|
||||||||||||||||
COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited.
Basel, 1. März 1879: Nun, lieber guter hülfreicher Freund, bleibt Ihnen nur noch übrig, an mir selber die Correctur1 zu machen — in Venedig! Mein Zustand war wieder fürchterlich, hart an der Gränze des Ertragbaren. "Ob ich reisen kann?" Die Frage war mir oft: ob ich da noch leben werde? Vorläufiges Programm. Dienstag den 25 März Abends 7 Uhr 45 komme ich in Venedig an und werde von Ihnen eingeschifft. Nicht wahr? Sie miethen mir eine Privatwohnung (Zimmer mit gutem warmen Bett): ruhig. Womöglich eine Altane oder ein flaches Dach bei Ihnen oder mir, wo wir zusammen sitzen und so weiter. Ich will nichts sehen als zufällig. — Aber auf dem Markusplatz sitzen und Militärmusik hören, bei Sonnenschein. Alle Festtage höre ich die Messe in S. Marco. Die öffentl[ichen] Gärten will ich in aller Stille ablustwandeln. Gute Feigen essen. Auch Austern. Ganz Ihnen folgen, dem Erfahrenen. Ich esse nicht im Hôtel. — Größte Stille. Ein paar Bücher bringe ich mit. Warme Bäder bei Barbese (ich habe die Adresse). — Sie bekommen das erste fertige Exemplar des Buches.2 Lesen Sie’s jetzt noch einmal im Ganzen: damit Sie sich als Verbesserer des Buches wiederfinden (und auch mich: zu guter letzt habe ich mir noch viel Mühe gegeben)[.] Lieber Himmel, vielleicht ist es mein letztes Produkt. — Es ist wie mir vorkommt, eine verwegene Ruhe darin. Wüßten Sie nur, wie gut und dankbar ich immer von Ihnen denke und spreche! Und was ich alles von Ihnen erhoffe! Jetzt seien Sie in Venedig mein guter Hirte und Arzt: aber mich quält’s zu denken, daß ich Ihnen wieder viel Mühe mache. Aber so wenig wie möglich Zeit will ich Ihnen nehmen, das verspreche ich. Von Herzen dankbar — Ich wünsche sehr, reisen zu können, aber glaube noch nicht daran. — Wohnung für 4 Wochen (c. 30-40 frs.) Ich möchte Venedig daraufhin ansehn, ob ich dort längere Zeit leben könnte (auch sehr billig —), wenn ich doch mein Basler Amt aufgeben müßte. Ich benutze Ihre Fußtapfen. Ihr Freund N. 1. Nietzsche's joke is that due to his poor eyesight, Köselitz had to proofread all of his manuscripts; now that his latest book, Vermischte Meinungen und Sprüche (Mixed Opinions and Maxims), was finished, all that remained to be "corrected" was Nietzsche himself — when he visited Köselitz in Venice. Unfortunately, Nietzsche's health would prevent him from making the journey.
Basel, 21. März 1879: Fließe mir Quell Für Herrn Widemann seinen Freund, geschrieben von F. N. am 21ten März 1879. 1. Paul Heinrich Widemann (1851-1928): Nietzsche's former student and friend of Heinrich Köselitz. His father was the lawyer for Ernst Schmeitzner, Nietzsche's publisher at the time.
Basel, 5. April 1879: Ihr Billet1 trifft mich in einem Augenblick, da ich um meiner bloßen vergnüglichen Erholung willen einen zweitägigen Ausflug antrete, während Sie, lieber und verehrter Freund, so leiden müssen! Möge Ihnen das Clima von Genf wenigstens einige Erleichterung gewähren! Wenn eine bise noire2 kommen sollte, so flüchten Sie ja in den östlichen Winkel des Sees. Den Anhang3 zu "Menschliches" habe ich durch Herrn Schmeitzner richtig erhalten und mit neuem Staunen über die freie Fülle Ihres Geistes gelesen und durchgenascht. In den Tempel des eigentlichen Denkens bin ich bekanntlich nie eingedrungen, sondern habe mich zeitlebens in Hof und Hallen des Peribolos4 ergötzt, wo das Bildliche im weitesten Sinne des Wortes regiert. Und nun ist in Ihrem Buche gerade auch für so nachlässige Pilger, wie ich bin, nach allen Seiten hin auf das reichlichste gesorgt. Wo ich aber nicht mitkommen kann, sehe ich mit einer Mischung von Furcht und Vergnügen zu, wie sicher Sie auf den schwindelnden Felsgraten herumwandeln, und suche mir ein Bild von dem zu machen, was Sie in der Tiefe und Weite sehen müssen. Wie käme es auch Larochefoucauld, Labruyère und Vauvenargues vor, wenn sie im Hades Ihr Buch zu lesen erhielten? und was würde der alte Montaigne sagen?5 Einstweilen weiß ich eine Anzahl von Sprüchen, um welche zum Beispiel Larochefoucauld Sie ernstlich beneiden würde. Mit herzlichem Dank und mit den besten Wünschen für Ihr Wohlbefinden der Ihrige 1. The letter is lost.
