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Anfang Januar 1880: Lieber Herr Doctor, Herzlichen Dank!2 Gerade Tage dachte ich Ihrer, es verlangte mich mit Ihnen einmal wieder zu reden; es giebt Niemanden vertrauenswürdigeres als Sie. Aber um einen Brief zu wagen muß ich durchschnittlich 4 Wochen warten, bis die erträgliche Stunde kommt — und hintendrein habe ichs noch zu büßen! Deshalb Verzeihung, wenn alles auf meiner Seite beim alten bleibt — — schweigend, aber in Liebe. Meine Existenz3 ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte — diese erkenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Beständiger Schmerz, mehrere Stunden des Tages ein der Seekrankheit eng verwandtes Gefühl einer Halb-Lähmung, wo mir das Reden schwer wird, zur Abwechslung wüthende Anfälle (der letzte nöthigte mich 3 Tage und Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete nach dem Tode). Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen, Bergluft, Milch- und Eier-Diät. Alle inneren Mittel zur Milderung haben sich nutzlos erwiesen, ich brauche nichts mehr. Die Kälte ist mir sehr schädlich. Ich will in den nächsten Wochen südwärts, um die Spaziergehe-Existenz zu beginnen.4 Mein Trost sind meine Gedanken und Perspektiven. Ich kritzele auf meinen Wegen hier und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts am Schreibtisch, Freunde entziffern meine Kritzeleien.5 Das letzte,6 womit meine Freunde fertig geworden sind, folgt nebenbei, nehmen Sie es gütig auf, auch wenn es vielleicht Ihrer eignen Denkungsart weniger willkommen ist. (Ich selber suche keine "Anhänger" — glauben Sie es mir? — ich genieße meine Freiheit und wünsche diese Freude allen zur geistigen Freiheit Berechtigten) Ihre liebe Frau steht vor mir als eine edle und starke Seele, welche mir wohl will.7 Ich bin und bleibe Ihr getreuer F. Nietzsche Ich habe schon einigemal längere Bewußtlosigkeiten gehabt. Im letzten Frühjahr hatte man mich in Basel aufgegeben Nach der letzten Untersuchung hat die Sehkraft wieder erheblich abgenommen. 1. Otto Eiser (1834-1898): Frankfurt doctor, and admirer of Nietzsche and Richard Wagner. He examined Nietzsche in October 1877, and disclosed to him a letter from Richard Wagner opining on the cause of Nietzsche's poor health namely, masturbation. According to a friend of Eiser, Eiser admitted that this was the real cause of Nietzsche's break with Wagner. See Sander L. Gilman, "Otto Eiser and Nietzsche's Illness: A Hitherto Unpublished Text." In: Nietzsche Studien (2009) 38:396-409. Dr. Eugen Kretzer. "Erinnerungen an Dr. Otto Eiser." (Memories of Dr. Otto Eiser.) Ca. 1912. Excerpt: "Auf meine Veranlassung hat die Witwe Dr. Eisers einem der Briefe Richard Wagners an ihren verstorbenen Gatten besondere Fürsorge zugewendet. Den Inhalt dieses Briefes kennt, wie sie mir sagte, außer mir nur Hr Geheimrat Dr. Henry Thode, sonst niemand. Sie hat ihn dem Hause Wahnfried übersandt, und dort ist und bleibt er fortan deponiert. Ich billige das durchaus. Er sollte der Öffentlichkeit stets vorenthalten werden. Richard Wagner schrieb diesen Brief, als er erfuhr, daß Dr. Eiser seinen jungen Freund kennen gelernt hatte und ärztlich beriet. In treu besorgter, wahrhaft väterlicher Weise teilt er darin dem gemeinsamen ärztlichen Freund seine Hypothese über die Ursache von Nietzsches Erkrankung mit. 'Warum Nietzsche von Wagners abfiel?,' meinte Eiser einst: – 'ich weiß es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge, Nietzsche war außer sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.'" (At my instigation, Dr. [Otto] Eiser's widow took special care of one of Richard Wagner's letters to her deceased husband. As she told me, "The contents of this letter are known only to me, privy councilor Dr. Henry Thode, no one else." She sent it to the Wahnfried house [Wagner's villa in Bayreuth], and it is and will be deposited there from now on. I absolutely approve of that. It should always be withheld from the public. Richard Wagner wrote this letter when he learned that Dr. Eiser had met his young friend [Nietzsche] and gave him medical advice. In a faithful, truly fatherly way, he shares his hypothesis about the cause [i.e., masturbation] of Nietzsche's illness with his mutual medical friend. "Why did Nietzsche break away from Wagner?" Eiser once said: – "I alone know, because this break took place in my house, in my [examining] room, when I informed Nietzsche about that letter with the best of intentions. The result was an outbreak of rage, Nietzsche was beside himself: – the words that he found for Wagner cannot be repeated. – At that moment the break was sealed.") Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Naumburg, den 14 Jan. 1880: Obwohl Schreiben für mich zu den verbotensten Früchten gehört,1 so müssen Sie, die ich wie eine ältere Schwester liebe und verehre, doch noch einen Brief von mir haben — es wird doch wohl der letzte sein! Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende2 dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu dürfen. Was Qual und Entsagung betrifft, so darf sich das Leben meiner letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgend einer Zeit messen; trotzdem habe ich diesen Jahren viel zur Läuterung und Glättung der Seele abgewonnen — und brauche weder Religion noch Kunst mehr dazu. (Sie merken, daß ich darauf stolz bin; in der That, die völlige Verlassenheit hat mich erst meine eignen Hülfsquellen entdecken lassen) Ich glaube mein Lebenswerk gethan zu haben, freilich wie einer, dem keine Zeit gelassen war. Aber ich weiß, daß ich einen Tropfen guten Oeles für Viele ausgegossen habe und daß ich Vielen zur Selbst-Erhebung, Friedfertigkeit und gerechtem Sinne einen Wink gegeben habe. Dies schreibe ich Ihnen nachträglich, es sollte eigentlich bei der Vollendung meiner "Menschlichkeit"3 ausgesprochen werden. Kein Schmerz hat vermocht und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugniß über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen. Zu wem dürfte ich dies Alles sagen, wenn nicht zu Ihnen? Ich