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Nizza, Mitte März 1885: Als ich deinen Brief1 las, kam mir wieder einmal zum Bewußtsein, weshalb mich einige feinere Köpfe in Deutschland für irrsinnig halten oder gar erzählen, ich sei im Irrenhaus gestorben.2 Ich bin viel zu stolz als je zu glauben, daß ein Mensch mich lieben könne: dies würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig glaube ich daran, daß ich je Jemanden lieben werde: das würde voraussetzen, daß ich — einmal — Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände — Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Rich[ard] W[agner] oder A. Schopenhauer3 eben so sehr verachte als tief bedaure und daß ich den Stifter des Christenthums als oberflächlich empfinde im Vergleich mit mir ich habe sie alle geliebt, als ich noch nicht begriff, was der Mensch ist. Es gehört zu den Räthseln, über die ich einige Male nachgedacht habe, wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt sind. — Was mich beschäftigt, bekümmert, erhebt, dafür habe ich nie einen Mitwisser und Freund gehabt! es ist Schade, daß es keinen Gott giebt, damit es doch Einer wüßte. — So lange ich gesund bin, habe ich guten Humor genug, um meine Rolle zu spielen und mich vor aller Welt darunter zu verstecken zb. als Basler Professor. Leider bin ich sehr viel krank, und dann hasse ich die Menschen, welche ich kennen gelernt habe, unsäglich, mich eingerechnet. — Meine liebe Schwester, das Wort unter uns — und Du darfst den Brief hinterdrein verbrennen. Wenn ich nicht ein gut Stück von einem Schauspieler wäre, so hielte ich’s nicht eine Stunde aus, zu leben. Für Menschen, wie ich bin, giebt es keine Ehe: es sei denn im Stile unseres Goethe.4 Ich denke nicht daran, je geliebt zu werden. Wenn ich Dir sehr gezürnt habe, so ist es, weil Du mich zwangst, die letzten M[enschen]5 aufzu[ge]ben, mit welchen ich ohne Tartüfferie sprechen konnte. Jetzt — bin ich allein. mit denen ich ohne Maske von den Dingen reden konnte, die mich interessiren. Was sie von mir dachten und hielten, war mir sehr gleichgültig. — Jetzt bin ich allein. Verbirg diesen Brief unserer Mutter und — — — Es scheint mir, daß ein Mensch, bei dem allerbesten Willen, unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist. Um ein Beispiel zu nehmen: die gute Malvida hat ihr ganzes Leben nichts als Unheil angestiftet, Dank jener eben genannten Unbescheidenheit. Sei mir eines solchen Briefs wegen nicht böse! Es liegt mehr Artigkeit darin, als wenn ich wie gewohnt, eine Komödie spiele. Du weißt, daß ich von den Franzosen dieses Jahrhunderts Henri Beyle (Stendhal)6 am liebsten habe. Von seinen Schülern ist bei weitem der einflußreichste Taine:7 um Dir einen Begriff von ihm zu geben, sende ich Dir seinen M. Graindorge,8 ein Buch, das für meinen Geschmack etwas zu harmlos ist, aber vielleicht um so mehr geeignet ist, dir einen günstigen Begriff von seinem Verfasser zu geben. 1. See fragment of a mid-March 1885 letter from Elisabeth Nietzsche.
Nizza, Mitte März 1885: Diesen Winter bekommt man keine Briefe von mir, ich bin augenleidend, in einem Grade, daß ich fürchte, eines Tages und ganz plötzlich, blind zu sein — Dies sage ich nur, um mich zu entschuldigen, dafür daß ich auf Ihren Brief so spät antworte. — Mein werther Freund, Sie wissen nicht, wer ich bin, noch was ich will. Mein Vortheil ist es, zuzusehen, was Andere thun und wollen, ohne selber dabei erkannt zu werden. — Ich weiß sehr gut, daß Ihre Liebe und Verehrung für R[ichard] W[agner] zu groß ist, als daß Sie einen M[enschen] erkennen könnten, der grundsätzlich von ihm verschieden ist. Was würden Sie von mir denken, wenn ich sagte, daß ich R[ichard] W[agner] eben so sehr tief bedaure als verachte? Sie würden denken, ich sei verrückt. Es ist mein Loos, mich nur unter Masken zu zeigen, ich bin sehr ehrlich gegen Sie, Ihnen so viel von mir zu verrathen. — Dies unter uns Ihr ergebenster Sie gefallen mir sehr: nur sollten Sie ernsthaft Dichter und schlechterdings nicht Aesthetiker und Philosoph sein wollen. Was R[ichard] W[agner] anbetrifft, von dem Ihr Brief redet: so gehört er zu den Menschen, welche ich am meisten geliebt und auch am meisten bedauert habe. Doch liegt es mir ferne, mich je mit ihm zu verwechseln oder zu vergleichen: er gehört einer ganz anderen Ordnung von Menschen an — und am letzten wohl zu den großen Schauspielern — Es ist schwer zu erkennen, wer ich bin: warten wir 100 Jahre ab: vielleicht giebt es bis dahin irgend ein Genie von Menschenkenner, welches Herrn F. N. ausgräbt. — Im Übrigen — unter uns gesprochen — habe ich Gründe vorsichtig zu sein und Schritt für Schritt zu thun. Schon diesen 4ten Z[arathustra] habe ich nicht mehr der Öffentlichkeit anvertraut. Dies Werk — es braucht Ihnen nicht zu gefallen, Sie sollen sich ja keinen Zwang anthun! Werke dieser Art sind sehr