|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||
COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited.
Nizza, Anfang Januar 1886: 1. Ich hörte mit größter Theilnahme von R[ohde]'s Berufung1: aber warum schreibt er gar nicht mehr an mich? Ich habe wenig Geduld für einen ehemaligen Freund übrig und wahrhaftig nicht als Einer, der von Natur ungeduldig und unduldsam wäre. Aber ich habe diese ganzen 10 Jahre über (wenn ich meinen Freund Overbeck ein für alle Mal ausnehme) allzuviel Blödsinn, Oberflächlichkeit und Anmaßung von Seiten solcher erlebt, welche ich als meine Freunde glaubte. Ich danke dem Himmel, daß ich die Liebe meiner Angehörigen noch habe, nachdem auch diese, unter der Nachwirkung von allerlei "Freundschaftsdiensten",2 wie gefährdet war. 3. Was aber meine ganze Lage betrifft, so erkenne ich gar Niemand mehr für meinen Freund an, der nicht das ungeheure Elend dieser Lage begreift: daß ein Mensch, der für die reichste und umfänglichste Wirksamkeit geboren ist, dermaßen in unfruchtbaren Einöden seine besten Jahre zubringen muß: daß ein Denker wie ich, der sein Bestes niemals in Büchern, sondern immer nur in ausgesuchten Seelen niederlegen kann, gezwungen ist, mit seinen halbblinden schmerzenden Augen "Litteratur zu machen" — es ist Alles so verrückt! so hart! 1. In December 1885, Erwin Rohde received his appointment to Leipzig (he moved there in April 1886) as the successor to Georg Curtius. He worked for a semester before accepting an appointment at the University of Heidelberg.
Nizza, 9. Januar 1886: Lieber Freund, es gäbe Vielerlei zu erzählen, wäre ich nur "bei besseren Augen." — Ich danke bestens für Deine guten Freundes-Wünsche zum neuen Jahre; insgleichen waren mir die fünf Hundert-Scheine1 sehr willkommen ( — sie ersparten mir den "Gang zum Banquier," den ich hasse und der mich immer krank macht). Es giebt viel in diesem Jahre zu überwinden, zunächst die kommenden Monate, welche für meine Angehörigen nicht minder hart als für mich sind.2 Meine Mutter ist fast in Verzweiflung. — Gestern meldete sie mir das Definitivum in Betreff der Rohdeschen Angelegenheit3: sie knüpft Hoffnungen daran; in der That ist mir Leipzig, das ja beinahe meine Heimat ist, nunmehr, als ein Rendez-vous aller meiner guten Bekannten und Kameraden von Ehedem, doppelt werth geworden. Sie hatte die Nachricht von Heinze's, welche sich in diesem Herbste äußerst herzlich gegen mich benommen haben: auch wollen sie für die Osterferien mir hier in Nizza ihren Besuch machen.4 Dasselbe hat Herr Lanzky5 in Vallombrosa versprochen (ich habe alle Gründe dankbar zu sein, daß ein Mensch wie L[anzky], ein merkwürdig edler und feiner Charakter, wenn auch leider kein "Geist" — mir begegnet ist: auf die Dauer wird er wahrscheinlich so etwas wie meine "praktische Vernunft," als Ökonom, Gesundheitsrath und dergleichen) Aus dem beiliegenden Briefe6 Köselitzens, den ich Dir mittheile, weil er seine Situation ganz klar macht — wirst Du ersehen, daß auch noch andre Besuche in Nizza in Aussicht stehen. Herr Widemann hat meiner Mutter den Wunsch ausgedrückt, ein paar Jahre in meiner Nähe leben zu können; ich gestehe, daß ich meine Bedenken hatte — Du wirst aber dem Briefe K[öselitz]s entnehmen, daß es vielleicht Gründe giebt, guten Muths hierin zu sein. Daß K[öselitz] seine korsische Oper7 (zu der ich ihm im letzten Sommer den Entwurf geschickt habe — er war entzückt davon) hier in Angriff nimmt, ist mein Wunsch; ich thue unter der Hand dies und jenes, um es zu ermöglichen. Schließlich halte ich die Hoffnung fest, daß meine drei Damen, die mir rührend zugethan sind, mes dames Fynn et Manshouroff ebenfalls hierher kommen.8 Man hat gar nicht so die Wahl, sich zu verlassen, wenn man sich erst gefunden hat: man trifft sie gar zu selten, diese vornehmen und zarten Seelen, mit denen man umgehn kann, ohne, wie gewöhnlich, sich Zwang anthun zu müssen. Jetzt sind sie in England. — Ich schrieb von meinem "Experimentiren": nun, dem Himmel sei Dank, daß ich's wagte und mich nicht wieder in die Marter des letzten Winters einspannte, an deren Nachwirkung ich noch ein halbes Jahr beinahe krank war. Alles, was hier von Basel ist, kommt mir dabei zu Hülfe, ebenso herzlich als respektvoll, wie es zur Basler Art gehört. Das Wetter ist unbeschreiblich schön, Woche für Woche; der Himmel leuchtend rein von früh bis Abend. Erzähle Deiner lieben Frau, daß ich ein Jugendwerk Bizet's gehört habe, die Orchestersuite Roma9 (der arme B[izet] selber hat sie nicht zu hören bekommen!) Anziehend-naiv und raffinirt zugleich, wie Alles von diesem letzten Meister der französischen Musik. — Von Herzen Dein Freund N. Ich habe, als erste Verwendung der Schmeitznerschen Gelder, das Grab meines Vaters mit einer großen Marmorplatte bedecken lassen. (Es wird nach dem Wunsche meiner Mutter, einstmals auch ihr Grab sein.)10 1. Overbeck sent Nietzsche his pension.
Nizza, 7. Februar 1886: Mein liebes altes Lama, soeben kommt Dein hübscher und lustiger Vorschlag,1 und wenn er irgendwie dazu dient, Deinem Herrn Gemahl eine gute Meinung über den unverbesserlichen Europäer und Anti-Antisemiten, Deinen ganz unmaßgeblichen Bruder und Eckensteher Fritz beizubringen (obwohl er gewiß jetzt Anderes zu thun hat, um sich über mich zu "bekümmern"), so will ich gern in die Fußstapfen von Fräulein Alwinchen2 treten und ersuche Dich angelegentlich, unter gleichen Verhältnissen und Bedingungen mich zum südamerikanischen Grundbesitzer zu machen: mit der ausdrücklichen Variation, daß das Stückchen Erde nicht Friedrichsland oder Friedrichshain heißt (weil ich zunächst noch nicht daselbst "sterben und begrabbelt-grabbelt sein" möchte), sondern, zur Erinnerung daran, wie ich Dich getauft habe — Lamaland. Ernstlich geredet: ich würde Dir Alles schicken, was ich habe, wenn es helfen könnte, Dich bald wieder zurück zu führen. Im Grunde sind alle Menschen, die Dich kennen und lieben, dieser Meinung, daß es dreitausend Mal besser wäre, dieses ganze Experiment bliebe Dir erspart. Selbst wenn man noch so sehr jenes Land als geeignet zur deutschen Colonisation3 befinden sollte, so will doch Niemand zugeben, daß Ihr Beide gerade die Colonisten sein müßtet: dies erscheint vielmehr als willkürlich, verzeih den Ausdruck, überdies als gefährlich, zumal für ein Lama, das an eine sanfte Cultur gewöhnt ist und in ihr auch am besten gedeiht und herumspringt. Diese ganze Erhitzung von Gefühlen, wie sie hinter der ganzen Geschichte als Ursachen liegen, ist eigentlich schon für ein Lama (genauer: für unsern eigentlichen Familien-"Typ," der seine Kunst im Versöhnen zwischen Contrasten hat) zu tropisch, nach meiner Meinung sogar nicht einmal gesund: man bleibt hübscher und jünger, wenn man nicht haßt und nicht argwöhnt —. Zuletzt will es mir immer scheinen, daß Deine Natur sich selbst für eine eigentlich deutschthümliche Bestrebung hier in Europa nützlicher erweisen könne als dort: gerade als Gattin des Dr. Förster, der, wie ich beim Lesen seines Erziehungs-Aufsatzes wieder einmal empfand, eigentlich zum Erziehungsdirektor einer Art Schnepfenthal4 eine natürliche Mission hat — und nicht, verzeihe es Deinem Bruder, zum Agitator in einer zu drei Viertel schlimmen und schmutzigen Bewegung.5 Was in Deutschland jetzt dringend noththut, sind eben unabhängige Erziehungsanstalten, welche der Staats-Sklaven-Drillung sich durch die That entgegensetzen. Das Vertrauen, welches Dr. Förster bei dem norddeutschen Adel genießt, schiene mir ausreichend Bürgschaft dafür zu geben, daß eine solche Art Schnepfenthal oder Hofwyl6 (Du erinnerst Dich? der Ort, wo der alte Vischer7 gebildet war) unter seiner Leitung Glück machte. Aber dort drüben, unter Bauern, in der Nähe von unmöglich gewordenen vielleicht verbitterten und vergifteten Deutschen — genug, hier ist ein weites Feld zu Besorgnissen. Das dumme große Meer dazwischen! und bei jedem Orkane, von dem Meldung hierher kommt, ärgert sich Dein Bruder und fragt sich, wie um Alles in der Welt das Lama darauf gerathen ist, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Ich nehme mich zusammen, so gut es geht, aber eine Melancholie sonder Gleichen wird alle Tage und besonders des Abends über mich Herr, — immer deshalb, weil das Lama davon läuft und ganz die Tradition ihres Bruders aufgiebt. — Eben meldet mir der Hofkapellmeister in Carlsruhe (dem ich auf den Wunsch des armen K[öselitz] geschrieben hatte) meine Empfehlung ("die Empfehlung eines von mir enthusiastisch verehrten Mannes") erwecke bei ihm für das Werk8 das günstigste Vorurtheil; und indem ich mich von Herzen darüber freue, fällt mir ein, daß Ihr sagen werdet "es ist doch nur ein Jude!" Das, meine ich, drückt es aus, wie das Lama herausgesprungen ist aus der Tradition des Bruders: — wir freuen uns nicht mehr über das Gleiche. — Inzwischen, es hilft nichts, das Leben ist ein Experiment, man mag thun, was man will, man zahlt es zu theuer: vorwärts, mein liebes altes Lama! Und tapferen Muth zu dem was beschlossen ist! Dein F. 1. The purchase of land in Paraguay for 300 marks.