glaube — aber es ist unbescheiden es zu sagen? — daß unser Charakter viele Ähnlichkeiten hat. Z. B.: wir sind Beide muthig, und weder Noth noch Geringschätzung kann uns von der Bahn, die wir als die rechte erkennen abdrängen. Auch haben wir Beide in uns und vor uns Manches erlebt, dessen Leuchten Wenige der Gegenwärtigen gesehen haben — wir hoffen für die Menschheit und bringen uns selber als bescheidenes Opfer, nicht wahr? — — Hören sie Gutes von Wagner's? Es sind drei Jahre, daß ich nichts von ihnen erfahre: die haben mich auch verlassen,4 und ich wußte es längst, daß W[agner] vom Augenblicke an, wo er die Kluft unserer Bestrebungen merken würde, auch nicht mehr zu mir halten werde. Man hat mir erzählt, daß er gegen mich schreibe.5 Möge er damit fortfahren: es muß die Wahrheit auf jede Art an's Licht kommen! Ich denke in einer dauernden Dankbarkeit an ihn, denn ihm verdanke ich einige der kräftigsten Anregungen zur geistigen Selbstständigkeit. Frau W[agner], Sie wissen es, ist die sympathischste Frau, der ich im Leben begegnet bin. — Aber zu allem Verkehren und gar zu einem Wiederanknüpfen bin ich ganz untauglich. Es ist zu spät. Ihnen, meine liebe schwesterlich verehrte Freundin der Gruß eines jungen Alten, der dem Leben nicht gram ist, ob er gleich nach dem Ende verlangen muß. Friedrich Nietzsche. 1. A result of Nietzsche's poor eyesight. Title Page: Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben. Socialphilosophische Betrachtungen, anknüpfend an die Bedeutung Voltaire's für die neuere Zeit. Enhanced image The Nietzsche Channel. Leipzig, 19. Januar 1880: Sehr geehrter Herr Professor! Erfreut darüber, daß die Ansichten des Verfassers von "Das Recht zu leben etc"2 Ihren Beifall finden, beehre ich mich Ihnen hier die gewünschte genauere Adresse desselben zu geben: Mich Ihnen bestens empfehlend
1. Erich Koschny, German publisher in Leipzig, replying to an unknown letter from Nietzsche.
Riva, 14. Februar 1880: Geliebte Schwester gestern in Riva angelangt.2 In Bozen 2 Tage krank gelegen. Heute trübe. Ich wohne in einem immergrünen Garten, der an den See stösst, abseits von der Stadt. Adr.: Hôtel du lac Die besten Grüsse den Insassen des gastfreundlichen Hauses.3 Dir selber alles Schöne und Gute. F N. 1. Alois Beer (1840-1916): Austrian photographer. The famous and prolific Beer was the uncle of the Nietzschephile artist, Alfred Kubin (1877-1959).
Riva, February 14, 1880: So bin ich in Riva,1 Wetter bisher trübe, heute Regen. Garten. Der Felsenweg entspricht meiner Erwartung. Immer nicht wohl. — Sende sofort bitte, den dünnen Überrock und die graue Hose und ein Nachthemd. Koffer nicht senden! Die warme Decke behalte zurück. Sehr gut geheizt. In meiner kleinen Einrichtung machen mir die Augen sehr viel Schwierigkeit. An Lisb[eth] geschrieben.2 Bozen war nicht viel anders als Naumb Deiner Pflege dankbar eingedenk Adr: Riva (Südtirol) Hôtel du lac
1. Nietzsche stayed in Riva from 02-13-1880 to 03-14-1880. He then went to Venice.
Riva, 13. März 1880: 13 März 1880 Eure Fritz. 1. Nietzsche was on his way to Venice.
View from the balcony of Nietzsche's apartment in Venice. Engels & Völkers, 2016. Enhanced image The Nietzsche Channel. [Venedig, 27. März 1880]: Heute beziehe ich die neue Wohnung,1 so gelegen, daß ich einen langen schattigen Spaziergang (c. 20 Minuten) am Ufer habe und vom Fenster frei aufs Meer blicke (in der Stadt2 war mir's zu bedrückt). Mein Zimmer ist 22 Fuß hoch, 22 Fuß breit und 23 Fuß lang, mit schönem Marmor, eine Prachttreppe führt hin, dabei die sonderbarste Dürftigkeit. Es ist mein Fund. Sendet mir gleich den Koffer und legt folg[ende] Bücher hinein Spencer (Thats[achen] der Ethik)3 Baumann (Ethik),4 Martensen (Ethik)5 dann Stendhal, 2 Bd.,6 Gsell Fels Südfrankreich,7 das Büchlein über die griechischen Inseln,8 liebe Lisbeth, dann den dicken Band über Byron9 (in den Köselitziana, die ich in Basel ließ; sende mir doch das Verzeichniß10 davon) Handschuhe, Handtücher, ein Glas und Tellerchen und Eierbecher usw.) Von einem bösen Anfalle noch nicht erholt. — Lido besichtigt wegen der Meerbäder im Sommer: gut! Herzlichsten Dank für Brief. F. Bitte! eine Büchse voll gemahlenem Caffe.! und Maizena. Tag vor Ostern. — Köselitz' Adresse. 1. The current address of his apartment: Calle Berlendis, 6294 30121 Venezia Italy. Nietzsche's apartment in Venice. Engels & Völkers, 2016. Enhanced image The Nietzsche Channel. [Venedig, 11. April 1880]: Der Werthbrief1 kam glücklich und billigst [10 ct] in meine Hände, schönsten Dank! Lieber Freund, wir hatten wochenlanges Regenwetter und Scirocco. — Meine Wohnung ist 22 Fuß hoch und ruhig, wie am Ende der Welt.2 Ich denke mit großem Vergnügen an den deutsch werdenden St. B[euve]3 (Wollt Ihr eine komische Travestie seiner Art, so lest Balzac,4 les caprices de Claudine) Weißt Du vielleicht, wo meine Bände Stendhal5 sind? Du schriebst mir einmal von einem Bücherverzeichniß. Bitte, abonnire für mich in der Buchhandlung Festersens auf das wöchentl[ich] erscheinende Verzeichniß6 neuer Bücher, das man mir früher zusandte.7 Doch will ich es immer viertel jährlich haben, den ersten Band von diesem Jahre also jetzt. Kös[elitz]'s Adresse.8 K[öselitz] empfiehlt sich, er hat viel zu thun, wir sehen uns erst den Abend, er liest Stifter9 vor. Dein Fr N. 1. Overbeck sent Nietzsche his pension. Title page: George Sand, Histoire de ma vie. Enhanced image The Nietzsche Channel. [Venedig, 28. April 1880]: Der richtige Titel des neulich genannten Buchs v[on] Balzac ist un prince de la Bohême.1 Sehr Beachtenswerthes über St. Beuve finde ich bei George Sand, histoire de ma vie, 6tes Capitel des letzten Theils [cinquième partie]2 Alles Buchhändlerische ist angekommen.3 Allerbesten Dank. Scirocco sempre. Ich hätte gern den Catalog der Bücher, welchen die socialistische Buchhandlung in Zürich vertreibt. Wie ist deren genauere Adresse?4 Das Herzlichste für Dich und Deine liebe Frau. F. N 1. Honoré de Balzac (1799-1850), Un prince de la bohème. In: Oeuvres complètes XI. Paris: Lévy, 1879, 21. See the entry for Balzac in Nietzsche's Library.