anspruchsvoll, sie wollen Zeit. Da muß erst die Autorität von Jahrhunderten dazu kommen, daß so Etwas recht gelesen wird. Einstweilen — — — Ich will bei Gelegenheit einmal den deutschen Musikern die Leviten darüber lesen, was sie von W[agner] zu lernen und zu verlernen haben — sonst bleibt auch in der Geschichte der Musik W[agner] schließlich wie ein großer Thunichtgut übrig Was aber gar das Reich der Erkenntniß angeht — um des Himmels Willen, wo haben Sie Ihre Augen — was hat da dieses Genie der deutschen Unklarheit zu schaffen, der Nichts ordentlich gelernt und Alles durcheinander gemantscht hat, Pardon und — — — Soll denn dieses Genie der deutschen Unklarheit auch noch nach seinem Tode fortfahren Unfug zu stiften? Sie mir in einem trüben Winter unter Freunden mit dem W[agner] L[exikon]1 beschäftigt zu denken — nein, dabei jammert’s mich und ich gedenke meiner eigenen elenden Zeiten, als ich jung war. Lesen Sie doch zur Wiederher[stellung] etwas Stärkend[es] und Herzerh[e]bend[es], lesen Sie Montaigne2 — falls Sie zu meinem eigenen, freilich gefährlich starken Wein keinen Durst haben, und noch nichts von besseren Büchern wissen. Ihnen als dem Verfasser des Wagner-Lexikons! in das ich inzwischen auch ein Mal hineingeblickt habe — und daß ichs ausspreche, mit einem unsäglichen Abscheu vor diesem anmaaßlichen Gefasel über jeglich Ding. "Man soll diesen Sumpf nicht aufrühren" ,3 sagte der Syrakusaner — — — 1. Heinrich von Stein, Carl Friedrich Glasenapp, Wagner-Lexikon. Hauptbegriffe der Kunst- und Weltanschauung Richard Wagner's in wörtlichen Anführungen aus seinen Schriften zusammengestellt. Stuttgart: Cotta, 1883. Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Nizza, 26. März 1885: Verehrte Freundin, Sie wundern sich darüber, daß ich Ihnen gar nicht mehr schreibe? Ich wundere mich gleichfalls darüber; aber immer, wenn ich mich dazu anschickte, legte ich endlich die Feder wieder weg. Wüßte ich die Gründe dafür genau, so würde ich mich nicht mehr wundern, aber — vielleicht betrüben. Es gieng mir nicht gut, den ganzen Winter (die trockne Luft fehlte mir, dank den Abnormitäten dieses Jahrs), und als Ihr gütiger Brief zu mir kam, lag ich zu Bett, sehr leidend. Aber das ist eine alte Geschichte, und im Grunde bin ich’s satt, Briefe über meine Gesundheit zu schreiben. "Helfen" — wer könnte mir helfen! Ich selber bin bei weitem mein bester Arzt. Und das Positivum, daß ich's aushalte und meinen Willen durchsetze unter viel Widerständen, ist mein Beweis dafür. Es war den Winter über ein Deutscher1 um mich, der mich "verehrt": ich danke dem Himmel, daß er fort ist! Er langweilte mich, und ich war genöthigt, so Vieles vor ihm zu verschweigen. Oh über die moralische Tartüfferie aller dieser lieben Deutschen! Wenn Sie mir einen Abbé Galiani2 in Rom versprechen könnten! Das ist ein Mensch nach meinem Geschmack. Ebenso Stendhal.3 — Was Musik angeht: so habe ich letzten Herbst gewissenhaft und neugierig die Probe gemacht, wie ich jetzt zu R. Wagner's Musik stehe. Was mir diese wolkige, schwüle, vor allem schauspielerische und prätentiöse Musik zuwider ist! So sehr zuwider als — als — als — tausend Dinge, zum Beispiel Schopenhauer's4 Philosophie. Das ist Musik eines mißrathenen Musikers und Menschen, aber eines großen Schauspielers — darauf will ich schwören. Da lobe ich mir die tapfere und unschuldige Musik meines Schülers und Freundes Peter Gast, eines ächten Musikers: der mag einmal für seinen Theil dafür sorgen, daß die Herrn Schauspieler und Schein-Genies nicht mehr zu lange den Geschmack verderben. — Der arme Stein! Er hält R. Wagner sogar für einen Philosophen! Warum rede ich davon? Es ist nur, daß ich Ihnen irgend ein Beispiel gebe. Es ist der Humor meiner Lage, daß ich verwechselt werde — mit dem ehemaligen Basler Professor Herrn Dr. Friedrich Nietzsche. Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an! — Sehen Sie, meine verehrte Freundin, das ist ein Brief "unter vier Augen." Ende dieses Monats kommt Herr Dr. Förster5 nach Naumburg, von der Liebe beschleunigt, nämlich um einen Monat früher als es die Vernunft seiner Land-Studien wollte. Was ich froh bin über diese Wendung! Und wie ich hoffe, damit für die Zukunft einer ganz lebensgefährlichen Art von Folterung enthoben zu sein, welche diese letzten Jahre über mich verhängt war! —6 Geben Sie mir doch die Adresse jenes Klosters! Es könnte sein, daß ich vielleicht im Herbst einmal den Versuch mit Rom mache, vorausgesetzt, daß ich incognito dort leben kann, und meiner Einsiedler-Natur nichts Widernatürliches zugemuthet wird. Sie wissen doch, wie sehr ich Ihnen zugethan bin? Ihr Ich liebe diese Küste nicht, ich verachte Nizza, aber im Winter hat es die trockenste Luft in Europa. 1. Paul Lanzky (1852-a. 1940): German poet and former editor of La Rivista Europea. See his entry in Nietzsche's Library.
