|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited.
Bayreuth, 1ten Januar 1877: Seit einer Reihe von Jahren sagen Sie mir, mein theurer Freund, zu meinem Geburtstage1 das ernste, weihevolle Wort2 das mich erfreut, und von dem ich wohl sagen kann dass ich es mir wünsche. Im Ganzen aber haben Sie doch recht, mein Freund, ich weiss nichts mehr zu wünschen, und selbst die Bemerkung dass dieser Zustand nicht gerade erfreulich, erstirbt auf den Lippen, welche, wie Sie empfinden, immer ruhiger werden, wie der Sinn immer stiller wird. Denken Sie nur dass Ihr Satz mir heute in der Kirche zur Andacht verhalf; ich hatte Daniella und Blandine3 dahin zu begleiten, und während dass der Prediger die Wünsche seiner Zuhörerschaft mit pathetischer Genauigkeit aufzählte, wie es heisst, dass unser Vater im Himmel es mit unseren Haaren thut,4 sann ich immer tiefer und tiefer über die is Wunschlosigkeit und über die Aehnlichkeit von Glück und Unglück (die linke und die rechte Hand nennt sie Katharina von Siena5), und war noch ganz befangen als der Gesang mir meldete dass das arithmetische Problem da oben gelöst sei! Beinahe käme man dahin mit Hegel, zu finden, dass Alles was ist vernünftig,6 so empfindungslos lässt einem diese All-Unvernunft! — Gerne erführe ich Näheres von Ihnen über Ihre Differenz mit Schopenhauer. Ich habe es an Ihrer Schrift ganz besonders bewundert dass Sie den Menschen anerkannt wissen wollten; jede Lehre, die erhabenste und zusammenhängendste auch, kann, dünkt mich, nur ein Gleichniss sein, zu welcher der Philosoph sich verhält wie der Dichter zu seinen Gestalten; sie ist sein Geschöpf, lebensvoll unsterblich, wenn er ein Grosser ist, todgeboren wenn er ein Nachschwätzer ist. "So denkt er, so empfindet er, wie recht hat er so zu denken und zu empfinden," diess ungefähr [ist] meine Stimmung wenn ich Sch[openhauer] lese, nie käme ich dazu zu sagen "ich denke so, ich empfinde so" —, ebenso wenig als ich wie Hamlet oder Lear denke und empfinde, Ihnen aber in Allem recht geben muss. Es ist ein eigenthümliches Verhältniss; vielleicht giebt es Menschen welche nur unterrichtet, nicht belehrt werden können, nur der Betrachtung und Beobachtung sich hingeben können, und nicht fähig sind eine Lehre sich anzueignen, vielleicht auch gehöre ich zu diesen. Sehr aber würde es mich fesseln zu hören welche Einwendungen Sie gegen unseren Philosophen haben. Wollen Sie nicht Ihre Briefe an mich Brenner7 diktiren? Es ist doch vor allem nothwendig dass Sie Ihr Auge schonen, wenn ich auch mit Obstination an den Gedanken festhalte dass mit dem ganzen Körper sich auch Ihr Auge erstärken wird. Dass es schon Viel ist, wenn unser Thun und unsere Vornahme nicht zwei entgegen gesetzte Wege sind, sondern wenn das Eine wenigstens von Anderen umschlängelt wird, ist mir schon längst aufgegangen, und ich habe des Oefteren in übermüthiger Laune gesagt: dass nebst meinen Worten nichts mich so sehr erstaunte als meine Thaten, sie sähen mir gar nicht ähnlich, dem Ich nämlich, welchen ich mir vorstelle und welcher dem wirklichen ebenso ähnlich sein mag wie die Worte und Thaten dem Vorgestellten. Kennt man ja selbst sein Aeusseres nicht, wie der Spiegel es uns täglich lehren kann, und auch diese Lehre ist mangelhaft wie eine Photographie! ... Ich begreife gut dass der Tod Ihres Lehrers8 Ihnen sehr nahe gegangen ist; mit welcher enthusiastischen Liebe hängt sich doch die gutbegabte Jugend an den Lehrer, sie glaubt dass das Wissen das Leben ist, und derjenige welcher ihr mit Wärme dieses Wissen reicht, ist für sie der Mensch gewordene Gott. Mir wenigstens ging es so, und wie ich später einsah dass Lehre und Lehrer sehr viel menschlicher waren als göttlich, bestand das Gefühl, der Einsicht zum Trotz, wie die Liebe zur Heimath. Dass Ritschl Ihnen gut geblieben freute mich zu hören. Wenn ich Sie wiedersehen werde, erzähle ich Ihnen von Pr Curtius und Pr Helbig in Rom,9 ersterer sagte mir er habe das deutsche Volk hinter sich bei den Ausgrabungen.10 In Florenz hatte ich Vergnügen mit Pr Karl Hillebrand zu verkehren, wenn ich auch in Discussion mit ihm [geriet] über die grosse Wichtigkeit welche er der französischen Litteratur einräumt. Freund Lenbach11 gefiel mir besser wie er sagte dass bei aller Achtung vor der französischen Malerei, er sich gänzlich ihr fremd fühlte, während er sich sehr gut als Farbenreiber bei den großen Italiener[n] sehe. Diese Empfindung ist mir jetzt bei der Lektüre eines zweibändigen Roman's "Jack" von Daudet,12 sehr lebendig wieder geworden, Bewunderung und Widerwille mischten sich darin; das Talent unverkennbar, und der Weg welchen sich solch ein Talent sucht trostlos; die grellste Wahrhaftigkeit und eine tiefe Unwahrheit, Geschick und Geschmack, und gar keinen Styl und keine Schönheit, grauenhafte Wirklichkeit gemischt mit unmöglicher Sentimentalität — — doch Jack und Daudet werden Ihnen ziemlich gleichgültig sein. Nicht aber die Büste von Voltaire welche wir bei Lenbach fanden (ein Abguss von der im théâtre Français) und welche aussieht wie Licht und Leben. Es war seltsam von dem Portrait von Helmholtz13 von Lenbach, die Verklärung des schlichten Sinnens, zu dieser Feuersprühenden Maske zu übergehen. Wie viele Eindrücke von Menschen und Dingen könnte, möchte ich Ihnen mittheilen, Sgambati14 und seine herrlichen Quintette; Rienzi in Bologna,15 der deutsche Botschafter16 und sein eigenthümliches wirklich tiefsinniges Musiciren, der Dichter des Nero, Cossa,17 aber ich mag Ihre Augen nicht ermüden, und ein wenig vom Tunnel-Leben muss ich doch noch erzählen. Tunnel-Leben nennt nämlich unser Meister [Richard Wagner] die Existenz in Deutschland, und es fiel ihm wie wir heimkehrten die Stelle aus der Odyssee18 ein wo Teiresias den Wandrer verkündigt welcher sagen wird das Ruder als Schaufel zu gebrauchen. Und in der That nicht wie wenn man sich in das Meer sondern in den Sand gestürzt hätte, kommt es einem hier vor. Wie Sie sagen das Nach sieht dem Vor recht ähnlich.19 Denken Sie nur dass Richter20 drei Abende ohne Opern, hier die 24 Stunden zugebracht hat; er konnte es nicht mehr aushalten ohne uns gesehen zu haben; das ganze Tribschner Leben liessen wir an dem Sylvester-Morgen wo er ging, vorüberziehen, mit Lachen und grosser Rührung. Dabei gedachten wir Ihrer Besuche21 auch, und es war als ob die Festspiele selbst den Zauber dieser Einsamkeit nicht aufwiegen konnten, zu welcher wir nun blicken wie zu einem Verlorenen Paradies. Nun aber leben Sie wohl, von Herzen wünsche ich Ihnen Gesundheit denn die braucht man wie die Luft; und ich hoffe sehr dass Ihr jetziges Leben sie Ihnen wiederbringen wird. Grüssen Sie Alle in Rubinacci,22 und sein Sie von Herzen gegrüsst von uns Beiden! Cosima Wagner. Wenn Sie Ihrer Schwester schreiben sagen Sie ihr bitte alles mögliche Gute, Herzliche, von uns und den Kindern. 1. See, e.g., Sorrento, 12-19-1876: Nietzsche's birthday letter to Cosima Wagner in Bayreuth.
Sorrent, Januar 1877: Verehrteste Frau, Nur andauernde Krankheit und das wirkliche Unvermögen Briefe zu schreiben konnte der Grund sein, welcher mich abhielt, so lange Zeit abhielt, Ihnen mein tiefstes Mitgefühl1 zu erkennen zu geben; denn ich habe auf ein Jahr Basel verlassen und hier in Sorrent2 Genesung suchen müssen und fange eben erst an, die Gesundheit aus der Ferne zu sehen. Wie oft ist die Gestalt des grossen geliebten Lehrers an mir seit jener Trauerbotschaft vorübergeschwebt, wie oft durchlief ich im Geiste jene nun schon so fernen Zeiten eines fast täglichen Zusammenseins mit ihm und erwog die zahllosen Beweise seiner wohlwollenden und wahrhaft hülfreichen Gesinnung.3 Ich bin glücklich, noch aus dem letzten Jahre ein kostbares Zeugniss seiner unveränderten Milde und Herzlichkeit für mich in einem Briefe4 zu besitzen und mir vorstellen zu dürfen, dass er, auch wo er mir nicht Recht geben konnte, mich doch vertrauensvoll gewähren liess. Ich glaubte, dass er den Tag noch erleben würde, da ich ihm öffentlich den Dank und die Ehre geben könnte, so wie es längst mein Herz wünschte, und in einer Art, dass auch er vielleicht sich daran hätte freuen können. Heute trauere ich nun an seinem Grabe und muss, meiner üblen Gesundheit nachgebend, auch mein Todtenopfer noch auf eine unbestimmte Zukunft verschieben. Was mit ihm, abgesehen von allem persönlichen Verluste, überhaupt verloren gegangen ist, ob nicht in ihm der letzte grosse Philologe zu Grabe getragen wurde — das weiss ich nicht mit Sicherheit zu beantworten. Aber ob die Antwort so oder ganz anders ausfalle — dass in seinen Schülern eine nie erhörte Fruchtbarkeit seiner Wissenschaft verbürgt sei — jede Antwort fällt zu seiner Ehre aus: es ist ein gleich grosser Ruhm, der letzte der Grossen oder der Vater einer ganzen grossen Periode zu heissen. Empfangen Sie die wärmsten Wünsche eines Ihnen immerdar aufrichtig ergebenen und mit Ihnen trauernden Freundes. Ihr 1. Friedrich Ritschl (1806-1876) died on November 9, 1876.
Sorrent, 8. Januar 1877: Ja, werthe Freunde, wir verstehen uns, meine ich, viel zu gut als dass über diese Zeitschriftensache1 viel Worte meinerseits von Nöthen wären. Erstens: R. W[agner] hat das Fürchten, aber leider auch das Warten nicht gelernt.2 In 4 Jahren, hoffte ich bisher, würden genug Menschen3 beisammen sein, um das Unternehmen in grösserem Style beginnen zu können. Nun soll es aber jetzt geschehen: wobei mich die Furcht einer fausse couche4 beschleicht. Indessen: ist Hr. Schmeitzner entschlossen, so müssen wir Alle zusehen und mithelfen,5 dass die Sache gut läuft. — Herzliche Neujahrswünsche von Herzen erwiedernd Ihr F N. 1. In an explanatory note published in 1908, Heinrich Köselitz wrote: "Hans Frhr. v. Wolzogen und Dr. Richard Pohl hatten sich, zum Theil im Äuftrag Rich. Wagner's, an den Verleger Ernst Schmeitzner gewendet zum Zweck der Gründung einer Zeitschrift im Wagner'schen Sinne. Ich hatte N. mitgetheilt, wie von Widemann und mir in dieser Sache an Schmeitzner geschrieben worden set, nämlich abrathend, da wir es für kein Glück hielten, daß die damaligen Wagner-Apostel bequeme Gelegenheit fänden, noch mehr zu Worte zu kommen. Im Lauf des Jahres 1877 wurden aber die Verhandlungen zwischen Bayreuth und Schmeitzner fortgeführt und zeitigten im Januar 1878 die Gründung der 'Bayreuther Blätter.' (— Daß N. auf dieser Karte vom 8. Jan. 77 noch an seine Mitarbeit am Bayreuther Blatter glaubt, beruht darauf, daß ihm von Herrn und Frau Wagner, selbst noch in Sorrent, versichert worden war, die zu gründende Zeitschrift werde jedem Mitarbeiter vollkommen freien Spielraum für seine eigenste Meinungsäußerung gewähren.)" (Hans Frhr. v. Wolzogen and Dr. Richard Pohl had, partly on behalf of Richard Wagner, turned to the publisher Ernst Schmeitzner for the purpose of founding a journal in the interests of Wagner. I had informed N. that Widemann and I had written to Schmeitzner about this matter, namely advising against it, since we considered it unfortunate for the Wagner apostles of the time to find an even more convenient opportunity to express themselves. In the course of 1877, however, the negotiations between Bayreuth and Schmeitzner continued and in January 1878 resulted in the founding of the Bayreuther Blatter. (— That N., in this postcard of Jan. 8, 1877, still believes in his collaboration with the Bayreuther Blatter is due to the fact that Mr. and Mrs. Wagner, who were still in Sorrento themselves, had assured him that the journal to be founded would give every collaborator complete freedom to express their own opinions.)) See Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe. Bd. 4. Friedrich Nietzsches Briefe an Peter Gast, herausgegeben von Peter Gast. Leipzig : Insel, 1908, 441f.
Sorrent, 20. Januar 1877: So plötzlich geht es nicht bei einem jahrelang verschleppten Übel! Wieder 2 Tage zu Bett, auch hinterdrein noch schlimme Tage. — Vielen Dank für Benoni1 und Reuter's Schrift2 (brave Gesinnung, guter Kopf, abscheuliche Darstellung). Über Dr Förster's3 Besuch gefreut (wir mögen seine Brüder4 nicht recht) Danke sehr für Deine Briefe, alle angekommen. Die "Schule der Erzieher"5 (auch modernes Kloster, Idealkolonie, université libre genannt) schwebt in der Luft, wer weiß was geschieht! Wir haben Dich schon im Geiste zum Vorstand aller wirthschaftl. Angelegenheiten unsrer Anstalt von 40 Personen ernannt. Du mußt vor allem italiänisch lernen! 1. Giovanni Domenico Ruffini (1807-1881): Italian writer. Author of Lorenzo Benoni. Scenen aus dem Leben eines Italieners. Herausgegeben von einem Freunde. Aus dem Englischen. Bde. 1-4 (Wurzen: Verlags-Comptoir, 1854). [Series: Europäische Bibliothek der neuenbelletristischen Literatur, 876=Ser. 9, 76.] See the entry for Ruffini in Nietzsche's Library.
Paris, 21 Janvier 1877: Mon ami, Laissez moi vous dire un mot en français — un seul mot, car je ne suis pas encore bien forte! Oui, j'ai été malade et mon silence était parfaitement involontaire. Comment aurais-je tardé sans cela à repondre à une aussi charmante lettre que la vôtre? Cher ami, je sais maintenant ce que c'est, que d'avoir mal à la tête et mal aux yeux. Oh! que de fois j'ai pensé à vous au milieu de mes souffrances — tenez, c'était presqu'une consolation! Aujourd'hui, le mal a cédé enfin à la quinine et me voilà hors de mon lit, où j'ai passé de longues semaines. Je crois que j'ai échappé a une fièvre muqueuse. Savez-vous, que j'ai en effet beaucoup ri de votre proposition de me faire écrire un roman!3 Moi écrire! Mais savez vous que je suis incapable d'avoir "une idée" dans ma pauvre tête? Non, mon ami vous ne connaissez pas la vraie Louise ... — — celle que vous aimez est une création de votre imagination belle et chaude. C'est égal — conserves lui votre affection — cela lui fait du bien — et elle a assez de coeur pour vous la rendre largement. Ecrivez moi dès que vous pourrez. L. O. 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Sorrent, 27. Januar 1877: Verehrteste Frau, es beunruhigt mich ein wenig, was der Übersetzung1 widerfahren sein mag, dass sie immer noch nicht erscheint. — Inzwischen ist Dr. Rée's Manuscr. an Schmeitzner abgegangen.2 — Ich habe manche schlechte, doch auch einige gute Tage hinter mir. Doch kann ich nicht lesen. Langsame Besserung; und der Zweifel, ob es wieder gut wird, nicht überwunden. — Hat Frau Cos. W[agner] Ihren "Schopenh."3 zurückgeschickt? — Von Schuré ist ein Band Gedichte erschienen.4 Kennen Sie Romane von Daudet?5 Wir haben Voltaire Diderot Michelet Thukydides vorgehabt.6 Meine allerbesten Wünsche! Ihr F N. 1. Nietzsche had yet to receive his copy of Marie Baumgartner's French translation (Richard Wagner à Bayreuth).
Sorrent, 27. Januar 1877: Meine herzlichsten Glückwünsche voran,1 meine geliebte Mutter; wir wollen zusammen wünschen, daß Dein kommendes Lebensjahr mehr von Leid Verlust2 und Sorgen verschont bleiben möge als das vergangene. Einen eigentl. Brief kann ich nicht schreiben, es greift mich so an, daß ich es immer ein Paar Tage zu büßen habe (so wie neulich als ich endlich der armen Frau Ritschl schreiben mußte)[.]3 Es gab immer wieder schlechte Tage und Stunden; in summa glaube ich aber, es geht vorwärts, nur soll niemand glauben, daß es auf einmal gut gehe. Wir haben es jetzt auch ein Bischen frisch und windig.4 Meinem Kopf scheint es immer noch an Blut zu fehlen; ich habe die letzten 10 Jahre zu viel nachgedacht (was bekanntlich mehr angreift als wenn man nur "zu viel arbeitet": obwohl ich dies auch gethan habe.) Wo mag nur die französ. Übersetzung meiner Schrift über Wagner bleiben?5 — Man liest mir jetzt Lorenzo Benoni6 vor, wir freuen uns alle daran. Dr Rée hat sein Manuscript "über den Ursprung der moralischen Empfindung" an Schmeitzner geschickt.7 — Brenner hat hübsche Novellen geschrieben,8 Frl. von Meysenbug arbeitet an einem Roman.9 — Es ist möglich, daß Fürst Lichtenstein sich unsrer kleinen Gemeinde anschließt.10 Später kommen Seydlitz und Frau, schon angekündigt;11 auch einige römische Damen.12 Ich werde Euch später lehren, wie man Risotto macht, das weiß ich nun. Zuletzt meinen schönsten Dank für Deinen unterhaltenden langen Brief[.]13 Dein Fritz. 1. Franziska Nietzsche's upcoming birthday was on February 2.
Sorrent, 4. Februar 1877: Hier, verehrte Frau, ein paar Feldblumen aus Sorrent. Wir alle1 senden Ihnen den Ausdruck unserer Verehrung und Bewunderung, denn die letzten Abende haben wir immer mit neuem Erstaunen in Ihrem Buche2 gelesen. Brenner3 hat die Blumen am felsigen Ufer gesucht, Frl. v. M[eysenbug] sie geordnet. 1. Nietzsche was staying in Sorrento with Malwida von Meysenbug, his student Albert Brenner, and Paul Rée.
