbar verbessert; ich gehe hier mit einem heiteren Stolze durch das Leben, daß Sie weder die Höhle, noch den Höhlenbär3 erkennen würden — Ich freue mich unter andern Glücksgütern auch eines klassischen Schneiders. Ach wenn man mich nur nicht "verdirbt"! Was für Briefe kommen jetzt aus aller Welt zu mir! Vorgestern ein Brief aus St. Petersburg, von einer charmanten und sehr gescheuten Russin. Mad. la princesse Anna Dmitriewna Tenischeff. Man sagt mir, daß die Feinschmecker der russischen Gesellschaft meine Bücher mögen, zum Beispiel Fürst Urussow. Leider sind einige verboten4 ... Heute kam ein Brief5 von einem Schweden A. Strindberg, einem wirklichen Genie, dessen Tragödie "Père," selbst die Nerven Zola's erschüttert haben soll.6 Der schwört ganz einfach auf mich und endet alle Briefe an alle Welt: "Lisez Nietzsche! c'est mon Carthago est delenda!"7 Ich denke, Sie haben dasselbe sublime Wetter, das wir seit September hier haben? Es scheint mir, daß ich in einem unendlichen Claude Lorr[a]in von Farben lebe.8 Auch habe ich in meinem ganzen Leben zusammengenommen nicht so viel geschaffen als hier in den letzten 20 Tagen — wer weiß! lauter Dinge ersten Ranges ... Und ohne einen Schatten von Ermüdung, vielmehr bei vollkommener Heiterkeit und guter Küche Auch sind wir hier musikalisch sehr raffinirt. Im letzten Concert lauter feine Sachen, zum Beispiel: Patrie! von Bizet,9 dann Sakuntala, Ouvertüre von Goldmark.10 "Cyprisches Lied" für Orchester von R. de Vilbac11 und etwas vom Allerschönsten und Rührendsten, das ich überhaupt gehört, so daß ich zehn Minuten ohne jeden Erfolg gegen die Thränen kämpfte — von wem? von einem Turiner Musiker, der 1872 starb. Rossaro12 ... Sollten die allerbesten Dinge unbekannt bleiben? die allerbesten Menschen eingerechnet! Gehört es zum Wesen des Vollkommenen nicht "berühmt" zu werden? — Ruhm — ich fürchte man muß ein wenig canaille sein, um berühmt zu werden.13 Sie würden mich, verehrteste Frau sehr verbinden, wenn Sie mir die genaue Adresse von Miß Helen Zimmern14 geben wollten. Mich Ihnen Allen auf das Herzlichste empfehlend und Ihrer ausgezeichneten Freundin,15 der ich meine besten Wünsche zu Füßen lege, einen Winter wünschend wie wir ihn haben. In freundschaftlicher Verehrung Nietzsche, Unthier ... 1. Nietzsche met her while staying in Sils-Maria.
Turin, 8. Dezember 1888: Sehr lieber und werther Herr, ist ein Brief von mir verloren gegangen? Ich habe sofort nach der zweiten Lektüre Ihnen geschrieben, tief ergriffen von diesem Meisterstück harter Psychologie; ich habe insgleichen Ihnen die Überzeugung ausgedrückt, daß Ihr Werk prädestinirt ist, jetzt in Paris aufgeführt zu werden, im théatre libre des Ms. Antoine, — Sie sollten das von Zola einfach fordern! —1 — Der hereditäre Verbrecher2 decadent, selbst Idiot — kein Zweifel! Aber die Geschichte der Verbrecher-Familien, für die der Engländer Galton3 ("the hereditary genius") das größte Material gesammelt hat, führt immer auf einen zu starken Menschen für ein gewisses sociales niveau zurück. Der letzte große Pariser Criminalfall Prado4 gab den klassischen Typus: Prado war seinen Richtern, seinen Advokaten selbst durch Selbstbeherrschung, esprit und Übermuth überlegen; trotzdem hatte ihn der Druck der Anklage physiologisch schon so heruntergebracht, daß einige Zeugen ihn erst nach alten Porträts wiedererkannten. — Jetzt aber fünf Worte unter uns, sehr unter uns! Als gestern mich Ihr Brief erreichte — der erste Brief in meinem Leben, der mich erreicht hat — war ich gerade mit der letzten Manuscript-Revision von "Ecce Homo" fertig geworden. Da es in meinem Leben keinen Zufall mehr giebt, so sind Sie folglich auch kein Zufall. Warum schreiben Sie Briefe, die in einem solchen Augenblick eintreffen! ... Ecce Homo soll in der That deutsch, französisch und englisch zugleich erscheinen. Ich habe gestern das Manuscript noch an meinen Drucker geschickt; sobald ein Bogen fertig wird, muß er in die Hände der Herrn Übersetzer. Wer sind diesen Übersetzer? Aufrichtig, ich wußte nicht, daß Sie selber für das ausgezeichnete Französisch Ihres Père verantwortlich sind; ich glaubte an eine meisterhafte Übersetzung. Für den Fall, daß Sie selbst die französische Übersetzung in die Hand nehmen wollten, wüßte ich mich nicht glücklich genug zu schätzen über dies Wunder eines sinnreichen Zufalls.5 Denn, unter uns, meinen "Ecce homo" zu übersetzen, bedarf es eines Dichters ersten Rangs; es ist im Ausdruck, im raffinement des Gefühls, tausend Meilen jenseits aller bloßen "Übersetzer." Zuletzt ist es kein dickes Buch; ich nehme an, es wird in der franz. Ausgabe (vielleicht bei Lemerre, dem Verleger Paul Bourgets?6 —) gerade einen solchen Band für 3 frs. 50 machen. Da es vollkommen unerhörte Dinge sagt und mitunter, in aller Unschuld, die Sprache eines Weltregierenden redet, so übertreffen wir durch Zahl der Auflagen selbst Nana7 ... Andrerseits ist es antideutsch bis zur Vernichtung; die Partei der französischen Cultur wird durch die ganze Geschichte hindurch festgehalten (— ich behandele die deutschen Philosophen allesammt als "unbewußte" Falschmünzer,8 ich nenne den jungen Kaiser einen scharlachnen Mukker9 ...) Auch ist das Buch nicht langweilig, — ich habe es mitunter selbst im Stil "Prado" geschrieben.. Um mich gegen deutsche Brutalitäten ("Confiscation" —) sicher zu stellen, werde ich die ersten Exemplare, vor der Publikation, dem Fürsten Bismarck und dem jungen Kaiser mit einer brieflichen Kriegserklärung übersenden: darauf dürfen Militärs nicht mit Polizei-Maßregeln antworten. — Ich bin ein Psychologe ... Erwägen Sie, verehrter Herr! Es ist eine Sache allerersten Ranges. Denn ich bin stark genug dazu, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu zerbrechen. — Bliebe die Frage der englischen Übersetzung.10 Wüßten Sie einen Vorschlag dafür? — Ein antideutsches Buch in England ... Sehr ergeben 1. For Nietzsche's initial contact, cf. Turin, 11-27-1888: Letter to August Strindberg in Holte. Turin, um den 8. Dezember 1888: Verehrte Frau,2 In diesem Augenblick, wo eine ungeheure Aufgabe mich gleichsam heraustreibt aus menschl 1. English translation: Dear Madam, At this moment, when an immense task drives me away, as it were, from hum[an] relationships and, with every voice, my loneliness falls in with me, such meaningful words from so far away are a great relief, I thank you most gratefully for them. In response, I have allowed myself here to put a small, but substantively rich work, on the road to St. Petersburg: it is called Twilight of the Idols, or How to Philosophize [with] a Hammer. Hopefully it will not experience any adversity — at the border ...
Turin, 8. Dezember 1888: Verehrter Herr das Buch,2 das in Ihre Hände zu legen ich mir den Muth nehme, ist vielleicht das radikalste Buch, das bisher geschrieben wurde — und in Hinsicht auf das, was es vorbereitet, beinahe ein Stück Schicksal. Es wäre mir von unschätzbarem Werthe, wenn dasselbe französisch gelesen werden könnte: ich habe meine Leser jetzt in aller Welt, nebenbei auch in Rußland,3 ich bin unglücklich, deutsch zu schreiben, obgleich Ein Wink darüber, an wen ich vielleicht Exemplare zu senden hätte?… Eine vollkommene und sogar meisterhafte Kenntniß des Deutschen ist freilich die Voraussetzung, um das Buch zu übersetzen. Mit dem Ausdruck meiner alten Verehrung Menthon lac d’Annecy Haute Savoie 1. Hippolyte Taine (1818-1897): French historian and critic. See the entry for Taine in Nietzsche's Library.
Turin, 8 Dezember 1888: Verehrtes Fr[äulein] eine Sache aller ersten Rangs! ich denke, ich habe nicht nöthig, Sie erst um jede Diskretion zu bitten. Mein Leben kommt jetzt zu einem lang vorbereiteten ungeheuren Eklat: das, was ich in den nächsten zwei Jahren thue, ist der Art, unsere ganze bestehende Ordnung, "Reich" "Triple allianz" und wie all diesen Herrlichkeiten heißen über den Haufen zu werfen.2 Es handelt sich um ein Attentat auf das Christenthum, das vollkommen wie Dynamit3 auf Alles wirkt, das im Geringsten mit ihm verwachsen ist. Wir werden die Zeitrechnung verändern,4 ich schwöre es Ihnen zu. Es hat nie ein M[ensch] mehr Recht zur Vernichtung gehabt als ich! Es sind zwei Schläge, aber mit Zwischenraum von 2 Jahren, der erste heißt Ecce Homo und soll sobald als möglich erscheinen. Deutsch, englisch französisch. Der zweite heißt der Antichrist. Umwerthung aller Werthe. Beide sind vollkommen druckfertig: ich gebe soeben das Ms von Ecce Homo in die Druckerei. — Für die französische Übersetzung des Ecce Homo werde ich einen Schweden,5 ein wahres Genie haben: ich lege seinen Brief6 bei, aus dem Sie zum Mindesten entnehmen werden, was er von mir denkt. Für die englische Übersetzung — was denken Sie, verehrtes Fräulein? Sind Sie bei Kräften und gutem Muth, um so etwas auf sich nehmen zu können? Es ist kein dickes Buch, eine Sache von c[irca] 10 Bogen kleiner Seiten. Aber es muß eine ausgezeichnete sorgfältige und delikate Arbeit sein: denn in sprachlichen Dingen giebt es gar (kein) größeres Meisterstück als dieses Ecce homo. — Ein Attentat auf [das] Chr[istenthum] wird in England ein ungeheures Aufsehen machen: ich habe keine Zahlen im Kopfe für die Ziffer der Auflagen. Dazu kommt, daß es auch ein vollkommen vernichtendes Attentat auf die Deutschen ist — durch die Geschichte hindurch als die eigentlich schädliche, verlogene, unheilvolle Rasse… Ein wie mir scheint für Engländer vielleicht nicht unpopulärer Gesichtspunkt… Ich hebe auf den deutschen Charakter, nicht nur auf den deutschen Geist [hin] hervor, daß kein für Engländer verletzendes Wort darin vorkommt. Das Buch schlägt das Christenthum todt, und außerdem auch noch Bismarck7… Für den Fall, daß Sie mir Ihre eigene Hilfe nicht versprechen können, werden Sie vielleicht Schritte und Wege wissen, wie mir hier geholfen werden kann. 1. Helen Zimmern (1846-1934): English writer, and translator. They first met in Bayreuth in 1876, and became better acquainted in Sils-Maria. Nietzsche wanted Zimmern to translate Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols), and Ecce Homo (Ecce Homo). Although that never happened, Zimmern would go on to translate Jenseits von Gut und Böse (Beyond Good and Evil) for Oscar Levy's edition of Nietzsche. See her comments in Anon., "Nietzsche Erinnerungen." In: Frankfurter Generalanzeiger. Nov. 16, 1926. Reprinted as Anon., "Memories of Nietzsche." In: The Living Age, 331 (Nov. 1926), 272.
