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[Genua, 8. Januar 1881]: Lieber lieber Freund, ich habe nichts zu schreiben, aber ich dachte eben an Sie recht lange, ich lag wieder still am Meere, wie eine Eidechse in der Sonne, an den fernen Bergesspitzen glänzte zum ersten Male der Schnee (näher ist er noch nicht gekommen).1 Ihr Brief, gut wie alles, was ich von Ihnen erfahren, zeigt mir wieder, daß ich Ihnen Noth mache, mehr als ich möchte. Ertragen wir es in Stille mit einander! Im späteren Leben, wenn wir immer mehr zusammengewachsen sind wie treue alte Bäume, lachen wir wohl noch einmal über die Jugend unsres Verkehrens! Bewahren Sie Sich mir auch im neuen Jahrzehnt — ich fürchte, am Ende desselben noch einsamer zu sein als ich jetzt bin (ich fürchte es und bin beinahe vorläufig schon stolz darauf!) Aber Sie müssen mir bleiben, und ich will Ihnen bleiben! Treugesinnt Ihr Freund F.N. 1. Cf. excerpt from Genoa, 01-08-1881: Postcard to Franziska Nietzsche und Elisabeth Nietzsche: "An den ferneren Bergen der Küste ist der Schnee auf den Spitzen. Wir hatten drei bis vier Tage Regenwetter (Novemberwetter) Wenn die Sonne scheint, gehe ich immer auf einen einsamen Felsen am Meer und liege dort im Freien unter meinem Sonnenschirm still, wie eine Eidechse; das hat mehrere Male meinem Kopfe wieder aufgeholfen. Meer und reiner Himmel! Was habe ich mich früher gequält! Täglich wasche ich den ganzen Körper und namentlich den ganzen Kopf, nebst starkem Frottiren." (The snow is on the peaks of the more distant mountains from the coast. We had three to four days of rainy weather (November weather). When the sun is shining, I always go to a solitary rock by the sea and lie there in the open under my parasol like a lizard; this has helped my head several times. Sea and pure sky! What have I tormented myself with in the past! Every day I wash my entire body and especially my entire head, along with vigorous toweling.) Cf. excerpt from Genoa, 01-08-1881: Postcard to Franz Overbeck: "Ich denke so oft an Dich und namentlich, wenn ich nach Mittag, fast Tag für Tag, auf meinem abgeschiedenen Felsen am Meere sitze oder liege, wie die Eidechse in der Sonne ruhe und mit den Gedanken auf Abenteuer des Geistes ausgehe. Meine Diät und Vertheilung des Tages sollte mir doch auf die Dauer gut thun! Meerluft und viel reiner Himmel — das sehe ich nun ein ist mir unentbehrlich!" (I think of you so often and especially when at noon, almost day after day, I sit or lie on my isolated rock by the sea, like the lizard resting in the sun and thinking about adventures of the spirit. My diet and arrangement of my day should be good for me in the long run! Sea air and a lot of pure sky — I now see that it is indispensable to me!)
[Genua, 25. Januar 1881]: Lieber Freund, so lasse ich denn mein Genueser Schiff1 an Sie ablaufen! Der Winter ist hart geworden, seitdem hat sich meine Gesundheit zum Schlimmen gewendet — ich bin glücklich, nichts mehr mit dem Manuscript2 zu thun zu haben. — Nun heißt es wieder: "Freund, in Ihre Hände befehle ich meinen Geist!"3 und noch mehr: "in Ihren Geist befehle ich meine Hände!" Ich schreibe zu schlecht und sehe alles krumm. Wenn Sie nicht errathen, was ich denke, so ist das Manuscript unentzifferbar. (Mit großem Ergötzen sehe ich aber aus Ihren beiden letzten Briefen, in welcher Nachbarschaft unsere Gedanken laufen — leider kann ich nicht antworten wie ich möchte,4 verzeihen Sie es mir!) — Nun will ich sehen, ob sich das "Leben" wieder erhalten läßt; ich habe doch meine Aufgabe gelöst und denke mit gutem Gewissen an das Kommende — wie es nun auch kommt! Daß so viel Schmerz mir bescheert wird! Alberne Oekonomie meines Leibes! Mag es Ihnen nur im Leibe und im Herzen gut gehen, mein guter lieber Köselitz! Treulich F.N. Bitte um Antwort: poste restante!
1. By "Genoese ship," Nietzsche is referring to his manuscript for Morgenröthe (Dawn).
[Genua, 29. Januar 1881]: Meine liebe gute Mutter, so möge Dir das neue Jahr ein heiteres Gesicht machen!1 Und wenn es dabei ein Gesicht zeigt, das von dem des alten Jahres nicht gar zu verschieden ist, so wollen wir Alle damit zufrieden sein! Denn im Grunde hast Du, meine liebe Mutter, Dein erträgliches und rechtschaffenes Maaß von irdischem Wohlbefinden, davon überzeuge ich mich bei jedem Besuche mit großem Vergnügen. Daß das "Glück" eines Tages mit Trommeln und Trompeten erst noch käme, daran glauben wir ja Alle nicht mehr; Jeder hat seine Aufgabe und muß täglich zusehen und sich tummeln, daß sie geräth — und geräth sie, so ist man guter Dinge; schlimmsten Falls macht man eine gute Miene, wie ich jetzt zum bösen Spiele des Winters. Ja, das ist ein Spazierenlaufen! Denn im Zimmer ist es nicht lange Zeit auszuhalten, und ich habe bis jetzt noch keinen geheizten Raum betreten. Trotzdem bin ich nicht verstimmt, obschon meine Gesundheit entschieden seit dem Eintritt des harten Winters zum Schlechten sich wendet. Hoffentlich dauert es nicht mehr zu lange. Es bedarf einer so sorgfältigen und peinlichen Überlegung, jeden Tag mit einer solchen Gesundheit durch alle Klippen hindurchzuschiffen, daß ich froh bin, es allein abzumachen, denn es sieht so kleinlich aus, selbst unmännlich. Aber ich habe meine Tapferkeit und Männlichkeit in anderen Dingen und muß mich eben durchschlagen, um etwas Ordentliches in meiner Art doch noch, trotz aller bösen Krankheit, zu Stande zu bringen. Ich esse diesen Winter, der Erwärmung und leichteren Verdauung wegen, mehr Fleisch. Dagegen wagte ich noch nicht wieder mit den Eiern zu beginnen: ich habe immer noch den Naumburger gestoßenen Zucker. Zum Frühstück esse ich altbacknes Weißbrod, zu Thee oder Kaffe. Ich bin regelmäßig wie eine Uhr. Sechs bis acht Stunden gehe ich herum. Eigentlich habe ich das Leben, wie ich es früher ersehnte, als ich von Rothenburg an der Tauber2 träumte — erinnere doch unsre Lisbeth daran! — ja ich habe es gründlicher und tüchtiger als ich es damals mir ausdachte (ich war noch nicht unabhängig genug im Geiste und noch nicht so durch Erfahrung und Leiden durchgearbeitet, wie ich jetzt es bin — denn, meine liebe Mutter, ob man mir es ansieht oder nicht, ich habe in den letzten 10 Jahren unbändig viel erlebt.) Und nun nochmals! Frieden und Freuden um Dich! In Treue und Liebe Dein Sohn F. 1. Franziska Nietzsche's upcoming 55th birthday was February 2. Every year from 1861-1887 (forgetting but later correcting his mistake in 1888), Nietzsche dutifully wrote her a letter for her birthday.
[Genua, 3. Februar 1881]: Oh mein lieber Freund, wie schön verstehen Sie es, mein Gewissen zu erleichtern — denn es wurde mir recht schwer, an Sie, auf dem so große Aufgaben ruhen, mein Ansinnen zu stellen.1 — Wir haben einen Winter von 30 Tagen gehabt, vorausgesetzt daß er vorbei ist. Ich liege seit dem 31. Januar wieder täglich in der Sonne und gestern war es mir zu heiß. Venedig hat den Fehler, keine Stadt für einen Spaziergänger zu sein — ich brauche meine 6-8 Stunden Wegs in freier Natur. Haben Sie nicht vielleicht an Bologna für den Sommer gedacht? Oder Albano und Ariccia bei Rom? Es verlangt mich so nach Ihnen. Hören Sie etwas vom Befinden der Frau v. Wöhrmann?2 — Ihre Duell-Geschichte3 zeigt, daß Sie mir sehr überlegen sind — ich bewundere und lache dabei. In herzlicher Freundschaft Ihr F.N. 1. Nietzsche is referring to his manuscript for Morgenröthe (Dawn), which Köselitz was preparing for publication.
[Genua, 9. Februar 1881]: Ach, welche Überraschung war das! Die Schönheit und männliche Anmuth dieses Ihres Manuskriptes1 zu sehen das ist wie nach einem römisch-türkischen Bade sich fühlen, reingewaschen nicht nur, sondern verjüngt und verbessert. Ich las und gieng einige Stunden spazieren, voller inniger Gedanken gegen Sie und die Natur. Es scheint mir ein gehaltvolles Buch: aber es ist schwer. In den Morgenstunden dieses herrlichen Februar habe ich noch einen Nachtrag gemacht, damit alles recht unzweideutig herauskomme. — Sie werden, meine ich, damit zufrieden sein. Darf ich diesen Nachtrag senden? — Auch will ich den Titel ändern;2 Sie haben mich dadurch, daß Sie den zufällig hingeschriebenen Vers aus dem Hymnus an Varuna3 als Motto nahmen, auf den Gedanken gebracht: sollte das Buch nicht heißen: "Eine Morgenröthe.4 Gedanken über die moralischen Vorurtheile u.s.w." Es sind so viel bunte und namentlich rothe Farben darin! Erwägen Sie es! (Das Titelblatt, mit einfachen, stark wirkenden Ornamenten, sei auch Ihrem Geschmack und Nachdenken empfohlen!) Der dankbarste Glückliche. 1. Nietzsche is referring to his manuscript for Morgenröthe (Dawn), which Köselitz was preparing for publication.