Lörrach, 9. Februar 1877: Verehrter, lieber Herr, Es drängt mich, Ihnen zu danken für Ihren freudigen Brief,1 und noch mehr für die Blumen2 die vorgestern auf meinem Tische lagen als ich mit müdem Herzen von einer Whist-partie bei der alten Tante3 nach Hause kam. Sie lagen noch so frisch in der kleinen Schachtel, und waren mit so rührender Sorgfalt einzeln eingepackt worden, daß nun, das Unvermeidliche ist geschehen, ich habe eine wohlthuende, heilsame Anzahl von Thränen vergossen, und habe Heimweh nach Ihnen gehabt, das heißt, mich lebhaft darnach gesehnt, dort bei Ihnen sein zu können. Nicht bloß bei Ihnen allein, sondern bei Ihnen im Kreise derer die es wohl durch Liebe und Güte verdienen daß Sie nicht mehr in der Einzahl, sondern in der Mehrzahl empfinden. Und wie Sie mir sagen "wir alle," und wie Sie gemeinschaftlich mit den Freunden mir Freude zu machen versuchen, so gilt ja auch "Ihnen Allen" mein Dank und herzliche Hingebung. Die Blumen haben sich im Wasser so erholt daß man ihnen die große Reise fast nicht mehr ansah, und sie riechen auch heute noch stark. — Ich bitte Fräulein von Meysenbug und Herrn Dr Rée sehr um Entschuldigung daß ich mir die Freiheit genommen, ihnen die Bücher4 so ohne Begleitbrief zukommen zu lassen; ich erlaubte es mir eben weil Sie das Buch schon erhalten hatten, und weil ich an Jenem Tage doch etwa ein Dutzend Versendungen besorgte unter welchen manche waren die ich unmöglich ohne Brief abgehen lassen konnte. Nun sind im Ganzen 30 Exemplare vertheilt von denen ich Ihnen gelegentlich eine kleine Liste schicken will. Ich habe auch an Herrn Prof. Rohde eines, mit Billet,5 geschickt, obgleich Sie mir nichts darüber bestimmt hatten; es schien mir aber so gerechtfertigt als manche andere Sendung. An Frau Diodati6 hab' ich auch ein Billet beigelegt. Herr Schmeitzner hat die Vertheilung von 14 Exemplare besorgt die ohne Brief wandern konnten oder dessen Empfänger schon im Voraus benachrichtigt waren. — Heute früh kam der erste Dankbrief7 an: Ein Autograph von Prof. J. Burckhardt, so schön daß ich es Ihnen gern gleich vorgelesen hätte! Dieser Brief freut mich sehr denn er sagt auch daß die schwierigen Stellen Ihres Buches im neuen Gewand "klar und durchsichtig" geworden sind; und da auch Sie diese Empfindung haben, lieber Herr, will ich mich über diesen Punkt wenigstens beruhigen. Es bleibt nun noch die gefährliche Probe zu bestehen vor den wirklichen Franzosen, vor denen die ganz unpartheiisch lesen werden. Von meiner Seite werde ich wohl bloß durch Prof. Lichtenberger8 der selbst sehr schön französisch schreibt und das deutsche doch gut kennt, Etwas hierüber erfahren; Fräulein von Meysenbug wird vielleicht ein Mal Herr Monod's9 Urtheil hören. Ich bitte sehr, mir dieses dann mitzutheilen, wenn es auch nicht süß zu hören wäre. In der Familie Monod muß eine erbliche Tradition leben vom Schönsten was im französischen geschrieben werden kann! Ich habe auch mein besonderes Ideal von französischem Styl; aber nach diesem kann man beim übersetzen nicht so unbeirrt hinsteuern als wenn man frei für sich schreibt, und es handelt sich immer nur um ein Mehr oder Weniger von Form welches man aus dem Kampf der beiden zu berücksichtigenden Sprachen retten kann! Abends später. Es war gut daß ich den Trostbrief von Professor Burckhardt schon in der Tasche hatte! denn, als ich vor einigen Stunden Adolf10 in Basel aufsuchen wollte, begegnete ich in der Baumannshöhle11 Herrn Overbeck der mir in aller Herzlichkeit meldete daß er mir eine Liste12 machen wolle von den Ungenauigkeiten die er und seine Frau in der franz[ösischen] Version finden; und, nach dem zu schließen wie er es sagte, scheint es eine lange Liste werden zu wollen! Lassen Sie sich Ihre Freude nicht dadurch stören, verehrter Herr, falls Ihr Freund Ihnen in diesem Sinne schreiben sollte. Ich bin ja weit entfernt zu behaupten daß ich Ihr Buch Wort für Wort ubersetzt habe; ich weiß ganz wohl wie viel genauer und strenger ich es hätte nehmen können, aber ich hatte in den meisten Fällen Gründe warum ich dem Wörterbuch nicht blind gehorchte. Dem Sinn hat es schwerlich oft geschadet. So viel ist sicher: Nie mehr werde ich ein Manuscript so schnell aus der Hand geben; ich hätte mit mehr Muse noch vieles verbessern können; aber ganz im Sinn von Herrn Overbeck wäre es demnach nicht ausgefallen; ein sklavisch-steifes, unbeholfen und unschön lautendes Schriftstück möchte ich denn doch weder selbst unterschreiben, noch Ihnen widmen! Wie leid es mir thut daß Ihre Augen noch schwächer werden kann ich Ihnen gar nicht sagen! Es ist eine Entbehrung die durch Nichts zu ersetzen ist. — Wenn ich mir vorzustellen versuche was ich thun könnte wenn ich blind wäre, so will mir nichts einfallen als: Strümpfe stricken, Gedichte aussinnen, und Romane erdenken, welch letztere meine Freunde für mich schreiben würden. Bedenken Sie nun wie viel besser Sie es hätten in diesem allerschlimmsten Fall, vor dem Sie Gott bewahren möge! Sie könnten Musik Componiren statt meinem Sockenstricken; und die Quelle der unzeitgemäßen Gedanken13 wäre doch noch in Ihrem Herzen! Seien Sie guten Muthes, und wenn der Aufenthalt in Sorrent sich nicht als wohlthuend erweist für die armen Augen, so nehmen Sie bei der Heimreise den Weg über Paris zu meinem Neffen Landolt14 der dort als Augenarzt glückliche Curen macht, und sorgsam studiert hat in seinem Fach. Auch Herrn Brenner15 bitte ich von mir zu grüßen da er sich so freundlich bei der Sammlung der Blumen betheiligt hat; ich hege eine ziemlich nagende Erinnerung, ihn bei seinem letzten Besuch in Lörrach bei strömendem Regen ungastlich entlassen zu haben, so daß die Blumen Etwas von den biblischen "Kohlen"16 an sich hatten. Lohengrin17 hat nun schon 5 Mal das Basler Theater gefüllt, in den letzten Wochen! Mit den herzlichsten Grüßen und Wünschen Ihrer ergebenen 1. Sorrento, 02-02-1877: Letter from Nietzsche to Marie Baumgartner in Lörrach.
Sorrent, Mitte Februar 1877: Lieber guter Freund, nichts als eine Anfrage — ausser dem allerherzlichsten Danke für Ihren Brief.1 Geht es Ihrer Gesundheit so gut und förderlich, um Bestimmungen über das Frühjahr2 treffen zu können? Ich hoffe und wünsche es aus ganzem Herzen. — Mich würden Sie nach wie vor in Sorrent finden. Meine beiden Freunde und Begleiter verlassen mich Ende März,3 und ich bleibe mit Frl. von Meysenbug (welche sich dankbar Ihrem verehrten Kreise empfiehlt) allein hier zurück. Meinen Augen geht es schlechter, meinem Kopfe nicht wesentlich besser — also, mit altitaliänischer Wendung (welche ein päpstlicher Nepote zuerst gebrauchte; die Gerichtsdiener kamen, ihn zum Tode zu führen) "Va bene, patienza!"4 Die Tage sind ausserordentlich schön; eine Mischung von Meer- Wald- und Bergluft herrscht hier, und viele halbdunkle stille Wege giebt es. Manche Pläne gehen uns Beiden (Frl. v. M[eysenbug] und mir) durch den Kopf, und Sie kommen immer mit darin vor. Vor allem: wenn man keine Gesundheit hat, soll man sich eine anschaffen. — Haben wir sie aber, dann soll noch manches Gute zu Stande kommen, nicht wahr? Treulich der Sorrent, Villa Rubinacci (eventuell können Sie hier Wohnung finden) 1. Davos, 12-29-1876: Letter from Reinhart von Seydlitz to Nietzsche in Sorrento.
Sorrent, 18. Februar 1877: Meine liebe Mutter, es schmerzt mich, durch eine Briefstelle1 Anlaß gegeben zu haben, daß Ihr unter einander etwas Verdruß hattet; genug, ich hatte gar nichts dabei gedacht und beabsichtigt. Ich schrieb an F[rau] R[itschl],2 weil ich es für nöthig hielt, ebenso wie ich an Frau Gerlach3 schon vor Weihnachten und an Frau Brockhaus kürzlich geschrieben habe. Daß es mich angegriffen hatte,5 dafür könnt Ihr nichts; also — ich bitte um Entschuldigung. Mein Befinden ist wieder sehr schlecht gewesen, fast desperat. Es gab Tage, wie um Weihnachten voriges Jahr. Innerhalb einer Woche lag ich 2 mal zu Bett, mit heftigen Schmerzen. — "Flimmern" ist ein falscher Ausdruck für den Zustand meiner Augen. Ich kann nicht lesen, die Worte werden zu Klumpen. Prof. Schiess, darüber consultirt, fand es beunruhigend, wenn es nicht bald weichen wollte; er empfahl mich in Neapel ärztlich zu berathen.6 (Neapel hat eine ausgezeichnete medicinische Fakultät an seiner Universität) Ich war dort und conferirte mit dem berühmtesten Arzt, Professor Schrön;7 und jetzt bin ich wieder ordentlich in Kur. Nach drei Monaten soll ich wieder kommen, wenn inzwischen keine neuen Symptome kommen. Alle Mittel wirken bei solch einem vorgeschrittenen Zustande meines Kopfleidens sehr langsam. Die Erklärung mit einem Kopfkatarrh ist nichts, vielmehr weiß ich jetzt sehr genau, wie das Übel beschaffen ist. Die erste ganz sorgfältige Untersuchung und Besprechung! Sorrent ausgezeichnet zur Kur; namentlich als Augenkurort mit Recht gerühmt. Meinen herzlichsten Dank für Alles Geschriebene und Mitgetheilte. (Ich selber kann nicht recht lesen was ich schreibe: Verzeihung, wenn alles sehr unordentlich aussieht[.]) mit herzlichen Grüßen 1. Cf. Sorrento, 01-27-1877: Letter to Franziska Nietzsche in Naumburg.
Sorrent, Ende Februar 1877: Lieber Freund die gegenseitigen Versicherungen unsrer hoffnungsvollen Neigungen haben sich gekreuzt:1 dankbar nehme ich das gute Wahrzeichen an. Ich bedarf solcher Nachrichten, wie Sie sie mir geben, denn mein Befinden war zuletzt wieder schlecht und erweckte den bösen Geist der Ungeduld in mir. In Neapel suchte ich den ausgezeichneten Arzt Professor Schrön,2 an der Universität, auf; ich empfehle denselben nach dem Rufe den er geniesst und der Erfahrung, welche ich jetzt von ihm habe. Aber Sie3 haben die Wahl noch zwischen 6 andern deutschen Ärzten. Auch in Sorrent ist ein guter deutschsprechender Arzt. Die medicinische Facultät in Neapel ist überall geachtet und erzieht tüchtige Ärzte. Die Fremden beginnen nach Sorrent zu strömen; der März gilt sogar als der Monat, welcher die allermeisten bringt. Dass es stürmisch hier sein kann, haben wir eigentlich erst in den letzten Tagen erfahren. Dem März sagt man nach, dass er die schöne Jahreszeit beginne, aber ein paar windige Tage dürften doch kaum ausbleiben. Es giebt so gute verdeckte Spaziergänge zwischen Orangengärten, dass es einem darin immer windstill zu Muthe wird und man nur aus der heftigen Bewegung der Pinien über einem sieht, wie es draussen in der Welt stürmt. (Wirklichkeit und Gleichniss unseres hiesigen Lebens — wahr in beidem[.]) Dass ich bleibe, dass ich Sie erwarte, wissen Sie schon; Frl. von Meysenbug wird selber schreiben,4 ich glaube Sie haben sehr viel Freude durch Ihren Brief gemacht, gemischt mit jener Verwunderung, wie auch ich sie empfand, welche immer wieder fragt: ist es nur möglich? Solche Menschen leben? Und warum schenken sie uns diese Liebe? Verdienen wir sie? (ich rede von mir und frage ernstlich noch zuletzt: werden Sie sich nicht täuschen? Der Himmel weiss, Sie werden einen sehr einfachen Menschen finden, welcher von sich keine grosse Meinung hat[.]) Und nun alles Herzliche und Gute 1. Nietzsche was replying to a 02-17-1877 letter from Reinhart von Seydlitz, who was asking questions about Sorrento. Seydlitz himself was replying to Nietzsche's mid-February 1877 letter.
Sorrent, 26. März 1877: Lieber guter Freund, ich war gerade die ganze letzte Zeit, durch eine Verschlimmerung meines Augenleidens, nicht in der Verfassung des Lesens und Schreibens; so konnte ich nur in stiller schweigsamer Theilnahme Deinen Schmerz ehren, Deinen grossen Verlust1 beklagen und mich im Allgemeinen verwundern, wie der Mensch doch weiterlebt, wenn ihm die natürlichen Wurzeln abgeschnitten werden. Ich schloss daraus, dass er viel mehr Wurzeln haben müsse als er gewöhnlich annimmt; verliert er welche, so schafft er sich neue. Dabei dachte ich an Deine Ehe2 und meine, dass Dir dieselbe als beste Trösterin genützt haben wird. Schrieb ich Dir, dass ich meine Grossmutter3 verloren habe? Mein Befinden erweckt mir viel Bedenken, ich sah die Nothwendigkeit ein, mich wieder der ärztlichen Hülfe anzuvertrauen und bin jetzt unter der Obhut des Professor Schrön4 (Universität Neapel)[.] Einsalben des Kopfes mit Narcein, dann Gebrauch von Brom Natrium, nebst einigen diätetischen Vorschriften; nach drei Monaten soll ich berichten. In der That geht es jetzt den Augen wieder besser (ich war vollständig ausser Stande zu lesen)[.] Der letzte Monat war sehr schlecht, Kälte Sturm Regen fast unablässig. Rée und Brenner5 reisen Ende März ab.6 Seydlitzens kommen zu uns.7 Wir bleiben hier. — Rohde heirathet Pfingsten.8 Gersdorff's Sache steht nicht gut.9 Grüsse, mein lieber Freund, Deine Frau, dann Frau Baumgartner, Baumann,10 auch Immermanns.11 Dem guten Köselitz bin ich Dank und Antwort schuldig.12 Lebe wohl und sei der Liebe Deines Freundes gewiss. Ich habe mancherlei durchdacht, was Dir, wenn wir zusammen kommen, zuerst vorgelegt werden soll.13 Alle grüssen. — Bitte bezahle die Buchhändlerrechnung. 1. Franz Overbeck's mother, Johannna Camilla Overbeck (née Cerclet, 1808-1877), died on 02-25-1877.
Sorrent, 31. März 1877: Liebe gute Schwester, ich danke herzlich für Deine Briefe1 und antworte erst heute, weil ich nicht wußte, was ich antworten sollte; eigentlich weiß ich es heute auch nicht. Glaubst Du nicht, daß ich nach 6 Wochen B[ertha] R[ohr]2 nicht mehr ausstehen werde und sie nicht mehr sehen hören kann? Vielleicht übertreibe ich. Sonst weißt Du ja, wie wir zusammen über sie denken, Illusionen haben wir uns wohl nicht gemacht; oder doch? — Hier redet man mir zu in Bezug auf Nat. Herzen,3 was meinst Du? Aber 30 Jahre ist sie auch, es wäre besser, daß sie 12 Jahre jünger wäre. Sonst ist ihre Art und ihr Geist recht gut zu mir passend. — Bei Gersd[orff] sind die Mitgift-fragen immer noch nicht geordnet, es ist eine sehr verwickelte Geschichte.4 Aber schweige darüber. — Seydlitzens sind da, voller guten Willens und Artigkeiten für mich.5 Allmählich wird es wohl gelingen, den sehr guten begabten S[eydlitz] "einzufreundschaften." Seine junge Frau6 ist Ungarin, sehr angenehm. — Hast Du Frau Wagner auf ihren Brief7 geantwortet? Wagners gehen den [Mai] nach London, und ich muthmaße etwas in Betreff Deiner.8 — Auf Capri trafen wir zufällig Besucherinnen der Bayreuther Feste, wie es schien aus der nächsten Umgebung von Bayreuth, ein junges Mädchen hieß A. v. T.9 Wer ist das? — Hier ist es jetzt Frühling geworden, oder beinahe soviel. Heute wieder trübe. Mir geht es die letzte Zeit etwas besser. Von Herzen Dein Bruder. Das musik[alisches]. Wochenblatt über mich kenne ich.10 Erwäge doch auch einmal die kleine Köckert.11 — (Religiöse Freisinnigkeit absolute Bedingung!) 1. A lost letter from the end of February 1877; and Naumburg, 03-22/24-1877: Letter from Elisabeth Nietzsche to Nietzsche in Sorrento.
Sorrent, 17. April 1877: Ich war bis Freitag allein in der Villa Rub[inacci].1 Da endlich kam Frl. v. M[eysenbug] zurück. — Mehrere Tage zu Bett gelegen, immer schlecht, bis heute. Nichts ist oeder als Ihr Zimmer ohne Rée. Wir sprechen und schweigen viel von dem Abwesenden; gestern wurde constatirt, dass nur Ihre "Erscheinung" abhanden gekommen sei. Abends spielen wir Mühle.2 Lesen giebt es nicht Seydl[itz] liegt zu Bett;3 wir konnten gegenseitig einer des andern "humaner Krankenwärter"4 sein, insofern wir mit Bettliegen abwechselten. Liebster Freund, wie viel verdanke ich Ihnen! Sie sollen mir nie wieder verloren gehn! In herzlicher Treue Ihr F N Für Telegramm und Brief Dank und wieder Dank. 1. Paul Rée and Nietzsche's student in Basel, Albert Brenner (1856-1878), left Sorrento on 04-10-1877, where they were all staying with Malwida von Meysenbug, who rented part of the Villa Rubinacci in Sorrento in 1876.
Sorrent, 22. April 1877: Dank, lieber Freund, für alle Theilnahme, welche mir Ihr Brief3 von Herzen zeigt. Leider kann ich über mein Befinden nichts Tröstliches melden; nach manchen Schwankungen, und zeitweiligen Aussichten auf Besserung wage ich jetzt im Ganzen kaum zu sagen, dass es nicht schlimmer geworden ist. Im Herbst komme ich nach Basel zurück. Treugesinnt der Ihre F. N. 1. Nietzsche attended Jacob Burckhardt's lectures on the "History of Greek Culture" while at Basel in SS1874 and SS1876, and had two sets of lecture notes made by his students, Louis Kelterborn (1853-1910) and Adolf Baumgartner (1855-1930). Kelterborn's dedication reads: "Herrn Prof. Dr. Fr. Nietzsche, / in herzlicher Dankbarkeit / gewidmet von / Louis Kelterborn, Dr. jur." (Herrn Prof. Dr. Fr. Nietzsche, / in sincere gratitude / dedicated by / Louis Kelterborn, Dr. jur.) Kelterborn's recollections about Nietzsche from 1869-1880 (Erinnerungen (August 1901)) were written in a letter from Boston to Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar. His recollections specifically regarding the years 1870-1876 were published in: Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe, historisch-kritische Ausgabe: Briefe III, IV, hrsg. von Wilhelm Hoppe. München: C. H. Beck, 1940, 1942. Reprinted in: Sander Gilman (ed.), Begegnungen mit Nietzsche. Bonn: Bouvier, 1985, 103-123. The mutual interest of Kelterborn and Nietzsche was music. In fact, Kelterborn moved to America and became a music teacher in Boston, where he initially resided at 28 Cedar Street, according to the 1900 United States Federal Census.
Sorrent, 25. April 1877: Für alles Gesagte Gewünschte Geschickte herzlichen Dank. Aber keine Polemik1 mehr, ich bitte Sie, das ist nicht das Geschäft der Musiker. Später sage ich Ihnen mehr über diesen Fall, den ich als ein spaßhaftes Unglück bezeichnen muß. Jak[ob]. Burckhardt zu gewinnen ist, nach einer sehr entsprechenden früheren Erfahrung,2 unmöglich; wer wollte auch das Einzige, was er von uns wünscht, Achtung vor seinem persönlichen Begriff der Freiheit, nicht achten? Treulich Ihr N. Mein Befinden elend schwankend. 1. Nietzsche alludes to Heinrich Köselitz's harsh attack against Selmar Bagge (1823-1896), the conservative opponent of Richard Wagner. At the time, Bagge, a former editor of the Allgemeine Musikalische Zeitung in Leipzig, was the director of the Allgemeine Musikschule in Basel. In December 1876, in order to educate the concert-going public in Basel about Beethoven's 9th Symphony (which was to be performed at the inauguration of the new Great Music Hall in Basel), Bagge gave an introductory lecture, which he later had printed in the Allgemeine Musikalische Zeitung on 01-24/31-1877. For Heinrich Köselitz's critique, see "Musikalische Philister." In: Musikalisches Wochenblatt, 8, 1877, 200-202.