Venedig, 24. Mai 1880: Liebe verehrte Frau Professor, ich danke Ihnen auf das Allerherzlichste aber einen kleinen Gewissensbiss habe ich doch gehabt: es schien mir, dass ich einen solchen Act Ihrer Güte1 hätte auf jede Weise verhindern müssen, und ich habe nichts gethan! Der Aufsatz2 ist nicht so "aus der Sache" gewachsen, wie andere des gleichen Verfassers, aber ich bin jedem dankbar, der Sache auch nur streift. Zu wissen, wie sich höhere Culturzeiten, als die unsere ist, mit den bittersten Schmerzen abgefunden haben das ist doch sehr wichtig, und man dürfte wohl sehr viel mehr Kraft und Wissen hierfür aufwenden, als Ms. A[lbert] sich diesmal zu Gebote stellte. Auch soll man nicht alle solche Dinge allzuviel mit christlichen Dingen zusammenstellen, man bekommt sonst falsche Farben. Die Einwände3 gegen Seneca's Art zu trösten wie wenn er gerade sie hätte hervorrufen wollen? Er mochte nicht das Wort aussprechen, auf welches es ihm ankam; er meinte, eine solche Trauer sei für eine Frau dieses Ranges (in jedem Sinne) nicht mehr anständig was rieth er denn? Das, worüber er sein ganzes Leben meditirt hat, was der allzeit gegenwärtige Gedanke in seinen Schriften ist, auch wenn kein Wort davon dasteht den Selbstmord. Nur bei diesem Worte verschwinden die Einwände; und jene vornehme Seele sollte es selber finden!4 Ms. A[lbert] hat statt dessen Lorbe[e]rn für das Christenthum pflücken wollen. Vielleicht thue ich mit der Hypothese Beiden Unrecht. Meinem Freunde sagen Sie insbesondere für Alles Dank, was er mir neulich durch Hr. Köselitz5 sagen liess; es erquickt so, sich in der Ferne und doch in solcher Nähe der Empfindung mit einander zu wissen. Z. B. haben wir Beide kein Wort mehr nöthig zur Verständigung über Juden und Judengenossen.6 Ich gestehe, alle Nachrichten aus Deutschland werden mir lästig und fremd, und meine Gesundheit zwingt mich fast, der Conservirung halber mich zu verlöthen, wie eine Büchse. Leben Sie wohl! Aus Venedig, der Stadt des Regen's, der Winde und der dunkeln Gässchen. Glauben Sie der George Sand nichts über Venedig7 (das Beste daran ist Stille und schönes Pflaster) 1. She translated an essay by Paul Albert (1827-1880), "Les consolateurs." In: Variétés morales et littéraires. Paris: Hachette, 1879, 1-63. See the entry for Albert in Nietzsche's Library.
[Venedig, 28. Mai 1880]: Ach liebster Freund, daß gerade Ihnen solche Wunden1 geschlagen werden! Ihnen, dem ich, ich kann gar nicht sagen, wie sehr eine gleichmäßige warme friedliche Sonne wünsche, vom Morgen bis zum Abend des Lebens, damit die ganze Fülle edler Früchte ohne Schärfen und Säuren reif und vollkommen werde. Aber der Gott der Kannibalen und Asketen hat Freude, wenn gerade solche Menschen, wie Sie sind, leiden, es ist die reine Grausamkeit. Und dabei denken Sie noch an mich und geben mir wieder einen Trunk der besten Milch! Das ist und bleibt für mich W. Scott2 und und ich danke Ihnen sehr dafür. In herzlicher Liebe Ihr 1. Rée's foster sister, Mary Sellin Harper (1852-1880), died at the age of 27 while giving birth to her third child.
[Venedig, 15. Juni 1880]: Wenn ich Briefe schreiben könnte, wie Deine liebe Frau sie schreibt,1 so würde ich ihr antworten (trotz aller Augen); so aber schäme ich mich und ziehe vor, ihr durch Dich, liebster Freund, meinen allerherzlichsten Dank auszusprechen. Nachträglich muß ich dies auch noch für den Katalog ihrer Handschrift thun, der mir jetzt von Naumb[urg] geschickt wird und mir nützlich ist. Das Buch von Siebenlist2 ist ein Stück Schopenhauer-Philologie, gegen das nichts (oder alles!) einzuwenden wäre. Drei Seebäder genommen. Ich denke bald abzureisen und würde es am liebsten sehen, wenn ich das Geld3 vorher hier empfienge (250 + 750, bitte ganz wie das letzte Mal, 2 franz. Scheine à 500, keine Werthbezeichnung, Adresse aber an Köselitz,4 nicht an mich, ich habe solche Schwierigkeit mich zu legitimiren) Wären für den Augenblick viell[eicht] nur 500 frs. zu schicken da, so möge das Andre zurückbleiben. Die Abreise drängt, es ist sehr warm. Dein Freund. 1. 05-28-1880: Letter from Ida Overbeck, in which she modestly summarizes her translation of Paul Albert's "Les consolateurs." See Nietzsche's 05-24-1880 letter to Ida Overbeck, footnote 1.