Nizza, 30. März 1885: Lieber Freund, seltsam! Ich erinnere mich gar nicht mehr, daß ich jemals eine Reise nach einem Orte hin mit Vergnügen unternommen hätte. Aber diesmal: — zu denken, daß ich bald in Venedig1 und bei Ihnen sein werde, erquickt mich, entzückt mich, es ist wie die Hoffnung auf Genesung bei einem lange und geduldig Kranken. Dabei habe ich entdeckt, daß Venedig mir bisher allein gefallen und wohlgethan hat: oder vielmehr, ich sollte ganz andre (und bescheidenere) Ausdrücke gebrauchen. Als Landschaft ist mir Sils-Maria verwandt (leider nicht als Ort) — wüßte ich nur, wie ich dort mir eine würdige Einsamkeit und Einsiedlerschaft erhalten könnte! Aber — es kommt in Mode! Sie selber aber, mein lieber Freund und maestro, gehören einstweilen für mich wesentlich zu Venedig, und im Grunde höre ich nichts lieber, als daß Sie dieser Stadt noch nicht müde sind. Wie Viel habe ich neuerdings an Sie und über Sie gedacht! Sogar, als ich in den mémoires des alten De Brosses (1739-40) über Venedig las und über den damals berühmtesten maëstro, nämlich Hasse (il detto "Sassone").2 Sein Sie nicht böse, es liegt mir ferne, unehrerbietige Vergleichungen zu machen. An Malvida schrieb ich dieser Tage, Herr Peter Gast werde für seinen Theil dafür sorgen, daß die Herrn Schauspieler und Schein-Genies der Musik nicht mehr lange den Geschmack verderben. "Nicht mehr lange" — das ist vielleicht eine große Übereilung. In einem demokratischen Zeitalter ist das Schöne jeder Art Eigenthum Weniger: pulchrum paucorum est hominum.3 Ich freue mich, in Ihrem Falle ein "Weniger" zu sein. Die Menschen, die tief und lustig genug für mich sind, mit âmes mélancholiques et folles, gleich meinen verstorbenen Freunden Stendhal4 und Abbé Galiani,5 haben es auf Erden nicht aushalten können ohne die Liebe zu einem Musiker des Glücks (Galiani nicht ohne Piccini,6 und Stendhal nicht ohne Cimarosa und Mozart) Ah, wenn Sie wüßten, wie allein ich jetzt auf der Welt bin! Und wie viel Komödie noth thut, um nicht, hier und da, aus Überdruß, irgend Jemandem in's Gesicht zu spucken! Glücklicher Weise ist etwas von den höflichen Manieren meines Sohnes Zarathustra auch in seinem verrückten Vater vorhanden. Wenn ich aber zu Ihnen und nach Venedig komme, hat es, für eine Zeit lang, einmal mit der "Höflichkeit" und der "Komödie" und dem "Überdruß" und der ganzen verfluchten Nizza-haftigkeit ein Ende — nicht wahr, mein werther Freund? Nicht zu vergessen: es werden wieder "bajicoli"7 gegessen! Von Herzen NB. Ich will hier die Beendigung des Drucks abwarten. 1. Nietzsche arrived in Venice on April 10.
Nizza, 31. März 1885: Alles ist glücklich in meinen Händen,1 ich danke Dir, lieber alter Freund, für alle diese Sorge und Sorgfalt um mich. Du schreibst nichts von Deiner und Deiner lieben Frau Gesundheit: ich nehme es als ein gutes Zeichen, daß Ihr diesen sonderbaren Winter glücklicher bestanden habt als ich. Für mich gab es viel Überwindung, viel kranke Tage. Mit den Augen steht es immer bedenklicher. Die Mittel Schiessens2 haben nichts geholfen. Seit vorigem Sommer ist eine Wendung eingetreten, die ich nicht verstehe. Flecken, Verschleierung, auch Thränenfluß. Ich darf schwerlich wieder nach Nizza: die Gefahr, überfahren zu werden, ist hier zu groß. Bei Tische hat man mir immer vorlegen müssen, ich mag bei diesem Zustande nicht mehr in Gesellschaft essen. Es ist wahrscheinlich, daß ich mir die Reise nach dem Norden3 erspare, die Gefahren und Aufregungen des Allein-Reisens sind jetzt zu groß für mich geworden. — Dr. Förster ist aus Paraguay4 zurückgekehrt, großer Jubel in Naumburg. Vielleicht entsteht aus der Verheirathung meiner Schwester auch für mich Etwas Gutes: sie wird die Hände voll zu thun haben und Jemanden besitzen, dem sie völlig vertrauen darf und dem sie wirklich nützen kann: was Beides, bisher, in Bezug auf mich, nicht immer möglich war. Vom Prozeß contra Schm[eitzner] höre ich nichts Neues.5 Er hatte sich selber zuletzt den ersten Januar als Termin gesetzt, aber ihn wieder, wie früher, verstreichen lassen, ohne "Mucks." — Was ich am meisten wünsche, meine 3 ersten Theile Zarathustra ihm aus den Händen und damit aus der "Publicität" zu ziehn, läßt sich vielleicht erreichen. Natürlich habe ich für den vierten Z[arathustra] keinen Verleger gefunden. Nun, ich bin’s zufrieden und genieße es sogar als ein neues Glück. Wie viel Scham war immer, bei allen meinen Publicationen, für mich zu überwinden! Wenn ein Mensch, wie ich, die Summe eines tiefen und verborgenen Lebens zieht, so gehört dergleichen vor die Augen und Gewissen der ausgesuchtesten Menschen. Genug, es hat Zeit. Mein Verlangen nach Schülern und Erben macht mich hier und da ungeduldig und hat mich, wie es scheint, in den letzten Jahren sogar zu Thorheiten6 verleitet, welche lebensgefährlich waren. Zuletzt bringt mich das ungeheure Schwergewicht meiner Aufgabe7 immer wieder zum Gleichgewicht: und ich weiß ganz gut, was zuerst und zunächst allein Noth thut. — Ich las jetzt, zur Erholung, die Confessionen des h[eiligen] Augustin,8 mit großem Bedauern, daß Du nicht bei mir warst. Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie habe ich gelacht! (zb. über den "Diebstahl"9 seiner Jugend, im Grunde eine Studenten-Geschichte.) Welche psychologische Falschheit! (zb. als er vom Tode seines besten Freundes10 redet, mit dem er Eine Seele gewesen sei, "er habe sich entschlossen, weiter zu leben, damit auf diese Weise sein Freund nicht ganz sterbe."11 So etwas ist ekelhaft verlogen.) Philosophischer Werth gleich Null. Verpöbelter Platonismus, das will sagen, eine Denkweise, welche für die höchste seelische Aristokratie12 erfunden wurde, zurecht gemacht für Sklaven-Naturen. Übrigens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum in den Bauch: ich stehe dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und Physiologen. — Über das plötzliche Verschwinden unsres "rückfälligen" Musikers,13 der auch mich mit einer Karte14 consternirte, war ich böse. Zuletzt hilft es nichts, ich muß wieder, wie voriges Jahr, nach Venedig und zusehn, woran es eigentlich fehlt.15 Wir wollen übrigens billig sein: er führt seit Jahren, eine unwürdige Hunde-Existenz als Notenschreiber, was Wunder, wenn er einmal aus der Haut fährt! Das Abschreiben ungeheurer Partituren, das Machen von Klavierauszügen, in den produktivsten Jahren eines produktiven Menschen, wo etwas ganz Anderes noth thut, ist für mich ein Jammer. So schlecht hat es R. Wagner nicht gehabt, und selbst Herr Bungert16 beschäftigt zu solchen Zwecken andre Musiker und Notenschreiber. Es fehlt Geld — voilà tout! Und deshalb muß dieser "Löwe von Venedig"17 erst öffentlich brüllen. Und ich will thun, was ich kann. Über die Maaßregel des Fl. v. Salis habe ich gelacht. Das gehört unter die Feinheiten der agents provocateurs: sie wollte genau Das, was sie erreicht hat, eine Abweisung, um daraus für die "Agitation" Capital zu schlagen.18 Mich Dir und Deiner lieben Frau zu freundlichem Angedenken empfehlend immer Dein F. N. 1. Overbeck sent Nietzsche his pension.
Venezia, 7. Mai 1885: Sehr erbaut durch Deinen Brief1 und sehr beruhigt: denn mitunter kam mir der Verdacht, Du möchtest gar den Verfasser des Z[arathustra] für übergeschnappt halten.2 Meine Gefahr ist in der That sehr groß, aber nicht diese Art Gefahr: wohl aber weiß ich mitunter nicht mehr, ob ich die Sphinx bin, die fragt, oder jener berühmte Oedipus, der gefragt wird — so daß ich für den Abgrund zwei Chancen habe.3 Das geht nun seinen Gang. — Der übersandte Brief aus Holland, von einem alten Herrn van Eeden, Direktor des Colonialmuseums in Haarlem,4 war einer jener "Huldigungsbriefe," bei denen ich immer mich frage: ob diese selbe Gattung von Menschen, wenn sie mit Einem Male erführen, was ich langsam, langsam vorbereite, mich nicht wie den Tod hassen würden. — Mir ist auch diese Art von Freuden seit langem vergällt. — Mit den Augen steht es hier noch schlimmer als in Nizza; ich habe nach einer erträglichen Wohnung gesucht und gesucht und nichts gefunden, — in solchen Dingen kann mir auch unser K[öselitz] nicht recht rathen und zu Hülfe kommen. Er ist ein ungeschickter Mensch, mit dem man seine Noth hat; und zum Verkehre nicht gemacht, — aber deshalb mir nicht weniger lieb. In seinen eignen Sachen zeigt er sich ebenso gedankenlos und ungeschickt wie in fremden. Er war so ziemlich entschlossen, sein Werk5 nach Berlin an Hrn. v. Hülsen6 zu schicken: es kam mir vor wie ein Mittel, wieder lange Zeit nichts davon hören zu müssen. Ich rede ihm zu, den ganz fertigen (prachtvoll gerathenen) Klavierauszug an jenen Musikverleger und ehemaligen Virtuosen Ries7 (bei Dresden) zu schicken; der will ihm wohl und ist, namentlich wenn er den Klavierauszug druckt, am besten geeignet, zwischen Bühnen und dem Componisten zu vermitteln, — es ist ein sehr erfahrener und bekannter Mann. — An der Musik selber und ihrer Mozartischen Idealität kann ich mich nicht satt hören; es mag aber sein, daß ich dergleichen Musik nöthiger habe als Andre, und insofern auch weniger befähigt bin, ihren Werth festzusetzen. — Einen ganz überraschenden Erfolg hatte ich jüngst, durch einen Brief des Herrn Lanzky:8 ich hatte gemeint, die Bemühung um ihn, und im Grunde damit dieser Winter in Nizza, sei umsonst gewesen, wie andre Bemühungen meinerseits — aber siehe, es kam anders. Er schrieb wie ein umgedrehter Mensch, von seinem "Pessimismus" befreit und zu einem ganz ernsthaften wissenschaftlichen Leben entschlossen (ob er schon nicht mehr jung ist). Alles hatte sich verbessert, selbst die Handschrift; er schrieb sehr dankbar. — Den "Kampf um Gott"9 habe ich nicht gesehn und mag ihn einstweilen nicht sehn; man bezeugt der Verfasserin, von sehr verschiedenen Seiten her, Respekt. Und wenn Deine liebe Frau auf Grund dieser Art Mémoires und Halb-Roman dem Frl. S[alomé] wieder eine etwas günstigere Beurtheilung gönnt, so soll es mir von Herzen lieb sein; zuletzt hat sie genau das ausgeführt, was ich von ihr in Tautenburg gewünscht habe.10 Im Übrigen hole sie der Teufel! — Den 22. Mai ist die Hochzeit meiner Schwester, Du verstehst das Datum.11 Es ist mir der Wunsch ausgedrückt worden (bei meiner Anfrage, womit ich im Stande sei, eine Art "Hochzeitsgeschenk" zu machen), daß jenes Dürer’sche Blatt "Ritter Tod und Teufel," welches in Deinen Händen ist, mit diesen beiden Auswanderern als ein werthvolles und tapferes Wahrzeichen, in ihre neue ferne Heimat12 wandern solle. Es thut mir eigentlich gründlich wehe, es aus Deinen Händen zu nehmen, denn zuletzt hast Du solcher Trostmittel ebenso nöthig als irgend welche Auswanderer, als ein Seefahrer und Vereinsamter auf Deine Art. Vielleicht aber ist es für Deinen Geschmack zu düster: und so sende es, wenn es Dir gefällt, an meine Schwester ab.