2. Germany's alliance with Austria-Hungary and Italy against England, France and Russia, which began in 1882. Cf. Nietzsche contra Wagner, Vorwort (Nietzsche contra Wagner, Foreword): "Triple alliance: mit dem 'Reich' macht ein intelligentes Volk immer nur eine mésalliance ..." (Triple alliance: with the "Reich" an intelligent people can only enter a mésalliance ...) 5. Nietzsche wanted August Strindberg to translate it. 6. Nietzsche was going to enclose the Holte, 12-04-1888: Letter from August Strindberg to Nietzsche in Turin. 7. Otto von Bismarck (1815-1898): Chancellor of Germany.
Turin, 9. December 1888: Lieber Freund, ich war eben im Begriff, Ihnen zu schreiben, da tritt Ihr Brief festlich zur Thür hinein, leider nicht in Begleitung des "Kunstwart." Doch wird es sich nur um Stunden handeln.1 — Ihre herrlichen Neuigkeiten in puncto "Provence"2 erquicken mich wie wenige Dinge mich erquicken könnten; denn da es mir gut geht, ist es eigentlich billig, daß es meinen "Nächsten" noch besser geht. Der Erste Schritt, hier wie überall, ist der schwerste — und über den helfen nur die Weiblein3 hinweg ... Auch ich habe Gutes zu melden. Das "Ecce homo" ist vorgestern an C. G. N[aumann]4 abgegangen, nachdem ich es, zur letzten Gewissens-Beruhigung, noch einmal vom ersten bis zum letzten Wort auf die Goldwage gelegt habe. Es geht dermaßen über den Begriff "Litteratur" hinaus, daß eigentlich selbst in der Natur das Gleichniß fehlt: es sprengt, wörtlich, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke — höchster Superlativ von Dynamit5 ... Für die französische Übersetzung werde ich wahrscheinlich das schwedische Genie A. Strindberg6 haben, der alle seine Werke französisch schreibt — und meisterhaft! — Er hat mir vorgestern seinen ersten Brief7 geschrieben — es war der erste Brief mit einem welthistorischen Accent, der mich erreichte. Er hat den Begriff davon, daß Zarathustra ein non plus ultra ist.8 Zugleich traf noch ein Brief aus St. Petersburg ein, von einer der allerersten Frauen Rußlands, beinahe eine Liebeserklärung, jedenfalls ein curioses Stück Brief: Madame la Princesse Anna Dmitriewna Ténicheff.9 Auch der intelligenteste Kopf der Petersburger Gesellschaft, der alte Fürst Urussow10 soll sich stark für mich interessiren. Georg Brandes hält diesen Winter wieder Vorlesungen in diesen Kreisen und wird ihnen Wunderdinge berichten. Ich sagte wohl, daß Strindberg und Brandes befreundet sind, daß Beide in Kopenhagen leben? — Strindberg hält mich übrigens für den größten Psychologen des Weibes ... Ecco, Malvida!!!11 — — Gestern habe ich die Götzen-Dämmerung an Ms. Taine12 geschickt mit einem Brief, worin ich ihn bitte, für eine französische Übersetzung des Werks sich zu interessiren. Auch für die englische Übersetzung habe ich einen Gedanken: Miss Helen Zimmern,13 die jetzt in Genf, im nächsten Verkehr mit meinen Freundinnen Fynn14 und Mansouroff15 lebt. Sie kennt auch Georg Brandes — sie hat Schopenhauern den Engländern16 entdeckt, warum nicht erst recht dessen Antipoden? ... Mit E. W. Fritzsch bin ich noch nicht weiter; doch hoffe ich, mit einiger Geduld, daß der Preis noch ein Paar Tausend Mark heruntergeht. Wenn ich meine ganze Litteratur für 8000 Mark zurückerwerbe: so habe ich das Geschäft gemacht.17 — Naumann18 beräth mich in dieser Sache. Machen Sie doch meinem alten und sehr komischen Freund Professor Paul Deussen möglichst schnell einen Besuch, Berlin W. Kurfürstendamm 142. Sie können ihm einmal gründlich sagen, was ich bin und was ich kann. Er ist mir übrigens sehr zugethan und auf jene Weise, die auf Erden die seltenste ist: er hat mir vorigen Sommer, zum Zweck meiner Druckkosten, 2000 Mark zugestellt19 (— zu gleichem Zweck, hören Sie! Frl. Meta von Salis 1000 frcs.20 —) Unter uns, ich beschwöre Sie! Jetzt eine ernste Sache. Lieber Freund, ich will alle Exemplare des vierten Zarathustra wieder zurückhaben, um dies ineditum gegen alle Zufälle von Leben und Tod sicher zu stellen (— ich las es dieser Tage und bin fast umgekommen vor Bewegung).21 Wenn ich es nach ein Paar Jahrzehnten welthistorischer Krisen — Kriege! — herausgeben werde, so wird es die rechte Zeit sein. Strengen Sie, bitte, Ihr Gedächtniß an, wer Exemplare hat. Meine Erinnerung giebt: Lanzky,22 Widemann, Fuchs, Brandes, wahrscheinlich Overbeck. Haben Sie die Adresse von Widemann? — Wie viel Exemplare waren es? wie viel haben wir noch? — Ein paar mögen in Naumburg sein. Wetter, nach wie vor, unvergleichlich. Drei Kasten Bücher aus Nizza eingetroffen. — Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Litteratur, der ich jetzt zum ersten Male mich gewachsen fühle. Verstehen Sie das? Ich habe Alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt, — im Gegentheil! ... Zum Beispiel die diversen Vorreden, das fünfte Buch "gaya scienza" — Teufel, was steckt da drin! — Über die dritte und vierte Unzeitgemäße werden Sie in Ecce homo eine Entdeckung23 lesen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehn — mir standen sie auch zu Berge. Beide reden nur von mir, anticipando ... Weder Wagner, noch Schopenhauer kamen psychologisch drin vor ... Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden. — Zeichen und Wunder! Es grüßt Sie der — Menschliches, Allzumenschliches hat mir im höchsten Grade imponirt: es hat etwas von der Ruhe eines grand seigneur. — Wissen Sie bereits, daß ich für meine internationale Bewegung das ganze jüdische Großkapital nöthig habe? ... 1. Heinrich Köselitz's anonymous review of Der Fall Wagner (The Case of Wagner). See A[nonymous]., "Nietzsche-Wagner." In: Der Kunstwart. 2. Jahrg. 4. Stück. November 1888, 52-56.
Torino, 11. Dezember 1888: Lieber Freund, inzwischen steht und geht Alles wunderbar; ich habe nie annähernd eine solche Zeit erlebt, wie von Anfang September bis heute. Die unerhörtesten Aufgaben leicht wie ein Spiel; die Gesundheit, dem Wetter gleich, täglich mit unbändiger Helle und Festigkeit heraufkommend. Ich mag nicht erzählen, was Alles fertig wurde: Alles ist fertig. Die nächsten Jahre steht die Welt auf dem Kopf: nach dem der alte Gott abgedankt ist, werde ich von nun an die Welt regieren. Mein Verleger1 hat, wie ich nicht zweifle, Ihnen sowohl den Fall als, zuallerletzt, die Götzen-Dämmerung übersandt. Hätten Sie nicht eine kleine kriegerische Laune? Es wäre mir äußerst erwünscht, wenn jetzt ein — der — geistvoller Musiker öffentlich Partei für mich als Antiwagner nehme und den Bayreuthern den Handschuh hinwürfe? Eine kleine Broschüre, in der über mich lauter Neues und Entscheidendes gesagt würde, mit einer Nutzanwendung im Einzelfall, Musik, was denken Sie dazu? Nichts Langwieriges, etwas Schlagendes, Schlagfertiges ... Der Augenblick ist günstig.2 Man kann noch Wahrheiten über mich sagen, die zwei Jahre später beinahe niaiseries3 sein dürften. — Und was macht Danzig — oder vielmehr Nicht-Danzig? ... Erzählen Sie mir wieder von sich selbst, lieber Freund, — ich habe Zeit, ich habe Ohren ... Es grüßt Sie auf das 1. Constantin Georg Naumann (1842-1911): owner of the German printing and publishing firm C. G. Naumann in Leipzig.
Turin, 11. Dezember 1888: Meine alte Mutter, wundere Dich nicht, wenn ich jetzt so wenig schreibe. Ich habe nur zu viel zu schreiben, besonders auch wichtige Briefe.1 Es geht mir übrigens, nach wie vor, ausgezeichnet, kein schlechter Tag bisher. Das Wetter immer noch herrlich; etwas frisch, aber nicht anders, als ich's vom Oberengadin her gewöhnt bin. Der Ofen2 ist noch nicht da; die Sache ist vollkommen aufgeklärt — es sind Fehler bei der Untersuchung des Prof. Koch gemacht worden. Die Öfen haben sich seit 8 Jahren in allen Ländern bewährt, — ich habe ein paar Bogen voll der glänzendsten Zeugnisse von Fürsten, Ministern, Professoren und jeder Art Stand. — Von Nizza sind die 3 Bücherkisten eingetroffen. — Ich bin jetzt in jeder Hinsicht hier gut aufgehoben; große Reinlichkeit; ausgezeichnete Nahrung; mächtiges Bett, worin die Italiäner ihren Luxus haben; auch habe ich noch nie so gut geschlafen. Dein altes Geschöpf Torino, via Carlo Alberto 6, III: genaue Adresse! — 1. Cf. Turin, Draft of a letter to Kaiser Wilhem II; Draft of a letter to Otto von Bismarck.