Nice, 23. Februar 1886: Lieber alter Freund, meine Mutter hat mir kürzlich Deine Berufung nach Leipzig1 gemeldet: ich habe lange keine solche Freude gehabt, wie bei dieser Nachricht! Seitdem male ich mir immer und immer wieder aus, daß dieses Jahr uns zusammen bringen muß.2 Vielleicht, daß es sich schon für den Frühling einrichten läßt; und am Allerliebsten wäre ich bei Deiner Einführung Augen-, Ohren und Herzenszeuge. Ich kann es gar nicht ausdrücken, wie sehr mich diese Hoffnung streichelt und erquickt. Vorigen Herbst war ich etwas in Leipzig,3 wie zum Vorgeschmack: ach, still, versteckt beinahe, fast immer für mich, aber wie von lauter Erinnerungen an Dich und unsre alte Gemeinschaft an diesem Orte4 gewärmt. Der Zufall wollte, daß ich etwas von dem Projekt, das Dich betraf, zu hören bekam: unmittelbar vor der Sitzung, in der die ganze Angelegenheit zum ersten Male ins Auge gefaßt wurde, war ich mit Heinze5 und Zarncke6 zusammen. Mir ist es wie ein Traum, daß ich auch einmal so eine Art von hoffnungsvollem Thiere gewesen bin, philologus inter philologos.7 Es hat sich nichts erfüllt: oder, wie Ihr vielleicht unter Euch jetzt sagt, "er hat nichts erfüllt." Zu alledem bin ich an Freunden nicht reicher geworden: das Leben hat mir die Pflicht immer mehr mit der furchtbaren Nebenbedingung ihrer einsamen Erfüllung vorgestellt. Es ist schwer, mir nachzufühlen; ich setze beinahe voraus, selbst bei Bekannten, jetzt im Groben mißverstanden zu sein und bin für jede Art Feinheit der Interpretation, ja für den guten Willen zur Feinheit schon von Herzen erkenntlich. Ich bin ein Esel, es ist kein Zweifel. Alter lieber Freund Rohde, es scheint mir, Du verstehst Dich besser auf das Leben, dadurch daß Du Dich hineingestellt hast; während ich es immer mehr von Ferne sehe — vielleicht auch immer deutlicher, immer schrecklicher, immer umfänglicher, immer anziehender. Aber wehe mir, wenn ich einmal diese Entfremdung nicht mehr aushalte! Man wird alt, man wird sehnsüchtig, schon jetzt habe ich, wie jener König Saul, Musik nöthig — der Himmel hat mir zum Glück auch eine Art David geschenkt.8 Ein Mensch, der mir gleich geartet ist, profondement triste, kann es auf die Dauer nicht mit Wagnerischer Musik aushalten. Wir haben Süden, Sonne "um jeden Preis," helle, harmlose, unschuldige Mozartische Glücklichkeit und Zärtlichkeit in Tönen nöthig. Eigentlich sollte ich auch Menschen um mich haben, von derselben Beschaffenheit, wie diese Musik ist, die ich liebe: solche, bei denen man etwas von sich ausruht und über sich lachen kann. Aber nicht Jeder kann suchen, der finden möchte — da sitze ich denn und warte und es kommt nichts, und schon weiß ich nichts Besseres als meinem alten Freunde davon zu erzählen, daß ich allein bin. Vor mir liegt Dein letzter Brief, es ist möglich daß ich eben erst auf ihn antworte, obwohl ein ziemliches Stück Zeit dazwischen weggeflossen ist (der Brief ist vom 22 Dezember 1883) Nimm fürlieb mit Deinem schweigsamen Freunde, der es in vielem Betrachte schwer hat und sich davor fürchten gelernt hat, den Mund aufzumachen. Ehe man sich's versieht, fährt eine Klage heraus, — und es giebt nichts Dümmeres auf Erden als klagen. Es erniedrigt uns, selbst bei den besten Freunden. Gieb mir ein Wort hierher, zum Beweise dafür, daß Du mich noch lieb hast, alter Freund Rohde. Und nochmals, ich freue mich über Dein Glück mehr als über mein eigenes. Grüße Deine Frau von dem unbekannten Bär und Einsiedler und streichle Deine Kinder in meinem Namen. In Liebe Dein getreuer Freund 1. In December 1885, Erwin Rohde received his appointment to Leipzig (he moved there in April 1886) as the successor to Georg Curtius. He worked for a semester before accepting an appointment at the University of Heidelberg.