— Mein Prozeß gegen Schmeitzner13 hat, wie ich eben höre, eine überraschende Wendung gemacht: Vater Schmeitzner14 ist als Bürge eingetreten, und im Juni sollen die 5600 Mark ausgezahlt werden. Da will ich denn zunächst den Druck meines 4ten Z[arathustra] bezahlen. Er ist als Finale gemeint: lies nur einmal die "Vorrede" des ersten Theils. Der Titel den ich Dir zuerst schrieb, war eine "Condescendenz" an die Herrn Verleger, welche absolut keine "vierten Theile" verlegen wollen, wenn sie nicht die drei vorher haben. Meine herzlichsten Grüße an Deine liebe Frau, und wer sonst in Basel mir wohl will. (Ausdrücklich bemerkt: ich habe weder Burckhardt, noch irgendwem in Basel ein Exemplar geschickt — verschweigen wir, bitte, das Factum, daß ein 4ter Theil existirt. Dankbar ergeben Adresse dieselbe wie Köselitzens: 1. The letter has not survived.
Sils Maria, 2. Juli 1885: Lieber alter Freund Overbeck, es beunruhigt mich, nichts von Dir zu hören; und zum Mindesten will ich wünschen, daß Deine Gesundheit nichts mit diesem Schweigen zu thun hat — obwohl die Hitze dieses Jahres und ebenso die Erinnerung an die schlechte lähmende Luft Basels, wie ich sie im vorigen Juni1 wieder kennen gelernt habe, mir auch nach dieser Seite hin besorgliche Gedanken eingiebt. Als ich hier oben ankam, war eine meiner ersten Handlungen, nach Deinem "Teichmüller" zu suchen; leider ergab er sich als absens — woraus folgt, daß er in der Nizza-Bücherkiste steckt: was ich hiermit, zu meinem großen Bedauern, Dir melde.2 Dagegen habe ich hier, aus Deinem Bücherschatze, den Mainländer.3 Großen Dank noch für die Übersendung des Dürers an meine Angehörigen: man hat mir so sehr dafür gedankt, daß ich glauben muß, damit weit über den Begriff "Hochzeitsgeschenk" hinausgeschossen zu haben.4 Möge aber die Zukunft des jungen Paars sich tröstlicher und hoffnungsvoller gestalten als dies unheimliche Bild zu verstehen giebt! Unter uns, ich habe viele Besorgnisse auf dem Herzen —, allerdings auch einige sonderbare Wünsche, gerade was diese neue Welt in Paraguay betrifft.5 Es kann im Handumdrehen jetzt für mich Europa unmöglich werden; und siehe da, vielleicht findet sich dort in der Ferne auch für einen solchen verflogenen Vogel, wie ich es bin, ein Ast. (Wie geschrieben steht: "so häng ich denn auf krummem Aste" usw.6) Hier oben habe ich wieder die gleiche, mir sehr zugethane Gesellschaft des vorigen Jahres; zwei sonst in Genf lebende distinguirte Engländerinnen7 und jene alte Dame8 vom russischen Hofe, von der ich schrieb, daß sie eine der nächsten Schülerinnen Chopin’s ist: — ihr Verhältniß zur Musik ist kein Spaaß, noch im letzten Monate hat sie eine tüchtige strenge Fuga componirt. Nun ist in meiner Gesellschaft eine deutsche Dame aus Meiningen,9 welche auf eine briefliche Einladung meinerseits hierher gekommen ist und mir, durch Vorlesen und Nachschreiben, mit großer Güte entgegenkommt: leider ist nächste Woche ihre Zeit zu Ende. Was die Augen betrifft, so ist mein Zustand jetzt von dem Dührings10 wenig verschieden; dieses plötzliche reißend schnelle Verschwinden des Augenlichtes vom vorigen Sommer an bis jetzt gehört zu den Dingen, wofür ich die Gründe nicht weiß. Die Jodsalbe, welche Schiess11 verordnete, war wirkungslos. — Ich habe fast jeden Tag 2-3 Stunden diktirt, aber meine "Philosophie," wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein malträtirt, so zu nennen, ist nicht mehr mittheilbar, zum Mindesten nicht durch Druck. Mitunter sehne ich mich darnach, mit Dir und Jakob Burckhardt12 eine heimliche Conferenz zu haben, mehr um zu fragen, wie Ihr um diese Noth herumkommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen. Die Zeit ist im Übrigen grenzenlos oberflächlich; und ich schäme mich oft genug, so viel publice schon gesagt zu haben, was zu keiner Zeit, selbst zu viel werthvollern und tiefern Zeiten, vor das "publicum" gehört hätte. Man verdirbt sich eben den Geschmack und die Instinkte, inmitten der "Preß- und Frechheits-Freiheit" des Jahrhunderts; und ich halte mir das Bild Dante’s und Spinoza’s entgegen, welche sich besser auf das Loos der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen "Gott" zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als "Einsamkeit" kenne. Mir besteht mein Leben jetzt in dem Wunsche, daß es mit allen Dingen anders stehn möge, als ich sie begreife; und daß mir Jemand meine "Wahrheiten" unglaubwürdig mache. — — Von meiner Mutter erhielt ich die besorgte Meldung, daß Schmeitzner bisher nicht gezahlt hat:13 es wäre schrecklich, wenn der Prozeß weiter gehn, resp. die Subhastation usw. beantragt werden müßte. Der Juni war der festgesetzte Termin der Zahlung. Mein Onkel, der die ganze Sache übernommen hatte, liegt auf den Tod krank.14 Bitte, sende mir wieder 500 frs hier herauf.15 Deiner vortrefflichen Frau mich herzlich anempfehlend in alter Liebe Dein 1. Nietzsche had visited the Overbecks in Basel for a couple of weeks in June 1884.