Holte, 11. Dezember 1888: Cher Monsieur, Il m'a fait un vif plaisir d'avoir un mot approbatif de Votre main de maître sur ma tragédie2 mal comprise. Savez-Vous Monsieur qu'il m'a fallu donner deux éditions gratuitement à l'editeur afin de voir la pièce imprimée! En revanche une vieille dame est tombée raide morte pendant une représentation au théâtre, une autre est accouchée, et à la vue de la Camisole3 trois quarts du public se sont levés en masse pour sortir sous des hurlements foux! Et Vous voulez que je commande M. Zola de jouer ma pièce devant les parisiennes d'Henri Becque!4 Cela aboutirait à un accouchement général dans cette capitale des cocus. Et à Vos affaires maintenant! Je compose parfois directement en Français (voir les articles ci-joints avec leur style Boulevard, un peu pittoresque pourtant),5 parfois je traduis mes ouvrages. En tous les cas il me faut un reviseur du texte, natif de Paris. Trouver un traducteur Français qui ne dessale le style d'après les règles de l'Ecole Normale rhétorique, ne déflore la virginité de l'expression, est chose impossible. L'exécrable traduction des Mariés6 est exécuté d'un Français Suissse (Suisse Romand) à un prix de mille francs, subis sur l'ongle, et pour la revision on a demandé à Paris cinq cent francs. Alors Vous pouvez comprendre que la traduction de Votre ouvrage est une grosse question d'argent et vu qu je suis un pauvre diable, je ne pourrais Vous donner un rabais d'autant moins que je serais contraint de travailler en poëte et non seulement en manoeuvre! Si Vous ne reculez devant les dépenses considérables comptez donc sur moi et mon talent! Au cas contraire je serai à Votre disposition pour trouver la piste d'un traducteur Français aussi compétent que possible. Pour l'anglais, ma foi, je n'en sais rien lorsqu'il s'agit d'un pays "emprêtraillé" par l'arrivée des femmes ce qui équivaut à la décadence parfaite! La morale en Angleterre, Monsieur, Vous savez ce que cela veut dire! La Bibliothèque des jeunes filles, Currer Bell,7 Miss Brandon,8 et le reste! Qu'à cela ne tienne! en Français Vous pénétrez dans le monde des noires même et Vous pouvez Vous en ficher du matriarcat Anglais! Réfléchissez donc à mes projets et donnez-moi un mot sur l'affaire aussitôt que possible. En attendant agréez l'expression de mes sentiments les plus distingués August Strindberg 1. English translation: Dear sir, // It gave me great pleasure to get an approving word from your master's hand about my misunderstood tragedy. You know, sir, I had to give two editions for free to the publisher in order to see the play in print! In return, an old lady fell down dead during a performance at the theater, another gave birth, and at the sight of the straitjacket, three-quarters of the audience rose en masse, exiting with crazy howls. // And you want me to order M. Zola to put on my play before Henry Becque's Parisiennes! That would lead to general childbirth in that capital of cuckolds. // And now to your affairs! // Sometimes I write directly in French (see attached articles with their Boulevard style, a bit picturesque perhaps), sometimes I translate my works. In any case I need someone to revise the text, a native of Paris. // So you can understand that the translation of your book is a great question of money and given that I am a poor devil, I could not give you a discount especially since I would be forced to work as a poet and not just going through the motions! // If the considerable expense doesn't deter you, you may count on me and my talent! // Otherwise I will be at your disposal to track down a French translator as competent as possible. // As for English, well, I don't know, since it has become a country "clergy-ridden" by the arrival of women who amount to complete decadence! Morality in England, sir, you know what that means! The Library of young girls, Currer Bell, Miss Brandon, and the rest! Never mind that! In French you can penetrate the world of the blacks and you can even stick it to the English matriarchy! // So think about my plans and give me a word on the matter as soon as possible. // Meanwhile accept the expression of my most distinguished sentiments // August Strindberg. Paris, 14 décembre 1888: Monsieur, Vous m'avez fait beaucoup d'honneur en m'envoyant votre Gôtzen-Dàmmerung;2 j'y ai lu ces boutades, ces résumés humoristiques à la Carlyle,3 ces définitions spirituelles et à portée profonde que vous donnez des écrivains modernes. Mais vous avez raison de penser qu'un style allemand, si littéraire et si pittoresque, demande des lecteurs très versés dans la connaissance de l'allemand; je ne sais pas assez bien la langue pour sentir du premier coup toutes vos audaces et vos finesses; je n'ai guère lu en allemand que des philosophes ou des historiens. Puisque vous souhaitez un lecteur compétent, je crois pouvoir vous indiquer le nom de M. J. Bourdeau,4 rédacteur du Journal des Débats et de la Revue des Deux-Mondes; c'est un esprit très cultivé, très libre, au courant de toute la littérature contemporaine; il a voyagé en Allemagne, il en étudie soigneusement l'histoire et la littérature depuis 1815, et il a autant de goût que d'instruction. Mais je ne sais pas s'il est de loisir en ce moment. Il habite à Paris, rue Marignan, 18. Agréez, Monsieur, avec mes vifs remerciements, l'assurance de mes sentiments les plus distingués. H. Taine.5 1. English translation: Sir, // You have done me a great honor by sending me your Gotzen-Dämmerung; I read those witticisms in it, those humorous summaries of Carlyle, those spiritual definitions you attribute to modern writers that are, at bottom, within their grasp. But you're right to think that a German style, so literary and so picturesque, requires readers who are well versed in knowledge of German; I don't know the language well enough to sense from the start all your bold and finer points; I hardly read German philosophers and historians. Since you would like a competent reader, I think I can recommend to you the name of J. Bourdeau, editor of the Journal des Débats and the Revue des Deux-Mondes; he is a very cultured mind, very free, aware of all contemporary literature; he has traveled in Germany, carefully studied history and literature since 1815, and has as much taste as education. But I do not know if he has time now. He lives in Paris, rue Marignan, 18. // I remain, sir, with heartfelt thanks, yours truly // H. Taine.
Turin, 16. Dezember 1888: Lieber Freund, bedeutende Erweiterung des Begriffs "Operette." Spanische Operette. La gran via,1 zwei Mal gehört — Hauptzugstück von Madrid. Ist einfach nicht zu importiren: man muß dazu Spitzbube und verfluchter Kerl von Instinkt sein — und dabei feierlich ... Ein Terzett von drei feierlichen alten riesengroßen Canaillen2 ist das Stärkste, was ich gehört und gesehn habe — auch als Musik: genial, gar nicht zu rubriziren ... Ich nahm, da ich jetzt sehr gebildet in Rossini bin und bereits 8 Opern kenne, die von mir vorgezogene Cenerentola zum Vergleich — ist tausend Mal zu gutartig gegen diesen Spanier. Wissen Sie die Handlung schon kann nur ein vollendeter Spitzbube ausdenken — lauter Sachen, die wie Taschenspielerei wirken, so blitzartig kommt die canaille zum Vorschein. Vier oder fünf Stücke Musik, die man hören muß; sonst hat der Wiener Walzer in der Form größerer Ensembles das Übergewicht. — Offenbach's "schöne Helena"3 hinterdrein fiel einfach ab. Ich lief fort. — Dauer präcis 1 Stunde. — Heute Nachmittag werde ich ein Requiem von dem alten Neapolitaner Maestro Jommelli4 hören (starb ungefähr 1770): Accademia di canto corale.5 — Und nun die Hauptsache. Ich habe gestern ein Manuscript6 an C. G. Naumann7 geschickt, welches zunächst, also vor Ecce homo, absolvirt werden muß. Ich finde die Übersetzer für "Ecce" nicht: ich muß einige Monate den Druck noch hinausschieben. Zuletzt eilt es nicht. — Das Neue wird Ihnen Vergnügen machen: — auch kommen Sie vor8 — und wie! — Es heißt Nietzsche contra Wagner. Es ist wesentlich eine Antipoden-Charakteristik, wobei ich eine Reihe Stellen meiner älteren Schriften benutzt und dergestalt zum "Fall Wagner" das sehr ernste Gegenstück gegeben habe. Das hindert nicht, daß die Deutschen darin mit spanischer Bosheit behandelt werden — die Schrift (drei Bogen etwa) ist extrem antideutsch. Am Schluß erscheint Etwas, wovon selbst Freund Köselitz keine Ahnung hat: ein Lied (oder wie Sie's nennen wollen ... ) Zarathustra's, mit dem Titel Von der Armut des Reichsten10 — wissen Sie, eine kleine siebente Seligkeit und noch ein Achtel dazu ... Musik ... — Ich sehe jetzt mitunter nicht ein, wozu ich die tragische Katastrophe meines Lebens, die mit "Ecce" beginnt, zu sehr beschleunigen sollte. Dies Neue wird vielleicht, auf Grund der Neugierde, welche der "Fall Wagner" hervorgerufen hat, stark gelesen werden — und da ich jetzt keinen Satz mehr schreibe, worin ich nicht ganz zum Vorschein käme, so ist zuletzt schon diesen Psychologen-Antithese der Weg, um mich zu verstehn — Ia gran via ... Avenarius, dem ich mit einem boshaften Briefchen auf die Finger gefühlt habe, hat auf das Allerartigste und Herzlichste sich entschuldigt — ich glaube, diese Geschichte habe ich sehr gut gemacht. (Verlangen Sie noch einige Exemplare von Avenarius!)11 — Sehen Sie, lieber Freund! Piemonteser Küche! Ah, meine trattoria! Ich habe keinen Begriff gehabt, was in der Kunst der Zubereitung die Italiäner überlegen sind! — und der Qualität! Nicht umsonst mitten innerhalb der allerberühmtesten Viehzucht! — Und, nach wie vor, obwohl ich essey wie ein Prinz, auch viel, zahle ich für jede Mahlzeit (10 ct. Trinkgeld mit) 1 fr. 25. — Für Wohnung, sehr gute Bedienung eingerechnet, erste Lage der Stadt, Sonnenzimmer comme il faut, 25 frs den Monat. Abends sitze ich in einem prachtvollen hohen Raum: ein kleines sehr anständiges Concert (Clavier 4 Saiteninstr In Freundschaft, Etwas Letztes, nicht Letztes: Alle, die jetzt mit mir zu thun haben, bis zur Hökerin herab, die mir herrliche Trauben aussucht, sind lauter vollkommen gerathene Menschen, sehr artig, heiter, ein wenig fett, — selbst die Kellner. — Eben starb der Prinz von Carignano:14 wir werden ein großes Begräbniß haben. — Eben trifft ein herrlicher Brief Taine's15 ein! — 1. La Gran Vía (1886), a zarzuela by the Spanish composer Federico Cheueca (1846-1908).