[Genua, 12. Februar 1881]: Lieber armer Freund, vergeben Sie mir! Das Manuscript des Nachtrags1 ist stärker geworden als es billig ist in Hinsicht auf Sie! Ich bitte Sie inständig, helfen Sie mir diesmal noch und tragen Sie es mir nicht nach, daß ich etwas thue, was wie eine Unverschämtheit aussieht! Machen Sie meine Sache einmal zur Ihrigen — es mußte Mehreres in das Buch hinein, der Horizont desselben wollte rund werden, und ich war in der rechten Verfassung, bei diesem herrlichen Vor-Frühling! So ist es geschehn, was im Hinblick auf Ihre Freundschaft vielleicht hätte unterlassen werden sollen! Aber, wie gesagt, nehmen Sie es einmal als Ihre Sache; wer weiß, ob Sie nicht irgendwann einmal als mitschuldig an dem Zustandekommen dieses Buchs zu leiden haben — sehen wir zu, daß wir Beide uns jetzt an ihm zusammen noch freuen können. Aber dazu ist ein Wort des Verzeihens nöthig! Nur Ein Wort auf einer Karte, und, ich bitte dringend, nicht mehr als höchstens drei Worte!!!!! Nur ein Wort! Aber gleich, theurer armer Freund! 1. Nietzsche is referring to additions to his manuscript for Morgenröthe (Dawn), which Köselitz was preparing for publication.
[Genua, 13. Februar 1881]: Von Euch Beiden, meine Lieben, habe ich so schöne ausführliche Nachrichten1 — und ich selber lasse so lange auf Nachricht warten! Vor Allem: wir haben den Winter hinter uns! Er hat gerade 30 Tage gedauert. Vom 31 Januar an ist es sehr angenehm, ich liege fast täglich ein paar Stunden am Meere. Von Hrn. Köselitz ließ ich mir Nachricht über Frau v. W[öhrmann]2 geben: sie will nicht nach Corfu. Die Einen sagen, sie leide an der Lunge, Andre nennen ein andres Leiden. Ein mir bekannter Maler3 malt ihr Töchterchen.4 — Wie lange bleibt sie in Venedig? Schreibt es mir doch. Jetzt ist Fürst Liechtenstein5 dort, er hat auch Hrn. Köselitz seinen Besuch gemacht, Gersdorff ist auch noch dort. — Liebe Lisbeth, zum Lesen in Gesellschaft empfehle ich Voltaire's Mahomet, von Goethe übersetzt (in allen Goethe-Ausgaben)[.]6 Daß Frau von Sévigné7 eingeschlagen hat, hörte ich mit großem Vergnügen, ja, ich wartete darauf, es zu hören. Nehmt, meine Inniggeliebten, die herzlichen und dankbaren Grüße[.] Genaue Adresse, nicht wie das letzte Mal! Eures F. 1. In an unknown letter from them.
[Genua, 22. Februar 1881]: Ist es wahr, lieber Freund, daß Sie einen guten Glauben an das Ganze haben?1 Oder haben Sie mich nur etwas ermuthigen wollen? Ich bin so durch fortwährende Schmerzen zerbrochen, daß ich nichts mehr beurtheilen kann, ich sinne darüber nach, ob es mir nun nicht endlich erlaubt sei, die ganze Bürde abzuwerfen; mein Vater als er so alt war wie ich es bin, starb.2 — Auf Ihre vorletzte Karte hätte ich gleich antworten sollen und mögen — aber ich konnte nicht! sie war von einem feinen und freundlichen Geiste eingegeben, Madame de Sévigné3 würde Ihnen ein Compliment dafür gemacht haben. — Titel! Der zweite "E[ine] Morgenr[öthe]" ist um einen Grad zu schwärmerisch, orientalisch und weniger guten Geschmacks: aber das wird durch den Vortheil aufgewogen, daß man eine freudigere Stimmung im Buche voraussetzt als beim andern Titel, man liest in anderem Zustande; es kommt dem Buche zu statten, welches, ohne das Bischen Aussicht auf den Morgen, doch gar zu düster wäre! — Anmaaßend klingt der andre Titel auch, ach, was liegt noch daran! Ein wenig Anmaaßung mehr oder weniger bei solch einem Buche!4 — Die Orthographie und die grammatische Correktheit, lieber Freund, sind wieder Ihre Sache, ich habe keine andre Orthographie als die Köselitzische. Mitunter mache ich Sprachfehler z. B. in der bildung der Conjunctive: verbessern Sie mich in allen Stücken, ohne irgend ein weiteres Wort! Hinter diesem ganzen Buche klingt mir meine Musik zu Manfred5 — denken Sie sich! — Was macht Freund Widemann? Von Dr. Rée höre ich das Betrübteste, sein Vater ist in der Nachwirkung einer Operation gestorben, seine Mutter schwer krank. Sind Sie wirklich diesen Sommer noch in Venedig? Frau v. Wöhrmann6 bleibt, wie ich höre. — Und Herr Racowitz [sic]?7 — Meinem alten Kameraden Gersdorff danken Sie des Herzlichsten für seinen Gruß, es steht zwischen uns beim Alten.8 (Wenn er sich nur frei machen wollte! Aber er ist so eigensinnig und zwar in Hinsicht auf Andre z.B. seine Verwandten! Denken Sie, was ich zuverlässig erfahre und was man nicht wissen darf, daß G[ersdorff]'s Vater sich erschossen hat.9) Nun, mein lieber einziger Leser und Schreiber, wir müssen das einmal Unternommene gut zu Ende führen, auch Herr Schmeitzner und Oschatz müssen angetrieben werden.10 Inzwischen giebt es Niemanden, an den ich mit so herzlicher und dankbarer Gesinnung dächte als an Sie! In Treue der Ihrige Kennen Sie Jemanden in Bologna? Aber vielleicht komme ich noch nach Venedig, etwa Mitte April, ich muß mich von mir selber abziehn, meine Gedanken fressen mich auf. Ich will rudern — wer hat ein Boot? Aber allein. — Und meine Wohnung? — 1. Nietzsche is referring to his manuscript for Morgenröthe (Dawn), which Köselitz was preparing for publication.
[Genua, 22. Februar 1881]: Ja, theurer Freund, ich bin noch in Genua und habe den härtesten Theil des Winters hoffentlich hinter mir. Zum ersten Male im Winter ohne Ofen, mit erstarrten Gliedmaaßen oft genug. Ich bin wieder leidender als vor Weihnachten, und werde die Kopfschmerzen kaum mehr los, mitunter werde ich aller Dinge sehr müde. Bitte, sende den nächsten Gehalt wieder an Herrn Schmeitzner,1 ebenfalls die 50 frcs, von denen Du schriebst. Beunruhige Dich nicht, gegen den vorigen Winter gerechnet, bin ich doch gut gefahren, und viell. thut mir der Frühling wieder gut. — Die Augen stehn mir so selten noch zu Gebote! Verzeih meinen Anschein von Undankbarkeit, lieber guter Freund. Von Herzen Dich und Deine liebe Frau grüßend F.N. 1. Nietzsche had allowed Schmeitzner to invest his money.
[Genua, 23. Februar 1881]: Werthester Herr Verleger für alle Ihre Dispositionen1 meinen ergebensten Dank, ich glaube an Ihr aufrichtiges Wohlwollen für mich und deshalb glaube ich auch an Alles, was Sie in Dingen für mich thun, worin ich, wie Sie wissen, unerfahren bin. Was Geld betrifft, so verstehe ich nur Eins: wenig zu brauchen und zu sparen. Wer lebt denn wohl so philosophisch und gut (und doch keineswegs asketisch) als ich hier in Genua? Und doch brauche ich für jeden Monat nicht mehr als 60 Mark, Alles, auch das Zufälligste eingerechnet.2 Dafür habe ich, schon meiner fast erloschenen Augen wegen, keine Aussicht auf irgend ein ernährendes Amt in meinem späteren Leben. Also wollen wir fortfahren zu sparen und zu sammeln! Dies ist heute aber nur die Nebensache. —3 Ich frage nämlich an, ob Sie den Verlag eines neuen Buches4 übernehmen wollen, welches in der Abschrift des Herrn Köselitz vor mir liegt. Meine Bedingungen in Betreff der Ausstattung und des Honorars sind die alten. Dafür verlange ich aber, daß diesmal Herr Oschatz5 an Güte und Pünktlichkeit sich selber übertreffe — es muß ein Musterbuch werden. Der Titel ist: Eine Morgenröthe.6 "Es giebt so viele
Morgenröthen, Dies Buch ist das, was man "einen entscheidenden Schritt" nennt — ein Schicksal mehr als ein Buch. Geben Sie mir eine Antwort auf meine Anfrage, hierher, nach Genova (Italia) poste restante. Sie wissen, daß ich immer mit den aufrichtigsten Wünschen für Sie bin und bleibe Ihr Dr F. Nietzsche. 1. Unknown reference.
[Genua, 24. Februar 1881]: Heute, in Folge eines starken Abführmittels, ein guter Tag, und helle Sonne! Ich habe sofort die Anordnung1 des Ganzen (im Groben) vorgenommen — es legte sich leicht und natürlich in 4 Massen2 auseinander, jede mit ihrer Grundfarbe, und von ähnlichem Umfange. Das Gelingen hat mich erheitert. Als ich das Ganze so wieder zusammen gesehen hatte, mußte ich lachen — es wird kein dickes Buch, aber es giebt nicht viele Bücher mit so viel Inhalt (rede ich jetzt als Vater des Buchs? ich glaube nicht)[.] Meine drei Genueser Schutzpatrone Columbus, Mazzini und Paganini3 haben, wie mir scheint, etwas die Hand im Spiele gehabt. — Im Herbst verzweifelte ich, daß ich je die Stimmung und Kraft und Lust für das Ganze wieder finden würde — es war mir in Marienbad4 durch den Kopf geflogen. Und heute! — Dank Ihrer großen großen Güte! F.N. 1. The manuscript for Morgenröthe (Dawn), which Köselitz had prepared for publication.