Nice, 25. März 1886: Lieber Freund, Daß ungefähr zu gleicher Zeit, wo Du an mich schriebst, meine Gedanken bei Dir in Basel waren, wird Dir ein vorgestern an Dich abgesandtes rothes Heft1 verrathen: — wie schön wäre es, über dergleichen curiosa hübsch miteinander, beieinander lachen (selbst sich ärgern) zu können! Ach, die dumme Gesundheit, die Einen von seinen Freunden fern hält! Die Nachrichten über Deine eigne Gesundheit (aus beiden letzten Briefen), auch über Deine Augen, lassen mich es bewundern, wie tapfer Du Dich eigentlich dort in Basel durchschlägst. Aber freilich, Du hast es, Dank Deiner Frau, eben hundert Male besser als ich: Ihr habt zusammen ein Nest — und ich habe höchstens eine Höhle, ich mag mich drehn und wenden wie ich will. Man sagt mir hier, daß ich den ganzen Winter, trotz vielfacher Beschwerniß, immer "bei glänzender Laune" gewesen sei; ich selber sage mir, daß ich den ganzen Winter profondement triste, torturirt von meinen Problemen bei Tag und Nacht, eigentlich noch mehr höllenmäßig als höhlenmäßig gelebt habe — und daß ich den gelegentlichen Verkehr mit Menschen wie ein Fest, wie eine Erlösung von "mir" fühle. Das große Mißverständnis der Heiterkeit! Die brave Malvida, die mit ihrer rosigen Oberflächlichkeit sich in einem schweren Leben immer "obenauf" gehalten hat, schrieb mir einmal,2 zu meinem bittersten Vergnügen, daß sie, aus meinem Zarathustra heraus, schon den "heitren Tempel winken" sehe, den ich auf diesem Fundamente aufbauen werde. Nun, es ist einfach zum Todt-lachen; und ich gebe mich nachgerade damit zufrieden, daß man mir nicht zusieht und ansieht, an was für einem "Tempel" ich baue. — Erholung, lieber alter Freund, nichts als Erholung habe ich auch jetzt wieder nöthig: aber sie ist immer schwerer zu schaffen. — Die erquickliche leichte Musik Köselitzens gehört dahin: was bin ich diesem Glücksfunde meines Lebens dankbar! (Aber warum hast Du mir nichts über den Brief K[öselitzen]'s gesagt, den ich dem letzten Briefe an Dich beigelegt hatte? Hoffentlich ist nichts verloren gegangen? Ich schrieb gleich nach dem Eintreffen des letzten Geldes;3 seitdem hörte ich nichts von Dir). Es ist dem Armen mit Wien wie mit Dresden mißrathen; er bat mich, etwas zu seinen Gunsten bei Mottl in Carlsruhe zu versuchen.4 Letzterer, obschon mir persönlich unbekannt, hat inzwischen sehr artig an mich geschrieben: er lege den größten Werth auf meine Empfehlung ("die Empfehlung eines von mir enthusiastisch verehrten Mannes") Hoffentlich bleibt es nicht bei Worten. — Was Du von Deinen litterarischen Absichten5 schreibst, macht mir rechte Freude. Ich lese Dich so gern, selbst noch abgesehn von dem, was man durch Dich lernt. Du verschlingst so artig Deine Gedanken, ich möchte fast sagen, listig, als ein Mensch der nuances, der Du bist. Der Himmel segne Dich dafür, in einem Zeitalter, das täglich plumper wird. — Inzwischen hat man sich bemüht, mich zur Wiederaufnahme meiner akademischen Thätigkeit anzureizen. Ich soll durchaus culturgeschichtliche Collegien lesen. — Sonderbar! Rein als Frage der Erholung ist mir dieser Gedanke sogar recht geläufig. Aber es giebt eine Verrechnung dabei. Bitte, sende mir, sobald Du kannst, das flügge werdende Geld hierher (zur Hälfte französisch, zur Hälfte italiänisch, wofern dies möglich ist und Dir keine Mühe macht). Ich bleibe hier bis zum 13. April. Meine Augen erlauben es nicht länger. Nachher wahrscheinlich Venedig, mit seinem Gäßchen-Dunkel; dann Engadin; im Herbst muß ich meiner alten armen Mutter etwas Trost zusprechen. Herr Credner6 ist bereit, "einen zweiten Band7 der 'Morgenröthe' in Verlag zu nehmen," und hat mir brieflich angezeigt, daß er wünsche, "unter meine Verehrer gerechnet zu werden." Solchen Glauben in Israel habe ich noch nicht gefunden. Trotzdem — — — Ach, wie Vieles gäbe es zu sagen und zu berathschlagen, lieber Freund! Empfiehl mich angelegentlich Deiner Frau und ihren Angehörigen. Dieses Jahr wird mich auch einmal nach München bringen. — Treulich Dein Freund Nietzsche. (Sehr in Arbeit. Sei übrigens unbesorgt, es wird keinen zweiten Band "Morgenröthe" geben. —)8 1. Cf. Desden, 03-03-86: Letter from Julius Langbehn (1851-1907) to Nietzsche in Nice, in which the anti-Semite Langbehn enclosed a sample of his writings ("Gedanken und Gespräche") — perhaps being the red booklet referred to by Nietzsche.
Nizza, vermutlich Mitte April 1886: Werther und lieber Herr Doktor, glauben Sie daran, auch ohne daß ich es schriftlich bezeuge (was mir meine Augen von Jahr zu Jahr weniger erlauben —), daß nicht leicht Jemand Ihren Untersuchungen und Feinheiten mit mehr Theilnahme folgen kann, als ich. Wenn nur "Theilnahme" ausreichte! Aber es fehlt mir an Wissen und Können nach allen den Seiten hin, wo Ihre merkwürdig vielfältige Begabung liegt. Vor allem: es vergehen Jahre, in denen mir Niemand Musik macht, ich selbst eingerechnet. Das Letzte, was ich mir gründlich angeeignet habe, ist Bizet's Carmen,1 — und nicht ohne viele, zum Theil ganz unerlaubte Hintergedanken über alle deutsche Musik (über welche ich beinahe so urtheile wie über alle deutsche Philosophie); außerdem die Musik eines unentdeckten Genies, welches den Süden liebt wie ich ihn liebe und zur Naivetät des Südens das Bedürfniß und die Gabe der Melodie hat. Der Verfall des melodischen Sinns, den ich bei jeder Berührung mit deutschen Musikern zu riechen glaube, die immer größere Aufmerksamkeit auf die einzelne Gebärde des Affekts (ich glaube, Sie heißen das "Phrase,"2 mein lieber Herr Doktor?), ebenfalls die immer größere Fertigkeit im Vortrage des Einzelnen, in den rhetorischen Kunstmitteln der Musik, in der Schauspieler-Kunst, den Moment so überzeugend wie möglich zu gestalten: das, scheint mir, verträgt sich nicht nur mit einander, es bedingt sich beinahe gegenseitig. Schlimm genug! man muß eben alles Gute in dieser Welt etwas zu theuer kaufen! Das Wagnerische Wort "unendliche Melodie"3 drückt die Gefahr, den Verderb des Instinkts und den guten Glauben, das gute Gewissen dabei allerliebst aus. Die rhythmische Zweideutigkeit, so daß man nicht mehr weiß und wissen soll, ob etwas Schwanz oder Kopf ist, ist ohne allen Zweifel ein Kunstmittel, mit dem wunderbare Wirkungen erreicht werden können: der "Tristan"4 ist reich daran —, als Symptom einer ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem das Zeichen der Auflösung. Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll —), schließlich auch der esprit über den "Sinn." Verzeihung! was ich wahrzunehmen glaube, ist eine Veränderung der Perspektive: man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf, — und man hat den Willen zu dieser Optik in der Musik, vor Allem man hat das Talent dazu! Das aber ist décadence, ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll. Ihr Riemann5 ist mir ein Zeichen davon, eben so wie Ihr Hans von Bülow, ebenso wie Sie selbst, Sie als der feinsinnigste Interpret von Bedürfnissen und Veränderungen der anima musica, welche, Alles in Allem, zuletzt doch der beste Theil von dem sein mag, was die âme moderne ist. Ich drücke mich verdammt schlecht aus, zum Unterschiede von Ihnen; ich meine, es giebt auch an der décadence eine Unsumme des Anziehendsten, Werthvollsten, Neuesten, Verehrungswürdigsten, — unsre moderne Musik zum Beispiel, und wer nur nach der Art der drei eben Genannten ihr treuer und tapferer Apostel ist. Verzeihung, wenn ich noch hinzufüge: wovon ein Decadenz-Geschmack am entferntesten ist, das ist der große Stil: zu dem zum Beispiel der Palazzo Pitti6 gehört, aber nicht die neunte Symphonie.7 Der große Stil als die höchste Steigerung der Kunst der