Turin, etwa 17. Dezember 1888: Verehrter Herr Ein unschätzbares Billet3 von Ms. Taine, das ich beilege, giebt mir den Muth, Ihren Rath in einer mir sehr ernsten Sache auszubitten. Ich wünsche, in Frankreich gelesen zu werden; mehr noch, ich habe es nöthig. So wie ich bin, der unabhängigste und, vielleicht der stärkste Geist, der heute lebt, verurtheilt zu einer großen Aufgabe, kann ich mich unmöglich durch die absurden Grenzen, welche eine fluchwürdige und von den Lügenhaften vertretene, dynastische Interessen-Politik4 zwischen die Völker gezogen hat, abhalten lassen nach den Wenigen zu suchen, die überhaupt für mich Ohren haben. Und ich bekenne es gern: ich suche sie vor Allem in Frankreich. Es ist mir nichts fremd, was sich in der geistigen Welt Frankreichs begiebt: man sagt mir, ich schreibe im Grunde französisch, obschon ich vielleicht mit der deutschen Sprache besonders in meinem Zarathustra, etwas in Deutschland selbst Unerreichtes erreicht habe. Ich wage zu sagen, daß meine Vorfahren, vierte Generation, polnische Edelleute waren;5 daß meine Urgroßmutter und Großmutter väterlicher Seits in die Goethische Zeit Weimars6 gehören: Gründe genug, um in einem kaum denkbaren Grade heute der einsamste Deutsche zu sein. Es hat mich nie ein Wort erreicht — und, aufrichtig, ich habe nie desh[alb] geklagt… Jetzt habe ich Leser überall, in Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen — lauter ausgesuchte Intelligenzen, die mir Ehre machen — sie fehlen mir in Deutschland… Daß selbst in D[eutschland] ein Gefühl dafür ist, wie wenig ich dahin gehöre, dafür ist ein sehr ernster Aufsatz Zeugniß, im Kunstwart7 erschienen, den beizulegen ich mir erlaube. Der Verfasser ist ein Musiker ersten Ranges, der Einzige, wenn ich ein Urtheil über diesen Dinge habe — folglich unbekannt… — Zum Glück habe ich, mit 24 Jahren als Universitätsprofessor nach Basel berufen,8 es nicht nöthig gehabt, fortwährend Krieg zu führen und mich in bloßen Streitereien zu verschwenden. In Basel fand ich den verehrungswürdigen Jakob Burckhardt, der mir von Anfang an tief geneigt war, — ich hatte in Richard Wagner und Frau, die damals in Tribschen bei Luzern lebten, eine Intimität, wie ich sie mir werthvoller nicht denken konnte. Im Grunde bin ich vielleicht ein alter Musikant.9 — Später hat mich Krankheit aus diesen letzten Beziehungen herausgelöst und mich in einen Zustand tiefster Selbstbesinnung gebracht, wie er vielleicht kaum je erreicht worden ist. Und da in meiner Natur selbst nichts Krankhaftes und Willkürliches ist, so habe ich diesen Einsamkeit kaum als Druck, sondern als eine unschätzbare Auszeichnung gleichsam als Reinlichkeit empfunden. Auch hat sich noch Niemand bei mir über düstere Miene beklagt, ich selbst nicht einmal: ich habe vielleicht schlimmere und fragwürdigere Welten des Gedankens kennen gelernt als irgend Jemand, aber nur weil es in meiner Natur liegt, das Abenteuer zu lieben. Ich rechne die Heiterkeit zu den Beweisen meiner Philosophie… Vielleicht beweise ich diesen Satz durch die zwei Bücher,10 die ich Ihnen hiermit vorlege Erwägen Sie, verehrter Herr, ob die Götzen-Dämmerung, ein sehr radikal gedachtes und in der Form gewagtes Buch, nicht übersetzt werden sollte. Ich bekenne ein Vergnügen ersten Rangs, mich selbst wie einen Band Pauls Bourget11 (— das ist ein tiefer und gleichwohl nicht pessimistischer Geist —) — es würde am schnellsten und gründlichsten in meine Gedanken einführen; ich glaube kaum, daß es möglich ist, mehr Substanz auf kleinerem Raum zu geben. — Von der Schrift über Wagner sagt man mir, sie sei so französisch gedacht, daß man sie nicht ins Deutsche übersetzen könnte. — Die Werke, die eine Entscheidung heraufführen, an der das brutale Rechen-Exempel der jetzigen Politik sich vielleicht als Rechenfehler erweisen könnte, sind vollkommen druckfertig: Jetzt wird erscheinen Ecce homo. Oder: wie man wird was man ist. Später Umwerthung aller Werthe.12 Aber auch diesen Werke müßten erst ins Französische und Englische übersetzt werden, da ich mein Schicksal [zu]letzt von keiner kaiserlichen Polizeimaßregel abhängig machen will… Dieser junge Kaiser13 hat nie von den Dingen gehört, wo für Unser einen das Hören erst anfängt: Otitis, beinahe schon Meta-Otitis… Ich habe die Ehre zu sein ein alter Leser des J[ournal] d[es] D[ebats]: die vollkommene Stumpfheit der jetzigen Deutschen für jede Art höheren Sinns kommt in ihrem Verhalten gegen mich seit 16 Jahren, wohlverstanden! zu einem geradezu erschreckenden Ausdruck. Ich fürchte, es giebt gar keine entscheidenderen, tieferen und, wenn man Ohren hat, aufregenderen Bücher als der Marteau des Idoles14 wäre: eine wirkliche Krisis kommt in ihm zum Ausdruck, aber kein D[eutscher] hat einen Begriff davon — auch bin ich das Gegentheil eines Fanatikers und Apostels und vertrage keine Weisheit außer mit sehr viel Bosheit und guter Laune gewürzt. Meine Bücher sind nicht einmal langweilig — und trotzdem hat noch kein Deutscher einen Begriff davon.. Meine Besorgniß ist, daß im Augenblick, wo man moralisch vor einer meiner Schriften steht, man sie verdirbt: deshalb ist es an der höchsten Zeit, daß ich noch einmal als Franzose zur Welt komme — denn die Aufgabe, um derentwillen ich lebe, ist — — —
— Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen jene Bücher vorzulegen: gesetzt, daß diesen französisch erscheinen, so bin ich vorgestellt, eingeführt in Frankreich, — der Rest folgt daraus. (— Der Rest heißt hier das tiefste Buch, das die Menschheit hat, mein Zarathustra. Aber mit dem kann man nicht anfangen.) Jenseits von Gut und Böse: auch bei d[iesem] Werk hat mir seiner Zeit Ms. Taine eine außerordentliche Theilnahme bezeugt.15 Die Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt, man könnte den Titel vereinfachen: Marteau des Idoles Ich weiß nur dies: in dem Augenblick, wo man mor[a]l[is]ch vor einem meiner Bücher steht, wird man sie verderben. Nun stehe ich gerade vor dem entscheidenden Schritt meines Lebens: die Werke, die im Grunde keine Bücher sind, [sondern] eine Art Schicksal darstellen werden, sind druckfertig, — es steht in meiner Hand, wie viele Monate oder Jahre sie noch zu warten haben. Es ist deshalb für mich eine Frage ersten Rangs, nicht auf den Zufall, auf die Brutalität eines Polizei-Verbots mit meiner Aufgabe angewiesen zu sein, — es ist die höchste Zeit, mich auch außerhalb D[eutsch land]s — — — 1. View image including names of people with whom Nietzsche was familiar. View image with complete list of names keyed to faces.
Turin, 17. Dezember 1888: Brief an Helen Zimmern.1 Verehrtes Fräulein Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, wenn Sie beifolgenden Aufsatz2 des Herrn Peter Gast unter dem Titel "Nietzsche contra Wagner" für eine der großen Review's übersetzen wollten. Ich habe jetzt absolut nöthig, in England bekannt zu werden, denn meine nächsten Schriften3 — sie sind vollkommen druckfertig — sollen zugleich englisch, französisch und deutsch erscheinen. Die Hornvieh-Rasse der Deutschen — Verzeihung für das starke Wort! — ist mir vollkommen fremd; man wird sich gegen mich mit Confiscationen und andren Polizei-Maßregeln wehren. Also habe ich für meine Aufgabe, die zu den allergrößten gehört, welche ein Mensch auf sich nehmen kann — ich will das Christenthum vernichten — Amerika, England und Frankreich nöthig — Preßfreiheit in jedem Sinn … Ich erinnere mich, in einer Nummer des Journal des Débats gelesen zu haben, daß eine englische Zeitschrift (Century Review oder ähnlich —) den Kampf gegen Wagner sehr energisch eröffnet hat.4 Wenn Sie Lust haben, so sende ich Ihnen meine Schrift.5 Sie ist über alle Maaßen boshaft und könnte eher schon von einem Pariser geschrieben sein. Jetzt eben erscheint von mir etwas extrem Radikales Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt.* Ich sende es Ihnen zu — unter Umständen führen Sie dies Stück in England ein. Es ist antideutsch und antichristlich par excellence — sollte es damit nicht stark auf Engländer wirken? Meine Argumente sind ganz andrer Art, als je angewendet worden sind, — ich bin gar kein Mensch, ich bin Dynamit.6 Hoffentlich trifft mein Brief Sie in muthiger und kriegsgewohnter Verfassung? — Sehr ergeben — Herr Peter Gast ist einer unserer ersten Musiker oder, wenn Sie mir glauben wollen, bei weitem der Erste — er kann das, was zu allen Zeiten die Seltensten können, das Vollkommne. Es ehrt mich, einen solchen "Jünger" zu haben. N — Ms. Taine hat mir über die Götzen-Dämmerung einen unschätzbaren Brief geschrieben,7 voller Bewunderung über "toutes mes audaces et finesses".8 Ich bin eben in Unterhandlung, auf M. Taines Rath, mit dem ausgezeichneten Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes Ms. Bourdeau,9 den er mir als einen der intelligentesten und einflußreichsten Franzosen empfohlen hat: derselbe soll die Schritte zur Übersetzung des Werks vorbereiten. * Man könnte den Titel vereinfachen: Götzen-Hammer 1. Helen Zimmern (1846-1934): English writer, and translator. They first met in Bayreuth in 1876, and became better acquainted in Sils-Maria. Nietzsche wanted Zimmern to translate Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols), and Ecce Homo (Ecce Homo). Although that never happened, Zimmern would go on to translate Jenseits von Gut und Böse (Beyond Good and Evil) for Oscar Levy's edition of Nietzsche. See the anonymous "Nietzsche Erinnerungen." In: Frankfurter Generalanzeiger. Nov. 16, 1926; "Memories of Nietzsche." In: The Living Age, 331 (Nov. 1926), 272 (reprinted above).