Nizza, 24. November 1885: Lieber Freund, endlich, nach langen Umschweifen, zur Vernunft zurückgekehrt (welche in diesem Falle Nizza heißt), bekomme ich auch schon eine Belohnung dafür, nämlich sehr ersehnte Nachrichten über Sie, einmal durch Sie selber, sodann durch Frau Röder.1 Es sind schlechte Nachrichten im Grunde; aber so, wie Sie sind, muß Ihnen das Schlechteste zum Vortheile gereichen — verzeihen Sie diesen Optimismus, der zum Mindesten aus der bona fides eines Freundes stammt. Sie haben "den Wind gegen sich": gesetzt daß Sie schwindsüchtig und übermäßig zärtlich angelegt wären, so müßte man für Sie die größte Angst haben (zum Beispiel ich selber hätte für mich selber in Ihrem Falle wenig Zutrauen). Aber mit Ihren "starken Lungen", Ihrer lebenslangen Übung im Alleinsein, Ihrer schweigsamen Tapferkeit werden Sie Herr über alle schlechten Winde werden, — und vielleicht sogar noch etwas "herrischer" und "selbstherrlicher" als bisher. Ein ganz alter Römer sagt von einem gleich Ihnen Kämpfenden: "increscunt animi, virescit volnere virtus"2 (es schwillt der Muth, durch die Wunde erst tritt die Tapferkeit in Saft und Kraft). Man soll es Ihrer Musik schon einmal anhören, was Krieg und Sieg sind. Dieser Tage erquickte es mich zu erfahren, daß diese Stadt, welche ich nicht mehr wechseln und eintauschen darf, in ihrem Namen etwas vom Siege hat. Und wenn Sie hören, wie der Platz heißt, wohinaus mein Fenster schaut (herrliche Bäume, in der Ferne röthliche große Gebäude, das Meer und die schön gewundene baie des anges), nämlich "square des Phocéens," so werden Sie vielleicht gleich mir über den ungeheuren Cosmopolitismus dieser Wort-Verbindung lachen — wirklich haben Phoceer einstmals hier sich angesiedelt — aber etwas Siegreiches und Über-Europäisches klingt heraus, etwas sehr Tröstliches, das mir sagt "hier bist du an deinem Platze." Inzwischen nämlich prüfte ich München, Florenz, Genua, — aber es schickt sich für meinen alten Kopf nichts Anderes als dies Nizza, abgerechnet ein paar Monate Sils-Maria: obgleich der Sommer sogar hier erquicklicher sein soll als an irgend einem Binnen-Orte Deutschlands (die Abende frische Meerbrisen, die Nächte kühl). Die Luft ist unvergleichbar, die anregende Kraft (ebenso die Lichtfülle des Himmels) in Europa nicht zum zweiten Male vorhanden. Ich erwähne endlich, daß man hier billig, sehr billig leben kann, und daß der Ort umfänglich genug ist, um jeden Grad einsiedlerischer Verborgenheit zu gestatten. Die ganz ausgesuchten Dinge der Natur, wie die Waldwege am nächsten Berge, wie die Halbinsel St. Jean, hat unsereins für sich; ebenso ist die ganze herrlich-freie Promenade am stark brandenden Meere (c. dreiviertel Stunde lang —) nur für ein paar Stunden des Tags besucht. Vergeben Sie mir, daß ich mich öfter im Geiste mit Ihrem Loose beschäftige und dabei nicht selten zu dem Schlusse komme: Sie sollten es einmal mit diesem Nizza versuchen und Deutschland Deutschland sein lassen. Wir selber, als arbeitsame und solitäre Thiere, werden uns hübsch aus dem Wege gehn, aber hier und da ein kleines Fest des Zusammenseins veranstalten. Zuletzt bin ich einer der besten Liebhaber Ihrer Musik — es würde mir im letzten Theile meines Lebens etwas Nicht-zu-Ersetzendes fehlen, wenn Sie und Ihre Kunst mir gänzlich abhanden kämen. (Gefällt es Ihnen hier nicht, so ist jeden Sonnabend Abend ein Schiff bereit, Sie nach Ajaccio zu führen. Sie schlafen die Nacht durch und finden sich früh morgens im Hafen von A[jaccio)].) Von Genua bis Nizza fährt man präcise 5 Stunden (7 Uhr morgens ab, Ankunft um 12). Es ist nicht nur Neugierde, welche mich fragen macht, wie auf Sie gerade dies Clima wirken möchte; es ist ebenfalls nicht nur das Verlangen eines Freundes. Man ist hier so "außerdeutsch" — ich kann es nicht stark genug ausdrücken. Behalten Sie lieb Ihren Freund N. Adresse: Nice (France), poste restante. 1. See footnote 9 above.