Melodie. — Endlich ein Wort über eine ganz große theoretische Differenz zwischen uns, nämlich in Anbetracht der antiken Metrik. Freilich: ich darf heute kaum mehr über diese Dinge mitreden, — aber 1871 hätte ich's gedurft, welches Jahr ich in der erschrecklichen Lektüre der griechischen und lateinischen Metriker verbracht habe, mit einem sehr wunderlichen Resultate.8 Damals fühlte ich mich als den abseits gestelltesten Metriker unter allen Philologen: denn ich demonstrirte meinen Schülern die ganze Entwicklung der Metrik von Bentley9 bis Westphal10 als Geschichte eines Grundirrthums. Damals wehrte ich mich mit Händen und Füßen dagegen, daß z. B. ein deutscher Hexameter irgend etwas Verwandtes mit einem griechischen sei. Was ich behauptete war, um bei diesem Beispiele zu bleiben, daß ein Grieche beim Vortrage eines homerischen Verses gar keine andern Accente als die Wortaccente angewendet habe, — daß der rhythmische Reiz exakt in den Zeitquantitäten und deren Verhältnissen gelegen habe, und nicht, wie beim deutschen Hexameter, im Hopsasa des Ictus: noch abgesehn davon, daß der deutsche Daktylus auch in der Zeitquantität grundverschieden vom griechischen und lateinischen ist. Denn wir sprechen "Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen, es grünten und blühten"11 mit dem Gefühle von , vielleicht sogar als Triolen, gewiß aber nicht zweitheilig-feierlich mit einer langen Silbe, welche die Dauer von zwei kurzen hat. Das Strengernehmen der Dauer einer Silbe war es eben, was in der antiken Welt den Vers von der Alltagsrede abhob: was bei uns Nordländern ganz und gar nicht der Fall ist. Es ist uns kaum möglich, eine rein quantitirende Rhythmik nachzufühlen, so sehr sind wir an die Affekt-Rhythmik des Stark und Schwach, des crescendo und diminuendo, gewöhnt. Von Bentley aber (der ist der große Neuerer, G. Hermann12 ist erst der Zweite), ebenso von den deutschen Dichtern, welche antike Metra nachzubilden glaubten, ist ganz unschuldig unsre Art rhythmischer Sinn als einzige und "ewige" Art, als Rhythmik an sich, angesetzt worden: ungefähr wie wir allesammt geneigt sind, unsrer Humanitäts- und Mitgefühls-Moral als die Moral zu verstehen und sie in ältere, grundverschiedene Moralen hineinzu-interpretiren. Es ist ja kein Zweifel, daß unsre deutschen Dichter "in antiken Metren" damit vielerlei rhythmische Reize in die Poesie gebracht haben, deren sie ermangelte (das Tiktak unsrer Reim-Poeten ist auf die Dauer fürchterlich): aber ein Alter hätte nichts von diesen Zaubern gehört, noch weniger aber geglaubt, dabei seine Metra zu hören. — Unter Franzosen versteht man die Möglichkeit einer allein zeit-quantitirenden Metrik schon leichter: sie fühlen die Zahl der Silben als Zeit. — Ecco, der längste Brief, den ich seit Jahren geschrieben: nehmen Sie ihn als solchen und auch in jedem andern Verstande als ein Zeichen dafür, daß auch ich "die Dankbarkeit" nicht vergesse, mein werther Herr Doctor, der Sie mich nun schon zwei Mal mit ganz ausgesuchten Gerichten bewirthet haben. — Wo um alles in der Welt haben Sie Ihr Talent zum causer en litterature her? ist etwas französisches Blut in Ihren Adern? — Schließlich ein Wort des Zorns gegen Ihren Verleger13 und Drucker. Wie! "Hefte"? Hefte, die nicht haften, die nicht geheftet sind! lucus a non lucendo!14 Halten Sie diesen Scherz einem alten Philologen zu Gute und bleiben Sie trotzdem wohlgesinnt Ihrem ergebensten Lesen Sie, ich bitte, ein Buch, das Wenige kennen, Augustinus de musica,15 um zu sehen, wie man damals Horazische Metren verstand und genoß, wie man dabei "taktirte," welche Pausen man einschob u. s. w. (Arsis und Thesis sind bloße Taktirzeichen). Meine Adresse ist, ein für alle Mal: Naumburg an der Saale. Von da aus wird mir Alles nachgeschickt. Ich selbst bin "unstät und flüchtig" auf Erden — — 1.Carmen, opera by the French composer Georges Bizet (1838-1875). On January 5, 1882, Nietzsche sent Heinrich Köselitz a marked-up edition of Bizet's score, with 75 marginal notes in pencil. See "Nietzsche's Marginal Glosses to Georges Bizet's Carmen." In: Friedrich Nietzsche in Words and Pictures. Appendix 2. Chronology of Nietzsche's Music. The Nietzsche Channel, 2012, 121-141.
Leipzig 20. Juni 1886: Lieber Freund, ein paar Worte aus Leipzig, als späten Dank für Deinen Brief, der mich in Venedig erreichte.1 Es war gut, daß ich diesem Cholera-Neste entschlüpft bin, so unangenehm die Veranlassungen dazu waren. Es gäbe Viel zu erzählen, — aber schreiben? Nein! Es steht gar zu schlecht mit den Augen. Schmeitzner, wie ich gerade zur rechten Zeit erfuhr, gedachte mir einen schlimmen Streich zu spielen, nämlich meine ganze Litteratur an eine der schmutzigsten und anstößigsten Figuren2 des sächsischen Buchhandels zu verkaufen (der Betreffende ist mehrfach wegen Vertriebs obscöner Schriften bestraft, auch Socialdemokrat, anerkannt käuflich usw.) Mein Versuch, hier dazwischen zu treten, hat zum Mindesten die Sache etwas verschoben und hinausgeschoben. Ein Leipziger Verleger3 (nicht der völlig unzuverlässige und launenhafte Credner4) verhandelt jetzt mit Schm[eitzner] über den Ankauf meiner Schriften (d. h. der Rest-Exemplare) — aber der unverschämte Schm[eitzner], (der einen Begriff von meiner Nothlage hat und sie zu seinen Gunsten ausnützt) verlangt den unverschämten Preis von 12 000 Mark. — Einen neuen Verleger für etwas Neues5 habe ich nicht aufzufinden vermocht: eine Menge peinlicher Erfahrungen in diesem Capitel hat mich zur Resignation gebracht. Im Grunde hat es mich fast ein halbes Jahr gekostet, dies Suchen, Warten und Enttäuschtwerden. Meine Schriften, sagte man mir in Leipzig, seien "Zukunftsmusik":6 was ich mir ad notam genommen habe. — Sodann wurde nöthig, für Herrn Köselitz etwas zu thun, da, seitdem er selbst für sein Werk sich bemüht hat, Alles stecken geblieben ist. Hier in Leipzig habe ich wenigstens Eins erreicht — eine Privataufführung im Gewandhause vom letzten Werke K[öselitzen]'s (dem Septett) mit lauter ausgezeichneten Künstlern, den ersten Kräften des Gewandhaus-Orchesters. Der Erfolg war belehrend, wenn auch nicht angenehm — die Musik klang nicht gut, viel zu dick; ich meine, es ist die höchste Zeit, daß K[öselitz] in einer eigentlichen Musikstadt zu leben sich entschließt, um in Betreff der Orchestration zu hören und zu lernen. In Betreff der Oper7 verhandle ich eben mit Nikisch8 (ohne viel Hoffnung zu haben.) K[öselitz] brachte mir den fertigen Text der korsischen Oper mit ("Marianna" heißt sie)9 den er in Annaberg gedichtet hat. Doch war ich nicht im Stande, denselben zu billigen; so sehr der Muth anzuerkennen ist, mit dem er die Aufgabe gefaßt hat. Ein Jahr später wird er's besser machen. — Herr Widemann hat mich hier besucht: das ist ein tüchtiger achtbarer und feiner Mensch, obschon mir seine Philosophie einstweilen noch gründlich anfängerhaft vorkommt. Aber es ist etwas, so anzufangen. — Aber Rohde! Ich fand ihn in der wunderlichsten Klemme, außer sich über die Dummheit, Tübingen verlassen zu haben und tief im Widerspruch mit Leipzig: so daß sein Entschluß, sich nach Heidelberg10 berufen zu lassen (was inzwischen formaliter geschehn ist) schließlich räsonabel war, faute de plus raisonable. Dies unter uns: obwohl ich glaube, daß heute das Definitivum der Sache da ist (die Rückantwort des sächsischen Ministers). — Die baierische Tragödie11 hat mich tief erschüttert, ich weiß etwas zu viel von ihren Voraussetzungen. — In München gab es ein paar prächtige Stunden bei Deinen Verwandten. Der Sommer wahrscheinlich in Sils-Maria. In Kürze eine Karte darüber. In alter Liebe Dein 1. Nietzsche left Venice on May 8, 1886.