Sorrent, 25. April 1877: Nichts Heiteres als Dein Brief,1 liebste Schwester, der in allen möglichen Punkten den Nagel auf den Kopf traf. Mir ging es so schlimm! Innerhalb 14 Tagen lag ich 6 Tage zu Bett mit 6 Hauptanfällen, der letzte ganz zum Verzweifeln. Ich stand auf, da legte sich Frl. v. M[eysenbug] auf 3 Tage wegen Rheumatismus. In aller Tiefe unsres Elends lachten wir sehr zusammen, als ich ihr einige ausgewählte Stellen des Briefes vorlas. — Der Plan nun welchen Frl. v. M[eysenbug] als unverrückbar im Auge zu behalten bezeichnet und an dessen Ausführung Du mit helfen mußt, ist der. Wir überzeugen uns, daß es mit meiner Baseler Universitätsexistenz auf die Dauer nicht gehen kann, daß ich sie höchstens auf Unkosten aller meiner wichtigeren Vorhaben und doch mit totaler Preisgebung meiner Gesundheit durchsetzen könnte. Freilich werde ich den nächsten Winter in diesen Verhältnissen dort noch zu bringen müssen, aber Ostern 1878 soll es zu Ende sein, falls die andre Combination gelingt d. h. die Verheirathung mit einer zu mir passenden, aber nothwendig vermöglichen Frau. "Gut, aber reich" wie Frl. v. M[eysenbug]. sagte, über welches "Aber" wir sehr lachten. Mit dieser würde ich dann die nächsten Jahre in Rom leben; welcher Ort für Gesundheit Gesellschaft und meine Studien gleich geeignet ist. In diesem Sommer soll nun das Projekt gefördert werden, in der Schweiz, so daß ich im Herbst verheirathet nach Basel käme. Verschiedne "Wesen" sind eingeladen, in die Schweiz zu kommen, mehrere Dir ganz fremde Namen darunter zB. Elise Bülow [sic]2 aus Berlin, Elisabeth Brandes aus Hannover. Den geistigen Qualitäten nach finde ich immer Nat. Herzen3 am besten geeignet. Mit der Idealisirung der kl. Köckert4 in Genf hast Du viel geleistet! Lob Ehr und Preis! Aber es ist doch bedenklich; und Vermögen? — Rohde soll die Wagner-Büste bekommen,5 mir fällt gar nichts mehr ein, meine Dummheit ist groß. Also willst Du dies schnell besorgen, mit einem Briefchen an Rohde? Von Frankfurt hat man mich zu einer Rede über Wagner eingeladen.6 — Die Übersetzung7 von Frau Baumgartner wird durch die competenten Personen nicht gut gefunden. Dies ganz im Vertrauen.8 In alter Brüderlichkeit Dein Mit der Bayreuther Sorge9 bleibst Du verschont; wozu ich eigentlich gratulire, denn die Verantwortlichkeit ist zu groß. Lulu10 und die Gouvernante führen das Regiment. Die arme Loldi11 ist in ein orthopädisches Institut in Altenburg gebracht. 1. Naumburg, 04-17-1877: Letter from Elisabeth Nietzsche to Nietzsche in Sorrento. Morte di Cleopatra (The Death of Cleopatra). By: Giovanni Francesco Barbieri, a/k/a Guercino. Oil on canvas, 1648. Enhanced image The Nietzsche Channel. Lugano, 13. Mai 1877: Verehrteste Freundin nachdem ich durch Nachdenken herausgebracht habe, dass eine Karte, obschon leichter als ein Brief, doch nicht schneller geht als ein Brief, müssen Sie nun schon einen längeren Bericht über meine bisherigen Odysseischen Irrfahrten hinnehmen. Das menschliche Elend bei einer Meerfahrt ist schrecklich und doch eigentlich lächerlich, ungefähr so wie mir mitunter mein Kopfschmerz vorkommt, bei dem man sich in ganz blühenden Leibesumständen befinden kann — kurz, ich bin heute wieder in der Stimmung des "heitern Krüppelthums," während ich auf dem Schiffe nur die schwärzesten Gedanken hatte und in Bezug auf Selbstmord allein darüber im Zweifel blieb, wo das Meer am tiefsten sei, damit man nicht gleich wieder herausgefischt werde und seinen Errettern noch dazu eine schreckliche Masse Gold als Sold der Dankbarkeit zu zahlen habe. Übrigens kannte ich den schlimmsten Zustand der Seekrankheit ganz genau aus der Zeit her, wo ein heftiges Magenleiden mich mit dem Kopfschmerz im Bruderbunde quälte: es war "Erinnerung halb verklungener Zeiten."1 Nur kam die Unbequemlichkeit hinzu, in jeder Minute dreimal — bis 8 mal die Lage zu wechseln und zwar bei Tag und Nacht: sodann in nächster Nähe Gerüche und Gespräche einer schmausenden Tischgesellschaft zu haben, was über alle Maassen ekelerregend ist. In Livorno's Hafen war es Nacht, es regnete, trotzdem wollte ich hinaus, aber kaltblütige Verheissungen des Capitäns hielten mich zurück. Alles im Schiffe rollte mit grossem Lärme hin und her, die Töpfe sprangen und bekamen Leben, die Kinder schrieen, der Sturm heulte; ewige Schlaflosigkeit war mein Loos, würde der Dichter sagen. Die Ausschiffung2 hatte neue Leiden; ganz voll von meinem grässlichen Kopfschmerz, hatte ich doch Stundenlang die schärfste Brille auf der Nase und misstraute jedem. Die Dogana gieng leidlich vorbei, doch vergass ich die Hauptsache, nämlich mein Gepäck für die Eisenbahn einschreiben zu lassen. Nun ging eine Fahrt nach dem fabelhaften Hôtel national los, mit zwei Spitzbuben auf dem Kutscherbock, welche mit aller Gewalt mich in eine elende Trattoria absetzen wollten; fortwährend war mein Gepäck in andern Händen, immer keuchte ein Mann mit meinem Koffer vor mir her. Ich wurde ein paar Mal wüthend und schüchterte den Kutscher ein, der andere Kerl riss aus. Wissen Sie, wie ich in's Hôtel de Londres gekommen bin? Ich weiss es nicht, kurz es war gut, nur der Eintritt war greulich, weil ein ganzes Gefolge von Strolchen bezahlt werden wollte. Dort legte ich mich gleich zu Bett und sehr leidend! Am Freitag, bei trübem regnerischen Wetter, ermannte ich mich um Mittag und ging in die Gallerie des Palazzo Brignole; und erstaunlich, der Anblick dieser Familienporträts war es, welcher mich ganz heraushob und begeisterte; ein Brignole zu Pferd, und in's Auge dieses gewaltigen Streitrosses der ganze Stolz dieser Familie gelegt — das war etwas für mein deprimirtes Menschenthum! Ich achte persönlich van Dy So kam ich wieder in's Leben zurück, und sass den übrigen Tag still und muthig in meinem Hôtel. Am nächsten Tage gab es eine andre Erheiterung. Die ganze Reise von Genua nach Mailand machte ich mit einer sehr angenehmen jungen ballerina eines Mailänder Theaters zusammen; Camilla era molto simpathica [sic],5 o Sie hätten mein Italiänisch hören sollen. Wäre ich ein Pascha gewesen, so hätte ich sie mit nach Pfäffers6 genommen, wo sie mir, bei der Versagung geistiger Beschäftigungen, etwas hätte vortanzen können. Ich bin immer noch von Zeit zu Zeit ein bischen ärgerlich über mich, dass ich ihretwegen nicht wenigstens ein paar Tage in Mailand geblieben bin.7 Nun näherte ich mich der Schweiz und fuhr die erste Strecke auf der Gotthardbahn, welche fertig geworden ist, von Como nach Lugano. Wie bin ich doch nach Lugano gekommen? Ich wollte eigentlich nicht recht, aber ich bin da. Als ich die Schweizer Grenze passirte, unter heftigem Regen, gab es einen einmaligen starken Blitz und Donnerschlag. Ich nahm es als gutes Omen hin, auch will ich nicht verschweigen, dass je mehr ich mich den Bergen näherte, mein Befinden immer besser wurde. In Chiasso entfernte sich mein Gepäck auf zwei verschiedenen Zügen von einander, es war eine heillose Verwirrung, dazu noch Dogana. Selbst die beiden Schirme folgten entgegengesetzten Trieben. Da half ein guter Packträger, er sprach das erste Schweizerdeutsch; denken Sie dass ich es mit einer gewissen Rührung hörte, ich merkte auf einmal, dass ich viel lieber unter Deutschschweizern lebe als unter Deutschen. Der Mann sorgte so gut für mich, so väterlich lief er hin und her — alle Väter sind etwas Ungeschicktes — endlich war alles wieder bei einander und ich fuhr nach Lugano weiter. Der Wagen des Hôtel du Parc erwartete mich, und hier entstand in mir ein wahres Jauchzen, so gut ist alles, ich wollte sagen, es ist das beste Hôtel der Welt. Ich habe mich etwas mit mecklenburgischen Landadel eingelassen, das ist so eine Art von Deutschen, die mir recht ist; am Abend sah ich einem improvi[sir]ten Balle der harmlosesten Art zu; lauter Engländer, alles war so drollig. Hinterdrein schlief ich, zum ersten Male gut und tief; und heute morgen sehe ich alle meine geliebten Berge vor mir, lauter Berge der Erinnerung. Seit acht Tagen hat es hier geregnet. Wie es mit den Alpenpässen steht, will ich heute auf der Post erfahren. Mir kommt auf ein Mal der Gedanke, dass ich seit Jahren keinen so langen Brief geschrieben, ebenso dass Sie ihn gar nicht lesen werden. Sehen Sie also nur in der Thatsache dieses Briefes ein Zeichen meines Besserbefindens. Wenn Sie nur den Schluss des Briefes entziffern können! Ich denke mit herzlicher Liebe an Sie, alle Stunden mehrere Male; es ist mir ein gutes Stück mütterlichen Wesens geschenkt worden, ich werde es nie vergessen. Trina8 der Guten meine besten Grüsse. Ich vertraue mehr als je auf Pfäffers und Hochgebirge. Leben Sie wohl! Bleiben Sie mir, was Sie mir waren, ich komme mir viel geschützter und geborgener vor; denn mitunter überkommt mich das Gefühl der Einöde, dass ich schreien möchte. Ihr dankend ergebener
Dritter Bericht des Wie schön hatten Seydlitzens9 mich auf's Schiff gebracht! Ich kam mir wie ein ideales Gepäckstück aus einer besseren Welt vor. 1. Nietzsche suffered from intestinal problems ever since his service in the Franco-Prussian War in 1870.
Sorrent, 16. Mai 1877: Herr Professor! Ich widerrufe alles was ich in meinem gestrigen Briefe1 gesagt habe. Ich habe ihn abgesandt ehe ich von Ihrem langen Briefe2 etwas wußte. Ich widerrufe alles. Meine reinsten und keuschesten Herzenswünsche habe ich an einen verschwendet der sie nicht — benöthigt. Ich wünsche Ihnen Glück, und bitte nur mich zu benachrichtigen wie die Gastvorstellungen in Pfäffers3 ausgefallen sind. Ich besitze ein Paar abgelegte fleischfarbene Tricots, die gewaschen des Abends noch ganz gut aussehen; ich werde sie beilegen. Es ist das letzte was Sie von mir erwarten dürfen. Nein ohne Spaß, lieber Freund, ich wünsche Ihnen zu Ihrem leichten und frohen Muth von Herzen Glück. Wir alle sind entis zückt von der frohen Stimmung die aus Ihrem Brief uns entgegen lachte. Mich wundert wo sich Ihnen der Weg über die Alpen öffnen wird. Im Hotel du Parc4 ist gut sein ich halte es für einen ausgezeichneten Gasthof. Nun genug für heute, Sie leichtsinniger Philosoph und herzlichen Gruß von Ihrem erstaunt-erfreuten Kurtheater werden in den nächsten Tagen die Ehre haben dem erstaunten Publico ihre unübertroffnen Leistungen im Gebiete des Pas de Deux simpatetico molto vorzuführen. Bestellungen auf Billets sind von Basel, Sorrento, Berlin und London bereits zahlreich eingetroffen. Pfäffers d. 16. Mai 1877 1. Sorrent, 05-15-1877: Letter from Reinhart von Seydlitz to Nietzsche in Ragaz.
Ragaz, ca. 20. Mai 1877: Eine bedeut[ende] Verschlimmerung meiner Leiden, bei der vielleicht das Frühlings-Klima in Süditalien einige Schuld trägt, zwang mich Sorrent schnell zu verlassen;1 jetzt brauche ich die Kur in Ragaz, als der erste doch schon nicht mehr einzige Badegast. Meine Einsamkeit ist groß, meine Aussichten sehr trübe, die Gegenwart verhaßt, geistige Beschäftigung jeder Art untersagt, Skrupel und Sorgen allerlei auf dem Gemüth — ein andermal von dem Allem; oder warum überhaupt davon reden? Es ist nichts. Aber nun weg von mir und hin zu Dir liebster Freund. Es ist doch dabei geblieben, daß dieses Pfingstfest, wie Du es mir früher schriebest2 Dein Hochzeitfest3 ist? Der Frühling nahm heute eine Wendung zum Überherrlichen; ich dachte Deiner lange, als ich im hellsten Grüne, in der stärkendsten Blüthenbaumluft die Vögel singen und zwitschern hörte. Mir fiel ein, daß Rée sagte, es werde selten ein so schönes Paar geben als Dich und Deine Braut, und ich glaube wohl gar, ihr werdet immer schöner. Wir Männer namentlich sind in der Gefahr, aus Verarmung der Seele uns selber unangenehm zu werden; und ich erinnere mich dessen wohl, was Du mir einmal in Basel4 sagtest, am meisten thäte Dir ein Wesen noth, an dem durch immer neue Beweise der Liebe, durch zahllose tägliche kleine und große Opfer des Eigenwillens Deine Seele wieder voll würde. Wäre ich gesund, so würde ich Dir dies etwas besser in Musik gesagt haben. So wie es steht, kann ich nicht einmal mehr schreiben; aber Du weißt und fühlst daß ein wahrer Freund mit ganzer Seele Dir seine Segenswünsche schickt und daß er traurig ist, fern sein zu müssen und Dich nicht umarmen zu können.5 1. Nietzsche left Sorrento on 05-08-1877 and arrived in Ragaz in mid-May 1877.
Jena, erste Junihälfte 1877: Lieber Freund! Ich möchte Sie gern ein bischen unterhalten; denn, wie ich fürchte, ist Ragaz nicht sehr amüsant!!! Aber Philosophie und sonstige interessantere Dinge habe ich nicht vorräthig, — weil ich mich jetzt mit Philosophie intensiv, und so beschäftige, wie ungefähr Gold- und Silberarbeiter mit ihrem Metall: sie arbeiten auf den Verkauf;1 im Übrigen, an sich ist das Gold und Silber ihnen gleichgültig. Pfui! Pfui! ein bischen nützt diese Erkenntniß für ihr Gegentheil. — Es bleibt mir also nichts übrig als, — zu klatschen. Rohdes Braut:2 ein bezauberndes Geschöpfchen, anmuthig, graciös, vielleicht nicht dumm und sehr verliebt: mehr sagen wir nicht. Rohde wäre beinah nach Heidelberg3 berufen. Wenn ich hier bleibe4 (was noch sehr zweifelhaft) hoffe ich ihn für mein Thema ordentlich auspumpen zu können. Der Titel ist etwas geändert: Prolegomena zu einer Geschichte des moralischen Bewußtseins.5 — Doch um in meiner Eigenschaft als Klatscher fortzufahren: Kuno Fischer hat gelegentlich des Umstandes, daß sein Haus hier von einem Seifensieder gekauft wurde und Eu[c]ken sein Nachfolger ist, in Wuth gesagt: mein Haus hat ein Seifensieder und mein Katheder ein Leimsieder!6 — Gestern war ein Herr Lippiner7 aus Wien bei mir. Von ihm stammt das rekommandirte Packet, auf das wir in Sorrent so vergeblich warteten.8 Inhalt: der entfesselte Prometheus. "Er hungert nach Ihnen." Aber er ist kein appetitlicher Mensch. Ich habe Ihre Adresse möglichst unbestimmt gelassen, aber ich fürchte, Sie entgehen seinem Heißhunger doch nicht. Die "Beobachtungen"9 kannte er auch. Er fragte mich, ob Sie und ich sehr verschieden in den Ansichten wären. Ich glaube, daß meine antwort sehr gut war. Ich sagte nämlich, daß Sie alle Ansichten hätten, die ich hätte, aber außerdem hätten Sie noch eine große Summe von Ansichten zu denen ich gar kein Verhältnis hätte. Rohde und ich wollen nächstens uns die Freiheit nehmen, den Ihrigen einen Besuch zu machen.10 Ich grüße Sie inniglich! Ihr 1.
Paul Rée was trying to habilitate at Jena and get a position there.
Rosenlauibad, zweite Junihälfte 1877: An diesen Ort, den das Bildchen zeigt,2 habe ich 3 Bücher mitgenommen: etwas Neues von Mark Twain3 dem Amerikaner (ich liebe dessen Albernheiten mehr als die deutschen Gescheutheiten), dann Plato's Gesetze4 — und Sie,5 lieber Freund. So bin ich wohl der Erste, der Sie in der Nähe der Gletscher liest; und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo man überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung (sich selbst sehr einbegriffen) gemischt mit Mitleiden über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark. Es ist so viel überflüssige Noth im Leben, man sollte doch am Schmerz schon genug haben. Da kommt aber alles Leidwesen noch hinzu, welches die Meinungen mit sich bringen. — Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine Meinung über uns hat. — Immer mehr bewundere ich übrigens, wie gut gewappnet Ihre Darstellung nach der logischen Seite ist. Ja so etwas kann ich nicht machen, höchstens ein bischen seufzen oder singen — aber beweisen, dass es einem wohl im Kopfe wird, das können Sie, und daran ist hundertmal mehr gelegen. Die Vaterschaft, welche mir Ihr allzuliebenswürdiges Widmungswort zuschreibt, habe ich mit ungläubigem Lächeln passiren lassen, ungefähr wie wenn — usw.6 Mein Befinden ist auch nach der Kur in Ragaz und trotz der herrlichen Hochgebirgsluft mittelmässig, bedenklich — ich weiss mir nicht recht zu helfen. Viel Erschöpfung, aber in Folge davon innerlicher Gemüths-Wurmfrass. Ich war Ihnen so dankbar für den lustigen Brief7 — und wünsche täglich ein paar Mal (auch dreimal) Sie herbei, denn ich bin ganz allein und von allen Zweisamkeiten ist mir die Ihrige eine der allerliebsten und ersehntesten. Leben Sie wohl, mein guter Freund. Ich freue mich, dass Sie Rohde in der persönlichen Nähe haben, Sie haben an ihm mehr, in jeder Beziehung, als an mir, glauben Sie mir dies auf mein ehrliches Gesicht hin; in einiger Zeit werden Sie es wissen. — Dies unter uns. Es bleibt bei der Zusammenkunft in Aeschi am Thunersee;8 Fr[äulein]. v[on]. M[eysenbug] — Monods,9 meine Schwester, ich. Von Mitte Juli an. Bis dahin bleibe ich in Rosenlaui bei Meiringen (C[an]t[on] Bern). 1. A picture at the top of the Rosenlaui Hotel stationery. For another example, see Rosenlauibad, 06-25-1877: Letter from Nietzsche to Elisabeth Nietzsche in Naumburg.
Jena, 29. Juni 1877: Mein lieber Freund! Kürzlich traf ich mit Deiner Mutter und Schwester in Kösen zusammen,1 und erfuhr, daß Du gegenwärtig im Gebirge sitzest, in hoher Luft, die Dir hoffentlich abermals recht gut thun wird. Ich denke oft mit Sorgen an Dich, mein Freund, und weiß, wie sehr Du selbst im Innern mit Sorgen und Gedanken Dich trägt. Was soll man Dir zum Troste sagen? ich wüßte nichts Andres, als daß diese schlimme Krankheit, wie sie aus verborgner Quelle plötzlich aufgesprungen ist, auch ebenso plötzlich wieder resorbirt werden kann. Hoffentlich bist Du selber von der Absicht, von der mir Rée sprach,2 zurückgekommen, Deine Professur schon nächstens niederzulegen. Ertrage noch eine Weile die Pein einer ungenügenden Pflichterfüllung, und erhalte Dir die Möglichkeit, in Deine Pflichten wieder einzutreten — und ist es nicht Deine sichtbare Pflicht, Deine große Gabe der Wirkung auf die Jugend anzuwenden und auszubilden! —; Du kannst jeden Augenblick austreten, aber dann wohl nie wieder eintreten. In Basel verlangt sicher kein Mensch so übereilte Aufgabe Deiner Stelle von Dir. — Also fasse, über die gegenwärtige Misère hinweg, das Ganze Deines Lebens mehr ins Auge, und harre noch eine Zeit lang aus. Interim aliquid fiet.3 — Ich wälze hier mein Faß,4 nach wie vor, nicht unzufrieden mit meiner Stellung, aber oft genug mit mir. Ich weiß nicht, ob das anders werden wird, wenn ich meine kleine Braut heimgeführt haben werde:5 ich bin ein so unbändiger Mensch, daß ich von mir selbst meist nichts Bestimmtes voraussagen kann. Aber das kleine Mädchen liebt mich so sehr, und hat ein so inniges, still aufnehmendes Wesen, daß ich hoffe, wir finden uns sehr gut in einander. — Rée ist, da seine Schrift6 dem Curator7 und Sanct Eucken8 Entsetzen einflösste, nach dem väterlichen Gut, Stibbe bei Tüz, Westpreußen, gereist, um dort seine Habilitationsschrift zu machen. Hoffentlich kommt er uns wieder: ich wünsche ihn mir sehr hierher. Deinen Brief9 habe ich ihm zugeschickt. — Mit Heidelberg10 ist es nichts geworden; es thut mir leid. — Im August heirathe ich, und reise vermuthlich nach Paris.11 Apropos! Neulich war ein Herr Siegfried Lipiner12 hier, ein Freund des hiesigen Privatdocenten der Philosophie Volkelt.13 Einer der schiefbeinigsten aller Juden aber mit einem nicht unsympathischen, schüchtern sensibeln Zuge in seinem gräulichen Semitengesicht.14 Er ist ein großer Verehrer Deiner Schriften,15 Mitglied eines Wiener "Nietzscheverein," schwärmte förmlich von Dir, und behauptet, Dir ein Buch "Der entfesselte Prometheus"16 zugeschickt zu haben. Ich soll anfragen, ob Du es bekommen habest: wenn nicht, wolle er Dir alsbald ein zweites Exemplar zuschicken. Bitte, schreibe es mir bald und mache eventuell den p[ater]p[atriae] Prometheus-Lipiner durch einen Brief zu dem glücklichsten aller schiefbeinigen Judenjungen. Derselbe hat so den Vorzug, trotz ärmlicher Verhältnisse sich nicht habilitiren zu wollen. Adresse: Schloß Ethersberg (ein Badeort) in Thüringen. Addio, mein geliebter Freund. Könnte ich nur bisweilen in Deiner Nähe sein, und in Deinem Wesen und Deinen Worten mich nobilisieren! dein E. Rohde. 1. On 06-17-1877.