Nice, Anfang Dezember 1885: Lieber Freund, Dein Brief1 macht mir eine herzliche Freude: Du siehst, ich "antworte" sofort darauf, obwohl im Grunde nach gar nichts "gefragt" ist. Es ist ein Glück, daß es nicht viel Neues zu melden giebt, das Neue hat gewöhnlich seinen Haken. Die Gesundheit ist besser als unter deutschem Himmel, der Kopf freier, die beständige Verstimmung, an der ich in Naumburg und Leipzig2 litt (— ich gab mir die beste Mühe, sie zu verbergen —) hier wenigstens nicht mehr "beständig." Ein Zeichen davon ist es, daß ich wieder im Experimentiren mit Wohnungen usw. bin; in der braven Schweizer Pension3 hielt ich mich nur 3 Tage auf, doch komme ich oft genug auf sie zurück, — vielleicht nachdem ich, wie nun schon 2 Winter, durch die erwähnten Experimente mich zur Verzweiflung gebracht habe. Es muß sich etwas Unabhängiges und mir Angemessenes schließlich finden lassen: aber ich zweifle immer mehr, daß ich's finde. Weshalb ich Menschen brauche, die für mich sorgen. Das Unpraktische meiner Natur, die halbe Blindheit, andrerseits das Ängstliche, Hülflose, Entmuthigte, was in der Consequenz meiner Gesundheit liegt, schraubt mich oft in Lagen fest, die mich fast umbringen. — Fast sieben Jahre Einsamkeit4 und, zum allergrößten Theil, ein wahres Hundeleben, weil es an allem mir Notwendigen fehlte! Ich danke dem Himmel, daß es Niemand so recht aus der Nähe mit angesehn hat (Lanzky5 abgerechnet, der immer noch ganz außer sich darüber ist.) Und zu dem Allen diese Überzahl von schmerzhaften, mindestens verhängten Tagen, gar nicht von der verzweifelten Langeweile zu reden, in die Jeder geräth, welcher der "Distraction der Augen" enträth! Ich meine, man hätte mir einen ziemlichen Grad von Pessimismus und Resignationismus nachsehn müssen; aber ich selber habe mir ihn nicht "nachgesehn," vielmehr mich aus Leibeskräften dagegen gewehrt. (Das stärkste Stück darin, das ich geleistet habe, war, unter was für Verhältnissen ich meinen Zarathustra6 begann und durchsetzte: — ich will keinen Tag von den 3 letzten Jahren zum zweiten Male durchleben, Spannung und Gegensätze waren zu groß!) Dies unter uns, mein lieber alter Freund! Es gäbe so Vieles "unter uns" zu sagen! Brieflich, ich weiß nicht, wie groß mein Mißtrauen gegen Briefe geworden ist. — Es fällt mir ein, daß ich über Deine bei Schm[eitzner] erschienenen Schriften7 meine Ansicht gegen Credner8 gründlich ausgelassen habe; es lag mir daran, für den Fall, daß der Schmeitzner'sche Verlag versteigert wurde, daß der sehr achtbare Credner sich dabei auch Deiner Schriften bemächtigte. Leider, so muß ich sagen, war diese Versteigerung nicht durchzusetzen; und Deine wie meine Schriften liegen vollständig vergraben und unausgrabbar in diesem Antisemiten-Loch.9 (Das ist meine Einsicht in die Sache: Schmeitzner selber denkt nicht anders darüber.) Meine „Litteratur“ existirt nicht mehr —, mit diesem Urtheile habe ich Abschied von Deutschland genommen, gar nicht desperat etwa! — vielmehr empfand ich, wie viel Mohn in dieser oblivio10 liegt und welchen Werth es hat, daß ich meinen sehr umfänglichen und nicht ungefährlichen Gedanken ohne die Neugierde eines "Publikums" nachlaufen kann. Niemand in Deutschland weiß (auch wo man mich gut zu kennen glaubt) was ich von mir will, oder daß ich etwas will; und daß ich davon, unter den schwierigsten Umständen, sogar ein gut Stück schon erreicht habe. — Mit Credner war ich über eine zweite Auflage von Menschl., Allzumenschliches11 einig geworden, für welche ich Alles (bis auf die Abschrift) bereit gemacht hatte — ein ganzer Sommer Arbeit steckt darin!12 Schmeitzner schob einen Riegel vor, indem er für die Vernichtung der noch übrigen Exemplare der ersten Auflage die Summe von 2500 Mark verlangte.13 Damit, wie ich begriffen habe, ist für immer die Möglichkeit zweiter Auflagen ad acta gelegt. Schm[eitzner] selbst hält meine Bücher jetzt für Blei (sie werden überall unter die "antisemitische Litteratur" gerechnet, wie mir von den Leipziger Buchhändlern bestätigt wird —, und nun macht mir gar der gute Widemann14 den Streich, mich in Einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dühring15 zusammen zu loben!) Vom Zarathustra sind nicht hundert Exemplare verkauft (und diese fast nur an Wagnerianern und Antisemiten!!) Kurz, es giebt Gründe zu lachen und den Rücken zu kehren. Das Beste ist, daß sonst alles hübsch wieder in Ordnung ist, daß Schm[eitzner] gezahlt16 hat (nicht ganz so viel als ich Dir schrieb, aber doch mehr als 5000 Mark), daß meine Angehörigen mich mehr lieben als je, daß man mit meinem Aussehn zufrieden ist, daß meine Schwester nunmehr alle Hände voll zu thun hat,17 in einer Richtung, wo für mich keine malheurs herauskommen, daß Nizza und Sils-Maria entdeckt sind, und daß augenblicklich eine Art halkyonischer Zustand erreicht ist, der dem Zustandekommen einer Philosophie nicht ungünstig sein soll. Und Du, mein lieber Freund, behältst lieb Deinen N. Bitte, wenn das Geld18 flügge wird, sende es, wie sonst (womöglich französisches Papier) einfach récommandé! Ich bin neugierig, wie es mit der Baseler Pension sich gestaltet. — Rée's Buch,19 prachtvoll klar und durchsichtig, giebt mir nichts Neues, wo ich es erwartete; — und für eine historische Beweisführung des Alten fehlt ihm gerade Talent und Umfang des Wissens. Vom "Kampf um Gott"20 hattest Du noch nicht geschrieben — abgesehn ein Wort von dem Eindrucke, den Deine liebe Frau habe ("sie habe Respekt").21 Ich bin sehr gut über Eure Universitäts-Festlichkeiten22 unterrichtet, man versorgt mich mit Basler Nachrichten.23 1. Basel, 11-29-1885: Letter from Franz Overbeck to Nietzsche in Nice.