[Venedig, 22. Juni 1880]: Liebster Freund, das Geld1 ist angekommen, schnell zum Erstaunen. Ich wußte noch nicht bestimmt, wohin reisen; auch heute weiß ich es noch nicht, wahrsch[einlich] nicht weit weg, in Wälder, deren Schatten man mir garantirt [im Krainischen2] Genaues baldigst! nebst der neuen Adresse. Wäre es Dir möglich, 2 theolog[ische] Bücher auf 4 Wochen zu entbehren? nämlich Lüdemann's Anthrop[ologie] des Paulus3 und das Buch über Justinus,4 welches Du mir öfter genannt hast. Dann möchte ich Wackernagels gedruckten Aufsatz über die Bramanen5 und seinen andern (ungedruckten?) über den Buddhismus.6 Siehst Du ihn gelegentlich? Ich habe Deine "Christlichkeit"7 wieder durchgelesen, mit sehr viel Freude an dem erstaunlich reichen Inhalte und der vorzüglichen Disposition, ich bin dieser Lektüre etwas würdiger geworden, denn ich habe inzwischen über mancherlei nachgedacht und zwar rechts und links. Ich freue mich sehr, daß J. Bur[c]khardt meiner noch gedenkt.8 (Fortsetzung.) Als Du das Buch schriebst, habe ich wie ich jetzt mit Beschämung merke, neun Zehntel nur zu verstehen geglaubt. Es sind so viele feine Linien darin, daß man recht genau zusehen muß, um alle Freude zu haben. Von meinen Schriften höre ich kein Wort; glaube ja nicht, daß ich damit unzufrieden bin! Schm[eitzner]'s neuestes Unternehmen9 von dem Du schreibst, widert mich an; ich bin ungehalten, daß er nicht ein Wort gegen mich davon gesagt hat. Meine Gesundheit hat in Venedig sich besser befunden als in Naumburg und Riva,10 mein Aussehen ist gut. Im Übrigen noch sehr beim Alten. Von Dr. Rée beunruhigende Nachrichten.11 Dir und Deiner lieben Frau die herzlichsten und dankbarsten Grüße sendend Dein Freund. 1. Overbeck sent Nietzsche his pension.
[Marienbad, 7. Juli 1880]: Lieber Freund, nach einer sehr unangenehmen und enttäuschenden Reise1 bin ich endlich hier, in Marienbad (in Böhmen) gelandet, meine Augen brachten mich an allen den angeblichen "Waldorten" die ich inzwischen sah, fast zur Verzweiflung. Hier geht es besser. Ich wohne im Wald: "Eremitage" heißt es. Ich träume davon, daß wir uns viell[eicht] diesen Sommer wiedersehen? Im Fall Du die Bücher, von denen ich neulich schrieb,2 entbehren kannst, sende sie, ich bitte; ich habe inzwischen so oft über "christliche Moralität" nachgedacht, daß ich förmlich heißhungrig nach einigem Stoff für meine Hypothesen bin.3 Dir und Deiner verehrtesten lieben Gefährtin die guten Wünsche eines Wassertrinkers4 und Waldläufers. 1. Around 06-29-1880, Nietzsche left Venice and arrived in Marienbad on 07-05-1880.
Marienbad, 18. Juli 1880: Mein lieber Freund, noch immer denke ich täglich einigemal an die angenehme Venediger Verwöhnung1 und an den noch angenehmeren Verwöhner und sage nur, daß man's eben nicht lange so gut haben darf und daß es ganz recht ist, jetzt wieder Eremit zu sein und zehn Stunden des Tages als solcher spazieren zu gehen, fatale Wässerchen zu trinken und ihre Wirkung abzuwarten. Dabei grabe ich mit Eifer in meinem moralischen Bergwerke2 und komme mir dabei mitunter ganz unterirdisch vor — es scheint mir jetzt so als ob ich inzwischen den leitenden Gang und Ausweg gefunden hätte, indessen will so etwas hundertmal geglaubt und verworfen sein. Hin und wieder tönt ein Echo Chopinscher Musik3 in mir, und das haben Sie nun erreicht, daß ich dabei immer an Sie denke und mich in Sinnen über Möglichkeiten verliere. Mein Vertrauen ist sehr groß geworden, Sie sind viel fester gebaut als ich vermuthete, und abgesehn von dem schädlichen Einfluß, den gelegentl[ich] Hr. Nietzsche auf Sie geübt hat, sind Sie von allen Seiten gut bedingt. Ceterum censeo4 Berge und Wälder seien besser als Städte, und Paris besser als Wien.5 Darauf kommt aber nichts an. Unterwegs kam ich mit einem höheren Geistlichen in Verkehr, welcher zu den ersten Förderern alter kathol[ischer] Musik zu gehören schien, er war jeder Detailfrage gewachsen. Ich fand ihn sehr eingenommen für Wagner’s Arbeit an Palestrina;6 er sagte, das dramatische Recitativ (in der Liturgie) sei der Keim der Kirchenmusik, und wollte darnach auch den Vortrag so dramatisch wie möglich. Regensburg sei jetzt die einzige Stadt auf Erden, wo man die alte Musik studiren, vor allem aber hören könne (namentlich in der Passionszeit) Haben Sie von dem Brande von Mommsen's Hause gelesen? Und daß seine Excerpten vernichtet sind, die mächtigsten Vorarbeiten, die viell[eicht] ein jetzt lebender Gelehrter gemacht hat? Er soll immer wieder in die Flamme hineingestürzt sein, und man mußte endlich gegen ihn, den mit Brandwunden bedeckten, Gewalt anwenden. Solche Unternehmungen wie die M[ommsen]'s müssen sehr selten sein, weil ein ungeheures Gedächtniß und ein entsprechender Scharfsinn in der Kritik und Ordnung eines solchen Materials selten zusammen kommen, vielmehr gegen einander zu arbeiten pflegen. — Als ich die Geschichte hörte, drehte sich mir das Herz im Leibe um, und noch jetzt leide ich physisch, wenn ich dran denke. Ist das Mitleid? Aber was geht mich M[ommsen] an? Ich bin ihm gar nicht gewogen. —7 Hier in der allein im Walde gelegen[en] Eremitage,8 deren Eremit ich bin, ist seit gestern große Noth: ich weiß eigentlich nicht, was geschehen ist, aber der Schatten eines Verbrechens liegt auf dem Haus. Man hat etwas vergraben, Andre haben es entdeckt, man hörte schrecklich jammern, viele Gensdarmen waren da, Haussuchung fand statt, und nachts hörte ich im Zimmer neben mir jemand schwer gequält seufzen, so daß mich der Schlaf floh. Auch schien in der tiefsten Nacht wieder im Walde gegraben zu werden, aber es fand eine Überraschung statt, und es gab wieder Thränen und Geschrei. Ein Beamter sagte mir, es sei eine "Banknotengeschichte" — ich bin nicht neugierig genug, um so viel zu wissen, wie viel wahrsch[einlich] alle Welt um mich weiß. Genug, die Waldeinsamkeit ist unheimlich.9 Ich las eine Novelle von Mérimée, in der H. Beyle's Charakter geschildert sein soll: "die etrurische Vase"; es wäre, falls dies wahr ist, jener St. Clair. Das Ganze ist spöttisch, vornehm und tief schwermüthig.10 Zuletzt eine Reflexion: man hört auf, sich selber recht zu lieben, wenn man aufhört sich in der Liebe zu Andern zu üben: weshalb dies letztere (das Aufhören) sehr zu widerrathen ist.11 (Aus meiner Erfahrung.) Leben Sie wohl mein geliebter und sehr werthgehaltener Freund, gehe es Ihnen gut bei Tag und Nacht. Treulich Ihr F.N. In Ihrem Verhalten zum Deserteur12 würde Schopenhauer einen Beweis für die Unveränderlichkeit des Charakters13 sehen — und Unrecht dabei haben, wie fast immer. 1. Nietzsche stayed in Venice with Heinrich Köselitz from March 13-June 29, 1880.