Rosenlauibad, 29. Juni 1877: Liebe, liebe Schwester den besten Dank. Alles sehr gut ausgedacht. Ich kann kaum die Zeit unseres Wiedersehens1 erwarten, es kommt mir noch so ferne vor. Eine gewisse Veränderung der Pläne wird durch Fr[äu]l[ein]. v[on]. M[eysenbug]'s Wort auf ihrer letzten Karte hervorgerufen "aber Nat[alie] müssen wir total von der Liste streichen, sie hat mir neulich wieder zufällig ihre feste Ansicht in der Beziehung mitgetheilt."2 Es kommt übrigens niemand nach Äschi ausser Monods3 und Fr[äu]l[ein]. v[on]. M[eysenbug]. Mit den andern "Wesen" ist alles Phantasie und Hirngespinst. Nun ist mir Aeschi wirklich zu niedrig (niedriger als die Frohburg) ich werde mich jetzt, wo keine höheren Zwecke vorliegen, darauf beschränken, dort einen Besuch zu machen. — Wagner's kommen nächstens nach Selisberg am Vierwaldst[ättersee], Fr[äu]l[ein]. v[on]. M[eysenbug] geht bis zum 20 Juli dorthin, bis Olga in Aeschi eintrifft. Ich werde vernünftiger Weise auch dorthin nicht gehen; denn ich muss jetzt nur ein Ziel haben, bis zum Herbst wieder arbeitsfähig zu werden. Wagner's Nähe ist nicht für Kranke, das zeigte sich auch in Sorrent.4 Übrigens graut mir vor Basel, wo ich wie in einer Verpuppung leben muss und wirklich nervenschwach und melancholisch geworden bin. Sie schätzen mich; aber was habe ich mit ihnen gemein? Was kann ich ihnen, was sie mir nützen? — Das lässt sich aber vorläufig nicht ändern. Aber noch mehr abschliessen müssen wir uns, namentl[ich] vor den Deutschen (Overbeck klagte5 sehr über Immermann's,6 seine Frau hat ihm "die rechten Gesichtspuncte gegeben"; auch die "flachen" Miaskow[s]ky's7 sind wieder da!!) Denke Dir, ich habe wieder an B[ertha] R[ohr]8 in Basel gedacht, sie stimmt zuletzt doch am besten für meinen Baseler Nothwehr-Zustand. Bitte, erkundige dich doch sofort wo sie diesen Sommer zu finden ist. Gegen den Genfer Gedanken (Kl. K[öckert] habe ich manches einzuwenden, der Vater gefällt mir nicht, ich glaube es ist ein etwas verrufener Geschäftsmann. Und dann — wo ist Vermögen? Vielleicht eines Tages Bankerott. Mutter sehr geizig.9 Also Deinen Geburtstag!10 Mir ist es ungefähr gleich, Bern oder Luzern, ich möchte nur meine späteren Pläne damit verbinden. Denn auf die Dauer bleibe ich nicht in Rosenl[auibad],11 es ist wie Du Dir denkst, auf und ab.12 Sonst sehr gut. Ich gebrauche die Kur von St. Moritzer Wasser. Grüsse unsere gute Mutter und danke ihr sehr für Ihren Brief.13 Schreib mir doch, bevor Du abreist. Auch, wohin ich Dir nach Basel schreiben soll. In Treue und Liebe F. 1. Nietzsche met his sister in Lucerne on 07-10-1877 and then stayed with her at the Felsenegg Pension in Zug from 07-12-1877 to 07-19-1877. Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Rosenlauibad, 1. Juli 1877: Hochverehrte Freundin, es hat mich betrübt, dass mein ausführlicher Reiseplan in Betreff des Splügen zu spät nach Florenz gelangt ist, wahrscheinlich nur um Einen Tag zu spät. Ich glaubte nicht, dass Sie so schnell von dort aufbrechen würden. (Diese Dinte ist schrecklich, und ich habe sie mir eigens kommen lassen! Aber man hat sie gefälscht, alle Lebensmittel sind in der ganzen Welt unecht und Dinte ist doch für uns ein Lebensmittel!)1 So! jetzt geht es besser.2 — Ich bedaure sehr, dass das Reisen Ihnen so schlecht bekommen ist; in der That, das muss aufhören und die Vielen, welche Sie lieben, müssen sich ein bischen bemühen und über die Alpen steigen.3 Aeschi,4 glaube ich, wird Ihnen entsprechen, es ist dem Clima nach ähnlich wie Sorrent, natürlich etwas alpiner: aber eine ähnliche Mischung von guter Berg- Wald- und Seeluft. Für meine Bedürfnisse ist es, so lange die ganz heisse Zeit währt, freilich viel zu niedrig, ich kann also erst später hinkommen. Das Hochgebirge hat immer einen wohlthätigen Einfluss auf mich gehabt. Zwar liege ich hier auch krank zu Bett wie in Sorrent und schleppe mich Tagelang unter Schmerzen herum, aber je dünner die Luft, umso leichter trage ich es. Jetzt habe ich eine Kur mit St. Moritzer Wasser begonnen, die mich mehrere Wochen beschäftigen wird. Es wurde mir sehr empfohlen, nach Ragatzer Kur in die Höhe zu gehn und dies Wasser zu trinken; als Mittel gegen eingewurzelte Neurosen gerade in dieser Combination mit Ragatz. Bis zum Herbst habe ich nun noch die schöne Aufgabe, mir ein Weib zu gewinnen, und wenn ich sie von der Gasse nehmen müsste:5 die Götter mögen mir Munterkeit zu dieser Aufgabe geben! Ich hatte wieder ein ganzes Jahr zum Überlegen und habe es unbenutzt verstreichen lassen; und doch weiss ich längst, dass ohne diess auch nicht einmal auf eine Milderung meiner Leiden zu rechnen ist.6 Im October bin ich entschlossen wieder nach Basel zu gehn und meine alte Thätigkeit aufzunehmen. Ich halte es nicht aus ohne das Gefühl nützlich zu sein; und die Baseler sind die einzigen Menschen, welche es mich merken lassen, dass ich es bin. Meine sehr problematische Nachdenkerei und Schriftstellerei hat mich bis jetzt immer krank gemacht; so lange ich wirklich Gelehrter war, war ich auch gesund; aber da kam die nervenzerrüttende Musik7 und die metaphysische Philosophie und die Sorge um tausend Dinge, die mich nichts angehen. Also ich will wieder Lehrer sein: halte ich’s nicht aus, so will ich im Handwerk zu Grunde gehn. Ich erzählte Ihnen, wie Plato diese Dinge auffasst. — Meine besten Wünsche und Grüsse für die unermüdlichen Bayreuther.8 (ich bewundere alle Tage dreimal ihre Tapferkeit) Bitte beruhigen Sie mich über das Londoner Gesammtergebniss, man erzählte mir etwas sehr Schlimmes.9 Wie gern unterhielte ich mich mit Frau W[agner], es ist immer einer meiner grössten Genüsse, und seit Jahren bin ich ganz darum gekommen! — Ihre mütterliche Güte giebt Ihnen das traurige Vorrecht, auch Jammer-Briefe zu bekommen! Overbeck hat keineswegs mir zugerathen, nach B[asel] zu gehen. Wohl aber meine Schwester, die mehr Vernunft hat als ich. Es müssen mehrere Karten (von mir an Sie) nicht angekommen sein. Leben Sie wohl, recht wohl! Ihnen herzlich ergeben 4000 Fuss aber wie geschützt, mild, gut für die Augen! 1. A pun on Lebensmittel, "food": Aber man hat sie gefälscht, alle Lebensmittel sind in der ganzen Welt unecht und Dinte ist doch für uns ein Lebensmittel! Nietzsche's point being since everything being produced is geting more and more artificial, the least they could do is provide him with real ink.
Rosenlaui bei Meiringen, Berner Oberland, Seit einigen Tagen habe ich mich nun wieder von unsrer lieben Elisabeth getrennt, wir hatten uns soviel zu sagen; ich fand sie wohler als je.1 Jetzt will ich nun still hier in der Höhe die Ankunft des Herbstes erwarten und dann nach Basel zurück. Herzl[ichen] Dank für die ausführl[iche] Erzählung von Lipiner.2 Mein Befinden ist immer noch wenig versprechend, ach, die Augen!! ich sehe mit Besorgniss dem Winter entgegen. In Meiringen fand ich einen Arzt3 aus Frankfurt (er hatte alle meine Schriften4 bei sich) und consultirte ihn. Das Zusammenkommen mit Frl. v. M[eysenbug] ist bis jetzt missglückt.5 Es gab zu schlechtes Wetter. Mit den besten Grüssen und Wünschen Dein Sohn.
1. Nietzsche met his sister in Lucerne on 07-10-1877 and then stayed with her at the Felsenegg Pension in Zug from 07-12-1877 to 07-19-1877.
Rosenlauibad, Ende Juli 1877: Lieber Herr Doktor, ich war von Rosenlaui ein paar Wochen abwesend: bei der Rückkehr fand ich mich durch Sie so reich beschenkt, daß ich zwei drei Tage laufen lassen mußte, um den Schatz ganz zu heben.1 Es gieng mir alles so recht zu Herzen und Sinnen, was Sie schrieben; namentlich danke ich Ihnen für die Schilderung des "Abends" und der Vorbereitung dazu,2 ich glaube sogar es flossen meine Thränen dabei; was ich Ihnen nur erzähle, um zu beweisen, daß ich Ihnen nicht sehr fern stehe, mag geschehen und gesagt worden sein, was da wolle.3 Überhaupt: mir scheint doch dabei etwas Gutes herausgekommen zu sein, daß ich damals, in einer so unerquicklichen und harten Weise, mein Herz erleichterte: denn ich fühle es jetzt zu deutlich, daß meine Empfindung für Sie verändert ist, in's Hoffnungsreiche, Freudige. (Ein Skeptiker würde sagen: da sieht man, was einige Gran Unrecht in der Einen Wagschale nützen können.) Das Übrige wollen wir nun einer persönlichen Begegnung überlassen, welche hoffentlich nicht mehr in weiter Ferne zu suchen ist. Komme ich nach Basel (Anfang September, denke ich), so soll auch meinerseits an Volkland ein Wort gerichtet werden.4 Es war zweifelhaft, ob ich wieder zurückkehren würde: denn ich habe, noch in diesem Frühjahr, ernstlich in Erwägung ziehen müssen, ob nicht meine Baseler Stellung aufzugeben sei; auch jetzt stehe ich mit Besorgniß vor dem nächsten Winter und seiner Thätigkeit: es wird ein Versuch, ein letzter sein. Von Oktober bis Mai war ich in Sorrent, zusammen mit drei Freunden5 — und — meinen Kopfschmerzen. Ich nenne Ihnen die verehrte Freundin,6 welche mütterlich dort für mich sorgte: es ist die Verfasserin der anonym erschienenen "Memoiren einer Idealistin" (bitte, lesen Sie dies ganz und gar ausgezeichnete Buch und geben Sie es Ihrer Frau Gemahlin!)7 Ihre rhythmische Taktzählung ist ein bedeutender Fund reinen Goldes, Sie werden viele gute Münzen daraus schlagen können. Mir fiel ein, daß ich, beim Studium der antiken Rhythmik, 1870, auf der Jagd nach 5- und 7taktigen Perioden war und die Meistersinger und Tristan durchzählte: wobei mir einiges über W[agner]'s Rhythmik aufgieng.8 Er ist nämlich so abgeneigt gegen das Mathematische, streng Symmetrische (wie es im Kleinen der Gebrauch der Triole zeigt, ich meine sogar das Übermaaß im Gebrauch derselben) daß er mit Vorliebe die 4taktigen Perioden in 5taktige verzögert, die 6taktigen in 7taktige (In den Meistersingern, III. Akt, kommt ein Walzer vor: sehen Sie zu, ob da nicht die Siebenzahl regiert). Mitunter — aber es ist vielleicht crimen laesae majestatis — fällt mir die Manier Bernini's ein,9 der auch die Säule nicht mehr einfach erträgt, sondern sie von unten bis oben durch Voluten wie er glaubt lebendig macht. Unter den gefährlichen Nachwirkungen W[agner]'s scheint mir "das Lebendig-machen-wollen um jeden Preis" eine der gefährlichsten: denn blitzschnell wird's Manier, Handgriff. Ich habe immer gewünscht, es möchte Einer, der es kann, einmal Wagners verschiedne Methoden innerhalb seiner Kunst einfach beschreiben, historisch-schlicht sagen, wie er es hier, wie dort macht. Da erweckt nun das aufgezeichnete Schema, welches Ihr Brief enthält, alle meine Hoffnungen: gerade so einfach thatsächlich müßte es beschrieben werden. Die Andern, welche über Wagner schreiben, sagen im Grunde nicht mehr, als daß sie großes Vergnügen gehabt und dafür dankbar sein wollen; man lernt nichts. Wolzogen scheint mir nicht Musiker genug zu sein; und als Schriftsteller ist er zum Todtlachen, mit seiner Confusion artistischer und psychologischer Sprechweise.10 Könnte man übrigens, an Stelle des unklaren Wortes "Motiv" nicht sagen "Symbol"? Etwas anderes ist's ja nicht. — Wenn Sie an Ihren "musikalischen Briefen" schreiben, so wenden Sie doch so wenig als möglich Ausdrücke aus der Schopenhauerschen Metaphysik an; ich glaube nämlich — Verzeihung! ich glaube, ich weiß es — daß sie falsch ist, und daß alle Schriften, welche mit ihr abgestempelt sind, bald einmal unverständlich werden möchten. Später darüber mehr, und auch dies nicht brieflich. — Über verschiedne meiner Bayreuther Eindrücke, aesthetische Grundprobleme berührend, möchte ich auch mit Ihnen mündlich mich verständigen, zum Theil mich von Ihnen beruhigen lassen. Ihren "Briefen" sehe ich mit solcher hungriger Erwartung entgegen, daß ich nicht einmal mich entscheiden kann, ob ich lieber Ihre Aufschlüsse über Beethovens Stil, Takt, Dynamik u.s.w. zuerst in Händen hätte oder Ihren Lehr- und Leitfaden durch die Nibelungen-Noth11 (denn Noth macht alles, was nibelungenhaft ist). Am allerliebsten speiste ich beide Bissen auf einmal und wollte mich dann gerne, der Boa gleich, in die Sonne legen, um still einen Monat lang zu verdauen. Aber nun sagen die Augen: höre auf! Können Sie die Blätter noch eine Zeit entbehren? Oder ist's besser, daß ich sie gleich schicke? — Ich bleibe noch vier Wochen in Rosenlaui. Mehr noch nach wie vor Ihr 1. In the second week of July, Fuchs wrote Nietzsche a letter that was 60 pages long!
Rosenlauibad, Anfang August 1877: Lieber Freund, wie spät bekommst Du den Dank für das Geschenk Deines Buches!1 Aber meine Reisen und indirekt also das, was diese Unbeständigkeit des Aufenthaltes nöthig machte, meine Gesundheit — denn ich bin seit October vorigen Jahres nicht mehr in Basel, sondern überall (namentlich in Süditalien und Hochalpen) gewesen: diese angegebenen Umstände liessen Dein Werk erst spät in meine Hände gelangen. Im Herbst will ich das Experiment machen, meine Baseler Stellung wieder wie früher einzunehmen: viel Vertrauen hab ich nicht. Viel Schmerzen (in Folge einer chronisch gewordenen Kopf-Neuralgie) waren inzwischen mein Loos, ihr Ertragen meine Hauptthätigkeit. Du hast Deine Jahre sehr gut angewendet: strenger Wille des Lernens, erworbene Deutlichkeit und entschiedene Befähigung zur Mittheilung — welche viell[eicht] im mündl[ichen] Vortrag noch auf einer höhern Stufe stehen mag —: davon redet jede Seite Deines Buches. Allen denen, welchen es nütze ist Schopenhauer kennen zu lernen, namentl[ich] aber denen, welche sich selber über ihre Kenntniss desselben controliren wollen, hast Du einen ausgezeichneten Leitfaden in die Hand gegeben; jeder Leser findet ausserdem von Dir so manches darin für das er dankbar sein muss (namentl[ich] aus dem schwer zugänglichen Gebiete der indischen Studien) Ich, ganz persönlich, beklage eins sehr: dass ich nicht eine Reihe Jahre früher ein solches Buch, wie das Deine, empfangen habe! Um wie viel dankbarer wäre ich Dir da gewesen! So aber, wie nun die menschl[ichen] Gedanken ihren Gang gehen, dient mir seltsamerweise Dein Buch als eine glückliche Ansammlung alles dessen, was ich nicht mehr für wahr halte. Das ist traurig! Und ich will nicht mehr davon sagen, um Dir nicht mit der Differenz unserer Urtheile Schmerz zu machen. Schon als ich meine kleine Schrift über Sch[openhauer]2 schrieb, hielt ich von allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht mehr, dass er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll. — Lebe wohl, lieber Freund und verzeih meinen Augen, welche mehr zu schreiben verbieten. Dein F. Sende ein Exemplar an Dr. Romundt Gymnasiallehrer in Osnabrück.3 Ich bin bis Ende August in Rosenlauibad bei Meiringen Berner Oberland, von da an: in Basel. 1. Paul Deussen, Die elemente der metaphysik. Als Leitfaden zum Gebrauche bei Vorlesungen sowie zum Selbststudium zusammengestellt von Dr. Paul Deussen, Privat-Docenten an der Polytechnischen Schule zu Aachen. Aachen: Mayer, 1877.
Jena, 3. August 1877: So sende ich Ihnen denn, hochverehrter Mann, zum zweiten Male meinen Prometheus,2 der Ihnen so viel zu verdanken hat. Ohne Phrase: Es würde mich geradezu glücklich machen, wenn Sie in mir wenigstens den Keim zu etwas Tüchtigem erblicken sollten. Morgen fahre ich mit Rohden nach Rostock.3 Wohin ich mich dann wende, weiss ich noch nicht. Jedenfalls bitte ich, wenn Sie mich durch ein Schreiben erfreuen wollten, zu adressieren: S. L. bei Miss Jessie Giles, Wien, II. Praterstrasse, 48, 2. Stiege, 3. Stock. Vergeben Sie die dumme Dedication.4 Sie ist ein Barbarismus, in kindlicher Unwissenheit begangen. Möge Ihre theuere Gesundheit recht, recht bald wiederhergestellt sein! Leben Sie herzlich wol und empfangen Sie die aufrichtige Versicherung, dass Sie Niemand inniger verehren, ja lieben kann, als Ihr Lipiner 1. Siegfried Lipiner (born Salomo Lipiner, 1856-1911): Jewish Viennese writer. According to a lost letter from Franziska Nietzsche in Naumburg to Nietzsche in Sorrento, Lipiner, trying to meet Nietzsche, turned up in Naumburg sometime in the first third of July 1877. Lipiner was a member of the student organization at the University of Vienna, the "Leseverein der deutschen Studenten Wiens" (the group existed from 1872-1878). Amidst its members, he had assumed leadership of the "Pernerstorfer circle," or the so-called "Nietzsche Society." Earlier overtures by the group to Nietzsche were made in April and June 1876 by another member, Joseph Ehrlich. For more information on the "Pernerstorfer circle," see Aldo Venturelli, "Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien." In: Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Berlin; New York: de Gruyter, 2003, 257-290 (also in Nietzsche-Studien, 13 (1984): 448-480). William J. McGrath, "Mahler and the Vienna Nietzsche Society." In: Jacob Golomb, ed., Nietzsche and Jewish Culture. London: Routledge, 1997, 218-232. Reinhard Gasser, "Kontakte mit Nietzsche-Verehrern in der Studentenzeit." In: Nietzsche und Freud. Berlin; New York: de Gruyter, 1997, 7-29. For more details on Lipiner, see Siegfried Mandel, "The Lipiner Interlude." In: Nietzsche & the Jews. Exaltation & Denigration. Amherst: Prometheus, 1998, 123-136. Cf. 04-02-1884 letter to Franz Overbeck.
Rosenlauibad, 7. August 1877: Liebe Schwester, herzl[ichen] Dank für gute Nachrichten. Dr. Eiser und Frau besuchten1 mich 4 Tage hier, sehr angenehme Beziehungen mit Frankfurt entstanden, ich habe versprechen müssen, sie im Winter einmal zu besuchen.2 Sodann ist mir ein Engländer mit seiner Familie sehr nahe getreten (Professor an der Universität zu London Ms Croom Robertson (mit nächsten Beziehungen zu Darwin Tylor Spencer, allen philos[ophischen] Grössen Engl[and]s überhaupt)[.]3 Werden uns im nächsten Sommer in Basel besuchen.4 Dann war Kaiser und Kaiserin v[on] Brasilien hier im Hause.5 Ein Freund6 Lipiner's7 hat sich hier niedergelassen. Freitag8 lag ich zu Bett. Im Ganzen geht es gut. Wenn es Dir nur gut geht! Von Herzen. 1. Otto Eiser (1834-1898) and his wife Sophie visited Nietzsche in Rosenlauibad from 07-29-1877 to 08-01-1877. Eiser was a Frankfurt doctor, and admirer of Nietzsche and Richard Wagner. He examined Nietzsche in October 1877, and disclosed to him a letter from Richard Wagner opining on the cause of Nietzsche's poor health namely, masturbation. According to a friend of Eiser, Eiser admitted that this was the real cause of Nietzsche's break with Wagner. See Sander L. Gilman, "Otto Eiser and Nietzsche's Illness: A Hitherto Unpublished Text." In: Nietzsche Studien (2009) 38:396-409. Dr. Eugen Kretzer. "Erinnerungen an Dr. Otto Eiser." (Memories of Dr. Otto Eiser.) Ca. 1912. Excerpt: "Auf meine Veranlassung hat die Witwe Dr. Eisers einem der Briefe Richard Wagners an ihren verstorbenen Gatten besondere Fürsorge zugewendet. Den Inhalt dieses Briefes kennt, wie sie mir sagte, außer mir nur Hr Geheimrat Dr. Henry Thode, sonst niemand. Sie hat ihn dem Hause Wahnfried übersandt, und dort ist und bleibt er fortan deponiert. Ich billige das durchaus. Er sollte der Öffentlichkeit stets vorenthalten werden. Richard Wagner schrieb diesen Brief, als er erfuhr, daß Dr. Eiser seinen jungen Freund kennen gelernt hatte und ärztlich beriet. In treu besorgter, wahrhaft väterlicher Weise teilt er darin dem gemeinsamen ärztlichen Freund seine Hypothese über die Ursache von Nietzsches Erkrankung mit. 'Warum Nietzsche von Wagners abfiel?,' meinte Eiser einst: – 'ich weiß es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge, Nietzsche war außer sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.'" (At my instigation, Dr. [Otto] Eiser's widow took special care of one of Richard Wagner's letters to her deceased husband. As she told me, "The contents of this letter are known only to me, privy councilor Dr. Henry Thode, no one else." She sent it to the Wahnfried house [Wagner's villa in Bayreuth], and it is and will be deposited there from now on. I absolutely approve of that. It should always be withheld from the public. Richard Wagner wrote this letter when he learned that Dr. Eiser had met his young friend [Nietzsche] and gave him medical advice. In a faithful, truly fatherly way, he shares his hypothesis about the cause [i.e., masturbation] of Nietzsche's illness with his mutual medical friend. "Why did Nietzsche break away from Wagner?" Eiser once said: – "I alone know, because this break took place in my house, in my [examining] room, when I informed Nietzsche about that letter with the best of intentions. The result was an outbreak of rage, Nietzsche was beside himself: – the words that he found for Wagner cannot be repeated. – At that moment the break was sealed.") Cf. Naumburg, Early January 1880: Letter to Otto Eiser in Frankfurt. In German. In English.
Rosenlauibad, 10. August 1877: Herzl[ichen] Dank, ja wer so unterhalt Dein F 1. Naumburg, 08-02-1877: Letter from Franziska Nietzsche to Nietzsche in Rosenlauibad.