Geneva, 6. April 1879: Der Palmsonntag, den ich jedes Jahr mit Kinderempfindungen und einem Kinderverlangen nach neuer Freude verbringe und der folglich alle Jahre mehr ein Tag der Wehmuth wird, brachte mir Ihren Gruß und die Fortsetzung M[érimée]'s — ich bin sehr dankbar für Beides.1 M[érimée] ist ein Künstler ersten Ranges und als Mensch so gewillt, hellzu sein und hell zu sehen: er thut mir wohl. Und Sie haben "unter Schmerzen gemalt," wie jener Maler in doloribus pinxi unter sein Gemälde schrieb, Sie Arme, Gute!2 — Nachmittags kam noch ein Brief von Jacob Burckhardt, ein wahrer Palmen zweig und beschämend für mich.3 Nehmen Sie an meinem Guten Theil, wie Sie es an meinem Schlimmen thun. Nicht wahr, als mitfreuende Freundin?4 1. Prosper Mérimée (1803-1870): French writer, archaeologist and historian. In a March 1, 1879 letter to Baumgartner, Nietzsche asked her to translate the "gelegentl[ichen] litterarischen Urtheile Mérimées aus den lettres à une inconnue" (contemporary literary judgments of Mérimée from the Lettres à une inconnue). The works in question are: 1. Lettres à une inconnue. Paris: Michel Lévy Frères, 1874. 2. its sequel, Lettres à une autre inconnue. Paris: Michel Lévy Frères, 1875. See his entry in Nietzsche's Library.
Geneva, 11. April 1879: Lieber Freund, wir haben jetzt wieder einen Wunsch gemeinsam: dass Jemand das überreiche Philosophieren des Alterthums über Freundschaft zusammenfasse und wiedererwecke: es muss einen Klang wie von hundert verschiedenen Glocken geben. An die Zürcher1 liebwerthe Gastfreundschaft hatte ich für Pfingsten gedacht (falls ich lebe). Den Hamburger Brief hebe mir auf: er enthält das bestellte Loos,2 für das ich in Basel noch die Einzahlung gemacht habe. Ein Brief des Hr. Fuchs wird den Poststempel "Danzig", einer des Hr. [Paul] Rée den "Tütz" tragen. Ceterum censeo Basileam esse derelinquendam.3 Ich habe Urtheile aller Stände aus den verschiedensten Gegenden der Schweiz: man stimmt überein, dass Basel eine schlechte drückende, zu Kopfleiden disponirende Luft habe. Ich habe dort nie, seit Jahren, einen ganz freien Kopf, wie ich ihn z. B. hier seit einigen Tagen habe. Sodann: ich vertrage Lesen und Schreiben nur bis zu 20 Minuten. Ergo: Academia derelinquenda est.4 Was sagst Du? Von Herzen grüsst Ich bleibe hier so lange ich irgend kann. 1. Overbeck's mother-in-law, Louise Rothpletz, invited Nietzsche to spend Easter in Zürich at her home.
Basel, 25. April 1879: Seit meiner letzten Karte ist es schlimm und schlimmer gegangen, in Genf sowohl wie in Basel, wohin ich am letzten Montag zurückkehrte. Anfälle über Anfälle, dort und hier. Bis jetzt außer Stande, Vorlesungen zu halten. — Schieß1 hat gestern von Neuem die erhebliche Abnahme meiner Sehkraft seit der letzten Untersuchung constatirt. — Eure inhaltsvollen und wohlgemuthen Briefe trafen mich noch in Genf, ich danke von ganzem Herzen dafür. F. 1. Nietzsche's opthamologist and colleague at Basel, Johann Heinrich Schieß-Gemuseus (1833-1914).