[Genua, 13. März 1881]: Das ist nicht recht, lieber Freund! Sie machen mich zum Vertrauten Ihrer Noth — und einer solchen Noth! — nachdem sie vorüber ist! Und es geht mir diesmal wie in Marienbad3 — es ist mir als ob Sie vor mir zurückflöhen und mich irgend wofür bestrafen wollten. Ich schäme mich immer, an diese Geschichten zu denken. Ach, ein Kärtchen und ein Wörtchen darauf und hundert frs. oder mehr fliegen zu Ihnen. — Nun, nichts für ungut! Aber Sie sind mir zu fein. Ihre Nachrichten über Ihr Werk3. sind sehr gut. Fürst L[iechtenstein] ist mir immer, von sehr glaubwürdiger und urteilsfähiger Seite aus (Frau C[osima] Wagner) als ein ausgezeichneter Mensch gerühmt worden, ich freue mich, daß er auch gegen Sie Witterung verräth. Denn, lieber Freund, Sie sind zu entdecken.4 Heute soll das M[anu]s[cript]5 an Herrn Schmeitzner abgehen. Was habe ich inzwischen alles um dieses Buches willen in mir durchgemacht! Nach einer kurzen kurzen Freude! Genug, ich fühle mich jetzt wieder auf offnem Meere, und die alte mir so wohlbekannte bittre Entschlossenheit hat mich wieder. — Fragen Sie meinen alten Kameraden Gersdorff,6 ob er Lust habe, mit mir auf ein bis zwei Jahre nach Tunis zu gehen. Klima ausgezeichnet, nicht zu heiß — Überfahrt von Livorno über Cagliari sehr kurz, das Leben dort billig. Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen. Ich denke, eine solche Berechnung liegt nicht außerhalb meiner Lebensaufgabe. — Ein deutsch-schweizerisches Handelshaus in Tunis wird uns Logis besorgen. Aber erst muß das Buch fertig gemacht werden: ich will, daß bis Ende April ein Exemplar in Ihren Händen ist. Von meinem Reiseplan bitte ich Sie und Herrn G[ersdorff] gegen andre Personen vorläufig zu schweigen. — Ein Maler des Genre's findet in Tunis sein gelobtes Land: nur darauf hin mache ich dem Freunde diesen Vorschlag.7 Lieber lieber Freund, warum kann ich Ihre Musik nicht hören! Ich bedarf aller Arten Gesundheit — es ist mir etwas zu tief in's Herz gegangen, dieser "herzbrecherische Nihilismus"!8 Nun, bleiben wir tapfer! Treugesinnt F.N. 1. Robert Rascovich (1857-1905): Yugoslavian-born artist, who was a watercolorist while in Venice. A prize-winning artist, Rascovich emigrated to the United States, eventually settling in Chicago, where he died in 1905. View one of Rascovich's Venetian watercolors; and a photograph of Rascovich in his studio in Chicago. The watercolor is signed at bottom-right: "R. Rascovich," followed by his stylized monogram. Also see Note 7.
[Genova den 13ten März 1881]: Werthester Herr, hier ist das Manuscript2 — es kostet mich einen bitteren Entschluß, es aus den Händen zu geben. — Es werden gegen 16-18 Druckbogen sein. Nach dem Titelblatt folgt ein Blatt mit der Aufschrift: Erstes Buch. — Es sind 5 Bücher. —3 Als Norm für die Raum-Eintheilung betrachte ich "Menschliches Allzumenschliches."4 Ja nicht eng zusammen drucken! Der Fehler des Buches ist so schon, daß die wesentlichsten Gedanken zu dicht sich folgen. Nun aber Eile! Eile! Eile! Ich will von Genua fort, sobald ich das Buch fertig habe und sitze bis dahin auf Kohlen. Helfen Sie! treiben Sie Herrn Oschatz!5 Kann er mir nicht ein schriftliches Versprechen machen, daß bis spätestens Ende April6 das Buch hier in meinen Händen ist — fertig und vollkommen? — Zu gleicher Zeit geht ein Bogen an Herrn Köselitz nach Venedig und ein Bogen an mich nach Genova (poste restante) ab. Die Blätter und Blättchen des Ms. sind roth numerirt. Vier- oder fünfmal ist auch die Rückseite beschrieben. Lieber Herr Schmeitzner, wir wollen Alle diesmal unsre Sache so gut als möglich machen. Der Inhalt meines Buches ist so wichtig! Es ist unsre Ehrensache, in nichts es fehlen zu lassen, daß es würdig und makellos zur Welt kommt. — Ich beschwöre Sie, um meines Namens willen, jegliche Reklame zu unterlassen.7 Und manches Andere versteht sich von selber, sobald Sie selber erst das Buch gelesen haben. Mit dem wärmsten Wünschen (aber einigem Herzklopfen) Ihr ergebenster 1. View the book at HAAB: front cover; back cover.
[Genua, 14. März 1881]: Hier, lieber Freund, kommt doch noch das M[anu]s[cript].1 Ein Anfall meines Kopfleidens wird mich einige Tage "dienstunfähig" machen — und so hilft vielleicht Gersdorff,2 die Zettel zusammenzukleben. Bitten Sie ihn darum in meinem Namen! (Machen Sie ihn darauf aufmerksam, daß 5 oder 6 auch auf der Rückseite beschrieben sind[.]) Es sind 5 Bücher. Nach dem Titelblatt folgt ein Blatt mit der Aufschrift: Erstes Buch (u.s.w.)[.] Für das Titelblatt liebe ich die symbolischen Bezüge nicht. Einfache starke und muthige Linien und höchste Lesbarkeit der Worte! — Treulich Ihr Freund 1. Morgenröthe (Dawn).
[Genua, 14. März 1881]: Meine Lieben, schönsten Dank für die Briefe. Es gieng und geht mir immer noch nicht gut. Ungünstiges Wetter. — Verzeihung, daß ich von B[aden-]Baden gesprochen habe — an mich habe ich dabei gar nicht gedacht!1 Sondern nur, daß unser Mütterchen einmal einen angenehmen milden unterhaltenden und idyllischen Ort für ihr Alter habe, damit sie nicht in der dummen Beamtenstadt N[aumburg] allein übrig bleibe (dies N[aumburg] ist im Winter und im Sommer abscheulich — ich habe nie ein heimatliches Gefühl dafür gehabt, ob ich schon mich redlich bemüht habe, es mir dort gefallen zu lassen.) Über das Befinden der Frau von W[öhrmann]2 in Venedig habe ich keine guten Nachrichten. — Glaubt nicht, daß ich in ärgerlicher Stimmung schreibe. Ich wünsche von Herzen Euch wohl zu thun und denke viel an das, was Euch erfreuen könnte. Euer F. 1. In an unknown letter from Nietzsche.
[Genua, 18. März 1881]: Lieber, lieber Freund, heute nur Ein Wort! Es giebt etwas, wovon Du zu allererst erfahren mußt — in Chemnitz ist ein neues Manuscript1 von mir in Arbeit. Dies ist das Buch, welches wahrscheinlich an meinem Namen hängen bleiben wird. — Welche Last habe ich auf den Schultern gehabt! Und welche habe ich nun erst mir aufgelegt! Nun, vorwärts und das Auge weder rückwärts noch zur Seite gewendet! Ich bin sehr bewegt und möchte Deine treue Hand fassen können. Meine paar wirklichen Freunde werden mich von nun an noch mehr durchs Leben zu tragen haben, ich werde ihnen und Dir Noth machen, aber es hilft nichts! Von Herzen Dein Freund. 1. Morgenröthe (Dawn).
[Genua, 19. März 1881]: [+ + +] [da]s erste Buch schon [+ + +] Glück zu! — [+ + +], werthester Herr! [+ + +] Bücher, nämlich:2 Lecky Geschichte des Ursprungs der Aufklärung. Deutsch.3 Immer Genova, poste restante. Der Correkturbogen wegen sehen Sie doch die Bestimmungen des Weltpostvertrags noch einmal ein!6 Ihr ergebener F. N. 1. View the original postcard at GSA 71/BW 306,3 Bl 37.
Genova 20 März. 1881]: Aber, lieber Freund, Ihre gestrenge Freundschaft wird mir wenigstens nicht verwehren können, eine Schuld abzutragen: ich denke an die zahllosen Brief- Correktur- Paket-Porti und Papier-Unkosten et hoc genus omne und versuche heute, etwas davon Ihnen zu ersetzen.1 Der Augenblick scheint mir gut gewählt, denn diese Sendung giebt mir die Befriedigung einer kleinen Bosheit, in Anbetracht, daß ich gerade so auf Ihren letzten Brief antworte. Sodann macht es mir Vergnügen zu denken, daß Sie nun ein paar Wochen länger in Venedig bleiben werden. Ich bin heute guter Dinge, denn der Kopfschmerz, der von Sonntag2 Nachmittag bis zur letzten Nacht dauerte, ist wieder fort. Danken Sie Gersdorff für die Aussicht, die er mir giebt.3 Ich liebe feste Termine: ist es möglich, den 15 September als solchen in's Auge zu fassen? — Die Titelblatt-Affaire4 wollen wir aufgeben! Es ist auch daran etwas zum Lachen! Nämlich: ich wünschte dabei nur Sie zufriedenzustellen, da Sie das letzte Mal sich so ärgerlich über Herrn Schmeitzners und Oschatzens5 Ungeschmack äußerten — ich selber aber war gar nicht so unzufrieden und dachte im Stillen: "dies versteht eben Freund Köselitz besser[.]" Nun, denke ich, beschränken wir uns darauf, Hrn. Oschatz einige Versuchstitel mehr fabriziren zu lassen — und Sie wählen den relativ erträglichsten aus! — Überdieß: wir wollen Hrn. Schmeitzner ja keine Kosten mehr aufbürden — zuletzt ruinirt er sich noch mit meinen unverkäuflichen Büchern.6 Wie eigentlich so ein Buch empfunden wird, möchte ich gern wissen; ich habe den schlimmsten Argwohn, wenn ich z. B. nach dem Briefe Rohde's7 weiter rathe und mir den ungeneigten Leser denke — was im Grunde, für den Fall des neuen Buches, Jedermann sein wird! Dagegen freilich hat der Verfasser8 der Aera Bismarcks mich "den deutschen Montaigne Pascal und Diderot" genannt. Alles auf Ein Mal! Wie wenig Feinheit ist in solchem Lobe, also: wie wenig Lob! — Schädlich wenigstens wird das Buch nicht wirken — nur daß ich selber es zu büßen haben werde! Ich gebe ja nicht nur den hochmoralischen, sondern allen anständigen und braven Menschen einen Anlaß, sich ihrer Moralität und Bravheit auf meine Unkosten zu freuen. Ich will zusehen, wie ich davon komme; weiß ich doch besser als Alle es wissen können, daß Alles noch zu thun ist, und daß ich selber nur auf Tage und Stunden den Charakter habe, der nöthig ist, um hier überhaupt noch an ein "Thun" zu denken. Ach, Freund, ich werde unklar, weil ich in diesen Nothdingen meines Selbst zu sehr umgetrieben bin und zuviel mit Einem Worte empfinde. Sagen Sie mir, daß Sie mir gut sind, auch trotz der heutigen Boshaftigkeit — aber schreiben Sie es nicht auf Briefpapier, sondern auf ein Kärtchen, damit es Ihnen so wenig als möglich Zeit nimmt. Von Herzen der Ihre: Jeder Titel muß vor Allem citirbar sein: also müssen wir ändern! Nicht "Eine Morgenröthe," sondern nur: Morgenröthe. So klingt es auch nicht so prätentiös.9 1. The expenses associated with Nietzsche's manuscript for Morgenröthe (Dawn), which Köselitz had prepared for publication since 01-25-1881.