Sils-Maria, 14. Juli 1886: Lieber Freund, auch ich hätte dieses Jahr sehr gern Dich wiedergesehn: aber ich sehe schon, daß es nichts wird. Mein Wille, den Sommer über im Thüringer Wald, den Herbst in München1 zu verleben, scheitert an der force majeure (oder mineure) meiner Gesundheit. Das Leben im jetzigen Deutschland ist mir gänzlich unzuträglich, es wirkt vergiftend und lähmend auf mich; und meine Menschenverachtung wächst jedes Mal dort in gefährlichen Proportionen. Mit Deinem guten Willen zum "Außerhalb" und "a parte," wie er deutlich aus Deinem Plane der Wohnungsveränderung hervorgeht, bin ich deshalb gründlich einverstanden: Deine Lage in Basel, wahrlich nicht zu beneiden, aber mindestens auch nicht zu bejammern, hat etwas Vorsichtiges und Feines, das Du nicht leicht wo anders wieder finden könntest. Schade, daß dieser Ort mir klimatisch so unmöglich ist: denn mit wem redete ich jetzt lieber meine Dinge als mit Dir und Burckhardt? Auch bin ich wirklich den Baslern gewogen: und es freut mich immer, einem Basler zu begegnen (wie es dieser Tage wieder der Fall war: und jedes Mal fällt mir auf, wie imprägnirt mit dem Burckhardtschen Geiste und Geschmacke alles ist, was von dorther kommt: natürlich vorausgesetzt, daß etc. etc.) Zuletzt aber danke ich Gott (richtiger: meiner Krankheit, und, zu einem sehr guten Theile, Dir, lieber Freund!) daß ich nicht mehr dort bin. In einem falschen Milieu leben und seiner Lebensaufgabe ausweichen, wie ich es that, solange ich Philologe und Universitätslehrer war, richtet mich physisch unfehlbar zu Grunde; und jeder Fortschritt auf meinem Wege hat mich bisher auch der Gesundheit im leiblichsten Sinne näher gebracht. Jede Reise nach Deutschland war deshalb bisher immer ein Rückfall, eine Schwächung meiner Kräfte: leider waren solche Reisen aus diesem oder jenem Grunde immer nöthig. Mit meiner letzten (deren schlimme Nachwirkungen ich bis jetzt noch nicht überwunden habe) bin ich andererseits zufrieden, weil Mehreres durch dieselbe, wenn nicht in Ordnung, so doch in Klarheit gebracht worden ist (und weil, hoffentlich, solche Reisen nunmehr immer seltner werden dürfen —) Meine Mutter fand ich, zu meiner großen Beruhigung, heiterer, thätiger und selbstgewisser als je in ihrem hübschen Neste: wir wollen uns kleine Rendezvous' vereinbaren, etwa in der Schweiz, da gegen Naumburg leider sich das Gleiche einwenden läßt, wie gegen Basel — es ist mir nachtheilig, von Kindesbeinen an) Beiläufig: mein Zukunftsort wird wahrscheinlich, für Frühling und Sommer, Göschenen2 sein. Fritzsch hat sich bisher noch nicht mit Schm[eitzner] verständigen können, aber vielleicht kommt es doch noch dazu, da F[ritzsch] großen Werth darauf zu legen scheint, den "ganzen Nietzsche," so wie den ganzen Wagner in seinem Verlag zu haben: eine Nachbarschaft, die auch mir von Grund aus wohlthut.3 Denn, Alles in Allem gerechnet, war R[ichard] W[agner] der Einzige bisher, mindestens der Erste, der ein Gefühl davon gehabt hat, was es mit mir auf sich habe. (Wovon z. B. Rohde, zu meinem Bedauern, auch nicht die blasseste Vorstellung zu haben scheint, geschweige denn ein Gefühl von Pflicht gegen mich.) In dieser Universitäts-Luft entarten die Besten: ich spüre fortwährend als Hintergrund und letzte Instanz, selbst bei solchen Naturen wie R[ohde] eine verfluchte allgemeine Wurschtigkeit und den vollkommnen Mangel an Glauben zu ihrer Sache. Dafür, daß Einer (wie ich) diu noctuque incubando4 von frühester Jugend an zwischen Problemen lebt und da allein seine Noth und Glück hat, wer hätte dafür ein Mitgefühl! R[ichard] Wagner, wie gesagt, hatte es: und deshalb war mir Triebschen5 eine solche Erholung, während ich jetzt keinen Ort und keine Menschen mehr habe, die zu meiner Erholung taugten. — Meine Verhandlungen mit allen möglichen Verlegern haben mir schließlich einen einzigen Ausweg gezeigt, den ich jetzt gehe. Ich mache den Versuch, etwas auf meine Unkosten erscheinen zu lassen: gesetzt, es werden 300 Exemplare verkauft, so habe ich die Kosten heraus und kann das Experiment eventuell wiederholen. Die Firma C. G. Naumann giebt ihren sehr achtungswerthen Namen dazu her. Dies unter uns. Die Vernachlässigung durch Schm[eitzner] war ungeheuer: seit 10 Jahren keine Exemplare an Sortimenter vertheilt, ebensowenig Redaktionsexemplare; nicht einmal ein Commissionslager in Leipzig; keine Anzeigen, — kurz, meine Schriften von "Menschliches Allzumenschliches" an, sind "anecdota." Von "Zarathustra" sind je 60-70 Exemplare verkauft etc. etc. Schm[eitzner]'s Entschuldigung ist immer: daß seit 10 Jahren keiner meiner Freunde mehr den Muth habe, für mich einzutreten. Er will 12500 Mark für meine Schriften. Die Deinigen hofft er in Dresden zu verkaufen, wie Fritzsch erzählt. — Geld glücklich angelangt.6 In Treue Dein Freund Köselitz kündigt mir eben, als sehr wahrscheinlich, für Herbst seine Übersiedelung nach Nizza an; dasselbe that, vor ein paar Wochen, Herr Lanzky.7 Bis Mitte September bleibe ich hier, wo es nicht an alten Bekannten fehlt, die Mansouroff,8 die 2 Fynn's,9 Miss Helen Zimmern10 u.s.w. u.s.w. Aus München die 2 Gräfinnen Bothmer.11 Bitte, laß Schm[eitzner] nichts davon merken, daß ich von seinen Verhandlungen mit Fritzsch weiß, ebenso vom schlechten Rufe des Ehrlecke12: er benutzt dergleichen als Pressionsmittel gegen mich. Er will nämlich, daß ich selbst ihm die Bücher abkaufe (Brief letzter Woche) 1. Nietzsche's friends Reinhart and Irene von Seydlitz lived in Munich. In the draft of this letter, Nietzsche wrote that when he was "on the hunt for good original books," he "came across something good from Munich," Carl Wilhelm von Nägeli's Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. München; Leipzig: Oldenbourg, 1884 (see Nietzsche's copy), "a work sheepishly put aside by the Darwinists." See the entry for Nägeli in Nietzsche's Library.
Sils-Maria, 2. August 1886: Einzelne Exemplare2 sind an folgende Personen zu versenden: Professor Dr. Erwin Rohde,3 Leipzig In jedes Exemplar bitte ich meine Visitenkarte zu legen. Bitte, lassen Sie 100 Stück in Ihrer Offizin herstellen: den Rest behalten Sie zurück für spätere Gelegenheiten. Das feinste und stärkste Papier dazu, nichts darauf als: (Sehr elegant, großes Format.) Professor Dr. Friedrich Nietzsche Exemplare an Redactionen usw.10 6 Exemplare an NB. Ich ersuche diese Blätter auch nach der Benutzung aufzuheben, vielleicht zu späterem Gebrauche. F. N. — Daß an Herrn Köselitz 2 Ex. und an mich selbst 4 Ex. abzusenden sind (und zwar sofort, wenn der Buchbinder seine erste Arbeit gethan hat) habe ich schon im letzten Briefe41 mir erbeten. Hochachtungsvoll Ihr N. Mac Coll. Esq. 1. Constantin Georg Naumann (1842-1911): owner of the German printing and publishing firm C. G. Naumann in Leipzig. Nietzsche was now paying for the printing costs himself.
— M. K., "Jenseits von Gut und Böse." In: Nord und Süd. Breslau. Bd. 41. 05-1887, 31. Miss Helen Zimmern is known in England and America as the author of a book on Schopenhauer, a study of Italy, and a paraphrase of a Persian work called Epic of Kings. She is less famous as a friend of Nietzsche, whom she first met in Bayreuth in 1876, when he used to walk with her after lunch, having put in the morning at his desk. "I listened," she recently remarked, "with more or less feigned interest, for, to tell you the truth, I understood only little then of what he spoke about. But it seemed to give him such a relief to talk to a human being! The man seemed to me so lonely, so unspeakably lonely! If, here and there, I risked a little reply, he used to say, 'Quite so, but as Zarathustra has said before' — and then came a verse from his famous work, of which already three quarters were written at that time." // Asked what impression Nietzsche gave at that time, she replied: "Nietzsche was shy, and even awkward, when he found himself with people with whom he was entirely out of touch. But when the ice was once broken you could easily see that you had to do with a man who was thoroughly conscious of his merit. Once he even told me that his ideas were so important that one day university chairs would be founded in order to give lectures on and explanations of them." // In regard to his insanity, traces of which have been detected in Zarathustra by keen-nosed critics, she said: "I have heard of some of these discussions. New thought easily seems crazy to those who are thoroughly imbued with the old. I myself never noticed any trace of insanity, even of eccentricity. I deny, and most emphatically so, that there was a trace of insanity in the man I then knew. I should, on the contrary, rather say that he gave me the impression of being an extraordinarily sane man." // Miss Zimmern also makes it clear that Nietzsche's ideas about women were never put into practice, and that he was more than a real gentleman, that he possessed what the Italians call gentilezza. She told of an elderly Russian, believed to be a former lady-in-waiting of the Tsaritza, who was suffering from a nervous breakdown and had to leave the Alps in winter time for the warmer Italian climate. She refused, however, to quit her room, and though a carriage came every day for her she could not be prevailed upon to get in it. Finally Nietzsche heard of the incident, and asked if they would put her in his hands. A few days later when the carriage appeared Friedrich Nietzsche walked calmly to its door with the nervous old lady following him like a lamb. No one ever discovered how he prevailed on her to go.