Turin, 18. Dezember 1888: Werther und sehr lieber Herr, inzwischen hat man mir aus Deutschland "den Vater"1 geschickt, zum Beweis dafür, daß ich gleichfalls meine Freunde für den Vater des Vaters interessire. — Das Théatre libre des Ms. Antoine2 ist ja dazu gemacht, um zu riskiren. Ihr Werk ist vollkommen unschuldig gegen das, was man schon in den letzten Monaten darauf riskirt hat. Es kam dahin, daß A[lbert] Wolf[f], im Leitartikel des Figaro, öffentlich, im Namen Frankreichs, erröthete.3 — Aber M. Antoine ist ein eminenter Schauspieler, der sofort die Rolle des capitains4 ("Rittmeisters") sich aneignen wird. Ich rathe nicht mehr, Zola hineinzumischen,5 sondern Exemplar und Brief direkt an Ms. Antoine, directeur du theatre libre, zu senden. Man spielt gerne Ausländer — Draußen bewegt sich, mit düsterem Pomp, ein großes Leichenbegängniß: il principe di Carignano, Vetter des Königs, Admiral der Flotte. Ganz Italien in Turin.6 — Ach, wie Sie mich über Ihre Schweden unterrichtet haben! Und neidisch gemacht haben! Sie unterschätzen Ihr Glück: "o fortunatos nimium, sua si bona norint"7 — nämlich, daß Sie kein Deutscher sind ... Es giebt gar keine andere Cultur, als die französische, es ist kein Einwand, sondern die Vernunft selber, daß man in die einzige Schule geht — sie ist nothwendig die rechte .. Wollen Sie den Beweis dafür? — Aber Sie sind der Beweis! — Ich sende, mit allerverbindlichstem Danke, die Hefte wieder zurück,8 in der Annahme, daß Sie dieselben nicht in mehreren Exemplaren besitzen. — Gleichzeitig mit Ihrem Brief kam ein Brief aus Paris an, von Ms. Taine,9 voll der höchsten Auszeichnungen für die Götzen-Dämmerung in Hinsicht auf audaces et finesses, und mit einer sehr ernsten Aufforderung, die ganze Frage meines Bekanntwerdens in Frankreich, eingerechnet die Mittel dazu, in die Hände seines Freundes, des Chef-Redakteurs des Journal des Débats und der Revue des deux mondes10 zu legen, dessen tiefe und freie Intelligenz, auch was Form, was Kenntniß des Deutschen und der deutschen Cultur betrifft, er mir nicht genug zu rühmen weiß. Zuletzt lese ich seit Jahren nur noch das Journal des débats. — Auf diesen Eröffnung meines Panama-Canals11 nach Frankreich hin habe ich die weitere Publikation von neuen Schriften (drei sind vollkommen druckfertig12 —) aufs Unbestimmte hinausgeschoben. Zunächst sollen die beiden capitalen Bücher Jenseits von Gut und Böse und die Götzen-Dämmerung übersetzt werden: damit bin ich in Frankreich vorgestellt. — Ihnen zugethan und voll guter Wünsche 1. August Strindberg, Der Vater. Trauerspiel in drei Aufzügen von August Strindberg. Aus dem Schwedischen übertragen von Ernst Brausewetter. Einzige autoristerte deutsche Ausgabe. Leipzig: Philipp Reclam, [n.d.].
Turin, 21. Dezember 1888: Meine alte Mutter, es giebt, wenn mich nicht Alles täuscht, in den nächsten Tagen Weihnachten: vielleicht kommt mein Brief noch zur rechten Zeit, vielleicht auch hat Herr Kürbitz1 einen Wink verstanden, den ich ihm vor einigen Tagen gegeben habe. Mit der Bitte, Dir Etwas auszudenken, was Dir Vergnügen macht und wobei Du gerne an Dein altes Geschöpf denkst und, im Übrigen, um Nachsicht bittend, daß es nicht mehr ist. — Wir haben auch hier ein wenig Winter, doch nicht so, daß ich hätte heizen müssen. Die Sonne und der helle Himmel werden nach ein paar Tagen Nebel immer wieder Herr. Es gab ein großes Leichenbegängniß, einer unsrer Prinzen, der Vetter des Königs; sehr verdient um Italien, auch um die Marine, denn er war der Admiral der Flotte.2 Ich bin in jedem Sinne froh, mit Nizza fertig zu sein, — man hat mir indessen 3 Bücherkisten hierher gesandt. Auch die einzige wohlthätige und liebenswürdige Gesellschaft, die ich dort hatte, die ausgezeichneten Köchlins,3 ebenso reiche als feine und an die besten Kreise gewöhnte Leute, fehlen zum ersten Male diesen Winter in Nizza. Es geht schlecht mit dem alten Köchlin, Madame Cécile hat mir ausführlich geschrieben:4 beständiges Fieber. Sie sind bei Genua, in Nervi. — Dagegen habe ich aus Genf gute und heitere Nachrichten von Madame Fynn5 und ihrer russischen Freundin.6 Das Allerbeste aber bekomme ich von meinem Freunde Köselitz zu hören, dessen ganze Existenz sich erstaunlich verändert hat. Nicht nur daß die ersten Künstler Berlins, Joachim, de Ahna sich auf das Tiefste für seine Werke interessiren, diesen anspruchsvollste und verwöhnteste Art Künstler, die Deutschland hat:7 Du würdest vor Allem verwundert sein, daß er in den reichsten und vornehmsten Cirkeln Berlins nur verkehrt und sich mit allzuviel Erfolg um ein schönes und erschrecklich reiches Mädchen bewirbt, obwohl er einen jungen Grafen Schlichen zum Rivalen hat. Ja die Herrn Musiker! Er hat schon den ganzen Sommer auf dem Schloß seiner Prinzessin, in Hinterpommern, ungeheure Wälder, zwischen lauter Junkern und Gardeoffizieren gelebt; aber sie will nichts als Musik von Köselitzen geigen und singen.8 — Vielleicht erlebt seine Oper ihre erste Aufführung in Berlin; Graf Hochberg steht den Kreisen nahe, die er frequentirt.9 — Im Grunde ist Dein altes Geschöpf jetzt ein ungeheuer berühmtes Thier: nicht gerade in Deutschland, denn die Deutschen sind zu dumm und zu gemein für die Höhe meines Geistes und haben sich immer an mir blamirt, aber sonst überall. Ich habe lauter ausgesuchte Naturen zu meinen Verehrern; lauter hochgestellte und einflußreiche Menschen, in St. Petersburg, in Paris, in Stockholm, in Wien, in New-York. Ach wenn Du wüßtest, mit welchen Worten mir die ersten Personnagen ihre Ergebenheit ausdrücken, die charmantesten Frauen, eine Madame la princesse Ténicheff,10 durchaus nicht ausgeschlossen. Ich habe wirkliche Genies11 unter meinen Verehrern, — es giebt heute keinen Namen, der mit so viel Auszeichnung und Ehrfurcht behandelt wird, als der meine. — Siehst Du, das ist das Kunststück: ohne Name, ohne Rang, ohne Reichthum werde ich hier wie ein kleiner Prinz behandelt, von Jedermann bis zu meiner Hökerin herab, die nicht eher Ruhe hat als bis sie das Süßeste aus allen ihren Trauben zusammengesucht hat (das Pfund jetzt 28 Pf.) Zum Glück bin ich jetzt Allem gewachsen, was meine Aufgabe von mir verlangt. Meine Gesundheit ist wirklich ausgezeichnet; die schwersten Aufgaben, zu denen noch nie ein Mensch stark genug war, fallen mir leicht. Turin ist wirklich meine Residenz; ah mit welcher Distinktion man mich hier behandelt! — Meine alte Mutter, empfange, zum Schluß des Jahres, meine herzlichsten Wünsche und wünsche mir selber ein Jahr, das den großen Dingen, die in ihm geschehn müssen, in jeder Hinsicht entspricht. Dein altes Geschöpf. 1. Ernst Julius Kürbitz (1845-?): Naumburg banker.
Turin, 22. Dezember 1888: Sehr geehrter Herr, soeben fiel mir ein, daß es in Ihrem und vielleicht auch in meinem Interesse wäre, wenn Sie den Aufsatz2 des Herrn Heinrich Köselitz separatim, als Broschüre von wenig Blättern herausgeben wollten. Es ist aller Anschein dafür da, daß er ungeheuer gelesen und gehört würde. Sie können nicht glauben, welche Zeichen von Huldigungen mir von überall jetzt zukommen: ein paar Monate später, mit dem Erscheinen von Ecce homo, von dem 2 Bogen gedruckt sind,3 rechne ich meine Anhänger nach Millionen. Ihr "Kunstwart" wird sich dabei nicht schlecht befinden, wenn er das erste Wort dieser Art gesagt hat. Der Antichrist.4 1. Ferdinand Avenarius (1856-1923), founding editor of Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. See the entry for Der Kunstwart in "Miscellaneous Titles: Catalogs / Periodicals / Series" in Nietzsche's Library.