[Marienbad, 19. Juli 1880]: Mein lieber Freund, Deine Sendung1 und Überraschung thut die angenehmste Wirkung. Deine eignen Abhandl[ungen]2 sind sehr feine Sachen, es weht eine so gut-philologische Luft darin, daß mir ordentlich schwer zu Muthe wird. Nach der Geschmeidigkeit des Stils zu schließen, möchte ich glauben, Du habest Lust dabei gehabt. Aber was ist Engelhart3 für ein greulicher Typus! Da er alles so viel besser weiß als Justin, so versteht er wahrscheinl[ich] denselben doch nicht, aus Hochmuth schon. Dagegen ist Lüdemann's Arbeit4 ein Meisterstück auf einem sehr schwierigen Felde: leider ist er kein Schriftsteller. (Wackern[agel]5 will ich ein Wort des Dankes schreiben.) Mit meinen Augen steht es freilich sehr schlimm, ich kann sie nicht mehr schonen als ich sie schone, und doch vertragen sie eigentlich weder Lesen noch Schreiben mehr; gelegentlich eine Viertelstunde zu finden ist das Kunststück. Herrlicher Gedanke: Wiedersehn in Naumburg. Deiner lieben Frau und den hochverehrten Verwandten6 in Zürich meine herzlichsten Grüße. F.N. 1. Containing books Nietzsche requested. See Nietzsche's 06-22-1880 postcards to Franz Overbeck.
[Marienbad, 19. Juli 1880]: Meine gute liebe Schwester, Dein vergnügter blauer Brief ist mir ordentlich gut bekommen: Tags darauf hatte ich den besten Tag bisher. Jetzt haben wir im Hause Trübsal,2 der Besitzer ist plötzlich ins Gefängniß geschafft worden, Gensdarmen kamen und gruben eine Druckmaschine für falsche Banknoten aus, Haussuchung und viel Jammer hinterdrein. Die arme Frau ist seit 3 Tagen in der vollsten und tiefsten Verzweiflung. Wie ich gesagt habe: im nächsten Monat will ich nach Ruhla,3 hoffentlich sind die Wälder dort so gut als hier. Aber hier zu bleiben auf die Dauer für mich geht es nicht. Für einen Gulden kann ich mich hier nicht satt essen. Alles ist 3-5 mal so theuer als in Venedig.4 Der Sommer ist, merke ich, doch meine beste Zeit. In Ruhla sehen wir uns? Die herzlichsten Grüße unsrer guten Mutter. 1. Colorized from b/w photo, GSA 101/161.
[Marienbad, 2. August 1880]: Hier, lieber Freund, eine Zeile Dankes für Ihren letzten mannichfach mich bewegenden, auch beunruhigenden Brief; auch bitte ich Sie dringend, das Wort "nachsichtig"1 zu streichen; Sie wissen immer noch nicht, wie ich von Ihnen denke, weder vorsichtig, noch nachsichtig — Sie haben mein Vertrauen, und ich wünschte in diesem Punkte wenigstens das Ihre zu haben. Aber es ist seltsam zu beobachten: wer vom herkömml[ichen] Allerweltsweg frühzeitig abweicht, um seinen rechten Weg zu gehen, hat immer das halbe oder ganze Gefühl eines Exilirten, eines von den Menschen Verurtheilten und Entflohenen: diese Art schlechten Gewissens ist das Leiden der selbständig Guten. Das Heilmittel ist — was meinen Sie? — ein großer Erfolg bei eben denen, welchen man aus dem Wege gegangen ist. — Bitte, lassen Sie sich 3 Aufsätze Ihrer freien Presse nicht entgehen: (vor 4 Wochen) George Sand und A. de Musset.2 (vor 8 Tagen Stifter als Landschaftsmaler,3 und Hekt. Berlioz4 in seinen Briefen. — Die letzte Zeit immer in einer unbändig gehobenen Stimmung! Morgen Abreise5 — Sehr getreu Ihr Freund F. N. 1. See 07-21-1880 letter from Heinrich Köselitz.
[Marienbad, 12. August 1880]: Immer noch bin ich, meine Lieben, in Marienbad,1 das Wetter ist Tag für Tag und Wochenlang abscheulich, ewiger Regen und grauer Himmel. Mein Befinden hat sich langsam dabei verschlimmert, es gab wieder heftige Anfälle mit Erbrechen usw. Doch will ich ja diese Misère nicht mehr schreiben. Wie lange entbehre ich schon das, was mir so merklich wohl thut, reine Luft und Sonne! Ich werde wohl nun bis zu Ende des Monates hier bleiben, ich bin zu mißtrauisch gegen Ortswechsel und finde so selten etwas für mich Geeignetes. Hier habe ich doch den Wald und die guten Wege darin, die ich oft unter Regen gehe. Anfang September komme ich zu Euch und denke da ein stilles wohlthuendes Herbstleben zu finden. Mitte Oktober aber führt es mich wieder südwärts, es hilft nichts bis jetzt vertrage ich Deutschland noch nicht. Ich denke in vieler Liebe an Euch. F N. 1. Nietzsche eventually decided not to go to Ruhla, a town in the Thuringian forest, but instead spent seven weeks from 09-02-1880 to 10-08-1880 at "home" in Naumburg.