Rosenlauibad, 10. August 1877: Liebe Lisbeth, inzwischen hat mich Dr. Eiser mit Frau auf 4 Tage besucht, sehr angenehm!1 Ebenso war Monod und Olga hier;2 ein wunderhübsches Bild3 der 2 Kinder habe ich für Dich bekommen. Seydlitzens sind in Faulensee und kommen dann hierher.4 Kaiser und Kaiserin v[on] Brasilien waren hier im Hause.5 Auch ein Freund6 v[on] Lipiner.7 Sehr gutes Wetter. Mir thut nichts so wohl wie Hochgebirge. Einen Tag zu Bett gelegen. Im Ganzen viel besser als in Felsenegg.8 Langer Brief unsrer Mutter.9 Ich bleibe bis Ende August10 hier (werde aber noch Geld brauchen!) Adieu meine Gute Liebe! Dein B[ruder]. 1. Otto Eiser (1834-1898) and his wife Sophie visited Nietzsche in Rosenlauibad from 07-29-1877 to 08-01-1877. Eiser was a Frankfurt doctor, and admirer of Nietzsche and Richard Wagner. He examined Nietzsche in October 1877, and disclosed to him a letter from Richard Wagner opining on the cause of Nietzsche's poor health namely, masturbation. According to a friend of Eiser, Eiser admitted that this was the real cause of Nietzsche's break with Wagner. See Sander L. Gilman, "Otto Eiser and Nietzsche's Illness: A Hitherto Unpublished Text." In: Nietzsche Studien (2009) 38:396-409. Dr. Eugen Kretzer. "Erinnerungen an Dr. Otto Eiser." (Memories of Dr. Otto Eiser.) Ca. 1912. Excerpt: "Auf meine Veranlassung hat die Witwe Dr. Eisers einem der Briefe Richard Wagners an ihren verstorbenen Gatten besondere Fürsorge zugewendet. Den Inhalt dieses Briefes kennt, wie sie mir sagte, außer mir nur Hr Geheimrat Dr. Henry Thode, sonst niemand. Sie hat ihn dem Hause Wahnfried übersandt, und dort ist und bleibt er fortan deponiert. Ich billige das durchaus. Er sollte der Öffentlichkeit stets vorenthalten werden. Richard Wagner schrieb diesen Brief, als er erfuhr, daß Dr. Eiser seinen jungen Freund kennen gelernt hatte und ärztlich beriet. In treu besorgter, wahrhaft väterlicher Weise teilt er darin dem gemeinsamen ärztlichen Freund seine Hypothese über die Ursache von Nietzsches Erkrankung mit. 'Warum Nietzsche von Wagners abfiel?,' meinte Eiser einst: – 'ich weiß es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge, Nietzsche war außer sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.'" (At my instigation, Dr. [Otto] Eiser's widow took special care of one of Richard Wagner's letters to her deceased husband. As she told me, "The contents of this letter are known only to me, privy councilor Dr. Henry Thode, no one else." She sent it to the Wahnfried house [Wagner's villa in Bayreuth], and it is and will be deposited there from now on. I absolutely approve of that. It should always be withheld from the public. Richard Wagner wrote this letter when he learned that Dr. Eiser had met his young friend [Nietzsche] and gave him medical advice. In a faithful, truly fatherly way, he shares his hypothesis about the cause [i.e., masturbation] of Nietzsche's illness with his mutual medical friend. "Why did Nietzsche break away from Wagner?" Eiser once said: – "I alone know, because this break took place in my house, in my [examining] room, when I informed Nietzsche about that letter with the best of intentions. The result was an outbreak of rage, Nietzsche was beside himself: – the words that he found for Wagner cannot be repeated. – At that moment the break was sealed.") Cf. Naumburg, Early January 1880: Letter to Otto Eiser in Frankfurt. In German. In English.
Rosenlauibad, 24 August 1877: [+ + +] Also: Von jetzt an glaube ich, dass es einen Dichter giebt.3 [+ + +] sagen Sie mir sodann ganz unbefangen, ob Sie in Hinsicht auf Herkunft in irgend einer Beziehung zu den Juden4 stehen. Ich habe nämlich neuerdings so manche Erfahrungen gemacht, die mir eine sehr grosse Erwartung gerade von Jünglingen dieser Herkunft erregt hat.5 [+ + +] erst wenn mein Buch6 erschienen ist, wünsche ich, aber dann auch ganz dringend Ihre persönliche Begegnung: Vor dem wären zu viele Präliminarien nöthig, um sich nicht misszuverstehen — und ich habe wenig Zeit. — [+ + +] 1. The letter is lost. This fragment comes from a description in a 1934 autograph shop catalog in Vienna: V. A. Heck (today: Antiquariat Heck) no. 58, lot 58. Described as a four-page letter (signed "Friedrich Nietzsche"), it is briefly outlined with partial quotations, and mentions that Nietzsche discussed Human, All Too Human. The letter remained unsold, and was subsequently returned in 1936 to its unknown owner.
Rosenlauibad, 25. August 1877: Den herzlichsten Dank für die Sendung.1 Ich habe eine unbeschreibliche Freude durch die Dichtung L[ipiner]'s2 gehabt, sie ist ersten Ranges, er selber ein wirklicher Dichter, seine Jugend rein wunderbar bei alledem. Nun du mir sagst, dass er auch als Mensch liebenswerth ist, so ist es ja ein überreicher Gewinn, den ich da auf einmal mache. Dies in Kürze Dein F. 1. Franziska Nietzsche forwarded to Nietzsche a book by Siegfried Lipiner, Der entfesselte Prometheus. Eine Dichtung in fünf Gesängen. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1876. Lipiner had initially sent his book to Nietzsche's house in Naumburg.
Rosenlauibad, 28. August 1877: Lieber lieber Freund, wie soll ich es nur nennen — immer wenn ich an Dich denke, überkommt mich eine Rührung; und als mir neulich jemand schrieb "Rohdens junge Frau ein höchst liebliches Wesen, dem die edle Seele aus allen Zügen hervorleuchtet"1 da habe ich sogar Thränen vergossen, ich weiss gar keinen haltbaren Grund dafür anzugeben. Wir wollen einmal die Psychologen fragen; die bringen am Ende heraus, es sei der Neid, dass ich Dir Dein Glück nicht gönne oder der Ärger darüber, dass mir jemand meinen Freund entführt habe und nun Gott weiss wo in der Welt, am Rhein oder in Paris,2 verborgen halte und ihn gar nicht wieder herausgeben wolle! Als ich neulich meinen Hymnus an die Einsamkeit3 im Geiste mir vorsang, war es mir plötzlich als ob Du meine Musik gar nicht möchtest und durchaus ein Lied auf die Zweisamkeit verlangtest: am Abend darauf spielte ich auch eins, so gut ich es verstand, und es gelang mir: so dass alle Englein mit Vergnügen hätten zuhören können, die menschlichen Englein zumal. Aber es war in einer finstern Stube, und niemand hörte es: so muss ich Glück und Thränen und Alles in mich verschlucken. Soll ich Dir von mir erzählen? Wie ich immer, schon 2 Stunden bevor die Sonne in die Berge kommt, unterwegs bin, und dann namentlich in den langen Schatten des Nachmittags und Abends? Wie ich mir vielerlei ausgedacht habe und mir so reich vorkomme, nachdem dies Jahr mir endlich einmal erlaubt hat, die alte Moosschicht täglichen Lehr- und Denkzwanges einmal abzuheben? So wie ich hier lebe, ertrage ich es selbst mit allen Schmerzen, die mir freilich auch auf die Höhe gefolgt sind — aber dazwischen giebt es so viele glückliche Erhebungen des Gedankens und der Empfindung. Ganz neuerdings erst erlebte ich durch den "entfesselten Prometheus"4 einen wahren Weihetag: wenn der Dichter nicht ein veritables "Genie" ist, so weiss ich nicht mehr, was eins ist: alles ist wunderbar, und mir ist als ob ich meinem erhöhten und verhimmlischten Selbst darin begegnete. Ich beuge mich tief vor einem, der so etwas in sich erleben und herausstellen kann. In drei Tagen gehe ich nach Basel zurück. Meine Schwester ist dort bereits mit Einrichten tüchtig beschäftigt.5 Der treue Musiker Köselitz zieht in meine Behausung und will die Dienste eines hülfreichen Schreiber-Freundes übernehmen.6 Mir graut etwas vor diesem Winter; es muss anders werden. Jemand, der täglich nur wenig Zeit für seine Hauptsachen und fast alle Zeit und Kraft für Pflichten auszugeben hat, die andre so gut besorgen können wie er — ein solcher ist nicht harmonisch, mit sich im Zwiespalt — er wird endlich krank. Wenn ich Wirkung auf die Jugend habe, so verdanke ich sie meinen Schriften,7 und diese meinen abgestohlenen Stunden, ja den durch Krankheit eroberten Interimszeiten zwischen Beruf und Beruf.8 — Nun, es wird anders: si male nunc, non olim sic erit.9 Inzwischen möge das Glück meiner Freunde wachsen und blühen, es thut mir immer herzlich wohl an Dich zu denken, mein geliebter Freund (ich sehe dich eben an einem rosenumgränzten See und einen schönen weissen Schwan auf Dich zuschwimmen)[.] In brüderlicher Liebe Dein F. 1. The quoted passage is found verbatim in a letter from Siegfried Lipiner to Franziska Nietzsche dated August 20, 1877. See GSA 100/618.
Rosenlauibad, 28. August 1877: Gleich wieder schreiben und danken, für B[uch] und G[eld],1 aber auf Kärtchen, hilft nichts!2 Eben vom Krankenbette wieder auferstanden, schmerzende Augen, trotzdem 6 Briefe und Karten heute morgen abzumachen. Ich bin immer wüthend, wenn ich daran denke: Correspondenz mit 30 und mehr Personen, ausser dem Zufälligen: dabei Nr. 2 Brille; Blindheit irgendwann unvermeidlich; tägliche Augenschmerzen; höchstens 1½ Stunde jeden Tag noch Augenlicht für Lesen und Schreiben (für meine Pflichten und Hauptsachen!) ich glaube Du denkst Dir's nicht schlimm genug. — An Lip[iner] nach Wien geschrieben.3 Sonnabend nach Basel.4 Könnte ich doch auf der Höhe hier noch bleiben! Der Winter wird schlimm. — Im Frühjahr also auf Wiedersehen bei mir?5 Adieu meine liebe Mutter. F. Unzureichend frankirt, 65 ct. nachgezahlt. 1. Franziska Nietzsche sent him 100 Marks (cf. Basel, 08-28-1877: Letter from Elisabeth Nietzsche to Nietzsche in Rosenlauibad). The book referred to is probably Siegfried Lipiner, Der entfesselte Prometheus. Eine Dichtung in fünf Gesängen. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1876.
Rosenlauibad, 29. August: (ach, übermorgen muss ich fort! nach dem alten Basel wieder!) Liebe liebe Freundin ich will meine Bergeinsamkeit nicht verlassen, ohne Ihnen wieder einmal brieflich zu sagen, wie gut ich Ihnen bin. Wie unnütz, dies zu sagen, zu schreiben, nicht wahr? Aber meine freundschaftliche Empfindung für Jemanden hängt sich ein wie ein Dorn und ist mitunter lästig wie ein Dorn, man wird sie nicht leicht los. So nehmen Sie denn den kleinen unnützen lästigen Brief nur immer hin! Man hat mir erzählt, daß Sie — nun, daß Sie erwarten, hoffen, wünschen;2 mit inniger Theilnahme hörte ich es und wünsche mit Ihnen. Ein neuer guter und schöner Mensch mehr auf der Welt, das ist etwas, das ist viel! Da Sie es durchaus ablehnen, sich in Romanen zu verewigen, so thun Sie es auf jene Weise; wir Alle müssen Ihnen sehr dankbar dafür sein (zumal es, wie man mir sagt, sehr viel mehr Noth macht als selbst das Romaneschreiben)[.] — Neulich sah ich auf einmal plötzlich im Dunkeln Ihre Augen. — Warum sieht mich kein Mensch mit solchen Augen an, rief ich ganz erbittert aus. O es ist abscheulich! — Warum habe ich Sie niemals singen gehört? — Wissen Sie, noch niemals hat eine weibliche Stimme auf mich tief gewirkt, obschon ich Berühmtheiten aller Art gehört habe. Aber ich glaube daran, dass es eine Stimme für mich auf der Welt giebt, ich suche nach ihr. Wo ist sie nur? — Leben Sie wohl, alle guten Geister mögen um Sie sein. Treulich 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Naumburg, 31. August 1877: Soeben mein Herzenssohn habe ich Deinen lieben Brief1 bekommen und bin Dir so herzlich dankbar dafür. Wie unaussprechlich leid thut es mir aber daß Du so leidend noch bist. Lieschen jubilirt in jedem Briefe, was sie von Dir für gute Nachrichten hat und so war auch ich glücklich in den Gedanken. Wäre es aber nicht besser mein Herzenskind, Du bliebest noch, wenigstens bis Ende September, in Deinem Rosenlaui2 oben? Ich war von Anfang nicht für den 1 September denn es ist besser Du gehst gehörig angefrischt in Dein Amt, und der Herbst ist dazu mehr geeignet als der Sommer. Hinsichtlich der Kosten, so wird es wohl gleich sein, denn Lieschen bleibt noch bei den guten Vischers,3 oder bei Ros[alie] Vischer,4 die, wenn bei Prof[essors] das Kindchen ankommen sollte,5 mit ihren Scharlachkindern6 fertig sein wird und das Mädchen freilich das die Laubscher geschickt hat,7 wohin mit dieser? wer weiß ob sie nicht erst später kommen kann. Nun jedenfalls lass Dich dadurch nicht beirren, wenn Du noch den schönen September genießen willst, auf etwa drei Wochen. Nun wollte ich Dir das auch noch sagen mein guter mein lieber Sohn, Du sollst Dich nicht so wegen Deiner Zukunft sorgen. Solltest Du dem Unglück mit den Augen anheimfallen, so stehet Dir mein Haus, meine Arme, und mein Mutterherz offen, ach doppelt offen, denn wozu gebe es sonst das Familienleben, wenn wir uns nicht tragen nicht helfen wollten in allen Nöthen der Seele und des Leibes. In unserm Hause giebt es noch allerlei Stuben und Kammern die wir dazu mitnehmen könnten. Ich kann aber nicht von den Gedanken loskommen, daß wenn Du Dich verheirathetest, Dein Leiden gehoben wäre, Du hast mehr das Oehlersche Blut und Edmund8 litt ja ganz in der Art. Sidonchen9 sagte seine Augenpupillen wären oft von einer Größe gewesen, die das Schlimmste befürchten liesen und Kopfschmerzen und Verstimmtheit, so daß er durchaus aus seinem Amte wollte usw., und jetzt ist er der gesündeste Mann den es auf Gottes Erde giebt und es thut ihn keine Ader weh, er war gerade wie Du, auch eine so vollblutige Natur. Gieb etwas mein Herzenssohn auf den Rath Deiner Mutter welche leider auch hierin den Vater vertreten muß.10 Komm zu mir, ich wüßte ein köstliches Frauchen11 für Dich, höchst liebenswürdig, gescheudt, hübsch, wohlhabend und dabei höchst einnfach und sauber. Gestern ging ich mit ihr von den Bahnhof bis zur Stadt und sie gefiel mir da wieder so und die Mutter ist auch eine sehr vornehme Frau, sie hört schwer, aber sie hat etwas so innerliches und ein liebes Gefühl, den Vater kenne ich noch nicht und das junge Mädchen sehnte sich bei unsern gestrigen Gesprächen so die Schweiz zu sehen und liebt sehr Professorengesellschaft und Kreise und sehnte sich sonst deßhalb zurück nach Halle "es hätte etwas so anregendes" meynte sie und beneidet Lieschen und ihr Leben bei Dir, denn "sie dächte sich das zu schön einen älteren Bruder zu haben und es wäre stets ihr Wunsch gewesen und sie hätte nur zwei kleine Geschwister noch" ihr Vater ist hier Appellationsrath. Ich sage Dir, als ich die Mutter und die Tochter zum ersten Male sah, so dachte ich: das wären Brautchen für Deinen Fritz. Könnte ich sie Dir doch hinzaubern mein Herzenskind, da hättest Du von Gott empfangen wie es in der Bibel heißt: "Und des Mannes Herz kann sich auf Sie verlassen"12 Sie ist noch sehr jung und kaum viel in Gesellschaft gekommen, sie hat aber so viel Takt und so etwas Gediegenes, was man auch aus den Mädchen mit denen sie hier verkehrt, schließen kann, daß dies jetzt mein höchster Wunsch wäre. Lieschen gefiel sie auch so gut obwohl sie sie nur auf Augenblicke gesehen hat. Lieschen meynte auch zu mir natürlich nur: "Gehen sie denn den Sommer nicht irgendwo hin, daß sie Fritz sehen könnte." Na und habe ich doch wohl genug davon gesagt mein Herzenssohn, wenn es doch nicht Luftschloß bliebe! Schriebst Du, Du wolltest kommen,13 so würde ich gleich in Blassenbach14 abschreiben und hier soll Dich der Aufenthalt nichts kosten nur die Reise. Ich kenne Frau von Münchow und Tochter,15 mit welchen sie sehr befreundet sind, kurz lass mich da nur sorgen, daß Du sie sehen und sprechen sollst, es giebt ja Parthien, Conzerte u.s.w., wo dies zu bewerkstelligen ist, so wenig ich eigentlich zu solcher Parforskur passe, ich bringe es aber schon fertig, wenn es sein muß, zumal wenn es das Glück meiner geliebten Kinder gilt. Wo ich sie eben traf auf dem Bahnhof mit ihrer Mutter, machte ihr ein früherer Bekannter16 aus Halle ein junger Major (denn wir haben seit 2 Tagen die Stadt des Manövers halber voll) seine Reverenzen, also ich denke immer, es hat etwas Eile ehe sie weggeschnappt ist, von einen Anderen. Ich war auf dem Bahnhof und dahin von den alten guten Sup[erintendents] Wilkens bestellt, die von Friedrichsroda kamen und heimfuhren, es war ein prächtiges Wiedersehen. Den Nachmittag will ich zu des alten guten Wachsmuth Begräbniß,17 den zum dritten Male der Schlag gerührt hat. Alle seine Kinder18 sind schon seit acht Tagen da, mit ihren Frauen auch der Prof.19 aus Heidelberg. Ich habe eben ein breites prachtvolles Boucket mit mächtiger Manschette und einer weißen Moireeschleife daran, hingeschickt es war in weiß und grün und 1 kleine Elle im Umfang, wirklich sinnig und innig sah es aus. Heute ist Manöver bei Altflemingen. Alle wollen mich noch einmal haben ehe ich abreise, heute sollte ich zu Grohmanns20 zu Mittag kommen ich habe es aber ausgeschlagen und so wollen sie mir ein Hühnersüppchen schicken. Krugs luden mich gleichfalls für heute ein zu Mittag, denn Gustav21 ist mit seinen Frauchen22 und herrlichen Jungelchen23 da, ich habe aber noch zu viel zu schaffen und reise aber nun nicht eher ab, als bis Du mir schreibst, ob Du kommst oder ob nicht. Schreibe also gleich mein Herzensfritz! Ehrenberg24 der Kreisrichter und Pinder25 waren Sonntag bei Krugs zu Tische. Ehrenberg sah ich an der Marktecke, als er mit Jemand sprach und mich bis auf die Erde fast begrüßte. Ich ging zu Pähler26 in den Laden und wer kam bald mir nach, der gute Ehrenberg und er hatte etwas so Gutes und erkundigte sich so theilnehmend nach Euch und ließ sich herzlichst Euch empfehlen. Lasse auch den Brief dort nicht lesen und verschließe ihn. Eben lese ich mein Geschriebenes durch und das Betreffende ist doch wohl zu forcirt und ich müßte doch am Ende erst bekannter mit ihnen werden, ich habe jetzt nur nicht Zeit und fürchte "das Wegschnappen" also schreib gleich. Mit dem Strafporto hättest Du es näher bezeichnen sollen wofür? Ich muß die Post zur Rede setzen, denn das Buch27 kam 2 Silbergroschen und für das Geld28 5 Silbergroschen und 5 Pfennige wurde mir abgefordert; also sag wofür es war. In herzlicher Liebe Deine Mutter[.] 1. Rosenlauibad, 08-28-1877: Letter from Nietzsche to Franziska Nietzsche in Naumburg.
Frankfurt, 1. September 1877: Lieber Herr Professor! Kaum hatte ich meinen Gruß an Sie nach Basel abgesandt, so trafen Ihre freundlichen Zeilen vom Rosenlauibad bei mir ein und bestätigten zu meiner Frau und meiner großen Freude, daß wir Ihre Ankunftszeit in Basel richtig errathen hatten.1 Recht unerquicklich dagegen ist die Mittheilung, daß Ihre Schmerzenstage trotz des Bromkalium allwöchentlich wiederkehren. Zu Gunsten des Fortgebrauchs ließe sich nach so langem und konsequentem Versuch höchstens die Unschädlichkeit des Mittels anführen. Ich wäre eher für's Aufhören. Aber weder hierüber noch über viele andere recht wichtige Punkte Ihres Zustands wage ich zu entscheiden, ehe ich gesehen, untersucht, besonders ophthalmoskopisch genau untersucht habe, und da bin ich denn wieder bei meinem Ceterum censeo: Sie müssen nach Frankfurt kommen!2 — Meine Frau befürchtet zwar, ich hätte die Zustände unseres kleinen Haushalts so trüb geschildert, daß Sie unmöglich zu näherer Berührung mit denselben Lust haben könnten, zugleich aber liegt es ihr doppelt am Herzen, meine Verläumdungen zu widerlegen und ihren guten Ruf als Hausfrau herzustellen. Deshalb vereinigt sie ihre herzlichen Bitten mit den meinigen und sieht indem sie Ihre freundlichen Grüße froh erwiedert, Ihrem Kommen nicht minder ungeduldig entgegen als Ihr treu ergebener Otto Eiser. 1. Otto Eiser (1834-1898) and his wife Sophie visited Nietzsche in Rosenlauibad from 07-29-1877 to 08-01-1877. Eiser was a Frankfurt doctor, and admirer of Nietzsche and Richard Wagner. He examined Nietzsche in October 1877, and disclosed to him a letter from Richard Wagner opining on the cause of Nietzsche's poor health namely, masturbation. According to a friend of Eiser, Eiser admitted that this was the real cause of Nietzsche's break with Wagner. See Sander L. Gilman, "Otto Eiser and Nietzsche's Illness: A Hitherto Unpublished Text." In: Nietzsche Studien (2009) 38:396-409. Dr. Eugen Kretzer. "Erinnerungen an Dr. Otto Eiser." (Memories of Dr. Otto Eiser.) Ca. 1912. Excerpt: "Auf meine Veranlassung hat die Witwe Dr. Eisers einem der Briefe Richard Wagners an ihren verstorbenen Gatten besondere Fürsorge zugewendet. Den Inhalt dieses Briefes kennt, wie sie mir sagte, außer mir nur Hr Geheimrat Dr. Henry Thode, sonst niemand. Sie hat ihn dem Hause Wahnfried übersandt, und dort ist und bleibt er fortan deponiert. Ich billige das durchaus. Er sollte der Öffentlichkeit stets vorenthalten werden. Richard Wagner schrieb diesen Brief, als er erfuhr, daß Dr. Eiser seinen jungen Freund kennen gelernt hatte und ärztlich beriet. In treu besorgter, wahrhaft väterlicher Weise teilt er darin dem gemeinsamen ärztlichen Freund seine Hypothese über die Ursache von Nietzsches Erkrankung mit. 'Warum Nietzsche von Wagners abfiel?,' meinte Eiser einst: – 'ich weiß es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge, Nietzsche war außer sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.'" (At my instigation, Dr. [Otto] Eiser's widow took special care of one of Richard Wagner's letters to her deceased husband. As she told me, "The contents of this letter are known only to me, privy councilor Dr. Henry Thode, no one else." She sent it to the Wahnfried house [Wagner's villa in Bayreuth], and it is and will be deposited there from now on. I absolutely approve of that. It should always be withheld from the public. Richard Wagner wrote this letter when he learned that Dr. Eiser had met his young friend [Nietzsche] and gave him medical advice. In a faithful, truly fatherly way, he shares his hypothesis about the cause [i.e., masturbation] of Nietzsche's illness with his mutual medical friend. "Why did Nietzsche break away from Wagner?" Eiser once said: – "I alone know, because this break took place in my house, in my [examining] room, when I informed Nietzsche about that letter with the best of intentions. The result was an outbreak of rage, Nietzsche was beside himself: – the words that he found for Wagner cannot be repeated. – At that moment the break was sealed.") Cf. Naumburg, Early January 1880: Letter to Otto Eiser in Frankfurt. In German. In English.