Turin, 22. Dezember 1888: Lieber Freund, dies Papier habe ich entdeckt, das Erste, auf dem ich schreiben kann. Insgleichen Feder, diesen aber aus Deutschland: Sönnekken's Rundschrift-Feder. Insgleichen Tinte, diesen aber aus New-York, theuer, ausgezeichnet. — Ihre Nachrichten sind ausgezeichnet; der Fall Joachim1 ist ersten Ranges. Ohne Juden giebt es keine Unsterblichkeit, — sie sind nicht umsonst "ewig." — Auch Dr. Fuchs2 macht seine Sache vortrefflich; ich bekenne, daß, so lange es eine chance Hochberg3 giebt — es kann ja jeden Augenblick ein toller Wagnerianer an seine Stelle treten — ist die Chance im Auge zu behalten. — Von Herrn Wiedemann erbitten Sie sich, so rücksichtsvoll wie möglich, das Exemplar4 wieder aus: ich muß das Werk gegen alle Zufälle von Leben und Tod sicher stellen. — Sehr curios! Ich verstehe seit 4 Wochen meine eignen Schriften, — mehr noch, ich schätze sie. Allen Ernstes, ich habe nie gewußt, was sie bedeuten; ich würde lügen, wenn ich sagen wollte, den Zarathustra ausgenommen, daß sie mir imponirt hätten. Es ist die Mutter mit ihrem Kinde: sie liebt es vielleicht, aber in vollkommner Stupidität darüber, was das Kind ist. — Jetzt habe ich die absolute Überzeugung, daß Alles wohlgerathen ist, von Anfang an, — Alles Eins ist und Eins will. Ich las vorgestern die "Geburt": etwas Unbeschreibliches, tief, zart, glücklich ... Gehn Sie nicht zu Prof. Deussen:5 er ist zu stupid für uns, — zu gewöhnlich. — Herr Spitteler ist, seit Ihrem "Kunstwart,"6 zur Salzsäule erstarrt: er blickt auf seine Dummheit vom letzten Januar zurück ...7 Die Schrift N[ietzsche] contra W[agner] wollen wir nicht drucken.8 Das "Ecce" enthält alles Entscheidende auch über diesen Beziehung. Die Partie, welche, unter Anderm, auch den maestro "Pietro Gasti" bedenkt, ist bereits in "Ecce" eingetragen.9 Vielleicht nehme ich auch das Lied Zarathustras — es heißt: "von der Armut des Reichsten"10 — noch hinein. Als Zwischenspiel zwischen 2 Hauptabschnitten. Unbeschreiblich delikater Brief11 von Ms. Taine aus Paris (— er bekommt auch Peter Gast zu lesen!12); er beklagt, für toutes mes audaces und finesses nicht genug deutsch zu verstehn — das heißt nicht gleich beim ersten Blick sie zu verstehn — und empfiehlt mir, als einen competenten Leser, der aufs Tiefste auch Deutschland und deutsche Litteratur studirt habe, Niemand Geringeres als den Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes, Ms. Bourdeau, eine der ersten und einflußreichsten Personnagen Frankreichs.13 Der soll mein Bekanntwerden in Frankreich in die Hand nehmen, die Frage der Übersetzung: dazu empfiehlt ihn Ms. Taine. — Damit ist der große Panama-Canal14 nach Frankreich hin eröffnet. Meine herzlichsten Grüße an Ihre verehrten Angehörigen! Erster Schnee, hübsch!!! Ihr Freund Nietzsche. 1. Joseph Joachim (1831-1907): Hungarian violinist, whom Heinrich Köselitz became acquainted with in Berlin.
Turin, 22. Dezember 1888: Lieber Freund, ich danke Dir herzlich für Deine Worte, obgleich Du, gemäß dem tiefen Vertrauen, das wir zu einander haben, vollkommen das Recht hättest, jahrelang zu schweigen. Auch habe ich eben einen Gruß an Andreas Heusler1 abgeschickt: ein sehr angenehmer Zufall wollte, daß er mir diesen Nacht einfiel und mit besonders guten Empfindungen. Vergebung! aber fast jeder Brief, den ich jetzt schreibe, beginnt mit dem Satz, daß es keinen Zufall mehr in meinem Leben giebt. — C. G. Naumann2 hat mir noch nicht mitgetheilt, ob und wann die Versendung der Götzen-Dämmerung beginnen soll. Ich glaube, er hat jetzt sehr viel mit mir zu thun; vom Ecce homo sind 2 Druckbogen angelangt. — Dies Mal habe ich Basel so bedacht,3 daß man schon den Versuch machen muß, mich kennen zu lernen. Und man kommt jetzt wenigstens darüber überein, daß ich nicht stupid bin. Abgesehn von Deinem Exemplar, sind Exemplare für die Bibliothek, für die Lesegesellschaft, für die Basler Nachrichten, für Hr. Spitteler bestimmt. Jakob Burckhardt, der zweimal mit außerordentlichen Ehren vorkommt,4 hat das allererste Exemplar bekommen, das Naumann für mich schickte. — Was ich wünschte, ist, daß ein capitaler Aufsatz über mich von Köselitz,5 ein Meisterstück von Präcision und Tiefe, im Kunstwart erschienen, dessen Redakteur mich auch als "Hochzuverehrender!"6 anredet, etwa in den Basler Nachrichten abgedruckt würde. Es ist durchaus nichts Provocirendes darin; "daß das Verhalten der Deutschen gegen Nietzsche ein neues Blatt zur Geschichte ihrer zunehmenden geistigen Inferiorität liefert," wird hoffentlich die Basler nicht beleidigen. — Und nun der "Fall Fritzsch!" — Dessentwegen muß ich Dir schreiben. Mein Verleger! Der Verleger des Zarathustra! — Ich habe auf der Stelle an ihn geschrieben: "Wie viel verlangen Sie für meine gesammte Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche." Antwort: c. 11 000 Mark.7 — Es ist eine Anstandssache für mich, ich werde mich hüten, das Wort "Ehre" solchem Gesindel gegenüber zu mißbrauchen. — C. G. Naumann, in dieser Sache mir zurathend, empfiehlt8 noch zu warten und eine Reduktion des Preises zu erzielen. Freilich dürfte die Art, wie jetzt von mir gesprochen wird, ihn stutzig machen, so daß ich nicht an Reduktion glaube. Im Grunde ist die Sache ein Glücksfall ersten Rangs: ich bekomme den Alleinbesitz meiner Litteratur in die Hand im Augenblick, wo sie verkäuflich wird. Denn auch die Werke bei C. G. Naumann gehören allein mir. Problem: wie schaffe ich jetzt 11 000 Mark?9 Wie viel würden meine Basler Ersparnisse zusammen ausmachen? (— ich bekenne, sie waren nicht dafür, sondern für die großen Druckkosten der nächsten Jahre bestimmt. Zuletzt könnte ich zum ersten Male in meinem Leben Geld dafür borgen, da die "Zahlungsfähigkeit" bei mir in den nächsten Jahren gar nicht unbeträchtlich werden dürfte. Mit einem guten Pariser Verleger, Lemerre10 zB., will ich für Ecce homo, mit Vermittlung dieses allereinflußreichsten Chefredakteurs11 der beiden dominirenden Blätter Frankreichs, Bedingungen ausmachen, wie die ersten Pariser Romanciers sie haben — und ich werde an Zahl der Auflagen selbst Zola's Nana12 überwinden ... Was räthst Du? — Dir und Deiner lieben Frau ein fröhliches Weihnachten wünschend Dein Freund N. Bemerke, ich hatte Taine ganz direkt um die Mittel ersucht, in Frankreich gelesen zu werden, übersetzt zu werden: zu diesem Zweck nennt er mir Ms. B[ourdeau], aber so delikat, daß es anders klingt.13 1. Andreas Heusler-Sarasin (1834-1921): lawyer, judge, legal historian, law professor and Nietzsche's colleague at Basel. Cf. his son's article, Andreas Heusler, "Zwei ungedruckte Schriftstücke Friedrich Nietzsches." In: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur. II. Jhrg. Heft 1. Zürich. April 1922. 39-42.
Turin, Weihnachten. 1888: Lieber Freund wir müssen die Sache mit Fritzsch1 schnell machen, denn in zwei Monaten bin ich der erste Name auf der Erde. — Ich wage noch zu erzählen, daß es in Paraguay so schlimm als möglich steht. Die hinüber gelockten Deutschen sind in Empörung, verlangen ihr Geld zurück — man hat keins. Es sind schon Brutalitäten vorgekommen; ich fürchte das Äußerste.2 — Dies hindert meine Schwester nicht, mir zum 15. Oktober mit äußerstem Hohne zu schreiben,3 ich wolle wohl auch anfangen "berühmt" zu werden. Das sei freilich eine süße Sache! und was für Gesindel ich mir ausgesucht hätte, Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie Georg Brandes ... Dabei nennt sie mich "Herzensfritz"4 ... Dies dauert nun 7 Jahre!5 — — Meine Mutter hat keine Ahnung bisher davon — das ist mein Meisterstück. Sie schickte mir zu Weihnachten ein Spiel: Fritz und Lieschen ...6 Was hier in Turin merkwürdig ist, das ist eine vollkommene Fascination, die ich ausübe, obwohl ich der anspruchsloseste Mensch bin und Nichts verlange. Aber wenn ich in ein großes Geschäft komme, so verändert sich jedes Gesicht; die Frauen auf der Straße blicken mich an, — meine alte Hökerin legt für mich das Süßeste von Trauben zurück und hat den Preis ermäßigt! ... Er ist an sich lächerlich ... Ich esse in einer der ersten Trattorien, mit 2 ungeheuren Etagen von Sälen und Zimmern. Ich zahle für jede Mahlzeit 1 fr. 25 mit Trinkgeld — und ich bekomme das Ausgesuchteste in der ausgesuchtesten Zubereitung* —, ich habe nie einen Begriff davon gehabt, weder was Fleisch, noch was Gemüse, noch was alle diesen eigentlichen ita[lienischen] Speisen sein können ... Heute z. B. die delikatesten ossobuchi, Gott weiß, wie man deutsch sagt, das Fleisch an den Knochen, wo das herrliche Mark ist! Dazu broccoli auf eine unglaubliche Weise zubereitet, zuerst die allerzartesten Maccaroni. — Meine Kellner glänzen vor Feinheit und Entgegenkommen: das Beste ist, ich mache Niemanden dümmer.. Da in meinem Leben noch Alles möglich ist, so notire Noch Niemand hat mich für einen Deutschen gehalten ... Ich lese das Journal des Débats, man hat es mir instinktiv beim ersten Betreten des ersten Cafés gebracht. — Es giebt auch keine Zufälle mehr: wenn ich an Jemand denke, tritt ein Brief von ihm höflich zur Thür herein ... Naumann7 ist in einem prachtvollen Feuereifer. Ich habe den Argwohn, daß er die Festtage hat drucken lassen. Es sind 5 Bogen in 2 Wochen mir zugeschickt worden. Den Schluß von Ecce homo macht ein Dithyrambus8 von einer ganz grenzenlosen Erfindung, — ich darf nicht daran denken, ohne zu schluchzen Unter uns, ich komme dieses Frühjahr nach Basel, — ich habe es nöthig! Zum Teufel, wenn man nie ein Wort im Vertrauen sagen kann.. Dein Freund N. Dr. Fuchs führt eben das Duett K[öselitzen]s in einem Danziger Concert auf, er wünscht fürs dortige Theater den Löwen von Venedig!9 In Anbetracht aber, daß Joachim seine Theilnahme fortsetzt, so ist das Werk sehr wahrscheinlich vom Grafen Hochberg10 alsbald in Beschlag genommen.. K[öselitz] ist fortgelaufen für die Weihnachtszeit zu seinen Eltern, um sich nicht beschenken zu lassen ... Die von Krauses11 machen in der Weihnachtszeit (wie sonst) einen fürstlichen Aufwand: sie senden z. B. an jede Familie ihrer Dörfer eine Weihnachtskiste. K[öselitz] hat Krause zu seinem Venediger Freunde dem berühmten Passini12 geführt, um ihm einige Tausende zu verdienen zu geben. — P[assini] lebt jetzt in Berlin. * Moral: ich habe auch noch nie einen verdorbenen Magen gehabt.. 1. Cf. Turin, 11-18-1888: Letter to Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig. Nietzsche was trying to raise funds to buy back his works from his former publisher, Ernst Wilhelm Fritzsch.