Marienbad, 18. August 1880: Vor einer Stunde, liebe Frau Professor erhielt ich die "Menschen des 18. Jahrhunderts,"1 ich blätterte darin und sah dies und jenes gute Wort und hinter jedem guten Wort so viel, viel mehr! Es entzückte mich, und zugleich ergriff mich das Gefühl einer tiefen unaussprechlichen Entbehrung. Ich glaube, ich habe geweint, und es müßte sonderbar zugehen, wenn dieses kleine gute Buch nicht manchem Anderen die Empfindung dergestalt erregte. Warum ich nicht schrieb? Weil ich seit 3 Wochen mit den Flügeln flattere, um von Marienbad fortzukommen und weil drei Wochen beständigen Regenwetters mich festhielten, meiner Gesundheit nachtheilig waren und mich, durch den unaufhörlichen Wechsel von Erwartung und Enttäuschung fast um alle Entschlußfähigkeit brachten. Jetzt will ich geduldig noch bis Ende des Monats aushalten, und einen mittleren Grad von Wohlbefinden wieder zu erreichen suchen, den ich dem Walde, der Sonne, dem heitern Himmel und dem fatalen Trink-Wässerchen in den ersten Wochen meines hiesigen Aufenthaltes verdankte. Wäre es dabei geblieben, so würde ich meinen August in der Nähe Dresdens2 verbracht haben so war mein Projekt, und ich schrieb nicht, um etwas Bestimmtes über die Zeit der Ankunft zu schreiben. Aber immerhin! Es bleibt die schöne Hoffnung auf das Naumburger Wiedersehen!3 nicht wahr? und die soll nicht zu Wasser werden! Heute feiert man hier den Geburtstag des Kaisers,4 aber ich kann mir inmitten der schwarzen und gelben Farben immer nur etwas Schreckliches, etwa den Geburtstag der Pest, denken.5 Ich blickte noch einmal in Sainte Beuve. Er hat sehr feine Sachen gesehen: p. 19 redet er von der ["]Ungezwungenheit des Ausdrucks["] (Font[enelle]'s) ["]welche sich["] ["]wie eine heimliche List gegen die Großartigkeit der Dinge ausnimmt[.]"6 Das ist in der Art Pascal's empfunden. Meinem lieben Freunde und dem gesammten verehrten Kreise die ergebensten Grüße Ihres dankbaren 1. Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869): French writer. Ida Overbeck was the anonymous translator of: Menschen des XVIII. Jahrhunderts nach den Causeries du lundi von Sainte-Beuve. Chemnitz: Schmeitzner, 1880. See the entry for Sainte-Beuve in Nietzsche's Library. Nietzsche suggested and oversaw the completion of the publication. In his 11-18-1879 postcard to Ernst Schmeitzner, Nietzsche wrote: "Geehrtester Herr, die Sainte-Beuve-Übersetzung ist fertig: wollen Sie sich an Hr. Prof. Overbeck ihretwegen wenden? (Frau Prof. O[verbeck] wünscht dringend, vollständig aus dem Spiele zu bleiben, also bitte, stellen Sie Sich als wüßten Sie nichts von ihrer Mitbetheiligung[.]) Titel vielleicht: 'Sainte Beuve. Menschen des achtzehnten Jahrhunderts. Erste deutsche Übersetzung.' (Es sind 8 Personen; es giebt einen kleinen netten Band zum Anbeißen[.])" (Dearest sir, the Sainte-Beuve translation is finished: would you like to contact Mr. Prof. Overbeck about it? (Mrs. Prof. O[verbeck] desperately wishes to be kept completely out of it, so please, pretend you don't know anything about her participation[.]) Title perhaps: "Sainte Beuve. Personalities of the Eighteenth Century. First German translation." (There are 8 personalities; it is a nice little volume to get your teeth into[.]))
Marienbad, 20. August 1880: Freund Köselitz, in meine Ernte- ja Erntefest-Stimmung klingt Ihr Brief hinein, zwar etwas düster, aber so gut und kräftig, daß ich auch heute wieder wie jedesmal mein Nachdenken über Sie mit dem Chorale zu Ende und zur Ruhe bringe
Sie sind aus stärkerem Stoffe als ich und dürfen sich schon höhere Ideale bilden. Ich für meinen Theil leide abscheulich, wenn ich der Sympathie entbehre; und durch nichts kann es mir z. B. ausgeglichen werden, daß ich in den letzten Jahren der Sympathie Wagners verlustig gegangen bin. Wie oft träume ich von ihm, und immer im Stile unsres damaligen vertraulichen Zusammenseins! Es ist nie zwischen uns ein böses Wort gesprochen worden, auch in meinen Träumen nicht, aber sehr viele ermuthigende und heitere, und mit niemanden habe ich vielleicht so viel zusammen gelacht. Das ist nun vorbeiund was nützt es, in manchen Stücken gegen ihn Recht zu haben! Als ob damit diese verlorne Sympathie aus dem Gedächtniß gewischt werden könnte! Und Ähnliches habe ich schon vorher erlebt, und werde es vermuthlich wieder erleben. Es sind die härtesten Opfer, die mein Gang im Leben und Denken von mir verlangt hatnoch jetzt schwankt nach einer Stunde sympathischer Unterhaltung mit wildfremden Menschen meine ganze Philosophie, es scheint mir so thöricht, Recht haben zu wollen um den Preis von Liebe, und sein Werthvollstes nicht mittheilen zu können, um nicht die Sympathie aufzuheben. Hinc meae lacrimae.2 Ich bin noch in Marienbad: das "österreichische Wetter" hielt mich fest! Denken Sie, daß es seit dem 24. Juli jeden Tag geregnet hat, und oft tagelang. Regenhimmel, Regenluft, aber gute Wege im Walde. Meine Gesundheit gieng dabei wieder rückwärts; in summa bin ich aber mit Venedig und Marienbad zufrieden. Es ist gewiß hier seit Goethe3 noch nicht so viel gedacht worden, und auch Goethe wird nicht so principielle Dinge sich haben durch den Kopf gehen lassenich war über mich selber weit hinaus. Einmal, im Walde, fixirte mich ein Herr, der an mir vorübergieng, sehr scharf: ich empfand in diesem Augenblicke, daß ich den Ausdruck strahlenden Glücks im Gesichte haben müsse und daß ich schon 2 Stunden mit ihm herumlaufe. Ich lebe incognito, wie