Montmorency, 1er Septembre: "Im alten Basel"1 soll mein Freund seine kleine Freundin finden — sie will ihm Willkommen rufen und von Herzen wünschen, die bösen Schmerzen sollen nicht wieder kommen! Alles, alles Glück gönnt' ich meinem Freunde und wenn ich Etwas für ihn thun könnte — thät ich's gern! er ist mir lieb! Lachen Sie über mich — aber ich weiss gut warum Sie meine Augen sahen: ich dachte so viel an's vorige Jahr, dass Sie es fühlen mussten. Ich lebte Alles wieder durch und fand mich reich — so reich — da Sie mir ihr Herz geschenkt haben. Ihr Brief2 ist nicht "unnütz,"3 mein Freund: es ist ein wohlthuender Thautropfen auf meine Seele — wie wenig gibt es solche im Leben! Kommen Sie nach Paris diesen Winter, Sie sollen meine Stimme hören, aber mein lieber Lehrer Franz Stockhausen4 pflegte mir zu sagen, sie sei nur gut zum reinen Kirchengesang! ich glaube sie macht nicht viel Eindruck. Die Wünsche, die Sie dem neuen kleinen Geschöpf5 entgegensenden sollen ihm Glück bringen — ich wollte es wäre besser als Ich! Einen herzlichen Gruss, Freund, von Ihrer L. 1. A quote from Nietzsche's 08-29-1877 letter to her. Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Basel, 3. September 1877: Verehrte liebe Freundin wie freuen wir uns Sie hier zu sehen, wie bedauern wir, dass M[onod]s2 nur unserem Basel eine Durchfahrt gönnen! Unter allen Umständen möchten wir am Bahnhofe sein — also wann? Um 5 Uhr vermuthlich? — — Nun ich bin hier, die ganze letzte Zeit in Rosenlaui war für mich schlecht; mit heftigem Kopfweh verliess ich es früh um 4 Uhr, allein, im Finstern. — Wohnung, Umgebung und meine gute Schwester3 — alles finde ich um mich herum reizend, anreizend, festbannend. — Aber in mir kriecht mancher Wurm der Sorge. Ich schlief 2 Nächte so gut, so gut! Auch waren schöne Briefe4 da, von Overbeck, Frau Ott und Dr. Eiser,5 der es als Arzt verlangt, dass ich bald nach Frankfurt zu einer neuen Berathung komme. — Was sagen Sie von Sorrent! Noch jüngst in Rosenlaui brachte ich eine schlaflose Nacht damit zu, in lieblichen Naturbildern zu schwelgen und mich zu besinnen, ob ich nicht auf irgend eine Weise oben auf Anacapri wohnen könnte. Ich seufzte aber immer bei der Einsicht, dass Italien mich entmuthigt, mich kraftlos macht (wie haben Sie mich in diesem Mai6 kennen gelernt! Ich schäme mich; so war ich nie!) In der Schweiz bin ich mehr ich, und da ich die Ethik auf möglichste Ausprägung des "Ich" und nicht auf Verdunstung7 baue, so — — — — — — — — In den Alpen bin ich unbesiegbar, namentlich wenn ich allein bin und ich keinen andern Feind als mich selber habe. Ich habe meine Studien über griech[ische] Literatur8 vorgenommen — wer weiss ob was daraus wird? — Leben Sie wohl. Haben Sie das Feenweibchen gefunden, welches mich von der Säule, an welche ich angeschmiedet bin, losmacht?9 Herzlichstes und Gutes 1. The first letter from Nietzsche's new apartment at Gellertstrasse 22 in Basel.
Baden bei Wien, 10. September 1877: Nietzsche, mein theuerer Nietzsche, wie fände ich Worte, Ihnen zu danken?2 Sie nennen sich ohnmächtig? Hätten Sie mich nur gesehen, wie ich, von langer irrer Wanderfahrt heimgekehrt, trübe, müde, über allen Ausdruck bedürftig, dasass und den eben durch Erfahrung gewonnenen Satz überdachte, dass sich innere Unruhe nicht durch äussere bannen lässt, wie nun meine süsse Freundin3 auf mich zutrat und mir Ihren Brief überreichte (der mir meines häufigen Ortswechsels wegen nicht hatte nachgeschickt werden können), wie ich nun las und wieder las und mit feuchtem Auge auf jenen prophetischen Worten Ihrer sorgenden Liebe verweilte, wie ich dann, "aus wild webendem Bangen"4 aufgeweckt, gekräftigt, ermuthigt, mich in dem seligen Gedanken wiegte, dass ich nun vielleicht dem Herzen meines Nietzsche nicht mehr fremd und gleichgiltig sei — Sie hätten wahrhaftig Ihre Macht gepriesen, nicht Ihre Ohnmacht bedauert. Was Sie fürchten, ist schon — überwunden. Spotten Sie nicht! O, ich weiss es wol, dass man mit noch nicht 21 Jahren nicht triumphiert. Aber ich war in einer heissen Schlacht und habe den Schrecken in's Auge gesehen, ohne zu versteinern. Was kann mir nun noch geschehen? Ich kann — ich werde leiden, bluten, zweifeln; zu Grunde gehen werde ich nimmermehr. Ich spreche vom innern Feinde: Er hat mich im letzten Halbjahr furchtbar gefoltert. Doch mehr kann er nicht thun, als mich vor das Unbesiegbare zerren und mich, den Stolzen, demüthigen. Das werde ich, wiewol zähneknirschend, ertragen; denn ich weiss, dass ich viel des Besiegbaren zu besiegen habe und an Diesem werde ich mich für das Andere rächen. — Was noch? Er kann mir jede Freude vergällen, kann mir die Jugend kürzen, kann, wie ein Alp, unabwälzbar auf meiner Seele lasten, kann, während ich das Wort der Freude spreche, aus den Tiefen meines Wesens, wie ein Gespenst, emporsteigen, meine Rede verwirren und meine Stimme erzittern machen und mein Herz geisseln und betäuben, dass es keinen Antheil hat an der Rede des Mundes — ich habe Ihnen hier ein Phänomen mehr genannt, als beschrieben, das mich Tag um Tag peinigt — das kann er: doch habe ich eine mächtige Waffe gegen diess Gespenst. Ich blicke ihm scharf in's Angesicht, und siehe! wie vom Feuer meines eigenen Auges belebt, erglüht die Gestalt und ihre Wangen röten sich und auf der harten Tafel ihres Antlitzes erscheinen seltsame Schriftzeichen: tiefe Züge, mild und unerbittlich zugleich; was sie fordern, ist aber Liebe und Liebesopfer, und ich kann nicht anders: ich muss sie lieben, wiewol sie mich, den hoffährtigen Sterblichen, gedemüthigt; denn sie ist schön, wie eine leidende Göttin, und wenn sie tödtet, so ist das Leben sicher nicht lebenswert. Aber sie tödtet nicht. Immer milder, immer schöner werden ihre Züge, und meine Liebe wird immer heisser. Endlich, auf dem Höhepunkte meines Verlangens, muss ich hell auflachen in kindischer Lustigkeit; denn das schreckliche Gespenst steht als ein wolbekanntes herrliches Weib vor mir, das ich in den ersten Kindheitsträumen schon erschaut; alle Qual ist vergessen, verzaubert steht sie vor meinem, ich vor ihrem freudigen Blicke; und ich nenne sie mit vielen Namen, denn den wahren weiss ich nicht. Jetzt heisst sie mir: Echo — und so heisst auch die Dichtung, an der ich arbeite.5 Zürnen Sie nicht, mein Freund, rathen Sie nicht ab! Es muss sein; meine Seele findet nicht eher Ruhe, als bis sie sich sieht. Sie wissen nicht, wie ich gelitten habe und noch leide. Ich muss den Dämonen, die nach Leben rufen, das Leben geben. Ich kann nicht anders. Bitte, rathen Sie nicht ab! Es würde mich schmerzen. Ich bin, wie Einer, der nicht schlafen kann und durch schwere Arbeit sich ermüdet, um dann den Schlaf zu finden. — Wenn die "Echo" geschrieben ist, werde ich ruhn, lange ruhn. Den Winterschlaf habe ich ja geschlafen; ach! leider den Sommerschlaf auch. Mit innerem Grimme habe ich meine pochenden Schläfen gefühlt, gehört, möchte ich fast sagen. Doch nun muss ich gesund werden. "Echo" wird Ihnen alles Sagbare sagen; was aber von der Kriegsgeschichte meiner Seele unerzählbar ist, werden Sie errathen, ja besser, als ich, verstehen. — Rohden6 habe ich die ersten 5 Gesänge, die ich in Elgersburg geschrieben hatte, vorgelesen; er fand sie und den ganzen Plan "ganz grossartig"; ich habe aber das Geschriebene in's Feuer geworfen und fange von vorne an. Mir gefällt's nicht mehr. Meine Umgebung ist eine freundliche; doch habe ich nicht eigentlich einen Freund; ich wandere einsam meinen Weg. Manchmal wird mir sehr schlecht zu Muthe und meine Sehnsucht wird übergross. Von unten tönen mir gütige Stimmen herauf, doch ist Niemand zu sehen. — Meine Jessie ist ein herrliches Weib. Doch glücklich zu werden, ohne glücklich zu machen — das vermag ich nicht. Ja, wenn ich nur liebte, ohne geliebt zu werden! mir wäre woler. Was kann ich, der Unheimische, ihr, der klaraugigen Kinderseele, bieten? Sie haben nach meiner "Lebenssicherheit" gefragt. Ich kenne sie nicht, seit meinem 14ten Jahre nicht. — Ich habe Nichts und stehe allein. Ich muss Lectionen geben, was mir im kommenden Winter überaus schwer fallen dürfte, da ich erschrecklich viel zu arbeiten habe und mein Kopf krank ist. Nur besondere Glücksumstände haben es mir in diesem Sommer möglich gemacht, die Kette abzustreifen. In wenigen Wochen geht die alte Leier wieder an. Und wenn ich nur Lectionen bekomme! Ich bin Jude. — Wie? Sie haben gegen L.7 nichts? Wissen Sie auch, wie er jetzt bei uns wirtschaftet? Unbeschreiblich sehne ich mich nach Ihrem Buche.8 Wenn es erschienen ist, verschlinge ich's sofort. Und dann stürme ich auf Sie ein; denn wir müssen uns bald, recht bald sehen. Ich habe Sie geliebt, seitdem ich den ersten Blick in den "Strauss"9 geworfen. Und ich kann mir Nichts denken, was mich jetzt mehr, als Ihre Liebe, beglücken könnte. Ihr Buch wird doch wol noch vor Weihnachten erscheinen? — Wissen Sie, dass ich mit Ihnen fast, wie mit einem Gegenwärtigen, verkehre, wozu die Photographie, die mir Ihre gütige Mutter geschenkt,10 nicht wenig beiträgt? Schreiben Sie mir doch von Zeit zu Zeit, wenn auch nur zwei Zeilen: vor Allem über Ihre Gesundheit. — Kann ich Ihnen nicht die Correctur Ihres Buches besorgen? Ich wäre ganz verrückt-froh, wenn Sie es erlaubten. Schmeitzner soll's nur zu mir schicken: unter obiger Adresse. So kommen Ihre Augen und ich am besten weg. Gut? Ihr 1. Siegfried Lipiner (born Salomo Lipiner, 1856-1911): Jewish Viennese writer, and author of Der entfesselte Prometheus. Eine Dichtung in fünf Gesängen. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1876. According to a lost letter from Franziska Nietzsche in Naumburg to Nietzsche in Sorrento, Lipiner, trying to meet Nietzsche, turned up in Naumburg sometime in the first third of July 1877. Lipiner was a member of the student organization at the University of Vienna, the "Leseverein der deutschen Studenten Wiens" (the group existed from 1872-1878). Amidst its members, he had assumed leadership of the "Pernerstorfer circle," or the so-called "Nietzsche Society." Earlier overtures by the group to Nietzsche were made in April and June 1876 by another member, Joseph Ehrlich. For more information on the "Pernerstorfer circle," see Aldo Venturelli, "Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien." In: Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Berlin; New York: de Gruyter, 2003, 257-290 (also in Nietzsche-Studien, 13 (1984): 448-480). William J. McGrath, "Mahler and the Vienna Nietzsche Society." In: Jacob Golomb, ed., Nietzsche and Jewish Culture. London: Routledge, 1997, 218-232. Reinhard Gasser, "Kontakte mit Nietzsche-Verehrern in der Studentenzeit." In: Nietzsche und Freud. Berlin; New York: de Gruyter, 1997, 7-29. For more details on Lipiner, see Siegfried Mandel, "The Lipiner Interlude." In: Nietzsche & the Jews. Exaltation & Denigration. Amherst: Prometheus, 1998, 123-136. Cf. 04-02-1884 letter to Franz Overbeck.
München, 26. September 1877: Geehrter Herr Professor und sehr lieber Freund meines Sohnes, entscheiden Sie einen Streit der sich neulich unter Bekannten entsponnen hat.3 Bedeutet "verso pollice" für den gefallnen Gladiator seine gänzliche Vernichtung oder das Zeichen der Gnade. Verschiedene Bücher habe ich durchgesehen, es ist nichts Sicheres zu finden. Sagen Sie gütigst ein Wort an meinen Sohn darüber,4 ich bleibe nur drei Tage hier. Mit besten Grüßen und Wünschen für Ihre Gesundheit. 1. Norman Lindsay (1879-1969): Australian artist. In 1898, Lindsay reportedly became acquainted with Nietzsche by reading: Friedrich Nietzsche, Alexander Tille (trans.), Thus Spake Zarathustra. New York: Macmillan, 1896. Series: The Works of Friedrich Nietzsche. Vol. VIII. Friedrich Nietzsche, Thomas Common (trans.), The Case of Wagner. Nietzsche contra Wagner. The Twilight of the Idols. The Antichrist. London: Henry and Co., 1896. Series: The Works of Friedrich Nietzsche. Vol. XI. Lindsay and his family, friends, and acolytes were rife with anti-Semitism. The 1904 drawing was used as an illustration for The Antichrist of Nietzsche. A new version in English by P. R. Stephensen. With illustrations by Norman Lindsay. London: The Fanfrolico Press, [1928].
[Basel, 28. September 1877]: Haben Sie, lieber Freund, die Karte? Verargen Sie es mir nicht, wenn auch heute kein Brief kommt. Ergebensten Dank an Ihre verehrte Frau Mutter, daß sie mir Gelegenheit giebt, Philologe zu sein (ich vergesse es mitunter).2 pollice verso heißt: "den Daumen gegen die Brust gerichtet": die Gebärde, mit der das Volk die Tödtung des Gl[adiators] verlangte, pollicem premere "den Daumen drücken" wörtlich: dh. "eine Faust machen und den Daumen hinein verstecken" ist dasselbe wie unser "Jemandem den Daumen halten,"3 als Zeichen der Gunst. Mit Aufhebung des Zeigefingers flehte der Gl[adiator] die Gnade des Volkes an; die Gewährung derselben, durch die erwähnte Gebärde, heißt missio.4 Den Dreien5 herzl[iche] Grüsse von den Zweien.6
1. The original postcard was sold at auction in October 2014 for $31,409.
Frankfurt, 6. Oktober 1877: 1) Der Augenspiegel zeigt in beiden Augen die Produkte einer Chorio-retinitis centralis,2 im rechten Auge erheblich stärker als im linken. 2) Dieser Befund, zusammen mit extremer Myopie3 und der diese begleitenden Insufficienz der Musculi recti interni4 etc. etc. macht einen ursächlichen Zusammenhang der cephalalgischen Anfälle mit dem Augenleiden fast zweifellos, — wenigstens wird die Erkrankung der Augen gewiß als der eine Faktor zur Erklärung der Kopfschmerzen dienen, wenn auch als der andere eine Prädisposition in der Reizbarkeit des Centralorgans5 hinzukommen muß, wie sie aus der excessiven geistigen Thätigkeit des Patienten fast nothwendig resultirt. 3) Wenn somit der ursächliche Zusammenhang zwischen Augen- und Kopfleiden beinahe außer Frage steht, — damit, daß das Augenübel als das primäre, der Kopfschmerz als dessen Folge erscheint, so wird die Frage über den näheren modus dieser ursächlichen Verbindung derzeit noch offen bleiben müssen. Es ist nach den anamnestischen Angaben des Patienten nicht zu entscheiden, ob die Reizung der sensiblen Centralsphäre durch das Auge gleichsam direkt oder dieselbe durch das Mittelglied des Nervus sympathicus bewerkstelligt wird. — Genaue Beobachtung der cephalalgischen Paroxismen,6 in Sonderheit eines etwaigen Unterschieds zwischen der Injicirung (Blutfülle, Röthe, Temperatur) der schmerzhaften und der anfangs schmerzlosen Stirn- und Gesichtshälfte, etwaige Unterschiede in der Farbe und Temperatur beider Ohren während des vom Patienten durch lokale Kälteempfindung charakterisirten Prodromalstadiums, — dann, zur Zeit des Anfalls selbst, etwaige Pulsation der großen Halsgefässe und einseitige Differenz derselben etc. etc. wird das wichtigste Material zur Entscheidung obiger Fragen sein. 4) Sollte der Zusammenhang der Schmerzanfälle mit der Funktion des Nervus sympathicus wahrscheinlich werden , so dürfte die vorsichtige Applikation eines schwachen konstanten galvanischen Stroms auf das fragliche Nervengebiet als Heilverfahren zu versuchen sein.7 5) Von allen Heileingriffen irgend heroischer Art, wie sie etwa zur Beseitigung der Resorption, zur Anregung aller Secretions- und Excretionsapparate unternommen werden könnten, möchte ich entschieden abrathen. Dagegen scheint mir der Versuch palliativer Einrichtungen auf Verlauf und Dauer der einzelnen Schmerz-Anfälle durch Narcotica, Chinin oder dergleichen, subkutan oder innerlich, sehr am Platz.8 6) Die von Dr. Krüger9 verordneten örtlichen Blutentziehungen (Harrteloub's10 in je fünftägigen Zwischenräumen mit zweitägigem Aufenthalt in der Dunkelkammer, 3-5mal wiederholt) scheint mir nicht nur für den Krankheitsproceß in den Augen sondern auch durch die Einwirkung auf die tiefer gelegenen Organe zweckmäßig. 7) Als weitaus wichtigster Theil der Therapie und der Prophylaxis muß das diätetische Verhalten im weitesten Sinne bezeichnet werden. Hierher gehört:
Dr. O. Eiser 1. Otto Eiser (1834-1898) and his wife Sophie visited Nietzsche in Rosenlauibad from 07-29-1877 to 08-01-1877. Eiser was a Frankfurt doctor, and admirer of Nietzsche and Richard Wagner. Nietzsche visited the Eisers in Frankfurt from 10-01-1877 to 10-07-1877. Otto Eiser examined Nietzsche and disclosed to him a letter from Richard Wagner opining on the cause of Nietzsche's poor health namely, masturbation. According to a friend of Eiser, Eiser admitted that this was the real cause of Nietzsche's break with Wagner. See Sander L. Gilman, "Otto Eiser and Nietzsche's Illness: A Hitherto Unpublished Text." In: Nietzsche Studien (2009) 38:396-409. Dr. Eugen Kretzer. "Erinnerungen an Dr. Otto Eiser." (Memories of Dr. Otto Eiser.) Ca. 1912. Excerpt: "Auf meine Veranlassung hat die Witwe Dr. Eisers einem der Briefe Richard Wagners an ihren verstorbenen Gatten besondere Fürsorge zugewendet. Den Inhalt dieses Briefes kennt, wie sie mir sagte, außer mir nur Hr Geheimrat Dr. Henry Thode, sonst niemand. Sie hat ihn dem Hause Wahnfried übersandt, und dort ist und bleibt er fortan deponiert. Ich billige das durchaus. Er sollte der Öffentlichkeit stets vorenthalten werden. Richard Wagner schrieb diesen Brief, als er erfuhr, daß Dr. Eiser seinen jungen Freund kennen gelernt hatte und ärztlich beriet. In treu besorgter, wahrhaft väterlicher Weise teilt er darin dem gemeinsamen ärztlichen Freund seine Hypothese über die Ursache von Nietzsches Erkrankung mit. 'Warum Nietzsche von Wagners abfiel?,' meinte Eiser einst: – 'ich weiß es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge, Nietzsche war außer sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.'" (At my instigation, Dr. [Otto] Eiser's widow took special care of one of Richard Wagner's letters to her deceased husband. As she told me, "The contents of this letter are known only to me, privy councilor Dr. Henry Thode, no one else." She sent it to the Wahnfried house [Wagner's villa in Bayreuth], and it is and will be deposited there from now on. I absolutely approve of that. It should always be withheld from the public. Richard Wagner wrote this letter when he learned that Dr. Eiser had met his young friend [Nietzsche] and gave him medical advice. In a faithful, truly fatherly way, he shares his hypothesis about the cause [i.e., masturbation] of Nietzsche's illness with his mutual medical friend. "Why did Nietzsche break away from Wagner?" Eiser once said: – "I alone know, because this break took place in my house, in my [examining] room, when I informed Nietzsche about that letter with the best of intentions. The result was an outbreak of rage, Nietzsche was beside himself: – the words that he found for Wagner cannot be repeated. – At that moment the break was sealed.") Cf. Naumburg, Early January 1880: Letter to Otto Eiser in Frankfurt. In German. In English.