Basel, 2. Mai 1879: Hochgeachteter Herr Präsident! Der Zustand meiner Gesundheit, derentwegen ich schon mehrere Male mich mit einem Gesuche an Sie wenden musste, lässt mich heute den letzten Schritt thun und die Bitte aussprechen, aus meiner bisherigen Stellung als Lehrer an der Universität ausscheiden zu dürfen. Die inzwischen immer noch gewachsene äusserste Schmerzhaftigkeit meines Kopfes, die immer grösser gewordene Einbusse an Zeit, welche ich durch die zwei- bis sechstägigen Anfälle erleide, die von neuem (durch Hrn. Prof. Schiess2) festgestellte erhebliche Abnahme meines Sehvermögens, welches mir kaum noch zwanzig Minuten erlaubt ohne Schmerzen zu lesen und zu schreiben — diess Alles zusammen drängt mich einzugestehen, dass ich meinen akademischen Pflichten nicht mehr genügen, ja ihnen überhaupt von nun an nicht nachkommen kann, nachdem ich schon in den letzten Jahren mir manche Unregelmässigkeit in der Erfüllung dieser Pflichten, jedes Mal zu meinem grossen Leidwesen nachsehen musste. Es würde zum Nachtheile unserer Universität und der philologischen Studien an ihr ausschlagen, wenn ich noch länger eine Stellung bekleiden müsste, der ich jetzt nicht mehr gewachsen bin; auch habe ich keine Aussicht mehr in kürzerer Zeit auf eine Besserung in dem chronisch gewordenen Zustande meines Kopfleidens rechnen zu dürfen, da ich nun seit Jahren Versuche über Versuche zu seiner Beseitigung gemacht und mein Leben auf das Strengste darnach geregelt habe, unter Entsagungen jeder Art — umsonst wie ich mir heute eingestehen muss, wo ich den Glauben nicht mehr habe meinen Leiden noch lange widerstehen zu können. So bleibt mir nur übrig, unter Hinweis auf §20 des Universitätsgesetzes, mit tiefem Bedauern den Wunsch meiner Entlassung auszusprechen, zugleich mit dem Danke für die vielen Beweise wohlwollender Nachsicht, welche die hohe Behörde mir vom Tage meiner Berufung an bis heute gegeben hat. Indem ich, hochgeachteter Herr Präsident, Sie bitte Fürsprecher meines Gesuchs zu sein,3 bin und verbleibe ich in vorzüglicher Verehrung Ihr ganz ergebener (dictirt) 1. Carl Burckhardt (1831-1901), President of Basel University's board of trustees (1874-1890).
St. Moritz, Ende Juli 1879: Mein geliebter Freund, Sie wissen wohl im Ganzen, wie es mit mir gestanden hat? Ein paar Mal den Pforten des Todes entwischt, aber fürchterlich gequält — so lebe ich von Tag zu Tage, jeder Tag hat seine Krankheits-Geschichte. Ich habe jetzt die beste und mächtigste Luft Europa’s zu athmen und liebe den Ort, an dem ich weile: St. Moritz in Graubünden. Seine Natur ist der meinigen verwandt, wir wundern uns nicht über einander, sondern sind vertraulich zusammen. Vielleicht thut’s gut so — immerhin, ich halte es ein wenig besser hier als anderswo aus. Der September und der erste Theil des Oktober soll am schönsten hier sein — da steigen Wünsche nach dem sehr ersehnten Freunde1 auf, aber ich will nicht unbescheiden sein. Für unser Zusammensein — falls ich dieses Glück noch erleben sollte — ist Viel in mir präparirt. Auch ein Kistchen Bücher steht für jenen Augenblick bereit, Réealia betitelt, es sind gute Sachen darunter, über die Sie sich freuen werden. Können Sie mir ein lehrreiches Buch womöglich englischer Herkunft, aber ins Deutsche übersetzt und mit gutem großen Druck zusenden?2 — Ich lebe ganz ohne Bücher, als Sieben-Achtel-Blinder, aber ich nehme gerne die verbotene Frucht aus Ihrer Hand. Es lebe das Gewissen, weil es nun eine Historie haben wird, und mein Freund an ihm zum Historiker geworden ist.3 Glück und Heil auf Ihren Wegen!4 Von Herzen Ihnen nahe 1. That is, Paul Rée. |
Not to be reproduced without permission. All content © The Nietzsche Channel.