Turin, 26. Dezember 1888: Lieber Freund, soeben mußte ich lachen: mir fiel Dein alter Kassierer1 ein, den ich noch zu beruhigen habe. Es wird ihm wohlthun, zu hören, daß ich seit 1869 nicht mehr heimatberechtigt in Deutschland bin und einen wunderschönen Basler Paß2 besitze, der mehrere Male von schweizerischen Konsulaten erneuert worden ist. — — Ich selber arbeite eben an einem Promemoria3 für die europäischen Höfe zum Zwecke einer antideutschen Liga. Ich will das "Reich" in ein eisernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungs-Krieg provociren. Ich habe nicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser, sammt Zubehör in den Händen habe. Unter uns! Sehr unter uns! — Vollkommene Windstille der Seele! Zehn Stunden ununterbrochen geschlafen! N. 1. Overbeck managed Nietzsche's pension since his departure from Basel.
Turin, 27. Dezember 1888: Alles erwogen, lieber Freund, hat es von jetzt ab keinen Sinn mehr, über mich zu reden und zu schreiben; ich habe die Frage, wer ich bin, mit der Schrift, an der wir drucken Ecce homo1 für die nächste Ewigkeit ad acta gelegt. Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge, derentwegen ich da bin. — Auch könnte sich in den nächsten Jahren eine dergestalt ungeheure Umgestaltung meiner äußer[e]n Lage ereignen, daß selbst jede Einzelfrage im Schicksal und Lebensaufgabe meiner Freunde davon abhängig würde, — nicht zu reden davon, daß solche ephemere Gebilde wie "das deutsche Reich" in jeder Rechnung für das, was kommt, wegbleiben müssen.2 — Zunächst wird Nietzsche contra Wagner herauskommen,3 wenn Alles geräth, auch noch französisch.4 Das Problem unsres Antagonism[us] ist hier so tief genommen, daß eigentlich auch die Frage Wagner ad acta gelegt ist. Eine Seite "Musik" über Musik5 in der genannten Schrift ist vielleicht das Merkwürdigste, was ich geschrieben habe .. Das, was ich über Bizet sage,6 dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt B[izet] Tausend Mal für mich nicht in Betracht.7 Aber als ironische Antithese gegen W[agner] wirkt es sehr stark; es wäre ja eine Geschmacklosigkeit ohne Gleichen gewesen, wenn ich etwa von einem Lobe Beethovens hätte ausgehen wollen. Zu alledem war W[agner] rasend neidisch auf Bizet: Carmen ist der größte Opern-Erfolg überhaupt in der Geschichte der Oper und hat bei weitem die Zahl der Aufführungen aller Wagnerischen Opern zusammen in Europa für sich allein überboten.8 — Die stupide Taktlosigkeit Fritzschs,9 mich in seinem eignen Blatte zu verhöhnen, hat den großen Nutzen, daß sie mir einen Anlaß bot, F[ritzsch] zu schreiben: wie viel wollen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche. Antwort: 11 000 Mark. — Gesetzt, daß ich auf diesen Weise, im letzten Augenblick Alleinbesitzer meiner Werke werde (— denn auch C. G. Naumann besitzt nichts von mir), so war die Dummheit F[ritzsch]s ein Glücksfall ersten Rangs. — Ich will schon dafür Sorge tragen, daß Sie zur rechten Zeit alle meine Schriften, die Ihnen fehlen, zugeschickt bekommen: warten Sie nur noch ein wenig! — Der Gedanke mit Rostock,10 gesetzt auch daß es ein Interim-Gedanke von zwei Jahren wäre, scheint mir sehr vorzüglich, namentlich in der Übung und Einübung der eigentlichen Dirigenten-Qualitäten, — auch sonst ... Lieber Freund, ich bitte Sie dringend darum, Ihre Schrift über Wagner an meinen Verleger Herrn C. G. Naumann zu schicken: Sie dürfen sie mir mit einer kleinen Vorrede widmen. Wir müssen die Deutschen durch esprit rasend machen ...11 Den Tristan12 umgehn Sie ja nicht: es ist das capitale Werk und von einer Fascination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohne Gleichen ist. — Ich schlage vor, den ausgezeichneten Aufsatz des Herrn Köselitz über mich als Vorrede zu Ihrer Schrift gegen W[agner] voranzudrucken: macht einen prachtvollen Eindruck.
1. It wasn't published until 1908.
Holte, 27. Dezember 1888: Cher Monsieur, En accusant reception de Votre aimable lettre2 avec le grandiosissime Génealogie de la Morale, je vais encore une fois troubler votre repos par une lecture poétique, contenant mes speculations avortées sur la problème des Remords3 avant que j'eusse connu vos ouvrages. Laissons de côté mes niaiseries d'antan sur l'avenir des femelles et sur la paix Européenne, épidémiques en Suisse, où je séjournais à l'époque de la conception des Remords. En Vous souhaitant la bonne année de 1889 je Vous prie d'agréer la nouvelle assurance de ma profonde admiration. August Strindberg 1. English translation: Dear sir, // In acknowledging receipt of your kind letter with the magnificent Genealogy of Morality, I will again disturb your repose with a poetical piece containing my abortive speculations on the problem of Remorse, [written] before I knew your works. // Let us leave aside my silliness of the past on the future of females and on peace in Europe, epidemics in Switzerland, where I was staying at the time that Remorse was conceived. // In wishing you a Happy New Year for 1889, please accept the renewed assurance of my profound admiration. // August Strindberg.
Saint-Victurnien, 27. Dezember 1888: Monsieur, Votre nom ne m'est nullement inconnu. J'avais lu autrefois dans le volume du regretté M. Hillebrand, intitulé Wälsches und Deutsches, une analyse de vos Unzeitgemässe Betrachtungen. (Schopenhauer als Erzieher).3 Mon maitre et ami M. Monod4 m'avait signalé votre ouvrage intitulé Jenseits von Gut und Böse. Il a eu l'obligeance de m'envoyer votre brochure sur Wagner, et j'ai promis d'en donner une courte analyse au Journal des Débats dans le courant de Janvier. Je dis courte, parce qu'une longue étude tarderait longtemps a paraître, a cause du peu de place dont la littérature et la philosophie disposent dans nos journaux; et pourtant le Journal des Débats est un de ceux qui leur font la plus large part. Je lirai cet hiver, à tête reposée vos autres ouvrages, Jenseits von Gut und Böse, le Götzen-Dämmerung. (Pour ce dernier le "Crépescule des idoles" serait peut-être un titre preférable à "Marteau des Idoles.") — Dès que j'aurai lu ces livres, je me propose d'en causer avec vous. Je vais les trouver à mon retour à Paris, au commencement du mois prochain, car on ne m'a envoyé ici que votre lettre et la Kunstwart.5 Vous me faites beaucoup d'honneur et de plaisir en vous adressant à moi, sur la recommandation de M. Taine.6 Mais je vous prie de faire très grande la part d'une extrème bienveillance, dans ce qu'il vous écrit de trop flatteur pour moi. Il est l'indulgence même. Veuillez agréer, Monsieur, avec tous mes remercimens, l'expression de mes sentimens distingués J. Bourdeau 1. View entire painting.