Basel, 10. Oktober 1877: Hochverehrte Frau! Ein werthgeschätzter Freund1 las mir jüngst eine Abhandlung über den "Ring des Nibelungen" vor, welche mir so sympathisch und verständnißreich erschien, daß ich es wage, sie Ihnen und dem Meister zu einem Lese-Abend zu empfehlen.2 Dieser Freund ist ganz unlitterarischer Art und seine Schrift dem allerengsten Publicum angepaßt; ich glaube nicht, daß dieselbe von Jemanden gelesen ist, die Gattin und zwei, drei Personen ausgenommen. Vielleicht setzen Sie zu einigen Hypothesen ein entscheidendes Ja oder Nein an den Rand, namentlich erwünsche ich diess bei der Frage, wie Wotan sein Auge verlor und weshalb er die Wala aus ihrem Schlafe weckt.3 Über Alles, was in Bayreuth vorgeht, kam hie und da doch auch zu mir, dem Abgeschlossenen, eine Kunde; und Einiges, wie den ächt Wagnerischen Gedanken der Bayreuther Schule,4 glaube ich so gut zu verstehen, daß mir jedes geschriebene Wort indiscret vorkommt. Die herrliche Verheißung des Parcival5 mag uns in allen Dingen trösten, wo wir Trost bedürfen. Fast alle meine Bekannten, an welche ich augenblicklich denke, haben ihren Wurm, der an ihnen tüchtig herumbeißt: so will ich denn ungescheut von meinem Wurme reden. Nachdem ich ein Jahr lang auf alle Weise gesucht habe, meine Gesundheit wiederzufinden,6 unterwarf ich mich in den letzten Wochen einer sorgfältigen und andauernden Untersuchung durch drei ausgezeichnete Ärzte.7 Das Resultat ist so traurig als möglich: die Augen sind fast zweifellos als Quelle meiner Leiden, namentlich der schrecklichen Kopfschmerzen, erkannt, zwei entzündliche Processe in denselben constatiert und die Blindheit als unvermeidlich in Aussicht gestellt, — falls ich mich nicht der harten Forderung aller Ärzte unterwerfe: auf mehrere Jahre hinaus absolut weder zu lesen, noch zu schreiben. In diesem Falle kann vielleicht der schwache Schimmer von Augenlicht noch erhalten werden, den ich jetzt noch habe. So kommt eine trübe Zeit voll peinlicher Entscheidungen für mich heran. Es fehlt mir bis jetzt nicht an Muth; ich denke, darin habe ich Etwas von Wagner abgelernt. Ihm und Ihnen von ganzem Herzen zugethan, in guten wie in bösen Tagen, F. N. 1. Otto Eiser (1834-1898) and his wife Sophie visited Nietzsche in Rosenlauibad from 07-29-1877 to 08-01-1877. Eiser was a Frankfurt doctor, and admirer of Nietzsche and Richard Wagner. Nietzsche visited the Eisers in Frankfurt from 10-01-1877 to 10-07-1877. Otto Eiser examined Nietzsche and disclosed to him a letter from Richard Wagner opining on the cause of Nietzsche's poor health namely, masturbation. According to a friend of Eiser, Eiser admitted that this was the real cause of Nietzsche's break with Wagner. See Sander L. Gilman, "Otto Eiser and Nietzsche's Illness: A Hitherto Unpublished Text." In: Nietzsche Studien (2009) 38:396-409. Dr. Eugen Kretzer. "Erinnerungen an Dr. Otto Eiser." (Memories of Dr. Otto Eiser.) Ca. 1912. Excerpt: "Auf meine Veranlassung hat die Witwe Dr. Eisers einem der Briefe Richard Wagners an ihren verstorbenen Gatten besondere Fürsorge zugewendet. Den Inhalt dieses Briefes kennt, wie sie mir sagte, außer mir nur Hr Geheimrat Dr. Henry Thode, sonst niemand. Sie hat ihn dem Hause Wahnfried übersandt, und dort ist und bleibt er fortan deponiert. Ich billige das durchaus. Er sollte der Öffentlichkeit stets vorenthalten werden. Richard Wagner schrieb diesen Brief, als er erfuhr, daß Dr. Eiser seinen jungen Freund kennen gelernt hatte und ärztlich beriet. In treu besorgter, wahrhaft väterlicher Weise teilt er darin dem gemeinsamen ärztlichen Freund seine Hypothese über die Ursache von Nietzsches Erkrankung mit. 'Warum Nietzsche von Wagners abfiel?,' meinte Eiser einst: – 'ich weiß es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge, Nietzsche war außer sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.'" (At my instigation, Dr. [Otto] Eiser's widow took special care of one of Richard Wagner's letters to her deceased husband. As she told me, "The contents of this letter are known only to me, privy councilor Dr. Henry Thode, no one else." She sent it to the Wahnfried house [Wagner's villa in Bayreuth], and it is and will be deposited there from now on. I absolutely approve of that. It should always be withheld from the public. Richard Wagner wrote this letter when he learned that Dr. Eiser had met his young friend [Nietzsche] and gave him medical advice. In a faithful, truly fatherly way, he shares his hypothesis about the cause [i.e., masturbation] of Nietzsche's illness with his mutual medical friend. "Why did Nietzsche break away from Wagner?" Eiser once said: – "I alone know, because this break took place in my house, in my [examining] room, when I informed Nietzsche about that letter with the best of intentions. The result was an outbreak of rage, Nietzsche was beside himself: – the words that he found for Wagner cannot be repeated. – At that moment the break was sealed.") Cf. Naumburg, Early January 1880: Letter to Otto Eiser in Frankfurt. In German. In English.
Baden bei Wien, 15. Oktober 1877: Hochverehrter Herr Professor! Eine kleine Schaar junger Männer,3 welche schon lange eine Gelegenheit herbeigewünscht hat, um Ihnen den Ausdruck aufrichtiger Verehrung und inniger Dankbarkeit darzubringen, naht Ihnen heute, als an Ihrem Geburtstage, mit ehrerbietigem Gruss und herzlichsten Glückwünschen. Wir glauben ganz in Ihrem Sinne zu verfahren, wenn wir nicht sowol in Worten zu schildern versuchen, wie sehr uns Ihre Schriften4 ergriffen haben, als wenn wir Ihnen die Versicherung geben, dass diese Ergriffenheit in jedem von uns den ernsten Entschluss gefestigt hat, Ihnen, als unserem vorleuchtenden und hinreissenden Beispiele, zu folgen und — so weit unser Können reicht — mit kräftigstem Wollen, selbstlos und wahrhaftig, wie Sie, nach der Verwirklichung jenes Ideals zu streben, welches Sie uns in Ihren Schriften, namentlich in Ihrem "Schopenhauer als Erzieher"5 gezeichnet haben. Wir sagen es, in vollem Bewusstsein der schweren Pflicht, welche wir uns dadurch auferlegen, dass Keiner von uns den Gedanken ertragen würde, sich in irgend einem Wollen und Thun vor einem Vorbilde, das, wie Sie, mächtig-gegenwärtig in uns lebt, schämen zu müssen. Für das Beispiel, das Sie uns gegeben, für den Mut mit dem Sie uns beseelt, für die Fülle erhabener Gedanken, die Sie uns mitgetheilt, empfangen Sie, hochsinniger Mann, unseren warmen Dank. Zu Ihrem Geburtsfeste aber wünschen wir Ihnen, dass es Ihnen noch lange vergönnt sein möge, in voller Kraft zu schaffen und zu wirken, und dass Ihr Schaffen und Wirken lebendige und herrliche Früchte trage, Ihnen und Anderen zur Freude. Diess wünschen wir Ihnen und uns selbst. Siegfried Lipiner 48, Praterstr. Wien. 15. Oktober 1877 Mein herrlicher Freund! Heute ist Ihr Geburtstag. Daran denken wir in Wien vielleicht mehr, als Sie selbst. Ich hatte mit mehreren Freunden schon vor langer Zeit das verabredet, was nun geschehen ist, und habe als Glied unserer Schaar mitunterzeichnet. Ausserdem möchte ich Ihnen aber noch sagen, wie sehr ich Sie, so zu sagen persönlich liebe, wie treu mein Herz an Ihnen hängt und wie ich hoffe, dass diese Treue nicht bloss in den Grenzen des Persönlichen fruchtbar werden wird. Werden Sie und bleiben Sie gesund, mein Theuerer, und möge Ihre heroisch-gefasste Seele von kleinen Schmerzen verschont werden, und damit auch, — wenn möglich! — Ihr grosser Schmerz weiche oder wenigstens Linderung erreiche, wünsche ich heiss, dass unser Volk, dass Ihr grösseres Selbst gesunde. — Und bleiben Sie mir gut! Ich leide sehr und bedarf Ihrer. Wenn ich nur weiss, dass Sie von Zeit zu Zeit meiner gedanken, so tut's mir in innerster Seele wol. Dass ich Sie doch bald sehen, dass ich Ihnen doch immer näher rücken dürfte! dass doch alle Schranken zwischen uns fielen! Ah! Es ist etwas Grosses, — durch das Ueberpersönlichste das Persönlichste zu erringen! — Ich danke Ihnen sehr, mein Guter, für Ihre Bemühungen.7 Eine Erzieherstelle wäre mir sehr lieb, wenn ich Aussicht hätte, etwas Rechtes wirken zu können, ich meine, wenn im Zögling nicht das Unveränderliche elend wäre. Dann würde ich einer solchen Thätigkeit meine volle Kraft mit herzlicher Freude zuwenden. Ich traue mir darin etwas zu, da ich wirklich Einiges erreicht habe und eigentlich immer, durch eine innere Nöthigung, Erziehungsobjekte suchte und studierte, zumeist ohne ein weiteres Interesse. Ich könnte in allen Gymnasialgegenständen Unterricht geben, nur nicht in beschreibenden Naturwissenschaften. Das Liebste wäre mir, wenn ich irgend einen jungen Menschen — und wär's ein Mädchen — philosophisch aufwühlen und in Thätigkeit bringen könnte. Das wäre herrlich! Da wäre ich zu Hause. (Ich war übrigens immer ein famoser Schüler und habe immer unterrichtet, seit meinem 14. Jahre.) Nur müsste ich freilich für das Ungeheure, das ich zu thun und zu lernen habe, Zeit übrig behalten. Doch überlasse ich Das ganz Ihnen, dem ich ja dergleichen nicht an's Herz zu legen brauche. Wenn's in Basel oder in Italien sein könnte, dann wäre ich glücklich: namentlich — für jetzt — in Basel. Die "Mem[oiren] e[iner] Id[ealisten]"8 hatte ich nicht gekannt. Ich habe sie mir gleich angeschafft und lese sie jetzt so eifrig, als es "Echo"9 erlaubt. Es ist herrlich! Man schämt sich ordentlich vor diesem Weibe. Wenn ich fertig bin, schreibe ich an's Fräulein von Meysenbug. — Bitte, grüssen Sie doch Herrn Prof. Overbeck in meinem Namen auf's Herzlichste und Ehrerbietigste; ich habe seine Streit- und Friedensschrift10 gelesen und bin entzückt. Über den letzten Theil muss ich noch nachdenken. Innigen Dank an den Verfasser! Nun, mein lieber Mithegelianer, lesen Sie den mitgeschichten Aufsatz11 über den P[rometheus]. Was sagen Sie dazu? — Dieser Volkelt12 ist übrigens ein ungemein schätzenswerther Mensch: ein sehr begabter Kopf, ein offenes Herz, ein klares Auge. Zum Unglück ist er in die Hegelei13 gerathen. Was er da von unserer Übereinstimmung mit Hegel sagt, ist ja ganz richtig, sofern es sich auf Das bezieht, was nicht erst Hegel, sondern schon Heraklit gesagt hat.14 Dagegen die absurde Weltlogik — nach Hegel's Lehrbuch15 gebaut — und vor allem den Hauptkrebsschaden, die platte Auffassung der Zeit ist V[olkelt] nicht los geworden, und das schädigt ihn überall. Ich habe viel an ihm gearbeitet und werde es noch weiter thun. Es ist der Mühe werth. Er ist sehr ehrlich. — Was er gegen Ihre Auffassung des Liedes sagt,16 beruht auf einem einfachen Misverständnis. — Er ist nicht musikalisch und kennt Wagner kaum. Von der "Echo" liegen nun 5 Gesänge fertig da. Jetzt bin ich zufrieden. Ich spreche die Verse während des Schreibens laut vor mich hin und denke mir Sie als Zuhörer. Was Sie nicht billigen, wird anders gemacht. Ich arbeite jetzt am 6. Gesang. Doch bezahle ich jede Stunde Arbeit mit 3 Stunden Kopfweh. Er ist ein Elend! Wie geht es Ihnen, Ihren Augen? Wann erscheint Ihr Buch?17 Wollen Sie mich corrigieren lassen? Sie schreiben ja Nichts darüber.18 — Sie haben wenig Zeit, aber hie und da werden Sie doch eine Karte hernehmen und darauf schreiben: "Befinde mich wol" und mir schicken. Ja? Der Collectiv-Brief freut Sie doch? Er ist sehr ernst gemeint. Wir hätten viel mehr Unterschriften haben können, wenn wir's weniger strenge genommen hätten. Ihr Buch kann ich kaum erwarten. Bitte, wie stehen Sie zu F. A. Lange? ("Gesch[ichte] d[es] Materialismus." "Arbeiterfrage.")19 Ich verehre ihn hoch. Nun leben Sie recht herzlich wol, mein lieber theurer Nietzsche, und schreiben Sie bald. Die Correctur dürfen Sie nicht selbst besorgen, bei Ihrem Augenübel. Ich werde es ganz gut machen. In Liebe und Treue
Basel, 17. Oktober 1877: Hochgeehrter Herr Regierungsrath! Nachdem ich ein Jahr2 lang — Dank der Gunst, welche mir durch den verliehenen Urlaub erwiesen wurde — danach gestrebt habe, meine Gesundheit durch alle erdenkliche Schonung und Heilversuche wiederzugewinnen, muß ich am Schluß dieser Frist mir leider eingestehen, daß ich dieses Ziel durchaus nicht erreicht habe; ja eine neuerlich angestellte sorgfältige Untersuchung durch drei Ärzte3 gab mir die traurige Gewißheit, daß viel schwerere Gefahren vor Allem hinsichtlich meines Augenlichtes im Anzuge seien und daß ich mich noch zu viel eingreifenderen Maßnahmen entschließen müsse. Die Forderung der Ärzte gieng einmüthig darauf hin, daß ich mich auf mehrere Jahre hinaus des Lesens und Schreibens absolut zu enthalten hätte; ich verweise in dieser Beziehung auf ein beigelegtes Memorandum,4 welches für mich von Dr med. Eiser in Frankfurt a/M, nach gemeinsamer Berathung der drei erwähnten Ärzte, aufgesetzt wurde. Nehme ich noch hinzu, daß mir die Anfälle meines Kopfes ein bis zwei Tage wöchentlich rauben, so sehe ich mich genöthigt, um nur einigermaaßen meinen academischen Pflichten für diesen Winter nachkommen zu können, das Gesuch um fortdauernde Entbindung von meinem Lehramt am Pädagogium5 an die hohe Erziehungsbehörde zu stellen; vorbehaltlich dessen, daß ich mich höchstwahrscheinlich zu weiteren Entscheidungen über meine gesammte hiesige Lehrthätigkeit gezwungen sehen werde. — Daß ich mit Bedauern von einer Anstalt scheiden werde, an deren Gedeihen ich mit wirklicher Theilnahme fast neun Jahre gehangen habe, werden Sie mir, hochgeehrter Herr Regierungsrath ebensowohl glauben, als daß ich mit Ergebenheit bin Ihr 1. Carl Burckhardt (1831-1901), President of Basel University's board of trustees (1874-1890).
Bayreuth, 22. Oktober 1877: Ich bin Ihnen, lieber Freund, für die Zusendung der Schrift des Dr[.] Eyser [sic]1 ausserordentlich verbunden, ich habe dieselbe mit grossem Interesse gelesen, und mich darüber gefreut dass der Verfasser auf einer so richtigen Grundlage, wie diejenige der Schopenhauerischen Philosophie das Gebäude seines Commentares aufgerichtet hat. Es ist aber recht schwer für mich ein Ja oder Nein bei den Hypothesen zu setzen, und gar "ein entscheidendes."2 Mir ist Alles mythischer Vorgang; Wotan hat um Fricka zu gewinnen sein Auge geopfert, und sagt zu Siegfried, mit dem linken Auge das ich nicht habe, siehst Du mein rechtes,3 das genügt mir, und ich frage nicht weiter: "was hat der Dichter damit sagen wollen," denn was er sagt nehme ich buchstäblich und sinnlich. Doch tritt. Einer mit einer so tiefsinnigen Deutung hinzu, wie Ihr Freund, so horche ich gern hin, und folge willig, und wenn ich nicht sagen könnte, er hat Recht, denn diess schlösse andere Deutungen aus, so sage ich doch: er empfindet richtig und deutet schön. Sie kennen meine naive Empfänglichkeit der Kunst gegenüber; den zweiten Theil des Faustes,4 ja selbst die Divina Commedia5 habe ich ohne Commentar gelesen, einzig der gestaltenden Gewalt des Dichters mich hingebend, und so habe ich in der Jugend den Ring des Nibelungen kennen und lieben gelernt, ohne auch nur eine Ahnung von der deutschen Mythologie zu haben. Nachträglich nur habe ich mich unterrichtet, und sind mir alle sinnigen Deutungen und Erklärungen als durch die Dichtung angeregte, nicht für sie erforderliche schöne Produktivität willkommen gewesen. Und unter diesen Arbeiten begrüsse ich mit besonderer Achtung und Befriedigung die Schrift welche Sie so freundlich waren mir zu senden. — Wie freudig hätte ich sie aber erst begrüsst, wenn Sie mir zugleich Tröstlicheres von Ihrem Gesundheitszustand6 gemeldet hätten! Allein der "Wurm" des Daseins wie Sie es nennen,7 will nicht weichen. Auf wen könnte man blicken ohne zugleich an die Prüfung zu denken welche ihm auferlegt ist? Beinahe einzig verschont erscheint mir unser Freund Overbeck welcher mich durch seinen Brief8 und die Schilderung seines ehelichen Glückes recht erfreut hat. — Wir haben jetzt Herrn von Wolzogen9 bei uns, dieser wird höchst wahrscheinlich mit seiner Frau sich hier niederlassen, was uns in jeder Hinsicht angenehm ist. Nun fällt mir wieder Wotan's10 Auge ein, die Sonne die im Meere sich widerspiegelt, der Wille der sich selbst als andres zu erkennen trachtet, und die ganze Reihe von Bildern und tiefsinnigen Deutungen welche sich an die Gestalten des Dichters knüpfen, und die Vorgänge welche er uns vorführt. Unsere Freundin Malwida ist nun in Rom,11 es war wohl merkwürdig dass sie einzig im Jahr, [in] welchen wir hinkamen, nicht dort sein konnte. Leben Sie wohl, bester Freund, wie viel Geduld müssen Sie jetzt üben! Es schmerzt mich diess zu denken! C. W.12 1. Otto Eiser (1834-1898) and his wife Sophie visited Nietzsche in Rosenlauibad from 07-29-1877 to 08-01-1877. Eiser was a Frankfurt doctor, and admirer of Nietzsche and Richard Wagner. Nietzsche visited the Eisers in Frankfurt from 10-01-1877 to 10-07-1877. Otto Eiser examined Nietzsche and disclosed to him a letter from Richard Wagner opining on the cause of Nietzsche's poor health namely, masturbation. According to a friend of Eiser, Eiser admitted that this was the real cause of Nietzsche's break with Wagner. See Sander L. Gilman, "Otto Eiser and Nietzsche's Illness: A Hitherto Unpublished Text." In: Nietzsche Studien (2009) 38:396-409. Dr. Eugen Kretzer. "Erinnerungen an Dr. Otto Eiser." (Memories of Dr. Otto Eiser.) Ca. 1912. Excerpt: "Auf meine Veranlassung hat die Witwe Dr. Eisers einem der Briefe Richard Wagners an ihren verstorbenen Gatten besondere Fürsorge zugewendet. Den Inhalt dieses Briefes kennt, wie sie mir sagte, außer mir nur Hr Geheimrat Dr. Henry Thode, sonst niemand. Sie hat ihn dem Hause Wahnfried übersandt, und dort ist und bleibt er fortan deponiert. Ich billige das durchaus. Er sollte der Öffentlichkeit stets vorenthalten werden. Richard Wagner schrieb diesen Brief, als er erfuhr, daß Dr. Eiser seinen jungen Freund kennen gelernt hatte und ärztlich beriet. In treu besorgter, wahrhaft väterlicher Weise teilt er darin dem gemeinsamen ärztlichen Freund seine Hypothese über die Ursache von Nietzsches Erkrankung mit. 'Warum Nietzsche von Wagners abfiel?,' meinte Eiser einst: – 'ich weiß es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge, Nietzsche war außer sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.'" (At my instigation, Dr. [Otto] Eiser's widow took special care of one of Richard Wagner's letters to her deceased husband. As she told me, "The contents of this letter are known only to me, privy councilor Dr. Henry Thode, no one else." She sent it to the Wahnfried house [Wagner's villa in Bayreuth], and it is and will be deposited there from now on. I absolutely approve of that. It should always be withheld from the public. Richard Wagner wrote this letter when he learned that Dr. Eiser had met his young friend [Nietzsche] and gave him medical advice. In a faithful, truly fatherly way, he shares his hypothesis about the cause [i.e., masturbation] of Nietzsche's illness with his mutual medical friend. "Why did Nietzsche break away from Wagner?" Eiser once said: – "I alone know, because this break took place in my house, in my [examining] room, when I informed Nietzsche about that letter with the best of intentions. The result was an outbreak of rage, Nietzsche was beside himself: – the words that he found for Wagner cannot be repeated. – At that moment the break was sealed.") Cf. Naumburg, Early January 1880: Letter to Otto Eiser in Frankfurt. In German. In English. For the referenced writing, see Otto Eiser, "Richard Wagners, 'Der Ring des Nibelungen.' Ein exegetischer Versuch." In: Bayreuther Blätter. Bd. 1. (Nov. 1878), I: 309-317; II: 352-361; III: 361-366.