[Genua, 21. März 1881]: Ich bin so glücklich, lieber Freund, hier ein paar Büchlein1 Ihnen schicken zu können, die wie für Sie gerade geschrieben scheinen; wenigstens weiß ich Niemanden, der mehr Nutzen aus ihnen ziehn könnte. Es ist der Theil der musikalischen Aesthetik, der uns jetzt in Deutschland vorenthalten wird. — Und dann: wo findet sich ein zweiter Ohrenzeuge wieder, der zugleich auch so sehr Augenzeuge und mehr noch ist! — Er kennt den alten Haydn persönlich — und was weiß er zu erzählen! Einen herzlichen Gruß und Dank an Gersdorff! Denkt er wirklich daran, mich zu begleiten?2 — Herr Oschatz3 soll einige Versuchs-Titel mehr fabriziren, und Sie werden den erträglichsten auswählen — mehr wünsche ichnicht. Sie waren das letzte Mal (beim "Wanderer") so ärgerlich über den Ungeschmack: ich hatte bei der Anregung dieses Thema's nur den Wunsch, Ihnen diesen Ärger diesmal zu ersparen (ich selber nämlich war gar nicht unzufrieden: es ist zum Lachen!) Mein Kopfschmerz hat 6 Tage diesmal gedauert! — Treulich Ihr Freund. 1. Stendhal (Henri Beyle, 1783-1842): Vie de Haydn, de Mozart et de Métastase. Paris: Lévy, 1854. Vie de Rossini. Paris: Lévy, 1854. For links, see the entry for Stendhal in Nietzsche's Library.
Berlin, 22. März 1881: Berlin, W. d. 22ten März 1881 Hochgeehrter Herr! Gestatten Sie mir gütigst, mich in einer für mich und meine Familie sehr ernsten Angelegenheit vertrauensvoll an Sie zu wenden. Ein Bruder meiner Frau, der nicht nur mein Schwager, sondern auch mein Freund ist, ist seit einem Lustrum von schweren Schicksalsschlägen betroffen und hat dabei das Unglück, beinahe völlig taub zu sein. Er heißt Otto Busse2 und ist Ihnen wahrscheinlich persönlich, sicher aber durch Briefe3 bekannt, die Sie mit ihm gewechselt haben. Er hat sich seit Jahren auf das Studium der Philosophie geworfen, ber in jüngerer Zeit bemerken wir an ihm sehr bedenkliche Zeichen eines beginnenden, ja vielleicht schon sehr ausgebildeten Größenwahns. Er betrachtet sich als einen Propheten und berufenen Reformator der deutschen Nation, in deren geistigem und sittlichem Leben er eine Art von Revolution hervorrufen könnte und würde. Mit der wörtlichen Wiederholung seiner überspannten Reden verschone ich Sie und wende mich überhaupt in meiner Sorge nur deshalb an Sie, weil mein Schwager mit einer wahrhaft schwärmerischen Begeisterung an Ihnen und Ihren Schriften hängt und Sie als die unantastbare Autorität über allen Autoritäten verehrt. Sie haben ihn einst durch einen Brief4 oder mehrere hoch beglückt. Er verschweigt uns hartnäckig Ihren Namen; nur mir hat er soweit Vertrauen bewiesen, daß er mir, aber mit großem Widerstreben, die Bücher des von ihm hochverehrten Mannes zeigte und mich in seiner Gegenwart darin lesen ließ, während ich die Titel dieser Bücher nicht lesen, den Namen ihres Verfassers nicht erfahren durfte. Als solchen aber erkannte ich Sie, denn es waren u. A. Ihr "der Wanderer und sein Schatten," "[Vermischte] Meinungen und Sprüche“ etc; ich verschwieg ihm meine Entdeckung. Busse behauptet nun, Ihnen das Manuscript5 eines oder mehrerer von ihm verfaßten philosophischen Werke übersandt zu haben, die noch nicht veröffentlicht werden dürften, weil die Welt noch nicht reif genug für dieselben sei. Fast in jeder Ihrer geistvollen Aphorismen aber in den oben genannten zwei Schriften namentlich, sieht er Ihre directe Antwort auf seine angeblichen Werke und Gedanken, bezieht Alles, was Sie allgemein Ethisches und Ästhetisches dort aussprechen, ganz direct und individuell auf sich selbst, als wären jene Bücher nur für ihn geschrieben, nur an ihn gerichtet. Ich brauche Sie gewiß nicht erst noch zu versichern, daß mich dabei auch nicht der leiseste Zweifel beschleicht, als könnten meines Schwagers Behauptungen auf mehr beruhen, als auf krankhaften Einbildungen. Bei seiner großen Herzensgüte, seiner natürlichen tiefen Bescheidenheit sonst aus seinem in allen alltäglichen Dingen sehr scharfen Verstande und bei unsrer aufrichtigen Freundschaft wird es mir aber schwer, seiner festen Versicherung, Sie hätten ein philosophisches Manuscript von ihm in Händen, für eine offenbare Unwahrheit zu halten. Deshalb halte ich mich zu der ergebensten Anfrage bei Ihnen für verpflichtet: haben Sie wirklich ein Manuscript von ihm? und wenn, — hat dies irgendwelchen wissenschaftlichen Werth? Sie würden mich durch die Beantwortung dieser Frage zu innigem Dank verbinden, damit wir über Busse's geistigen Zustand ein sicheres Urtheil gewinnen und ihn womöglich von seinen Wahnvorstellungen noch heilen können. Dies muß mit größter Vorsicht und Schonung und mit dem Beistande ärztlichen Rathes geschehen. Darum muß ich Sie, sehr geehrter Herr Professor, um die strengste Discretion dringend bitten, wie ich dieselbe auch Ihnen hiermit fest verspreche. Busse darf nicht ohne unsere vorausgegangene Verständigung erfahren, daß ich Ihren Namen weiß, daß ich mich brieflich an Sie gewandt habe u.s.w.; vielleicht aber können Sie selber Heilsames zu seiner geistigen Gesundheit beitragen. Mit der Bitte um gütige Antwort6 verharre ich in der ausgezeichnetsten Hochachtung als Ihr ganz ergebenster 1. Julius Wolff (1836-1902): a Jewish orthopedic surgeon and professor in Berlin.
[Genua, 24. März 1881]: So läuft nun das Leben dahin und davon, und die besten Freunde hören und sehen nichts von einander!1 Ja das Kunststück ist nicht gering: zu leben und nicht mißmuthig zu werden! Wie oft bin ich in dem Zustande, wo ich gerne bei meinem alten rüstigen blühenden tapferen Freunde Rohde eine Anleihe machen möchte, wo ich eine "Transfusion" von Kraft, nicht von Lammblut,2 sondern von Löwenblut recht von Nöthen hätte — aber da steckt er in Tübingen,3 in Büchern und im Ehestande,4 für mich in allen Beziehungen unerreichbar. Ach, Freund, so muß ich denn fort und fort vom "eignen Fette" leben: oder wie Jeder weiß, der dies einmal recht versucht hat, vom eignen Blute trinken! Da gilt es sowohl den Durst nach sich selber nicht verlieren als auch sich nicht auszutrinken. Im Ganzen bin ich aber erstaunt, um es Dir zu gestehen — wie viel Quellen der Mensch in sich fließen lassen kann. Selbst einer, wie ich, der nicht zu den reichsten gehört. Ich glaube, wenn ich alle die Eigenschaften besäße, die Du vor mir voraus hast, ich würde übermüthig und unausstehlich. Schon jetzt giebt es Augenblicke, wo ich auf den Höhen über Genua mit Blicken und Empfindungen herumwandele, wie sie von eben hier aus vielleicht einmal der selige Columbus5 auf das Meer und auf alle Zukunft hinaus gesandt hat. Nun, mit diesen Augenblicken des Muthes und vielleicht sogar der Narrheit muß ich mein Lebensschiff wieder in's Gleichgewicht zu bringen suchen. Denn Du glaubst nicht, wie viel Tage, und wie viel Stunden selbst an erträglichen Tagen — überstanden werden müssen, um nicht mehr zu sagen. Soweit man mit "Weisheit" der Lebenspraxis einen schwierigen Zustand der Gesundheit erleichtern und mildern kann, thue ich wahrscheinlich Alles, was man in meinem Falle thun kann — ich bin darin weder gedanken- noch erfindungslos — aber ich wünsche Niemanden das Loos, an welches ich anfange mich zu gewöhnen, weil ich anfange zu begreifen, daß ich ihm gewachsen bin. Aber Du, mein theurer lieber Freund, bist nicht in einer solchen Klemme, wo man sich dünn machen muß, um gerade sich durchzuwinden; Overbeck ist es auch nicht, ihr thut eure schöne Arbeit und ohne viel davon zu sprechen, vielleicht ohne viel davon zu denken, habt Ihr alles Gute vom Mittage des Lebens — und ein wenig Schweiß dazu, wie ich vermuthe. Wie gerne hörte ich ein Wort von Deinen Plänen, von großen Plänen — denn mit einem solchen Kopfe und Herzen, wie Du hast, trägt man hinter all der täglichen und vielleicht kleinen Arbeit, irgend etwas Umfängliches und Sehr-Großes mit sich herum — wie sehr würdest Du mich erquicken, wenn Du mich solcher Mittheilungen nicht für unwürdig hieltest! Solche Freunde wie Du müssen mir helfen, den Glauben an mich in mir selber aufrecht zu erhalten; und das thust Du, wenn Du mich für Deine besten Ziele und Hoffnungen zum Vertrauten behältst.6 — Wenn sich unter diesen Worten die Bitte um einen Brief verbergen sollte, nun ja! liebster Freund, ich hätte gerne etwas recht, recht Persönliches von Dir wieder einmal in Händen — damit ich nicht immer nur den vergangenen Freund Rohde im Herzen empfinde, sondern auch den gegenwärtigen und — was mehr ist — den werdenden und wollenden: ja den Werdenden! den Wollenden! Von Herzen Sage Deiner lieben Frau ein Wort zu meinen Gunsten: sie soll nicht böse sein, daß ich sie immer noch nicht kenne: irgend wann einmal mache ich Alles gut. Genova (Italia) 1. Their last correspondence was in December 1879 (12-22-1879 from Rohde; 12-28-1879 from Nietzsche).