13. Friedrich Zarncke (1825-1891): philologist, and editor of the Literarisches Centralblatt für Deutschland, for which Nietzsche wrote eight book reviews. Sils-Maria den 5. August 1886: Lieber Freund, eine Mittheilung und eine Bitte! — Eben telegraphirt mir Fritzsch aus Leipzig "Endlich im Besitz!" — Worte, die mir große Freude machen.1 Ein verhängnißvolles Versehn2 aus meiner Basler Zeit (etwas "zu viel Vertrauen," wie so oft in meinem Leben) ist damit ad acta gelegt. Wie gut, daß ich diesen Frühling nach Deutschland gieng!3 Dasselbe habe ich noch ein Mal zu sagen, in Hinsicht darauf, daß ich meine Lage gegenüber Verleger-Möglichkeit und Publikum mir ad oculos demonstrirte; auch daß ich persönlich mit dem ausgezeichneten Brüder-Paar Naumann4 verhandelte. Das neue Buch,5 ein Resultat, welches aus der Ferne gar nicht hätte erreicht werden können, ist eben fertig geworden; der Auftrag, ein Exemplar an Dich nach Basel abzusenden, ist bereits seit einigen Tagen ergangen. Nun kommt die Bitte, alter Freund: lies es, von vorne nach hinten, und laß Dich nicht erbittern und entfremden — "nimm alle Kraft zusammen,"6 alle Kraft Deines Wohlwollens für mich, Deines geduldigen und hundertfach bewährten Wohlwollens, — ist Dir das Buch unerträglich, so doch vielleicht hundert Einzelheiten nicht! Vielleicht auch, daß es dazu beiträgt, ein paar erhellende Lichter auf meinen Zarathustra zu werfen: der deshalb ein unverständliches Buch ist, weil er auf lauter Erlebnisse zurückgeht, die ich mit Niemandem theile. Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefühls von Einsamkeit geben könnte! Unter den Lebenden so wenig als unter den Todten habe ich Jemanden, mit dem ich mich verwandt fühlte. Dies ist unbeschreiblich schauerlich; und nur die Übung im Ertragen dieses Gefühls und eine schrittweise Entwicklung desselben von Kindesbeinen an macht mir's begreiflich, daß ich daran noch nicht zu Grunde gegangen bin. — Im Übrigen liegt die Aufgabe, um deren willen ich lebe, klar vor mir — als ein factum von unbeschreiblicher Traurigkeit, aber verklärt durch das Bewußtsein, daß Größe darin ist, wenn je der Aufgabe eines Sterblichen Größe eingewohnt hat. — — Ich bleibe hier bis Anfang September. Treulich Dein F. N. 1. Fritzsch and Schmeitzner had reached an agreement regarding the acquisition of Nietzsche's published works.
Sils-Maria, 22. September 1886: Hochverehrter Herr Professor, es thut mir wehe, so lange Sie nicht gesehn und gesprochen zu haben!1 Mit wem möchte ich eigentlich noch sprechen, wenn ich nicht mehr zu Ihnen sprechen darf? Das "silentium" um mich nimmt überhand. — Hoffentlich hat inzwischen C. G. Naumann seine Schuldigkeit gethan und mein letzthin erschienenes "Jenseits" in Ihre verehrten Hände gelegt.2 Bitte, lesen Sie dies Buch, (ob es schon dieselben Dinge sagt, wie mein Zarathustra, aber anders, sehr anders —). Ich kenne Niemanden, der mit mir eine solche Menge Voraussetzungen gemein hätte wie Sie: es scheint mir, daß Sie dieselben Probleme in Sicht bekommen haben, — daß Sie an den gleichen Problemen in ähnlicher Weise laboriren, vielleicht sogar stärker und tiefer noch als ich, da Sie schweigsamer sind. Dafür bin ich jünger… Die unheimlichen Bedingungen für jedes Wachsthum der Cultur, jenes äußerst bedenkliche Verhältniß zwischen dem, was "Verbesserung" des Menschen (oder geradezu "Vermenschlichung") genannt wird, und der Vergrößerung des Typus Mensch, vor Allem der Widerspruch jedes Moralbegriffs mit jedem wissenschaftlichen Begriff des Lebens — genug, genug, hier ist ein Problem, das wir glücklicher Weise, wie mir scheint, mit nicht gar Vielen unter den Lebenden und Todten gemein haben dürften. Es aussprechen ist vielleicht das gefährlichste Wagniß, das es giebt, nicht in Hinsicht auf den, der es wagt, sondern in Hinsicht auf die, zu denen er davon redet. Mein Trost ist, daß zunächst die Ohren für meine großen Neuigkeiten fehlen, — Ihre Ohren ausgenommen, lieber und hochverehrter Mann: und für Sie wiederum werden es keine "Neuigkeiten" sein! — — Treulich Adresse: Genova, ferma in posta. 1. Since he left Basel in 1879. Malwida von Meysenbug. From b/w etching. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Sils-Maria, 24. September 1886: Verehrte Freundin. letzter Tag in Sils-Maria; alle Vögel bereits fortgeflogen; der Himmel herbstlich-düster; die Kälte wachsend, — also muß der "Einsiedler von Sils-Maria" sich auf den Weg machen. Nach allen Seiten habe ich noch Grüße ausgeschickt, wie Jemand, der auch mit seinen Freunden die Jahres-Abrechnung macht. Dabei ist mir eingefallen, daß Sie seit lange keinen Brief von mir haben. Eine Bitte um Ihre Adresse in Versailles, welche ich brieflich an Fräulein B. Rohr1 in Basel ausgesprochen habe, ist mir leider nicht erfüllt worden. So sende ich denn diese Zeilen nach Rom: wohin ich auch vor Kurzem ein Buch adressirt habe. Sein Titel ist "Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft." (Verzeihung! Sie sollen es nicht etwa lesen, noch weniger mir Ihre Empfindungen darüber ausdrücken. Nehmen wir an, daß es gegen das Jahr 2000 gelesen werden darf…) Für Ihre gütige Erkundigung bei meiner Mutter, von der ich dieses Frühjahr hörte, danke ich Ihnen von Herzen. Ich war gerade in übler Verfassung: die Wärme, an die ich Gletscher-Nachbar nicht mehr gewöhnt bin, erdrückte mich beinahe. Dazu fühle ich mich in Deutschland wie von lauter feindlichen Winden angeblasen, ohne irgend welche Lust oder Verpflichtung zu spüren, meinerseits dagegen zu blasen. Es ist einfach ein falsches Milieu für mich, was die Deutschen von heute angeht, geht mich nichts an, — was natürlich kein Grund ist, ihnen gram zu sein. — So hat sich denn der alte Liszt, der sich auf's Leben und Sterben verstand, nun doch noch gleichsam in die Wagner'sche Sache und Welt hinein begraben lassen:2 wie als ob er ganz unvermeidlich und unabtrennlich hinzugehörte. Dies hat mir in die Seele Cosima's hinein weh gethan: es ist eine Falschheit mehr um Wagner herum, eins jener fast unüberwindlichen Mißverständnisse, unter denen heute der Ruhm Wagner's wächst und ins Kraut schießt. Nach dem zu urtheilen, was ich bisher von Wagnerianern kennen gelernt habe, scheint mir die heutige Wagnerei eine unbewußte Annäherung an Rom,3 welche von innen her dasselbe thut, was Bismarck von außen thut. Selbst meine alte Freundin Malvida — ah, Sie kennen sie nicht! — ist in allen ihren Instinkten grundkatholisch: wozu sogar noch die Gleichgültigkeit gegen Formeln und Dogmen gehört. Nur eine ecclesia militans4 hat die Intoleranz nöthig; jede tiefe Ruhe und Sicherheit des Glaubens erlaubt die Skepsis, die Milde gegen Andere und Anderes … Zum Schluß schreibe ich Ihnen ein paar Worte über mich ab, die im "Bund" (16. und 17. Sept.) zu lesen sind. Überschrift: Nietzsches gefährliches Buch.5 "Jene Dynamitvorräthe, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. — Ganz nur in diesem Sinne sprechen wir von dem neuen Buche des Philosophen Nietzsche als von einem gefährlichen Buche. Wir legen in diese Bezeichnung keine Spur von Tadel gegen den Autor und sein Werk, so wenig als jene schwarze Flagge jenen Sprengstoff tadeln sollte. Noch weniger könnte es uns einfallen, den einsamen Denker durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit seines Buchs den Kanzelraben und den Altarkrähen auszuliefern. Der geistige Sprengstoff, wie der materielle, kann einem sehr nützlichen Werke dienen; es ist nicht nothwendig, daß er zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werde. Nur thut man gut, wo solcher Stoff lagert, es deutlich zu sagen "Hier liegt Dynamit!" Seien Sie mir also, verehrte Freundin, dafür hübsch dankbar, daß ich mich von Ihnen ein wenig ferne halte! ... Und daß ich mich nicht darum bemühe, Sie auf meine Wege und "Auswege" zu locken. Denn, um nochmals den "Bund" zu citiren: "Nietzsche ist der Erste, der einen neuen Ausweg weiß, aber einen so furchtbaren, daß man ordentlich erschrickt, wenn man ihn den einsamen, bisher unbetretenen Pfad wandeln sieht!" ... Kurz und gut, es grüßt Sie von Herzen Der Einsiedler von Sils-Maria. Adresse zunächst: Genova: ferma in posta. 1. Berta Rohr-Schmidt (1848-1940): an acquaintance of Nietzsche from Basel who by all accounts was very pretty; she was also a friend of Malwida von Meysenbug. Nietzsche first met her in 1873 (she was a former marriage prospect). The "letter" to which Nietzsche refers was actually a brief note written on the back of Nietzsche's calling card, and dated September 1, 1886. Along with the note, Nietzsche sent a copy of Jenseits von Gut und Böse (Beyond Good and Evil): "Wertestes Fräulein, es ruft sich Ihnen mit beifolgendem Gruße ein alter Philosoph und Einsiedler ins Gedächtnis zurück ... Sind Sie gesund? Und was haben Sie für diesen Herbst in Aussicht? Kommen Sie vielleicht über nach Zürich? Und was ist jetzt die Adresse unserer alten Freundin Malwida? Es grüsst Sie Ihr alter Verehrer." The calling card was discovered, and auctioned in 2012: "Here at last is the autograph of the philosopher; if you also want the book which accompanied it, 'Jenseits von Gut und Böse,' it's at your disposal."