Nice, 6. Dezember 1885: Lieber Freund, eben kommt Ihr guter Brief mir zu Händen: ich weiß nichts Besseres zu thun, als sofort darauf zu "antworten" — so groß ist meine Freude über Ihre Geduld und Ihr Ausharren in Wien.1 Gesetzt, daß Alles zuletzt umsonst war, und der Norden vorläufig noch nichts von Ihrem "Süden" wissen und hören will: so haben Sie nicht nur eine Schuldigkeit abgethan — es scheint mir, Sie haben selbst dann mehr erreicht. Sie dürfen sich für eine gute Zeit wieder die ganze Frage von "Angebot und Nachfrage" aus dem Kopfe schlagen, und, mit gutem Gewissen, wieder in jenen himmlischen Abgrund der Einsamkeit des Schaffenden stürzen, in dem Sie gelebt haben, — in dem wir leben müssen, in dem, zuletzt, wir allein leben können! Ich habe es, mit meinen zwei Monaten in Deutschland, gerade so weit gebracht als ich es Ihnen hiermit wünschen möchte: es kam mir zur vollen Klarheit, daß ich dort gegenwärtig noch nichts zu suchen habe, und daß andre Aufgaben und "Aufgeber" dort am Platze sind. Diese Klarheit hat mich nicht getrübt — Sie dürfen mir’s glauben —, umgekehrt, noch niemals bin ich in einer solchen halkyonischen Meeresstille und Unbekümmertheit in meinem Süden angelangt, so daß selbst die Leibes-Gesundheit sich verbessert zu haben scheint, trotz der greulichen Strapatzen, welche ich mir seit Sils-Maria zugemuthet habe. Schmeitzner hat gezahlt; für eine zweite Auflage von Menschl[iches], Allzum[enschliches], welche ich mit viel Fleiß in diesem Sommer vorbereitet hatte, war ein ausgezeichneter Verleger2 gefunden: — schließlich bekam ich einen Brief Sch[meitzner]s, der mir ein für alle Mal den Glauben an die "zweiten Auflagen" genommen hat (er verlangte, seinerseits, als Entschädigung für den Rest der ersten Auflage 2500 Mark), zugleich mit so unschicklichen Vorschlägen über die Mittel, meine Litteratur verkäuflich und um mich herum Lärm zu machen, daß ich seitdem verstummt bin und stumm bleiben will. Leider verwies er mich, hinsichtlich der angedeuteten Lärmtrommel-Mittel, auf Hrn. Widemann, der mir noch Näheres mittheilen werde: Grund genug für mich um Hrn. W[idemann] nicht zu sehn und als nicht vorhanden zu betrachten. Es ist ein Malheur, daß er diesem Sch[meitzner] so nahe steht: er ist mehreremal vermittelnd in der Prozeßsache Sch[meitzner]'s aufgetreten (sein Vater3 war Sch[meitzner]'s Advokat) Zuletzt ist mir noch niemals eine solche Verunglimpfung zu Theil geworden als durch seine Zusammenstellung der Namen "Dühring" und "Zarathustra": — an diesem Zeichen habe ich genug.4 Die Antisemiterei vernichtet allen feineren Geschmack, auch bei Zungen, die von Anfang an nicht belegt sind. — Daß jene zweite Auflage nicht möglich ist, thut mir wohl; ich habe bereits herausgerechnet, daß sie nicht nöthig ist, — daß vielmehr eine tiefe Stille über mich, eine Art Begrabensein (meine Schriften sind buchstäblich bei Sch[meitzner] begraben und unausgrabbar) zu den Bedingungen gehört, unter denen allein noch Etwas in mir wachsen kann. — Ich guckte eben links: blaues Meer, eine Bergkette darüber und, in der Nähe, mächtige Eucalyptus-Bäume. Der Himmel leuchtet. Erwägen Sie recht den schönen Begriff Nizza (der Name ist griechisch und spielt auf einen Sieg an) — es ist "Cosmopolis," wenn es eins in Europa giebt! Man ist dem feinen französischen Geiste näher (ein neuer Band psychologie contemporaine von Paul Bourget5 liegt neben mir) und doch wieder nicht zu nahe: meine Straße, mit dem großen italiänischen Theater, ist eine Musterstraße nach italiänischem Schema, — und die Menschen darin ächte rechte Rivieresen. Bei hellstem Himmel sieht man Corsica, sogar von meinem Fenster aus. Die Capelle in Monte Carlo wird jetzt von einem Deutschen dirigirt. Den 23. Januar singt die Lucca6 hier Carmen.7 — Trattorien, wo Sie so gut wie in der Panada, (oder vielmehr besser und billiger) essen (vortrefflicher Landwein!) giebt es gleichfalls. Wollen Sie ein Paar Stunden geben, so fehlt es nicht an Auswahl unter vornehmen Russinnen und Polinnen (diese Art herrscht hier). Ihnen herzlich zugethan und voller Wünsche und Hoffnungen F. N. — Was ich darum gäbe, Ihr Septett zu hören! Was ich neidisch auf die Wiener bin! — Läßt es sich mit Carlsruhe machen, so komme ich hin. Frau Röder8 schrieb sehr artig von dort. (Soll ich an Mottl9 schreiben? —) 1. Köselitz was in Vienna trying to promote his music. |
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