[Genua, 28. März 1881]: Sehr geehrter Herr, das sind traurige Nachrichten — ich hatte gehofft, es stünde jetzt besser mit der geistigen Gesundheit des Hrn O[tto] B[usse]2 eben weil ich ein Jahr lang nichts mehr von ihm gehört habe! Im Frühjahr 1880, als ich in Venedig war, wurde ich, um die ganze Wahrheit zu sagen, durch seine wichtigthuerischen Sendschreiben3 in einem Grade belästigt, daß ich dem mit Gewalt ein Ende machen mußte — ich sagte ihm, in dem einzigen Briefe,4 den ich an ihn geschrieben habe, die "Wahrheit," immerhin, wie sich von selber versteht, so schonend als es ein Mann von so edlen und hochherzigen Sinnen von mir erwarten kann. Ich widerrieth ihm sich mit meinen Gedanken zu beschäftigen, suchte ihm in Hinsicht auf seine frühere praktische Thätigkeit wieder Muth zu machen, erklärte es als eine Selbsttäuschung, wenn er glaube, daß ich in irgendwelchen Stellen meiner Schriften an ihn gedacht hätte oder daß gar meine Schriften durch ihn hervorgerufen seien — so weit ging sein Wahn — / endlich: ich drückte so kräftig als möglich mein Unbehagen über den Ton aus, in dem er von mir zu sprechen sich gewöhnt hatte. Es war ein so abkühlender Brief, als ihn die hitzige Schwärmerei seiner Sendschreiben eben nöthig machte. Später habe ich ihm durch einen eben so besonnenen als vertrauenswürdigen Freund erklären lassen, daß ich weitere Schriftstücke nicht mehr lesen würde — in der That ist das Umfänglichste, beinahe ein Broschürchen, mir bis heute unbekannt. Von einem Werthe, gar einem wissenschaftlichen Werthe kann bei diesen schwülstigen und oft ganz unverständlichen Schriftstücken nicht die Rede sein. — Wahrscheinlich hat jener Freund in diesen Angelegenheiten mit Hrn. O[tto] B[usse] noch einige Briefe gewechselt — ich wollte damals von alledem nichts mehr hören und unterließ absichtlich ihn zu fragen. Vielleicht ist es Ihnen, verehrter Herr, erwünscht, die Adresse dieses Freundes zu haben. Hier ist sie: Signore H. Köselitz Aus früherer Zeit erinnere ich mich einer Karte,5 die ich an Hrn. O[tto] B[usse] schrieb, um zu erklären, daß ein brieflicher Verkehr für mich eine Unmöglichkeit sei (denn ich bin fast blind — Verzeihung! Auch dieser Brief ist nur eine Ausnahme. Mein einziger Brief an Hrn O. B. ist von mir Herrn Köselitz in die Feder diktirt worden.) Von ganzem Herzen wünsche ich, irgendwie zur Genesung eines so ausgezeichnet guten Menschen beitragen zu können. Wäre ich nur in seiner Nähe! — ich wollte ihn schon vom Glauben an seine und meine "Größe" abbringen! Aber meine Gesundheit gebietet mir, im Süden, in einem Hafenort des mittelländischen Meeres zu leben. Sollte ein Arzt es rathsam finden, Hrn B. für längere Zeit in meine Nähe zu versetzen: so geben Sie mir Nachricht! Man sagt mir nach, daß ich beruhigend auf meine Umgebung wirke; und meine Lebensweise ist so einfach und natürlich, daß Herr O. B. sie nicht ohne Nutzen annehmen würde. Genug: ich wollte Ihnen nur sagen, wie gern ich helfen möchte! Ganz ergeben der Ihre Dr. F. Nietzsche 1. Julius Wolff (1836-1902): a Jewish orthopedic surgeon and professor in Berlin.
[Genua, 30. März 1881]: Aber, liebster Freund, das war eine Vergiftung! Wahrscheinlich hat man Ihnen gefälschten Wein zu trinken gegeben; denken Sie ja darüber nach, wo Sie dies Gift in den Leib bekommen haben mögen!1 — Eben las ich in Ihrem Hefte "Carnevale von Venedig"2 und zwar zum ersten Male! Sonderbar! das Vorurtheil, es sei viel von meinen Meinungen darin, hatte mich bisher dagegen eingenommen. Jetzt werde ich auf das Angenehmste überrascht: es ist purus Köselitzius, reiner guter und nicht verfälschter Wein aus Ihrem Weinberge! Es thut mir alles so wohl; und ich glaube, es sind sehr nützliche Tendenzen in diesem Hefte ausgesprochen, die nicht nur mir nützlich und wohlthuend erscheinen werden! Z. B.: alle diese Bemerkungen über A[dalbert] Stifter's Nachsommer!3 Das könnte manchem Dichter, manchem Leser und manchem, der beides noch nicht ist, recht zu Statten kommen! Ich wünschte, Sie machten sich einmal inmitten Ihrer Arbeit "Ferien" und schrieben dieses Heft um, mit allem Behagen und ohne jegliche Rücksicht auf das "mein" und "dein" zwischen uns Beiden — welches ja, nach der Ethik der Pythagoreer,4 unter Freunden nicht existirt! Und so soll es sein! Ganz vertraulich und heimlich gesprochen: für wen schrieb ich denn das letzte Buch5 auf? Für uns: wir müssen uns einen Schatz an Eigenem sammeln, für das Alter! Denn mit dem Gedächtniß ist es nichts, ich habe z. B. den Inhalt meiner frühern Schriften fast vergessen, und finde dies sehr angenehm, viel besser jedenfalls als wenn man alles früher Gedachte immer vor sich hätte und sich mit ihm auseinandersetzen müßte. Giebt es vielleicht doch eine solche Auseinandersetzung in mir, nun, so geht sie im "Unbewußten" vor sich, wie die Verdauung bei einem gesunden Menschen! Genug: wenn ich meine eignen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. Sehen wir zu, daß wir unser ganzes Leben derartig für uns monumentalisiren — es ist mir ganz gleichgültig und leerer Schall in den Ohren, wenn ein solches Begehren "Eitelkeit" heißt. Seien wir doch eitel für uns und so sehr als möglich! Der Übelstand meiner Augen ist groß, jetzt z. B. nach der Arbeit dieses Winters muß ich viele Tage verstreichen lassen, ohne ein Wort zu lesen und zu schreiben; und kaum begreife ich's, wie ich mit diesem Manuscript fertig geworden bin. Voller Bedürfnisse, etwas zu lernen und recht gut wissend, wo das steckt, was gerade ich zu lernen habe, muß ich das Leben so hinstreichen lassen — wie es meine elenden Organe, Kopf und Augen, fordern! Und es handelt sich nicht um ein Besserwerden! Es wird immer kümmerlicher, und die Dunkelheit nimmt zu! Also, lieber guter Freund, machen Sie ein Venediger Gedenkbuch, geben Sie es anonym heraus (oder mit einem neuen Namen) und denken Sie daran, wie uns so ein Buch dieses Inhaltes erquickt haben würde, wenn es zu uns versteckten Jünglingen in unsere deutschen Winkel gelangt wäre, damals als wir 20 Jahr alt waren! Nun noch ein Wort von unsern Bekümmernissen! Herr Otto Busse6 macht seinen Verwandten und Freunden die größte Sorge (— voller Größenwahn, (in Bezug auf sich und mich!)) und diese wenden sich nun an mich!7 — meinend, ich hätte ihm etwas in den Kopf gesetzt! Das soll ich nun wieder hinausschaffen! Er hält sich für den Reformator der Deutschen und mich für die "Autorität der Autoritäten" — kurz: Muhammed und Allah! Er behauptet, daß "wissenschaftliche Werke" von ihm in meinen Händen seien! für die die Deutschen noch nicht reif seien! u.s.w. Alles unter sieben Siegeln Ihnen anvertraut! Dann: Herr Schmeitzner behandelt mich nicht artig. Vor 5 Wochen hat er mir ein Kärtchen8 geschrieben, (mit der allzu sächsischen Wendung "Ei natürlich verlege ich Ihr Buch!") Seitdem tiefes Schweigen, trotzdem daß ich 2 Briefe und 2 Karten abgesandt habe! Daß ihm eine Ehre widerfährt, wenn er dieses Buch herausgeben darf, davon hat er keine Vorstellung. Nun möchte ich gern etwas verreisen, um meinen Kopf etwas zu zerstreuen und viel Spazieren zu gehn — es ist dies sehr nöthig, damit ich nicht von meinen Skrupeln aufgefressen werde! (Verfluchte Melancholei!) Aber Correkturbogen! Fast hätte ich Lust, diese ganze Druckgeschichte Herrn Schmeitzner aus den Händen zu nehmen: ich warte nur, daß er mir einen Anlaß giebt. Vielleicht erweise ich ihm eben damit einen großen Dienst: denn wer mag ein solches Buch gerne als Verleger vertreten! Frau von Wöhrmann9 hat ihre Söhne kommen lassen — es steht also wohl schlimm! — — Charron10 — vorzüglicher Gedanke! Es ist das Erziehungsbuch des alten französischen Adels!11 — Es lebe unser Stendhal!12 Ja, die Rangordnung der Geister ist noch nicht gemacht! — P[rosper] Mérimée13 ist jetzt der best beschimpfte Franzose unter Franzosen aller Parteien! ihr erster großer Erzähler aus diesem Jahrhundert! Gehen wir unsere Wege nur weiter! Man trifft doch auf mancherlei Gutes dabei! — Von Herzen Ihr F. N. 1. It's uncertain to what Nietzsche is referring, since Heinrich Köselitz's letters don't mention it.