Ruta Ligure,1 10. Oktober 1886: Lieber Freund, ein Wort aus diesem wunderlichen Welt-Winkel, wo ich Sie selbst lieber wüßte als in München. Denken Sie sich eine Insel des griechischen Archipelagos, mit Wald und Berg willkürlich überworfen, welche durch einen Zufall eines Tags an das Festland herangeschwommen ist und nicht wieder zurück kann. Es ist etwas Griechisches daran, ohne Zweifel: andererseits etwas Piratenhaftes, Plötzliches, Verstecktes, Gefährliches; endlich, an einer einsamen Wendung, ein Stück tropischen Pinienwaldes, mit dem man aus Europa weg ist, etwas Brasilianisches, wie mir mein Tischgenosse2 sagt, der die Erde mehrmals umreist hat. Ich lag nie so viel herum, in wahrer Robinson-Insularität und -Vergessenheit; mehrfach auch lasse ich große Feuer vor mir empor lodern. Die reine unruhige Flamme mit ihrem weißgrauen Bauche3 sich gegen den wolkenlosen Himmel aufrichten zu sehn — Haidekraut rings herum, und jene October-Seligkeit, welche sich auf hundert Arten Gelb versteht — oh lieber Freund, ein solches Nachsommer-Glück wäre etwas für Sie, ebensosehr und vielleicht noch mehr als für mich! Im Albergo d'Italia (das vorzüglich reinliche Zimmer hat, leider eine italiänische Küche alla Veneziana) wohne ich für 5 frs. den Tag, tutto compreso, auch der Wein. Der Hr. Altsmann, der jetzt mit im Hôtel wohnt (Lehrer an dem Istituto technico in Genova) sagt mir, daß man viel billiger leben könne, wenn man sich ein einzelnes Zimmer in einem der hübschen ringsum zerstreuten Häuser miethe; seine zwei Mahlzeiten im Hôtel werde man für 2 1/2 frs. (vino compreso) arrangiren können. Hierher habe ich Sie mir gedacht, mein lieber Freund, daß Sie den Muth und die Inspiration finden möchten, Ihren Lebensweg weiter zu gehn und Ihr Lebenslied immer schöner zu singen. Man kann hier das ganze Jahr sein und arbeiten, nach Urtheil und Erfahrung des Professor Altsmann; es giebt einen venticello, eine leichte spielende Vorgebirgs-Luft, welche auch den Sommer hier zu leben anräth: darauf hin giebt es viele Villen alter Seekapitäne oder Genueser, auch die eines englischen Zahnarztes (der z. B. eine kleine Wohnung von 3 Räumen, möblirt, das Jahr für 300 frs. anbietet). Gesetzt, Sie fänden aus meinen Worten etwas heraus, worauf hin Sie selbst Pläne zu machen anfiengen, so will ich Ihnen einen ausgezeichneten ernsten Deutschen in Genua nennen, der um meinetwillen Ihnen gewiß mit Rath und That entgegenkommen wird. Schreiben Sie, bitte, an mich mit dieser Adresse: Nizza (France) poste restante. — Treulich Ihr Freund Jener erwähnte Deutsche heißt Zilliken (Genova, Vico di Negri 4); ich will ihn morgen besuchen und ihm von Ihnen erzählen. (Er ist Kaufmann oder Banquier) Gehen Sie, bitte, zu Maler Hans Bartels4 (der auch Ruta und diese Küste kennt), bringen Sie meine Grüße und vielleicht auch jene 2 Nummern des "Bund"5 zum Lesen, welche Naumann6 Ihnen gesendet hat. Anbei ein Brief Hegar's7 über den "Hymnus an das Leben." Ihre Mitbetheiligung habe ich absolut verschwiegen.8 Lieber Freund, wäre es Ihnen möglich (vorausgesetzt, daß Sie mir eine große Weihnachts-Freude machen wollen —) jenem "Hymnus an das Leben" ein Klavier-Arrangement angedeihn zu lassen (vierhändig, mit jenem Raffinement der Vierhändigkeit, auf welches man sich jetzt versteht und von dem ich, als ich jung war, gar nichts wußte). In diesem Falle würde ich mir erlauben, das Manuscript an Ihre Münchner Adresse zu senden. F. N. 1. Along with the address, Nietzsche wrote: "c. 400 Meter überm Meer, an der Straße, über
das Joch von Portofino führend." (c. 400 meters above the sea, driving on the road across the ridge of Portofino.)
Ruta Ligure, 14. Oktober 1886: Hochverehrter Herr, inzwischen habe ich mir die Freiheit genommen, einer alten Liebe und Gewohnheit gemäß, Ihnen mein letztes Buch2 zu übersenden; mindestens bekam mein Verleger C. G. Naumann3 den Auftrag dazu. Vielleicht geht dies Buch mit seinem Fragezeichen-Inhalte wider Ihren Geschmack: vielleicht nicht seine Form. Wer sich ernsthaft und mit herzlicher Neigung um die deutsche Sprache bemüht hat, wird mir schon einige Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen: es ist Etwas, so sphinxartige und stummgeborne Probleme, wie die meinen sind, zum Reden zu bringen. — Im letzten Frühling bat ich meine alte Mutter, mir Ihr Sinngedicht4 vorzulesen, — und wir Beide haben Sie dafür aus vollem Herzen gesegnet (auch aus vollem Halse: denn wir haben viel gelacht): so rein, frisch und körnig schmeckte uns dieser Honig. — Mit dem Ausdruck treuer Anhänglichkeit und Verehrung Ihr Prof. Dr. Friedrich Nietzsche. 1. Gottfried Keller (1819-1890): Swiss poet and writer. See his entry in Nietzsche's Library.
Menthon St. Bernard, 17. Oktober 1886: Monsieur, Au retour d'un voyage, j'ai trouvé le livre2 que vous aviez bien voulu m'adresser; comme vous le dites, il est plein de "pensées de derrière."3 La forme si vive, si littéraire, le style passionné, le tour souvent paradoxal ouvriront les yeux du lecteur qui voudra comprendre; je recommanderais particulièrement aux philosophes voire premier morceau sur les philosophes et sur la philosophie (p. 14, 17, 20, 25);4 mais les historiens et les critiques feront aussi leur butin de quantité d'idées neuves (par exemple 41, 75, 76, 149, 150 etc.).5 Ce que vous dites des caractères et des génies nationaux dans votre 8e Essai est infiniment suggestif, et je relirai ce morceau, quoiqu'il s'y trouve un mot beaucoup trop flatteur sur mon compte.6 Vous me faites un grand honneur dans votre lettre en me mettant à côté de M. Burckhardt de Bàle que j'admire infiniment; je crois avoir été le premier en France à signaler dans la presse son grand ouvrage sur la Culture de la Renaissance en Italie. Veuillez agréer, avec mes vifs remerciements, l'assurance de mes sentiments les plus dévoués et les plus distingués. H. Taine.7 1. Hippolyte Taine (1818-1897): French historian and critic. See his entry in Nietzsche's Library.