Turin, 29. Dezember 1888: Verehrtes Fräulein, es ist vielleicht nicht verboten, Ihnen um die Jahreswende einen Gruß zu senden — Hoffentlich giebt es ein gutes Jahr. Vom alten sage ich gar Nichts mehr — es war zu gut ... Inzwischen fange ich an, auf eine vollkommen unerhörte Weise berühmt zu werden. Ich glaube, daß noch nie ein Sterblicher solche Briefe2 bekommen hat, wie ich sie bekomme und nur von lauter ausgesuchten Intelligenzen, von Charakteren in hohen Pflichten und Stellungen bewährt. Überall her: nicht am wenigsten aus der ersten St. Petersburger Gesellschaft. Und die Franzosen! Sie sollten den Ton hören, mit dem Ms. Taine an mich schreibt!3 So eben traf ein bezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief4 eines der ersten und einflußreichsten Männer Frankreichs ein, der aus dem Bekanntwerden und Übersetzen meiner Schriftenbezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief5 sich eine Aufgabe machen will: kein Geringerer als der Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes Ms. Bourdeau.5 Schriftenbezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief6 Er sagt mir übrigens, daß eine Besprechung meines "Fall Wagner" im Januar im J[ournal] des Déb[ats] erscheinen werde — von wem? Von Monod.Schriftenbezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief7 — Ich habe ein veritables Genie unter meinen Lesern, den Schweden August Strindberg, der mich als den tiefsten Geist aller Jahrtausende empfindet. Ich sende Ihnen einen Aufsatz im "Kunstwart,"8 mit der Bitte, ihn mir gelegentlich zurückzugeben, der in der That auf eine vollkommene Weise den "Fall Nietzsche" präcisirt. — Das Merkwürdigste ist hier in Turin eine vollkommne Fascination, die ich ausübe — in allen Ständen. Ich werde mit jedem Blick wie ein Fürst behandelt, — es giebt eine extreme Distinktion in der Art, wie man mir die Thür aufmacht, eine Speise vorsetzt. Jedes Gesicht verwandelt sich, wenn ich in ein großes Geschäft trete. — Und da ich Nichts beanspruche und mit vollkommner Gelassenheit gegen Jedermann gleich bin, auch das Gegentheil eines düsteren Gesichts habe, so brauche ich weder Namen, noch Rang, noch Geld, um immer noch unbedingt der Erste zu sein. — Damit es nicht am Contraste fehlt! meine Schwester hat mir zu meinem Geburtstage9 mit äußerstem Hohne erklärt, ich wolle wohl auch anfangen, "berühmt" zu werden ... Das werde ein schönes Gesindel sein, das an mich glaube ... Dies10 dauert jetzt sieben Jahre ... — Noch ein andrer Fall. Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts Andres bin. Mein Verleger, Herr E. W. Fritzsch, hat bei Gelegenheit vom "Fall Wagner" einen der schnödesten Artikel über mich in dem von ihm selbst redigirten Mus[ikalischen] Wochenblatt abdrucken lassen. Ich habe ihm darauf sofort geschrieben "Wieviel verlangen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche." — Antwort: 11 000 Mark. — Sehen Sie! Das ist deutsch ... der Verleger des Zarathustra!11 Georg Brandes geht diesen Winter wieder nach St. Petersburg,12 um über das Unthier Nietzsche Vorträge zu halten. Er ist wirklich ein ausgezeichnet intelligenter und guter Mensch, ich habe noch nie so delikate Briefe bekommen. — Es wird auf das Eifrigste gedruckt, feuereifrigst ... Inzwischen ist Herr Köselitz ein großes Thier geworden: Joachim und de Ahna schwärmen für diesen neuen "Klassiker,"13 — ich füge hinzu, daß er in einem der glänzendsten Häuser Berlins mit nur allzuglücklichem Erfolg sich um ein merkwürdig schönes und interessantes Mädchen bewirbt, obwohl er einen Grafen Schlieben zum Rivalen hat.14 Er war schon den ganzen Sommer auf dem Waldschloß seiner Prinzessin in Hinterpommern unter lauter Junkern und Gardelieutnants. Wahrscheinlich wird ihn Graf Hochberg> um die erste Aufführung des Löwen von Venedig für Berlin angehen.15 — Kurz: Umwerthung aller Werthe ... Mit den besten Grüßen und Wünschen Ihr N. Haben Sie davon gehört, daß Mad. Kowalewski16 in Stockholm (— sie stammt vom alten Ungarnkönig Matthias Corvin) den allerersten mathematischen Preis von der Pariser Akademie erhalten hat, den sie vergeben kann? Sie gilt heute als das einzige Genie der Mathematik. — 1. Dedicated to Jean Bourdeau. Study for a larger work.
Turin, 30 Dezember 1888: [Turin,] Sonntag — Sonntag Alter Freund, unter meinem Fenster1 spielt, ganz als ob ich bereits princeps Taurinorum,2 Caesar Caesarum3 und dergleichen wäre, in aller Macht das Municipal-Orchester von Turin z. B. eben noch rhapsodie hongroise ich erkenne das grandiose Cleopatra-Werk von Mancinelli.4 Vorhin gieng ich an der mole Antonelliana5 vorbei, dem genialsten Bauwerk, das vielleicht gebaut worden, — merkwürdig, es hat noch keinen Namen — aus einem absoluten Höhentrieb heraus, — erinnert an gar nichts außer an meinen Zarathustra. Ich habe es Ecce homo getauft und im Geiste einen ungeheuren freien Raum herum gestellt. — Dann gieng ich nach meinem palazzo, jetzt palazzo Madama6 — die madama dazu schaffen wir an —: kann vollkommen bleiben wie er ist, bei weitem die malerischeste Art von großgedachtem Schloß — namentlich im Treppenhaus. Dann bekam ich ein Huldigungsschreiben von meinem Dichter Auguste Strindberg, einem veritablen Genie zu Ehren meiner "grandiosissime Génealogie de la Morale,"7 mit seinem Ausdruck de sa profonde admiration. Dann schrieb ich, in einem heroisch-aristophanischen Übermuth eine Proklamation an die europäischen Höfe zu einer Vernichtung des Hauses Hohenzollern,8 dieser scharlachnen Idioten9 und Verbrecher-Rasse seit mehr als 100 Jahren verfügte dabei über den Thron von Frankreich auch über Elsass, indem ich Victor Buonaparte,10 den Bruder unsrer Laetitia11 zum Kaiser machte und meinen ausgezeichneten Ms. Bourdeau, Chef-Redakteur des Journal de Débats und der Revue des deux Mondes zum ambassadeur an meinem Hofe ernannte,12 — aß nachher bei meinem Koch zu Mittag (— er heißt nicht umsonst de la Pace —) und schreibe nunmehr an meinen Freund und allerhöchst vollkommenen maëstro einen Brief, um ihm Theater, Orchester und alle Art camera in Aussicht zu stellen … Auch habe ich bereits, ihm zu Liebe, die schönste Seite über Musik geschrieben13 die vielleicht geschrieben worden ist — und zuletzt nicht ihm zu Liebe, vielmehr Jemandem — der, die, das — zu Liebe, der — die — das die Seite einmal lesen soll … Friedrich Nietzsche
Ich war noch beim Begräbniß des uralten Antonelli14 zugegen, diesen November. — Er lebte genau so lange, bis Ecce homo, das Buch, fertig war. — Das Buch und der Mensch dazu … Ich habe gestern mein non plus ultra in die Druckerei geschickt, Ruhm und Ewigkeit15 betitelt, jenseits aller sieben Himmel gedichtet. Es macht den Schluß von Ecce homo. — Man stirbt daran, wenn man’s unvorbereitet liest … Man wird deutsch an meinem Hofe sprechen: denn die höchsten Werke der M[ensch]h[eit] sind deutsch geschrieben … Gymnastik und Pastilles Géraudel16 nehmen …
[Marginal additions drafted for the benefit of Jean Bourdeau:] Damit ich Ihnen meine Hintergedanken nicht vorenthalte, schicke ich Ihnen einen Brief ab, den ich gestern für meinen maestro, Herrn Pietro Gasti17 schrieb — und der noch ein paar Tage warten darf… Ich vermache Ihnen diesen B[rief] zu jedem beliebigen Gebrauch Wenn Sie mich bitten, bekommen Sie auch die Proklamation für das J[ournal] des Débats: sie genügt … Triple alliance18 — aber das ist ja nur eine Höflichkeit für mésalliance … 1. Nietzsche's room overlooked the Piazza Carlo Alberto in the center of Turin.
[Firenze], 30. Dec. [1888]: Postkarte von Helen Zimmern1 an Nietzsche in Turin. Gutes Neujahr. Bitten senden Sie mir Wagner Bro[s]chüre:2 ich will sehen ob ich etwas damit thun kann. Der Aufsatz3 von Peter Gast ist nicht in Ton und Auffassung fürs englische Publicum geeignet. Man würde es mir nicht drucken. Freundlichen Gruss. Wie geht es? Helen Zimmern 1. Helen Zimmern (1846-1934): English writer, and translator. They first met in Bayreuth in 1876, and became better acquainted in Sils-Maria. Nietzsche wanted Zimmern to translate Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols), and Ecce Homo. Although that never happened, Zimmern would go on to translate Jenseits von Gut und Böse (Beyond Good and Evil) for Oscar Levy's edition of Nietzsche. See the anonymous "Nietzsche Erinnerungen." In: Frankfurter Generalanzeiger. Nov. 16, 1926; "Memories of Nietzsche." In: The Living Age, 331 (Nov. 1926), 272 (reprinted above). Turin, 31 Dezember 1888: — Sie haben tausend Mal Recht!1 Warnen Sie selbst Fuchs2 ... Sie werden in Ecce homo eine ungeheure Seite3 über den Tristan finden, überhaupt über mein Verhältniß zu Wagner. W[agner] ist durchaus der erste Name, der in E[cce] h[omo] vorkommt. — Dort, wo ich über Nichts Zweifel lasse, habe ich auch hierüber den Muth zum Äußersten gehabt. Ah, Freund! welcher Augenblick! — Als Ihre Karte kam, was that ich da ... Es war der berühmte Rubicon ...4 Meine Adresse weiß ich nicht mehr: nehmen wir an, daß sie zunächst der palazzo del Quirinale5 sein dürfte. N. 1. Cf. Annaberg, 12-29-1888: Letter from Heinrich Köselitz to Nietzsche in Turin. "Der Text zum 2. Act des Tristan ist und bleibt, bei allen Vorwürfen, eine ungeheure Leistung" (The text for the 2d Act of Tristan is and remains, for all its criticisms, a tremendous achievement).
Turin, 31. Dezember 1888: Lieber Herr, Sie werden die Antwort auf Ihre Novelle in Kürze zu hören bekommen — sie klingt wie ein Flintenschuß2 .. Ich habe einen Fürstentag nach Rom zusammenbefohlen, ich will den jungen Kaiser füsillieren lassen.3 Auf Wiedersehn! Denn wir werden uns wiedersehn.. Une seule condition: Divorçons ... Nietzsche Caesar 1. Strindberg received this letter on 01-03-1889. Concerned about its contents, he then decided to send it, along with two previous letters from Nietzsche (12-08-1888, 12-18-1888), to Georg Brandes.
Holte, 31. Dezember 1888: Holtibus pridie cal. Jan. Carissime Doctor! Θέλω, ϑέλω μανναι!2 Litteras tuas non sine perturbatione accepi et tibi gratias ago. Rectus vives, Licini, neque altum Interdum juvat insanire! Vale et Fave! Strindberg (Deus, optimus maximus). 1. German translation: Lieber Doktor! // Ich will, ich will verrückt sein! // Ich habe nicht ohne Gemütsbewegung Ihren Brief empfangen und danke Ihnen dafür. // Besser würdest Du leben, Licinius, wenn Du weder ständig Dich aufs offene Meer hinaus wagtest, noch aus Angst vor Stürmen Dich zu nahe an der gefährlichen Küste hieltest. // Allerdings freut es uns, verrückt zu sein! // Leben Sie wohl und erhalten Sie mir Ihre Gewogenheit! // Strindberg (Gott, der Beste und Höchste). English translation: Dear Doctor! // I wish, I wish to be mad! // I received your letter not without emotion and I thank you for it. // You'll do better, Licinius, not to spend your life venturing too far out on the dangerous waters, or else, for fear of storms, staying too close in to the dangerous rocky shoreline. // Meanwhile it is a joy to be mad! // Farewell and remain well disposed to me! // Strindberg (the best, the highest God). |
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