Recoara 17. Juni 1881: Meinen Glückwunsch zu Ihrem Finalissimo!1 Und ebenso zur Beendigung unsrer unausstehlichen Correctur!2 (Das M[anu]script des letzten Bogens ist an mich geschickt worden.) Das Umschlag-Titelblatt aber ist Ihre Sache3 — wie ich Teubner geschrieben4 habe; ich will es gar nicht sehen. Das Exemplar für Frau v. W[öhrmann]5 geht an Ihre Adresse; Schm[eitzner] ist benachrichtigt.6 — Inzwischen war ich des Lebens müde; das schöne Recoaro7 ist eine Hölle für mich gewesen, ich bin immer krank, und kenne keinen Ort der so ungünstig mit seinem beständigen Wetter-Umschlagen auf mich wirkte. Brentonico bei Mori8 (wir sind ja durchgefahren) ist viel zu tief, und der M[onte] Baldo9 ist noch dazu ein Wetterberg, wie der Pilatus:10 immer Gewölk! Ich zerbreche mir den Kopf und finde nichts als den Versuch mit dem Engadin zu wiederholen: was in 4 Tagen11 ungefähr geschehen soll. Ich bin ein gemartertes Thier und lechze nach einiger Schmerzfreiheit. In herzlicher Freundschaft FN. Pseudonymität und Verborgenheit unmöglich für Sie! Veränderung des Namens genügt z. B. Coselli.12 1. A choral finale that Heinrich Köselitz added to his comic opera, Scherz List und Rache.
Sils-Maria, 8. Juli 1881: So wollen wir's nur fort treiben!1 Am Ende, mein lieber tapferer Freund, sind wir doch ein Paar tüchtige Schwimmer. Alle Welt hält uns schon für ertrunken, aber da tauchen wir immer wieder auf und bringen sogar aus der Tiefe etwas mit herauf, was, wie wir meinen, Werth hat und vielleicht auch einmal für Andre Glanz bekommen wird. Ich habe gerade auch eine gefährliche Zeit hinter mir und bin wieder im Engadin angelangt, meiner alten Rettungsstätte:2 "des Leibes noch nicht ledig"3 und was die Seele betrifft, so lesen Sie das Buch, welches unser Verleger Ihnen zusenden wird.4 Mir ist mitunter als ob ich als Längst-Gestorbener mir die Dinge und Menschen anschaute — sie bewegen, erschrecken und entzücken mich, ich bin ihnen aber ganz ferne. Der auf ewig Abhandengekommene und doch gerade Ihnen so Nahe: — 1. Unknown reference, probably to a letter from Rée.
Sils-Maria, 19. Juli 1881: Ihr Gesang,2 werther Herr, geht mir so nahe und thut mit so wohl, daß ich alles Recht verliere, ihn zu loben. Zumal da ich annehme, Sie machen es jenen älteren Musikern gleich, welche ihre heitere lebenfunkelnde Symphonie mit einem ernsten schwermüthigen Satze wie mit einer Morgendämmerung beginnen: — sie waren darin Schelme. Und vielleicht haben Sie eben auch nur ein Vorspiel uns geben wollen, daß uns ein wenig irre leiten soll? Denn zuletzt, lieber Herr, sind wir Beide doch wohl Einer Meinung, über diesen Einen Punkt: daß sich auch jetzt noch der Bogen des Lebens so straff spannen lasse, daß die Sehne der Begierde singt und pfeift? daß wir auch jetzt noch so stolz und darüber-hinsehend leben können, wie jener herrliche römische Kaiser,3 in dessen Verehrung wir Beide einmüthig sind (lesen Sie doch zum Beweise dafür meine jüngst erschienene "Morgenröthe"4 — ich kann sie Ihnen leider nicht schicken) Dankbar der Ihrige F.N. 1. Ferdinand Laban (1856-1910): Hungarian-born German writer, librarian, and art historian. Laban was born in Pressburg on February 1, 1856. After completing his historical and literary studies at the universities of Vienna, Strasbourg and Cluj from 1874-1882 with his doctoral examination at the latter university, Laban moved to Berlin at the beginning of 1883, where he became a member of Paul Rée's and Lou Salomé's discussion group while they were staying in Schmargendorf near Berlin. Around 1884, Laban became the librarian of the Royal Museum in Berlin, and later in 1894, editor of the yearbook of the Royal Prussian Art Collections. Laban learned of Nietzsche's writings in 1874 while a student at the University of Vienna. There he was a member of the student organization "Leseverein der deutschen Studenten Wiens" (the group existed from 1872-1878), including the "Pernerstorfer circle," or the so-called "Nietzsche Society." Nietzsche and Laban never met, but Nietzsche heard about him from Heinrich von Stein, who was a close friend of Laban and who reviewed Laban's book in 1884. See Heinrich von Stein, "Ferdinand Laban: Dialogische Belustigungen. Pressburg und Leipzig, C. Stampfel 1883." In: Bayreuther Blätter. Jahrg. 7 (1884), 185-187. On 04-05-1883, Laban sent Nietzsche a dedicated copy of his book. Online at HAAB. Laban was also an admirer of Schopenhauer, and wrote a bibliography of works about Schopenhauer in which Nietzsche is mentioned several times. See Ferdinand Laban, Die Schopenhauer-Literatur. Versuch einer chronologischen Uebersicht derselben. Leipzig: Brockhaus, 1880. Nietzsche is mentioned on pages: 13, 18, 86, 88, 91, 92, 99, and 111. Furthermore, on 07-11-1881, Laban had sent Nietzsche a copy of his book. Auf der Haimburg: eine Dichtung. Wien: Konegen, 1881. In Nietzsche's copy, Laban's dedication: "Herrn Professor Dr. Friedrich Nietzsche als Zeichen aufrichtiger Hochachtung d. Verf. Preßburg in Ungarn 11. Juli 1881." (Herrn Professor Dr. Friedrich Nietzsche as a token of sincere esteem t[he] auth[or]. Preßburg in Hungary July 11, 1881." See the entry for Laban in Nietzsche's Library. Finally, in 1904, Laban reminisced about his dealings with Nietzsche: "Als ich Anno 1874 in Wien als ordentlicher Immatrikulierter der philosophischen Fakultät die jugendlich ungestüm herbeigesehnte, aber im philosophischen Hörsaal schmerzlich vermißte Sophie unordentlich genug auf eigene Faust extra muros suchen ging, fand ich neben dem bereits berühmten Schopenhauer auch den noch unberühmten Nietzsche. Die beiden ersten Bücher Nietzsches waren kurz vorher erschienen. Ich erkannte sofort, daß diese beiden Schriftsteller das Höchste seien, was die deutsche Geisteskultur des 19. Jahrhunderts ihren Jüngern zu bieten habe [....]. Mein Erlebnis war also, daß ich Nietzsche von seinem ersten Auftreten an aufmerksam verfolgte und seine Entwicklung miterlebte. Ich habe ihn persönlich nie kennen gelernt — obschon ich Briefe an ihn und er Briefe an mich absandte — , ich hatte damals auch nie etwas Intimeres über seine Lebensumstände erfahren. Doch schon 1881 fiel mir in seiner "Morgenröte" befremdend ein zuweilen durchbrechender boshafter Ton auf. Und als 1883 sein erstes Heftchen "Zarathustra" auf den Markt kam, da sagte ich schmerzlich betroffen zu mir und auch zu anderen: 'Dieser Geist ist in der Auflösung begriffen!' Ich glaube, ich habe während diesen zehn Jahren König Nietzsches Glück und Ende mit dem Enthusiasmus und mit der Spannung eines Premièrebesuchers miterlebt, habe die Funken am finsteren Nachthimmel des Lebens aus der Esse stieben gesehen, pulsierendes Herzblut gefühlt, wo heute ein Bücherbrett vollsteht. In den Gesichtskreis der großen Welt aber war Nietzsche noch immer nicht eingetreten, er, der Impressionist der Philosophie, der, die Atelier-Systemmacherei mißachtend, in pointillierender Weise einen Sentenzenwirbel mit kühner Hand aussäte und die Spekulation in den Farben des Lebens und der Wirklichkeit erstrahlen ließ, wie noch nie vordem." (When I went to Vienna in 1874, as a full-time student of the faculty of philosophy, to search for sophia on my own, in a disorderly way, extra muros, something I had longed for with youthful impetuousness but which I sorely missed in the philosophical lecture hall, I found alongside the already famous Schopenhauer the not-so-famous Nietzsche. Nietzsche's first two books had been published shortly beforehand. I immediately recognized that these two writers were the best that German intellectual culture of the 19th century had to offer its followers [....]. Hence my experience was that I followed Nietzsche closely from his first appearance and witnessed his development. I never got to know him personally — although I sent letters to him and he sent letters to me — I never learned anything more personal about the circumstances of his life back then. But as early as 1881 I was struck by the strange, sometimes malicious tone that broke through in his "Dawn." And when his first volume of "Zarathustra" was released in 1883, I said to myself then and also to others with great concern: "This mind is disturbed!" I believe that during these ten years I witnessed King Nietzsche's happiness and death with the enthusiasm and excitement of a person attending a première, saw the sparks fly out of the forge into the dark night-sky of life, felt pulsating life-blood where a bookshelf is now full. But Nietzsche had still not entered the wider world's sphere of vision, he, the impressionist of philosophy, who, disregarding the workshop of system-mongers, sowed a whirlwind of aphorisms in a pointed manner with a bold hand and allowed speculation to shine in the colors of life and reality as never before.) Excerpt from Ferdinand Laban, "Im zwanzigsten Jahre nach Manets Tode." In: Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. Fünfzehnter Jahrgang. Leipzig: Seemann, 1904, 25-35 (25-26). Sils-Maria, 21. Juli 1881: Mir fiel ein, lieber Freund, daß Ihnen an meinem Buche1 die beständige innerliche Auseinandersetzung mit dem Christenthume fremd, ja peinlich sein muß; es ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennen gelernt habe, von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, in viele Winkel, und ich glaube, ich bin nie in meinem Herzen gegen dasselbe gemein gewesen. Zuletzt bin ich der Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen vergeben Sie mir diese Beschränktheit! Frau Lucca: ein sehr guter Gedanke!2 Sie kann sprechen und Possen machen. Auch mich hat sie einmal entzückt, vor nunmehr 18 Jahren. Sollte sie jung genug sein? Bei der Art, wie Sie Ihre Partitur machen, bin ich voll stiller Hochachtung für Sie und sehe zu, wie ich einem guten Goldschmiede zusehe. Täuschen Sie sich nicht über meine Empfindung! Hier, auch hier giebt es für mich zu leiden; bisher 4 schwere zwei- oder dreitägige Anfälle. Der Sommer ist für die Engadiner zu heiß; ich wage gar nicht an Venedigs Sommer dabei zu denken. Hr. Schmeitzner hat vergessen, mir mein Buch3 zu senden; ich bin seiner satt. (Aber er hat all meine Ersparnisse!)4 In treuem Gedenken der Ihre 1. Morgenröte (Dawn).