der bescheidenste aller Kurgäste, in der Fremdenliste stehe ich als "Herr Lehrer Nietzsche." Es giebt viel Polen hier und diesees is wunderlichhalten mich durchaus für einen Polen, kommen mit polnischen Grüßen auf mich zu undglauben es mir nicht, wenn ich mich als Schweizer zu erkennen gebe. "Es ist die polnische Rasse, aber das Herz ist Gott weiß wohin gewandert"damit verabschiedete sich einer von mir, ganz betrübt. Anfang September bin ich in Naumburg. Dorthin kommen auch Overbecks. Auch Frau von Wöhrmann (sie löst ihren Haushalt in N[aumburg] auf und geht nach Venedig zurück) Der Sohn von Frau von W[öhrmann] und ebenso sein Freund Graf Werthern, die das Naumburger Gymnasium besuchen, kommen zu uns in's Haus.4 Haben Sie die "Menschen des 18. Jahrhunderts" von St. Beuve?5 Es sind herrliche Gemälde von Menschen und St. B[euve] ist ein großer Maler. Aber ich sehe über jeder Gestalt noch eine Bogenlinie, die er nicht sieht, und diesen Vorsprung gibt mir meine Philosophie. Meine Philosophie? Hole mich der Teufel! Und Sie möge der liebe Gott holener hat Freunde an allen Köselitzen. Treulich der Ihre 1. Cf. the first stanza of "Was Gott thut, das ist wohlgethan" by Samuel Rodigast: "Was Gott thut, das ist wohlgethan, / Es bleibt gerecht sein Wille; / Wie er fängt meine Sachen an / Will ich ihm halten stille. / Er ist mein Gott, der in der Noth / Mich wohl weiss zu erhalten: / Drum lass' ich ihn nur walten." See Marian Van Til, George Frideric Handel. A Music Lover's Guide to His Life, His Faith & the Development of Messiah and His Other Oratorios. Youngstown: WordPower Publishing, 2007, 273: "What God does, that is rightly done, / His will is just forever; / Whatever course he sets [for] my life / I will trust him with calmness. / He is my God, who in [my] distress / Knows well how to support me: / So I yield him all power." Rodigast's words and melody were also used by Bach (Cantatas 12, 98-100).
[Nordamerika, Sommer 1880]: Liebster Freund — Nur einen Gruß aus der neuen Welt,1 die für mich leider noch immer die alte ist, — einen Punkt ausgenommen: Die lange Seereise (fast immer Windstille oder konträre Winde) hat wenigstens meine philosophische Muskulatur gestärkt, und plus philosophe que jamais2 (nichts kann weniger Amerikanisch sein!) brenne ich darauf, nach Europa zurückzukehren und zu arbeiten. Selbst den Niagara-Fall, zu dem ich morgen abreise, besehe ich fast mehr aus Pflicht wie aus Neigung. Daß ich von Ihnen hier keine Nachricht erhalten kann! Vom Niagara aus mehr — heute nur diese Lebensanzeige. Herzlichste Grüße den Ihrigen! 1. See his 06-17-1880 letter to Franziska Nietzsche.
[Stresa, 31. Oktober 1880]: Vielleicht, liebster Freund, sind Sie wieder heimgekehrt1 und haben sich und Ihre Philosophie vor den Gefahren des Meeres und des Amerikanerthums gerettet. Ich denke mit wahrer Sehnsucht an Sie, ohne irgend eine Aussicht zu haben, dieselbe zu befriedigen; denn ich mußte mich wieder nach dem Süden zurückziehn2 und diesmal, wie ich mir gelobt habe, auf länger. Als Recept sowohl wie als natürliche Passion erscheint bei mir immer deutlicher die Einsamkeit und zwar die vollkommne und den Zustand, in dem wir unser Bestes schaffen können, muß man herstellen und viele Opfer dafür bringen können. Für einen solchen Einsamen ist aber "der Freund" ein köstlicherer Gedanke als hier die Vielsamen.3 Meine Verehrung Ihren Eltern. 1. For Paul Rée's trip to America, see his 06-17-1880 letter to Franziska Nietzsche.
Genoa, 16. November 1880: Hier in Genua, mein lieber Gustav, finde ich Deine Trauerkunde,1 ich schreibe schnell ein paar Zeilen, unvorbereitet, wie es auf der Reise zugeht und mehr ein Zeichen meines Mitgefühls als ein Ausdruck desselben. Dazu ist es, wie mich eben der Kalender belehrt, Dein Geburtstag — Du wirst mit einer besondren Wehmuth heute auf Dein Leben zurückblicken! Wir werden älter und damit einsamer: gerade jene Liebe verläßt uns, die uns wie eine unbewußte Nothwendigkeit liebte, nicht wegen unsrer besondren Eigenschaften, sondern oft trotz derselben. Unsere Vergangenheit zieht sich zu, wenn die Mutter stirbt: da erst wird unsere Kindheit und Jugend ganz Erinnerung. Und dann geht es weiter, es sterben die Jugendfreunde, die Lehrer, die Ideale jener Zeiten — immer mehr Einsamkeit, immer kältere Winde umblasen uns. Du hast gut gethan, einen Garten der Liebe wieder um Dich zu pflanzen, lieber Freund!2 Ich glaube, daß Du heute Deinem Schicksal besonders dankbar sein wirst. Sodann bist Du Deiner Kunst treu geblieben, ich höre alles, was Du davon, mir meldest, mit einer innigen Befriedigung, und vielleicht kommt ein Alter, meinem Leibe günstiger als die jetzigen Zeitläufte, wo wir wieder zusammen sitzen und Vergangenes aus Deinen Tönen heraus wieder auferstehen sehen, so wie wir wohl in unserer jugendlichen Musik Beide zusammen von unsrer Zukunft geträumt haben.3 Mehr darf ich nicht sagen, mein Leiden (das immer noch, nach wie vor, jeden Tag seine eigne Geschichte hat) legt seine gebieterische Hand auf mich. Du darfst glauben, wenn Du an mich denkst (wie Du es zu meinem Geburtstag gethan hast, den ich selber diesmal vergessen hatte) daß ich nicht des Muthes und der Geduld ermangele und hohen, sehr hohen Zielen auch so, wie es nun einmal steht und geht, nachstrebe — Du darfst ebenso bestimmt glauben, daß ich Dein Freund bin und bleibe In herzlicher Liebe mit Dir verbunden 1. The death of Clementine Krug (1811-1880): Gustav Krug's mother.