Nizza, 26. October 1886: Lieber Freund, schönsten Dank! — Aber ich will nicht nach Paraguay, wohin man mich einladet.1 Viel eher noch nach München: vorausgesetzt, daß ich wieder heiterer und "menschenfreundlicher" werde, als ich jetzt gerade bin. Was für ein schwermüthiger Herbst! Bleigewichte überall, Niemand, der mich etwas aufhellt, — und nichts um mich als meine alten Probleme, die alten rabenschwarzen Probleme! — Hast Du Dich in meinem "Jenseits" umgethan?2 (Es ist eine Art von Commentar zu meinem "Zarathustra." Aber wie gut müßte man mich verstehn, um zu verstehn, in wie fern es zu ihm ein Commentar ist!) Ein Buch für die Menschen umfänglichster Bildung, z. B. Jacob Burckhardt und Henri Taine,3 die ich einstweilen für meine einzigen Leser halte: und zuletzt nicht einmal ein Buch für sie —, sie haben weder die gleiche Noth noch den gleichen Willen mit mir gemein. — Dies ist Einsamkeit: — ich habe Niemanden, der mit mir mein Nein und mein Ja gemein hätte! Die Reise nach Corsica gab ich auf, weil mir der Mensch,4 der mich dahin begleiten sollte, gänzlich bei näherer Besichtigung zuwider wurde. Meine Drei-Viertels-Blindheit zwang mich, alles eigne Experimentiren zu lassen und schnellstens nach Nizza zu flüchten, das meine Augen "auswendig gelernt" haben. Ja, gewiß! Es hat mehr Licht, als München! Bis jetzt weiß ich außer Nizza und dem Engadin keine Gegend, wo ich es noch aushalte, täglich ein paar Stunden mit den Augen thätig zu sein. Aber auch damit geht es vielleicht mit diesem Winter zu Ende. — Habe nur Geduld: ich komme schon noch nach München.5 Vielleicht giebt es daselbst ein sehr lustiges weibliches Geschöpf, mit dem ich lachen kann? Ich muß das Lachen nachholen.6 Von Paraguay aus die herzlichsten Grüße an Dich und Deine liebe Frau,7 der ich wünsche bestens empfohlen zu sein. Treulich Den Wagnerianern8 (namentlich Levi9) in München allesammt meine besten compliments, sincères et tendres!10 1. See Asuncion, 09-05-1886: Letter from Elisabeth Förster-Nietzsche to Nietzsche in Sils Maria.
Nice, 14. November 1886: Lieber Freund, das neue Jahr1 findet Dich hoffentlich bei guter Gesundheit, auch zufrieden mit der neuen Behausung;2 in allem Übrigen darf ich ja voraussetzen, daß Alles beim Alten bleibt, da es ja das gute Alte ist: vor Allem Du selbst, mein lieber Freund, den ich nicht erst darum zu bitten brauche, daß mir Dein altes bewährtes und vielfach auf die Probe gestelltes Vertrauen und Wohlwollen auch ins neue Jahr folgen möge. Deinem letzten Brief entnahm ich einige Zuversichtlichkeit mehr, in Hinsicht darauf, daß ich inzwischen in Betreff der Paraguayer Angelegenheit Nein gesagt habe* (— ich ärgerte mich im Stillen darüber, daß man mir nicht erspart hat, Nein zu sagen …)3 Sonst hat sich Nichts zugetragen, eine Sturmfluth im großen Stile abgerechnet, und viel Krankheit und Melancholie meinerseits, letzteres im ganz kleinen Stile: der bei dergleichen der schlechteste Stil ist. Es gab allerlei noch zu verordnen und auszudenken, um die neue Herausgabe meiner Schriften bei Fritzsch für den Herausgeber so vortheilhaft als möglich zu machen.4 Jetzt sind die älteren Schriften (bis zur "Morgenröthe") in neuen hübschen Kleidchen, und von mir mit mächtig-langen Vorreden bedacht, zur Versendung fertig und schon versandt. Gestern wurden auch die Vorreden zur "Morgenröthe" und zur "fröhlichen Wissenschaft" von mir druckfertig gemacht; den Schluß der fröhlichen Wissenschaft wird ein Anhang machen mit dem Titel "Lieder des Prinzen Vogelfrei." — Diese 5 Vorreden sind vielleicht meine beste Prosa, die ich bisher geschrieben habe; leider steht mir auch gar nichts von Freiexemplaren zur Verfügung. — Die Antinomie meiner jetzigen Lage und Existenzform liegt jetzt darin, daß alles das, was ich als philosophus radicalis nöthig habe — Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Gesellschaft, Vaterland, Glauben u.s.w. u.s.w. ich als ebensoviele Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und nicht bloß eine Analysirmaschine und ein Objektivations-Apparat bin. Ich muß hinzufügen, daß dieser Gegensatz von Nothwendigem und von Entbehrtem durch den abscheulichen Mangel einer auch nur mittelmäßig soliden Gesundheit auf die Spitze getrieben wird, — denn in Momenten der Gesundheit fühle ich jene Entbehrungen weniger hart. Auch weiß ich mir absolut nicht jene 5 Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen eine erträgliche Mittlere meiner labilen Gesundheit herzustellen wäre; das Schlimmste aber wäre jedenfalls, wenn ich, um die 5 Bedingungen der Gesundheit zu schaffen, mich der 8 Freiheiten des philosophus radicalis beraubte. — Dies scheint mir der objektivste Ausdruck meiner complizirten Lage… Verzeihung! Oder vielmehr: Du darfst Dich darüber lustig machen! — Dir und Deiner lieben Frau mich angelegentlich empfehlend Dein Freund * Deinen Vorschlägen hinsichtlich der Gelder vollkommen beipflichtend. 1. Overbeck's birthday was November 16. Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Nice, 13. December 1886: Verehrteste Freundin, Ihre liebenswürdige Absicht, mir schreiben zu wollen, hat mich in Gestalt einer grünen Karte1 erreicht: sie hatte dazu den Sprung von Genua nach Nizza zu machen. Es ist mein vierter Winter an diesem Orte, mein siebenter an dieser Küste: so will es meine ebenso dumme als anspruchsvolle Gesundheit, auf die böse zu sein gerade jetzt wieder die Anlässe zu häufig sind. Nizza und Engadin: aus diesem Cirkeltanze darf ich altes Pferd immer noch nicht heraus. — Zum Mindesten darf ich nicht in jene wärmeren Länder, wohin ich jetzt sehr gelockt werde: jeder Brief aus Paraguay2 enthält Künste der Verführung. Aber umsonst! — ich weiß zu gut, daß mich die Kälte verwöhnt hat (denn mein Kunststück, um die letzten 10 Jahre durchzubringen, bestand in dem Sich-auf-Eis-legen; ein kleiner milder Januar, ungefähr für das ganze Jahr durchgeführt, Nordzimmer, blaue Hände,3 nichts von Ofen, eiskalte Gedanken — ah, davon brauche ich Ihnen nicht zu schreiben?! —) — Meine Tischnachbarin sagte neulich, in diesem Betrachte, meine Nähe verursache ihr Schnupfen. — Hoffentlich finden Sie in Rom genug von Liebe und Freundschaft vor, um die Abreise von Versailles einigermaßen zu verwinden. Von Minghetti's Tode4 habe sogar ich gehört. — Hier ist die Saison sehr im Gange und Glanze, die letzte, wie man überall hört und fühlt, die letzte Saison vor "dem Kriege." Man ist früher hier eingetroffen als je; ich selbst war unter den Frühesten. Auch die Kälte hat sich beeilt: vielleicht wird der Winter sehr kurz, und schon der Februar bringt den Frühling! Sicherlich kann es keine schönere Jahreszeit für Nizza geben als die jetzige: der Himmel blendend weiß, das Meer tropisch blau, des Nachts ein Mondlicht, daß die Gaslaternen sich schämen und roth werden: und darin laufe ich nun wieder herum, wie schon so viele Male und denke meine schwarze Art Gedanken aus … Treulich Ihr alter sehr vereinsiedelter Freund 1. Unknown card. |
Not to be reproduced without permission. All content © The Nietzsche Channel.