Sils-Maria, 23. Juli 1881: Es freut mich sehr, mein lieber Freund, daß auch in dieser Angelegenheit1 unsre Freundschaft Stand hält, ja sich neu besiegelt hat ich denke mitunter mit Bangniß an alle die Feuer- und Kälteproben, denen die mir liebsten Menschen durch meine "Unumwundenheit" ausgesetzt werden. Was das Christenthum betrifft, so wirst Du mir wohl das Eine glauben: ich bin in meinem Herzen nie gegen dasselbe gemein gewesen und habe mir von Kindesbeinen an manche innerliche Mühe um seine Ideale gegeben, zuletzt freilich immer mit dem Ergebniß der puren Unmöglichkeit. Auch hier2 habe ich viel zu leiden, der Sommer ist diesmal heißer und elektricitätsreicher als gewöhnlich, zu meinem Nachtheil. Trotzdem weiß ich mir nichts meiner Natur Angemesseneres als dies Stück Ober-Erde. Frau Baumgartner hat mir sehr gut und herzlich geschrieben. Ich selber bin noch nicht im Besitz meines Buches.3 Hellwald mit Dank empfangen; es ist ein Compendium einer Gattung von Meinungen.4 Dir und Deiner lieben Frau von Herzen zugethan Ich weiß absolut nicht mehr, mit welchen Ansichten ich noch wohlthue, mit welchen ich wehe thue. 1. Nietzsche's concern about Overbeck's reaction to Morgenröte (Dawn) proved to be unfounded.
Sils-Maria, 30. Juli 1881: Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza1 fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine "Instinkthandlung." Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit ; die Zwecke ; die sittliche Weltordnung ; das Unegoistische ; das Böse ; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. Wunderlich! Übrigens ist mein Befinden gar nicht meinen Hoffnungen entsprechend. Ausnahmewetter auch hier! Ewiges Wechseln der atmosphärischen Bedingungen! das treibt mich noch aus Europa! Ich muß reinen Himmel monatelang haben, sonst komme ich nicht von der Stelle. Schon 6 schwere, zwei- bis dreitägige Anfälle!! In herzlicher Liebe Euer Freund. 1. Benedictus de Spinoza (1632-1677): Dutch philosopher. Nietzsche was reading Geschichte der neuern Philosophie von Kuno Fischer. Erster Band. Descartes und seine Schule. Zweiter Theil. Descartes' Schule. Geulinx. Malebranche. Baruch Spinoza. Heidelberg: Bassermann, 1865. See the entry for Spinoza in Nietzsche's Library.
Sils-Maria, 14. August 1881: Nun, mein lieber guter Freund! Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und friedlicher auf Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehn habe davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschütterlichen Ruhe erhalten.1 Ich werde wohl einige Jahre noch leben müssen! Ach, Freund, mitunter läuft mir die Ahnung durch den Kopf, daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können! Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen schon ein Paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß meine Augen entzündet waren wodurch? Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe. Zuletzt wenn ich nicht meine Kraft aus mir selbst nehmen könnte, wenn ich auf Zurufe Ermuthigungen Tröstungen von außen warten müßte, wo wäre ich! was wäre ich! Es gab wahrhaftig Augenblicke und ganze Zeiten meines Lebens (z. B. das Jahr 1878), wo ich einen kräftigenden Zuspruch, einen zustimmenden Händedruck wie das Labsal aller Labsale empfunden hätte und gerade da ließen mich alle im Stich, auf welche ich glaubte mich verlassen zu können und die mir jene Wohlthat hätten erzeigen können. Jetzt erwarte ich's nicht mehr und empfinde nur ein gewisses trübes Erstaunen, wenn ich z. B. an die Briefe denke, die ich jetzt bekomme alles ist so unbedeutend, keiner hat etwas durch mich erlebt, keiner sich einen Gedanken über mich gemacht es ist achtbar und wohlwollend, was man mir sagt, aber ferne, ferne, ferne. Auch unser lieber Jacob Burckhardt schrieb so ein kleinlautes verzagtes Brieflein.2 Dagegen nehme ich es als Belohnung auf, daß die Jahr mir zweierlei zeigte, das zu mir gehört und mir innig nahe ist das ist Ihre Musik und diese Landschaft. Das ist keine Schweiz, kein Recoaro, etwas ganz Anderes, jedenfalls etwas viel Südlicheres, ich müßte schon nach den Hochebenen von Mexiko am stillen Ozeane gehen, um etwas Ähnliches zu finden (zb. Oaxaca) und da allerdings mit tropischer Vegetation. Nun, dies Sils-Maria will ich mir zu erhalten suchen. Und ebenso empfinde ich für Ihre Musik, aber weiß gar nicht, wie ihrer habhaft werden! Notenlesen und Klavierspielen habe ich aus meinen Beschäftigungen ein- für allemal streichen müssen. Die Anschaffung einer Schreibmaschine3 geht mir im Kopf herum, ich bin in Verbindung mit ihrem Erfinder, einem Dänen aus Kopenhagen. Was machen Sie im nächsten Winter? Ich nehme an, daß Sie in Wien sein werden?4 Aber für den darauf folgenden Winter wollen wir uns eine Zusammenkunft ausdenken, wenn auch nur eine kurze denn ich weiß jetzt wohl, daß ich nicht zu Ihrem Umgange tauge und daß es Ihnen freier und fruchtbarer zu Muthe ist, wenn ich wieder fortgeflogen bin. Mir liegt andererseits an der immer größeren Befreiung Ihres Gefühls und an dem Erwerbe eines innigen und stolzen Zu-Hause-seins, in summa an Ihrem glücklichen allerglücklichsten Schaffen und Reifwerden so unbeschreiblich viel, daß ich mich in jede Lage leicht finden werde, welche aus den Bedingungen Ihrer Natur erwächst. Ich habe nie gegen Sie irgend welche häßlichen Gefühle, vertrauen Sie darauf, lieber Freund! Sagen Sie mir noch beiläufig, wie man jetzt deutsches M[ark] Papiergeld in Italien verkauft (für ital[ienisches] Papier), ich meine, was der Cours ist. Die Adresse von Fräulein von Meysenbugs habe ich auch nicht im Kopfe; jetzt wird sie wohl mit Monods5 irgendwo zusammen sitzen, ich meine, Hr. Schm[eitzner] mag das Exemplar6 nach Paris schicken. Mit Hrn. Schm[eitzner] ist alles auf's schonendste ausgeglichen; ich habe mir vorgenommen, ihn nicht dafür leiden zu lassen, daß ich auf voreilige Schlüsse hin manches von ihm erwartete, was nicht zu seiner Natur gehört.7 In herzlicher Freundschaft und Dankbarkeit (Ich bin viel krank gewesen.) 1. Cf. Nietzsche's notes for his discovery of the "Recurrence of the Same." Nachlass, Herbst 1881 11[141] (From Nietzsche's Notebooks, Fall 1881 11[141]).
Sils-Maria, 18. September 1881: Danke Deiner lieben Frau für ihre ebenso gütige als exakte Auskunft. Nein, ein solcher Topf paßt nicht für meinen Haushalt: welcher flüchtig und transportabel sein muß, wie ich selber (ebenso wenig als die erwähnte Schreibmaschine1) Die Zeitschriften laß! Die gesuchten Aufsätze stehen in Liebmann's "Analysis"2 auch. Ceterum, missis his jocis, dicam quod tacere velim, sed non jam tacere possum. Sum in puncto desperationis. Dolor vincit vitam voluntatemque. O quos menses, qualem aestatem habui! Tot expertus sum corporis cruciatus, quot in caelo vidi mutationes. In omni nube est aliquid fulminis instar, quod manibus me tangat subitis infelicemque penitus pessumdet. Quinquies mortem invocavi medicum, atque hesternum diem ultimum speravi fore frustra speravi. Ubi est terrarum illud sempiternae serenitatis caelum, illud meum caelum? Vale amice.3 1. Nietzsche eventually received a typewriter. See his 03-21-1882 letter to Paul Rée.