[Genua, 17. November 1880]: Theurer Freund, ich gebe nur Nachricht, daß ich endlich die Ligurische Küste erreicht1 habe und zunächst nicht allzuweit von Genua leben werde. Seit unserm letzten Brief- und Karten-Austausch stürzten alle Übel und Unzuträglichkeiten so über mich her, daß ich mich kaum einer schlimmeren Zeit erinnere,2 ich habe gelitten wie ein Bär in der Klemme,3 und auch der Kleinmuth und die Bitterkeit nisteten im Herzen — höchst frühwinterlich, wie die Natur. Inzwischen denke ich der Asche und des Phönix: aufwärts! Denkt meiner in Liebe! Euer Freund. (Unter allen Umständen: Genova poste restante.) 1. 11-08-1880.
[Genua, zweite Hälfte November 1880]: Du wirst in tiefer Arbeit sein, lieber Freund, aber ein paar Worte von mir werden Dich nicht stören. Es thut mir immer so wohl, Dich in Deiner Arbeit zu denken, es ist wie als ob eine gesunde Naturgewalt gleichsam blindlings durch Dich wirkte, und doch ist es eine Vernunft, die im feinsten und häkelichsten Stoffe arbeitet und an der wir es wohl ertragen müßten, wenn sie sich ungeduldig und zweifelnd und gelegentlich verzweifelnd gebärdete. Ich verdanke Dir so viel, theurer Freund, daß ich dem Schauspiel Deines Lebens so in der Nähe zusehen durfte: in der That, Basel hat mir Dein Bild und das Jakob Burckhardts gegeben; ich meine, nicht nur mit der Erkenntniß einen großen Nutzen aus diesen Bildern gezogen zu haben. Die Würde und die Anmuth einer eigenen und wesentlich einsiedlerischen Richtung im Leben und Erkennen: dies Schauspiel wurde mir durch die nicht genug zu verehrende Gunst meines Schicksals "ins Haus geschenkt"1 und folglich verließ ich dies Haus anders als ich es betrat. Jetzt ist mein ganzes Dichten und Trachten darauf aus, eine idealische Dachstuben-Einsamkeit zu verwirklichen, bei der alle jene nothwendigen und einfachsten Anforderungen meiner Natur, wie viele, viele Schmerzen sie mich gelehrt haben, zu ihrem Rechte kommen. Und vielleicht gelingt es mir! Der tägliche Kampf gegen mein Kopfübel und die lächerliche Mannigfaltigkeit meiner Nothzustände erfordert eine solche Aufmerksamkeit, daß ich Gefahr laufe, dabei kleinlich zu werden nun, es ist das Gegengewicht gegen sehr allgemeine, sehr hochfliegende Triebe, die mich so beherrschen, daß ich ohne große Gegengewichte zum Narren werden müßte. Eben habe ich mich von einem sehr bitterbösen Anfalle erhoben, und kaum ist die Noth zweier Tage abgeschüttelt, so läuft meine Narrheit schon wieder ganz unglaublichen Dingen nach, vom frühsten Erwachen an, und ich glaube nicht, daß irgendwelchen Dachstubenbewohnern die Morgenröthe lieblichere und wünschbarere Dinge beleuchtet hat. Hilf mir diese Verborgenheit festzuhalten, verleugne meine Existenz in Genua, für eine gute Spanne Zeit muß ich ohne Menschen und inmitten einer Stadt, deren Sprache ich nicht kenne, leben, muß ich ich wiederhole es; fürchte nichts für mich! Ich lebe, wie als ob die Jahrhunderte ein Nichts wären und gehe meinen Gedanken nach, ohne an das Datum und die Zeitungen zu denken. Ich will auch mit den Bestrebungen des jetzigen "Idealismus", zumal des deutschen, nichts mehr zu thun haben Thun wir Alle unsre Arbeit, die Nachwelt mag dann uns so und so in Ordnung stellen, oder sie mag es auch nicht thun: nur will ich mich frei fühlen und nicht Ja! und nicht Nein! sagen müssen, z. B. zu solchem echt-idealistischen Büchlein,2 wie das ist, welches ich Dir mitsende. Es ist das Letzte, was ich vom jetzigen "deutschen Geiste" kennen lernen will ebenso rührend als anmaaßend als unsäglich geschmacklos: lies es nur einmal, mit Deiner Frau zusammen, versteht sich! Und dann verbrennt es und lest zur Reinigung von diesem deutschen Schwulste Plutarchs Leben des Brutus und des Dion.3 Lebe wohl, lieber Freund! Habe ich Dir denn zu Deinem Geburtstag4 gratulirt? Nein. Aber mir habe ich dazu gratulirt. In Liebe der Deine. 1. Nietzsche and Overbeck were housemates in Basel.
[Genua, 5. Dezember 1880]: Meine liebe Lisbeth, unsre Nachrichten haben sich gekreuzt, ich gehe alle Wochen einmal zur Post. Gehen! Ja gegangen wird viel! Auch gestiegen! Denn ich habe, um in mein Dachstübchen zu kommen, im Hause 164 Stufen zu steigen, und das Haus selber liegt sehr hoch, in einer steilen Pallast-Straße,2 die wegen ihrer Steilheit und weil sie auf eine große Treppe ausläuft, sehr still ist und etwas Gras zwischen den Steinen hat. — Meine Gesundheit ist in einer abscheulichen Unordnung, auch der Magen. Aber die Luft des Meeres thut mir unsäglich wohl. Verrathet meine Einsiedelei nicht. Geduld! Wie oft denke ich an Eure Güte vom Herbste!3 Euer F. 1. Colorized from b/w photo, GSA 101/161. |
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