Genua, 28. Oktober 1881: Willst Du mir, lieber Freund, folgendes Buch unter Kreuzband senden lassen (durch Deinen Leipziger Buchhändler, mit dem Du es vielleicht vereinbarst, daß ich direkt mit meinen Bücheraufträgen mich an ihn wenden kann, und daß die Zahlung jährlich zugleich mit Deinen eigenen Zahlungen erfolgt?) Foissac, Meteorologie, Deutsch von Emsmann. (Es ist von wegen der fürchterlichen Einflüsse der atmosphärischen Elektrizität auf mich — sie werden mich noch auf der Erde herumtreiben, es muß bessere Bedingungen des Lebens für meine Natur geben. Z. B. in den Hochebenen Mexicos, auf der Seite des stillen Ozeans (schweizerische Colonie "Neu-Bern"). Sehr, sehr, sehr gequält, Tag um Tag. Dein Fr 1. Pierre Foissac (1801-1885), physician and natural scientist: Meteorologie mit Rücksicht auf die Lehre vom Kosmos und in ihren Beziehungen zur Medicin und allgemeinen Gesundheitslehre. Ein von dem Institute zu Paris gekröntes Werk von P. Foissac Professor der Medicin an der medicinischen Facultät zu Paris, Ritter etc. Mit Zustimmung des Verfassers deutsch bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Dr. A. H. Emsmann Professor in Stettin. Leipzig: O. Wigand, 1859. VIEW BOOK.
Genua, 14. November 1881: Mein lieber Freund, was ist dies unser Leben? Ein Kahn, der im Meere schwimmt, von dem man nur dies mit Sicherheit weiß, daß er eines Tages umschlagen wird. Da sind wir nun zwei alte gute Kähne, die sich treulich Nachbarschaft gehalten haben, und namentlich hat Deine Hand redlich dabei geholfen, mich vor dem "Umschlagen" zu behüten! So wollen wir denn unsere Fahrt fortsetzen und einer um des Andern Willen recht lange! recht lange! wir würden uns so vermissen! Einigermaßen glatte See und gute Winde und vor allem Sonne was ich mir wünsche, wünsche ich auch Dir; und traurig, daß meine Dankbarkeit sich eben nur in einem solchen Wunsche äußern kann und daß sie gar nichts über Wind und Wetter vermag! Foissac1 ist eingetroffen, schnell und billig von Deinem Buchhändler besorgt: diese medizinische Meteorologie, obschon von der Academie gekrönt, ist aber leider eine Wissenschaft in der Kindheit und für meine persönliche Noth eben nur ein Dutzend Fragezeichen mehr. Vielleicht weiß man jetzt mehr ich hätte in Paris bei der Elektrizitäts-Ausstellung sein sollen, theils um das Neueste zu lernen, theils als Gegenstand der Ausstellung: denn als Witterer von elektrischen Veränderungen und sogenannter Wetter-Prophet nehme ich es mit den Affen auf und bin wahrscheinlich eine "Spezialität." Kann Hagenbach2 vielleicht sagen, durch welche Kleidung (oder Ketten, Ringe u.s.w.) man sich am besten gegen diese allzustarken Einflüsse schützt? Ich kann mich doch nicht immer in einer seidenen Hängematte aufhängen! Besser, sich ganz aufzuhängen! Und sehr radikal! Wann ist der Gotthardtunnel fertig? Wann soll er befahren werden? Er soll mich zu Dir und zu den Ärzten (Augen- und Zahnärzte einbegriffen) bringen; ich habe ein lange Consultation in's Auge gefaßt. (Dieser Tunnel ist den Genuesen vor die Thür gebaut, sie sind äußerst dankbar, ja, sie sind gegen jeden Schweizer jetzt dessenthalben artig.)3 Meine Augen versagen immer mehr die außerordentliche Schmerzhaftigkeit nach kürzestem Gebrauche hält mich geradezu von der Wissenschaft entfernt (ganz abgesehn von der großen Schwachsichtigkeit.) Seit wie lange habe ich nicht lesen können!! Romundt's Buch4 habe ich nicht gelesen nach einem musternden Blicke aber glaube ich, es ist Schleicherei auf verbotenen, uns verbotenen Wegen das mag ich nicht! Paësiello's Meisterwerk ist das matrimonio segreto5: da kam Cimarosa und componirte denselben Text noch einmal, und siehe! es wurde auch sein Meisterwerk.6 Und nun kommt Köselitz und das ist das Neueste er hat es zum dritten Male componirt und ist im Wesentlichen fertig damit. Der Text verdient es das Wagniß und die Kühnheit des Gedankens hat mir zu denken gegeben. So wie ich K[öselitz] kenne, freue ich mich dieses Charakterzugs: Überhebung und Dreistigkeit sind ihm sehr fremd. Die "Nacht o holde" hat auf Dich vielleicht etwas anders gewirkt als auf mich, nach Deinen Worten zu schließen und so ist es natürlich.7 Genug, es war beide Male ein Eindruck, der zu Ehren des Componisten auslief. Mit der Bitte, mich Deiner lieben Frau des Herzlichsten zu empfehlen verbleibe ich Dein Freund Friedr. Nietzsche. 1. Pierre Foissac, Meteorologie mit Rücksicht auf die Lehre vom Kosmos. Deutsch von A. H. Emsmann. Leipzig: Wigand, 1859. VIEW BOOK.
Genua, 28. November 1881: Hurrah! Freund! Wieder etwas Gutes kennen gelernt, eine Oper von François Bizet (wer ist das?): Carmén.1 Hörte sich an wie eine Novelle Mérimée's,2 gestreich, stark, hier und da erschütternd. Ein ächt französisches Talent der komischen Oper, gar nicht desorientiert durch Wagner, dagegen ein wahrer Schüler von H[ector] Berlioz.3 So etwas habe ich [nicht] für möglich gehalten! Es scheint, die Franzosen sind auf einem besseren Wege in der dramatischen Musik; und sie haben einen großen Vorsprung vor den Deutschen in Einem Hauptpunkte: die Leidenschaft ist bei ihnen keine so weithergeholte (wie zb. alle Leidenschaften bei Wagner). Heute etwas krank, durch schlechtes Wetter, nicht durch die Musik: vielleicht sogar wäre ich viel kränker, wenn ich sie nicht gehört hätte. Das Gute ist mir Medizin! Darum meine Liebe zu Ihnen!! 1. Georges Bizet (1838-1875): French composer of the opera Carmen. On January 5, 1882, Nietzsche sent Köselitz a marked-up edition of Bizet's score, with 75 marginal notes in pencil. See "Nietzsche's Marginal Glosses to Georges Bizet's Carmen." In: Friedrich Nietzsche in Words and Pictures. Appendix 2. Chronology of Nietzsche's Music: 121-141.
Genua, 8. Dezember 1881: Sehr spät bringt mein Gedächtniß (das mitunter verschüttet ist) heraus, daß es wirklich von Mérimée1 eine Novelle "Carmen" giebt, und daß das Schema und der Gedanke und auch die tragische Consequenz dieses Künstlers noch in der Oper fortleben.2 (Das libretto ist nämlich bewunderungswürdig gut) Ich bin nahe daran zu denken, Carmen sei die beste Oper, die es giebt; und so lange wir leben, wird sie auf allen Repertoiren Europa’s sein. Herr O. Busse3 verspricht seine Gedanken über die "Fortpflanzung des Menschen" zu veröffentlichen (oh ich Unglücklicher! —) einstweilen empfiehlt er in seinem Sendschreiben4 die Kindes-Aussetzung nach Art der Spartaner. Ich finde das Wort und das Gefühl nicht, um ihm zu antworten. Eine lateinische Abhandlung über Epicur will mir egewidmet sein: bravo!5 Ich lebe seltsam, wie auf den Wellenspitzen des Daseins — eine Art fliegender Fisch.6 Sie sind mir immer gegenwärtig, mein lieber Freund! F.N. 1. Prosper Mérimée (1803-1870): French writer, archaeologist, historian, and the author of Carmen, on which Bizet's opera is based. Read the original in French; an English translation. It was translated into German as Carmen. Novelle. Deutsch von Rudolph Weiß. Berlin: Freund & Jeckel, 1882. See Mérimée's entry in Nietzsche's Library.
Baltimore, Ende 1881: 44 W. Madison Street Baltimore Verehrter Herr Doctor, Es mag Sie wenig kümmern, dass hier in Amerika 3 Menschen: (Professor Fritz Fincke (Peabody Institute) — Mr. Charles Fischer,2 unser Freund und ich) oft zusammen sitzen und sich an Nietzsches Schriften auf's Innigste erbauen — aber ich sehe nicht ein, weshalb wir es Ihnen nicht einmal sagen sollen. Wir rechnen es der Tiefe Ihrer Gedanken, der vollendeten Diction zu, dass wir nachgerade Nichts Anderes mehr lesen können und mögen. Wir besitzen nur "Unzeitgemässe Betrachtungen," und ich möchte Sie nun bitten, verehrter Herr Dr, mir auf einer Karte anzugeben: die Titel und Namen der Herausgeber Ihrer übrigen Werke. In einem Lande, wo so wenig gutes Deutsch gesprochen wird — sollen Ihre Schriften uns Gedanken und Sprache rein erhalten. Sie werden gütigst die Umstände und Mühe, die ich Ihnen verursache entschuldigen und meine Bitte erfüllen. Nehmen Sie die Versicherung des tiefsten Dankes und der grössten Verehrung Ihrer Elise Fincke, 1. Elise Fincke was the wife of Fritz Fincke (1836-1900). Fritz Fincke studied at the Leipzig Conservatory from 1851-53, and was a piano and violin virtuoso. He returned to his hometown of Wismar, Mecklenburg-Schwerin, where he was a director of a musical society, a violinist, and an organist at the St. Georg church. In 1880, Fincke was appointed a professor of vocal music at the Peabody Conservatory of Music in Baltimore, Maryland. There he led the Peabody Chorus, and conducted the Oratorio Society from 1882-94. According to an article in the Musical Courier, Fincke attended a performance of Richard Wagner's Parsifal in Bayreuth in 1891. Fincke's son, the physician Fred H. Fincke, resided in Baltimore at 37 W. Preston Street. He died of heart failure in Chicago in 1899 at the age of 30. An Elise Fincke, probably Fred H. Fincke's daughter, was the valedictorian of the 1890 class of Western Female High School in Baltimore. See Andrew S. Kerr, "Report of the Prinipal of Western Female High School." In: Sixty-second Annual Report of the Board of Commisioners of the Public Schools, to the Mayor and City Council of Baltimore, for the Year Ending December 31st, 1890. Baltimore: Cox, 1891, 158. |
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