Wien, 23. Oktober 1877: Hochverehrter Herr Professor! Verzeihen Sie, daß ich, als eine ganz Fremde, so kühn bin an Sie zu schreiben. Lange habe ich damit gezögert, denn es kostete mich einen großen Entschluß aus mir selbst herauszutreten und zugleich eine Indiscretion zu begehen. Aber es lässt mir keine Ruhe mehr, ich muß es Ihnen endlich sagen, daß Ihre Worte2 mein Innerstes erschüttert, daß Sie einen heftigen Sturm heraufbeschworen haben. Ich weiß nicht was daraus werden soll. Den Weg, den ich zu gehen habe, sehe ich nicht klar vor mir. Wollen Sie ihn mir zeigen? Ich bitte Sie darum. Sie werden vielleicht verwundert fragen, weshalb ich gerade Sie belästige; darauf kann ich nur das eine sagen: wenn ich im höhern Geistesleben mich der Führung eines Zweiten anvertraue, und wäre es nur für die kürzeste Strecke, so muß ich überzeugt sein, daß dem Führer die nötige geistige Kraft und eine gleichfalls notwendige Vornehmheit des Charakters innewohnt, daß man diese Überzeugung von unzähligen Menschen, denen man im Leben begegnet, nicht gewinnen kann, ist eine Thatsache, welcher man frühzeitig bewußt wird. Sie werden mir einwenden, daß Sie mich nicht kennen. Wenn ich Ihnen einiges aus meinem Leben mittheile, werden Sie mich zur Genüge kennen lernen. Sie werden entschuldigen, wenn ich Sie durch solche Mittheilungen langweile, aber wenn Sie mir helfen wollen, so werden Sie es vielleicht nötig finden das zu erfahren, was ich Ihnen jetzt sagen will. Sogenannte Schicksale erlebte ich nicht. Äußerlich ging alles glatt. Bis zu meinem zehnten Jahr vegetirte ich, dann kam ich in eine klösterliche Erziehungsanstalt. Da versagte ich, aber nur halb, ich starrte und staunte alles an, begriff mich selbst nicht, die andern noch viel weniger. Nur eines war mir klar: ein heftiger Widerwille gegen die Schablonen-Erziehung, der ich mich anheimgefallen sah. Viel zu schüchtern eine offene Empörung zu wagen, beschränkte ich mich auf passiven Widerstand. Mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden hielt ich an der Rettung meiner Individualität fest; eigensinnig ging ich meinen eigenen Weg, alle direkten Erziehungseinflüße verachtend. Nur der unmittelbaren Einwirkung eines leuchtenden Beispiels konnte ich mich nicht entziehen: jede edle erhabene Erscheinung riß mich hin. Der zweite Erziehungsfaktor war die Literatur; in der Welt der Märchen fühlte ich mich heimischer, als in der wirklichen. Mit dem Lernen wollte es nicht recht gehen. Meine Lehrerinnen wunderten sich über meine geringe Intelligenz, sie sagten, ich sei geistig sehr zurück geblieben. Als ich nach vier Jahren die Anstalt verließ, erklärte meine Erzieherin,3 daß ich für eine Institutserziehung nicht tauge; ich sei wie eine Pflanze, in einen fremden Boden gesteckt, worin sie zu verkümmern droht. Und doch kam ich in ein zweites Institut. Warum? Ich sollte hungarisiert werden. Ein neuer Kampf erwartete mich, ich mußte meine Nationalität retten; es gelang: ich bin eine begeisterte Deutsche. Mit sechzehn Jahren sollte ich in die Welt treten. Ich wußte, daß ich mich in ihr nicht heimisch fühlen würde, denn seit jeher hatte ich das Gefühl, als sei ich für einen andern Stern bestimmt, und nur durch einen Irrtum auf diese Erde gekommen. Aber es sollte ärger werden als ich meinte. Ich finde keinen Ausdruck für das Gefühl des Grauens, des Entsetzens, welches mir das schale, hohle, materielle Getriebe des öffentlichen Lebens einflößte. Ein krankhafter Widerwille gegen alles Unschöne, Unedle steigerte mein Misbehagen aufs Höchste. Ich fühlte mich grenzenlos unglücklich. Was ich gar nicht begreifen konnte, war die Wichtigthuerei mit den geringfügigsten Vorkommnissen und ein gänzliches Ignorieren aller höhern geistigen Interessen. Anfangs meinte ich, solche an der Schale haftenden Menschen seien geisteskrank, als ich aber dies geistlose Gebaren fast ausnahmslos antraf, verlor ich ganz und gar den Maßstab, und fragte mich, ob nicht ich geisteskrank sei, und alle andern vernünftig. In diesem Chaos entsetzlicher Gefühle befangen, trat die Religion zu mir. Sie rettete mich vor der Verzweiflung, sie leitete und tröstete mich. Das Ideal des Christentums mußte mich entzücken, dem Grundzuge meines Charakters gemäß: immer nur das Höchste zu wollen. Wo gäbe es etwas Höheres, als das christliche Ideal? Und trotz meiner Begeisterung erreichte ich es nicht. Hinderte mich die Faulheit, von der jener Reisende spricht,4 daran? Weil mir das Können nicht gelang, suchte ich das Wissen. Es packte mich ein Lernfieber, urplötzlich, mit solcher Gewalt, daß ich ohne Ruh und Rast, alles durcheinander lernte. Ich las sogar Bücher, von denen ich kein Wort verstand! Zur selben Zeit fiel ich in einen zweiten Irrtum, es däuchte mich ein Unrecht, anders zu sein als die Übrigen, suchte mich daher zu nivelliren, spielte aber meine Rolle schlecht. Die ganze Unnatürlichkeit und Unsinnigkeit meiner Handlungsweise kam mir recht ins Bewußtsein, als ich zum erstenmal ein Kunstwerk Richard Wagner's hörte. War's Zauber, war es eine Macht? Ich fühlte mich gefangen. Richard Wagner, der große Geist, der es wagte der Welt als etwas Ureigenes gegenüberzustehen, hat meinen feigen, schwachen Mut wieder aufgerichtet, und ich wurde wieder ich. Der Genius Richard Wagners hat mich gelehrt, daß die Kunst etwas Großes und Erhabenes ist. Die ganze Zauberschönheit der Märchenwelt, die ich in meinen Kindertagen um mich webte, klingt mir in seiner Musik wieder. Er hat einen herrlichen Schleier über die häßliche Welt gebreitet. Wie dank' ich ihm, wie lieb' ich ihn dafür. Daß Sie ihn anerkennen, daß Sie ihn so hochstellen, wie entzückt mich das; wenn etwas fähig gewesen wäre, mein Vertrauen zu Ihnen noch zu erhöhen, so wäre es Ihr Hymnus an Richard Wagner5 gewesen. Ein jedes Ihrer Werke hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Sie haben einen Kampf heraufbeschworen, den Kampf meiner Individualität mit dem Christentum. Ich bin in ein Netz von entgegengesetzten Bestrebungen verwickelt, sagen Sie mir, was ich soll, und ich befreie mich daraus. Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und Lehrerin in einer Privatschule. Ich liebe meinen Beruf und will ihn niemals aufgeben, aber diesem äußern Beruf voran geht mein innerer: ein ganzer, großer Mensch zu werden. Wollen Sie mir dazu helfen? Wollen Sie so gütig sein, sich mit mir zu befassen? Wenn ich in meinen Mittheilungen zu weitschweifig war, so vergeben Sie es mir; es ist so schwer die Grenze zwischen dem Notwendigen und dem Überschüssigen genau zu treffen. Vielleicht ist es Ihnen zu geringfügig, Ihr Augenmerk auf die kleine Ideenwelt einer ganz Fremden zu richten, oder Sie haben keine Zeit mir zu schreiben; sollte es Ihnen in irgend einer Art unangenehm sein, sich mit mir abzugeben, — dann verzeien Sie meine Indiscretion und betrachten Sie meinen Brief als ungeschrieben. Irma Regner von Bleyleben. 1. Irma Regner von Bleyleben (1852-?). Daughter of Theodor Anton Wenzel Regner Ritter von Bleyleben (1822-?) and Anna Regner von Bleyleben (?-?). According to Nietzsche's 04-07-1884 letter to Franz Overbeck, Bleyleben was a friend of Resa von Schirnhofer (1855-1948). Bleyleben studied at the Ursuline school in Prague for six years, finishing her pedagogical studies in Vienna. New research shows that she became a teacher in Chile. See "Boletin de instruccion pública." In: Anales de la Universidad de Chile. Vol. 66. Santiago: Impresta nacional, 1884, 1072. "La señorita Irma Regner von Bleyleben, contratada como profesora de jeografía, cosmografía, historia i caligrafía, frecuentó el curso completo de seis años del Instituto Normal de las Ursulinas en Praga, i ademas el colejio de Veszprim, pero terminó sus estudios pedagójicos en Viena; i despues de haber practicado la enseñanza durante algunos años, obtuvo un diploma de maestra, previas las pruebas finales, en el Instituto normal de Santa Ana." (Miss Irma Regner von Bleyleben, hired as a teacher of geography, cosmography, history and calligraphy, attended the full six-year course of the Ursuline Normal Institute in Prague, and also the Veszprim school, but finished her pedagogical studies in Vienna; after having practiced teaching for a few years, she obtained a teacher's diploma after passing final exams at the Normal Institute of Santa Ana.) Nietzsche replied to Bleyleben and gave her some advice. Unfortunately, we can only glean his exact advice from her surviving replies. Bleyleben's move to Chile was apparently either unknown to Elisabeth Förster-Nietzsche, or she died there, so that Nietzsche's replies to her are lost.
Paris, 27. October 1877:
Paris, le 27 Octobre 1877. 1. GSA 71/230,1. Nietzsche used the reverse side of the birth announcement for a fair copy of Menschliches, Allzumenschliches, §425 (Human, All Too Human, §425). See Mp XIV 1, 406.
Baden bei Wien, 3. November 1877: 48, Praterstr. Wien, 3. November 1877. Nie habe ich so viel an Sie gedacht, mein geliebter Freund, als in den letzten Tagen, und doch habe ich mich gerade jetzt einer schweren Unterlassungssünde gegen Sie schuldig gemacht. Ach, wären Sie bei mir, Sie würden mich entschuldigen! Ich habe vorgestern Abends die "Echo"2 nach Leipzig3 geschickt. Die aufreibende Arbeit, der erregte Zustand meines unablässig brütenden, das Vollbrachte fortwährend überprüfenden und verbessernden Geistes, die unsägliche Erschöpfung durch die Arbeit und mehr noch durch das, was man während einer noch durch das, was man während einer solchen Arbeit erlebt, das hochgesteigerte körperliche Leiden: Alles Diess hätte mich nicht abgehalten, an Sie zu schreiben. Aber fürwahr! Ich hätte die Dissonanzen meines Poems nicht zum Frieden zwingen, hätte nicht mit ganzer Seele die letzten Theile meiner Dichtung schreiben können, wenn ich mehr als von Zeit zu Zeit erschrocken aufgeseufzt hätte, wenn ich mich, meinem Schmerze Ausdruck gebend, voll und bewusst den Gefühlen überlassen hätte, mit denen mich Ihr letztes Schreiben4 erfüllt hat. Mein Theurer, es ist so gemeint, wie es ausgesprochen ist, wenn ich Ihnen sage, dass mir beim Lesen Ihres Briefes war, als träfe mich selbst, was Sie zu treffen droht. Droht! Um Gotteswillen, wenn irgend möglich, lassen Sie mich wissen, dass es nicht mehr droht! Ich leide mit Ihnen ungeheuer — ! Zuerst und vor Allem, — ehe ich weiter schreibe: Ich weiss nicht, wem Sie den letzten Brief dictiert haben. Aber ich bitte diese Person recht herzlich und eindringlich, im Namen der sorgenden Freundschaft, mir noch heute, nach Empfang dieses Briefes, und überhaupt möglichst oft, über Sie und Ihren Zustand Nachricht zu geben — wenn auch nur in wenigen Zeilen, aber so, dass ich weiss, wie es steht. Ich hoffe, dass mir diese Bitte gewährt werden wird und danke auf's Innigste dafür. Meine Freunde5 waren sehr bestürzt. Ich habe es ihnen angesehen, wie es ihnen tiefstes Weh erweckte, Sie so gequält zu wissen. Für Ihre schönen Worte, die uns alle gerührt und gestärkt haben, sei Ihnen herzlicher Dank übermittelt. Meine "Echo" ist, wie ich glaube, ganz gelungen. Nach "Prom[etheus]" hatte ich Gewissensbisse, jetzt habe ich keine. Ich lege die Abschrift einer Stelle des achten Gesangs bei, diejenige, die sich verhältnissmässig am leichtesten aus dem Ganzen herausheben lässt. — Wie würde mich mein Werk freuen, wenn nicht jetzt alle meine Gedanken bei Ihnen wären! Nun eine Frage: — Ich bitte Sie aber dringend, mein Theuerer Nietzsche, sie gewissenhaft und ausführlich und ohne Rücksicht auf mich zu beantworten: könnte ich Ihnen nützlich werden, wenn ich jetzt nach Basel käme?6 Ich würde Ihnen Arbeiten erleichtern, vielleicht Einiges für Sie verrichten, vorlesen, schreiben können, würde die Herausgabe Ihres Buches7 besorgen — kurz, ich würde mich ganz Ihnen widmen; und wenn's nur 4 Wochen lang währen könnte, es frommte doch wol etwas. So viel, als ich zur Reise und zum Lebensunterhalte für ungefähr einen Monat oder darüber brauche, würde ich mir schon hier verschaffen können. Sie schrieben mir, Ihr Buch sei fertig; warum muss das bis Mitte nächsten Jahres liegen bleiben? Ich kann und darf sehr wol corrigieren — ich würde aufblühen in der Freude, Ihnen dienen zu können: sicher, Sie würden sich Verdienste um mich erwerben, wenn Sie von meinem Anerbieten Gebrauch machen wollten. Bitte, eine aufrichtige Antwort! Ich kann nächste Woche bei Ihnen sein, wenn Sie es erlauben. Keine Rücksicht auf mich! Mir wäre es Freude, moralische Aufrichtung, ja Genesung — und ich tauge zu Manchem. An Frl. von Meysenbug habe ich noch nicht geschrieben. Doch wird's bald geschehen. Ist sie beständig in Rom? Gilt die gegebene Adresse noch? Das ist ja eine grosse Seele! Nun leben Sie herzlich wol, mein guter, mein innigst geliebter Freund. Was ich Ihnen wünsche — wie sag' ich's? — Bitte, keine Rücksicht auf meine Bequemlichkeit genommen! Eine andere kann nicht vorhanden sein, und diese wäre kränkend. Also — auf baldiges Wiedersehen in Basel? Ich hungre nach Nachricht von Ihnen — möge sie eine freudige sein! In herzlichster Treue Ihr (Den Sarg der verzauberten Echo bewacht eine gewaltige Schlange, mit deren Gifte alle bösen Geister der Welt sich nähren und die Wesen erfüllen. Wer ihren Biss gefühlt hat, der erleidet in seinem Busen alle Qualen der Erde als eine einzige Riesenqual zugleich. Dion, der Held und Sänger, hat die Schlange erlegt; aber von ihrem Gifte getroffen, verwandelt sich in ungeheuerstem Schmerz, sein ganzer Leib. In einem Augenblicke wird aus dem mächtigen Jüngling ein wunder Greis. Dion, dem einst Echo, im Traume erscheinend, die Gabe des Gesanges verliehen, der dann, in Zweifelsqualen seine Göttin verfluchend, jene Gabe verloren hatte, Dion erhält dieselbe nun, nach dem Spruche des Schicksals, wieder. Er fleht um ein Zeichen der wiedergewonnenen Gnade — blickt auf — sieht mit blitzendem Auge in die Finsterniss und greift rasch in die Harfe:) [Was vorgeht und folgt, wäre zu weitschweifig zu erzählen. Nur Eins: Nachdem er das folgende Lied gesungen, erweckt Dion die Göttin, indem er ihr sein eigenes Leben hingibt — und vermählt sich dann, ein Auferstandener, der Auferstandenen.] Das Lied aber lautet:
1. Siegfried Lipiner (born Salomo Lipiner, 1856-1911): Jewish Viennese writer, and author of Der entfesselte Prometheus. Eine Dichtung in fünf Gesängen. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1876. According to a lost letter from Franziska Nietzsche in Naumburg to Nietzsche in Sorrento, Lipiner, trying to meet Nietzsche, turned up in Naumburg sometime in the first third of July 1877. Lipiner was a member of the student organization at the University of Vienna, the "Leseverein der deutschen Studenten Wiens" (the group existed from 1872-1878). Amidst its members, he had assumed leadership of the "Pernerstorfer circle," or the so-called "Nietzsche Society." Earlier overtures by the group to Nietzsche were made in April and June 1876 by another member, Joseph Ehrlich. For more information on the "Pernerstorfer circle," see Aldo Venturelli, "Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien." In: Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Berlin; New York: de Gruyter, 2003, 257-290 (also in Nietzsche-Studien, 13 (1984): 448-480). William J. McGrath, "Mahler and the Vienna Nietzsche Society." In: Jacob Golomb, ed., Nietzsche and Jewish Culture. London: Routledge, 1997, 218-232. Reinhard Gasser, "Kontakte mit Nietzsche-Verehrern in der Studentenzeit." In: Nietzsche und Freud. Berlin; New York: de Gruyter, 1997, 7-29. For more details on Lipiner, see Siegfried Mandel, "The Lipiner Interlude." In: Nietzsche & the Jews. Exaltation & Denigration. Amherst: Prometheus, 1998, 123-136. Cf. 04-02-1884 letter to Franz Overbeck.
Basel, 5. November 1877: Hochgeehrter Herr, ich beehre mich Ihnen mitzutheilen, dass laut Beschluss des Erziehungsrathes vom 1. November derselbe Ihrem Gesuch um Enthebung von dem griechischen Unterricht an der 3. Classe des Pädagogiums entsprochen und den für Anstellung eines Vicars nöthigen Credit bewilligt hat. Dieser Unterricht wird also im laufenden Wintersemester durch Herrn Dr. Ach[illes] Burckhardt2 weitergeführt werden. Anbei folgt das eingelegte ärztliche Gutachten zurück.3 Empfangen Sie, Herr Professor, mit den besten Wünschen für die Herstellung Ihrer Gesundheit, die Versicherung unsrer aufrichtigen Hochschätzung. Die Curatel der Universität und des Pädagogiums 1 Beilage (erwähnt) 1. On behalf of Carl Burckhardt (1831-1901), President of Basel University's board of trustees (1874-1890).
Wien, 14. November 1877: Erlauben Sie, hochverehrter Herr Doktor, daß ich vor allem Ihnen Dank sage für die große Güte, mir so bereitwillig zu Hilfe zu kommen.2 Ich vergesse nie eine geistige Wohlthat. Ich habe mich genau geprüft — konnte mich aber noch nicht entscheiden. Es ist mir unmöglich, einen Entschluß, von dem mein ganzes übriges Leben abhängt, rasch abzuthun. Die "Memoiren einer Idealistin"3 habe ich gelesen. Ich verstehe und liebe diese ideale Frau. Sie ist mir eine verwandte Natur. Aber sie hat mehr Mut als ich. Ich meine nicht den Mut für die Überzeugung zu leben und zu sterben, den habe ich auch, aber der Mut der zerstörenden Kritik fehlt mir. Ich habe seit jeher eine Antipathie gegen die Naturwissenschaft. Für sie ist nur das Materielle vorhanden; sie wagt es sogar den Geist, der alles Sein durchdringt, zu leugnen; grausam zerstört sie alles Herrliche der Natur, bloß um zu wissen — woraus es besteht. Ich kann nicht glauben, daß dieses Wissen mehr Wert hat als der erhebende Einfluß, den schöne Erscheinungen in ihrer Ganzheit auf unser Gefühl ausüben. Und was soll mir die Vorstellung einer Natur, die in das Chaos zurückgeworfen, sich immer weiter zersetzt und auflöst? Ich kann sie nicht bewundern, nicht lieben, ich kann von ihr nicht erfrischt und gestärkt werden, ich weiß nichts mit ihr zu machen. Einmal bekam ich ein Werk von Büchner;4 es liegt noch in meinem Schrank, ich habe es nie angeschaut. Ist das Feigheit? Bis jetzt hielt ich es nicht dafür; vielleicht liegt der Grund in meiner tiefgewurzelten Liebe zum Märchen; die Wunder der Natur will ich mir durch keine Analyse verkümmern lassen. Der Astronomie gilt mein Haß nicht, im Gegentheil, sie ist mir die liebste Wissenschaft, gleich der Musik erlöst auch sie mich aus den engen Schranken der Endlichkeit. Vor der Philosophie fürchte ich mich nicht. Schon mehrmals versuchte ich es mit den philosophischen Systemen bekannt zu werden, aber ohne Erfolg, ob meine Auffassungskraft zu gering oder ob die Bücher schlecht waren, weiß ich nicht zu entscheiden. Jene Idealistin ist auch besser als ich, weil sie eine größere Liebe zur Menschheit hat. Ich erinnere mich, daß ich einst, noch während meiner Vegetationszeit, den allgemein herrschenden Widerspruch zwischen Denken, Reden und Handeln entdeckte; dies war mir damals ein Beweis, daß ein Fluch auf der Menschheit lasten müsse. Ich meinte, sie könnte sich von diesem Fluch selbst befreien; da ich aber nie merkte, daß man es versuchte, so fühlte ich einen Unmut gegen sie, der mich oft, trotz meiner Schüchternheit, zu einem schroffen, schonungslosen Benehmen hinriß. Darnach bereute ich es immer, und doch kommen sogar jetzt noch Fälle vor, wo ich mit verkehrten verschrobenen Menschen ungeduldig bin. Ich fühle auch Mitleid gegen sie, aber meine vorherrschende Empfindung gegen die Menschheit ist: Furcht. Oft, wenn ich allein in der Stadt umhergehe, überfällt mich ein solches Angstgefühl, als wäre ich unter Räuber und Mörder gerathen. Menschenliebe für mich habe ich nie gesucht, interessante Menschen konnten meine Einbildungskraft beschäftigen, mein Herz bewegten sie. — Darf ich wissen, wer die Verfasserin jener Memoiren ist? Ich möchte so gerne ihre Aufsätze5 über Erziehung lesen. Ich bin entzückt von ihren pädagogischen Ansichten. — Daß mein Beruf bei Ihnen Anerkennung findet, macht mir große Freude. Als ich begann das Lehrerinnen-Seminar zu besuchen, that ich es bloß in der Absicht meine regellosen Studien zu systemisiren. Die Pädagogik wollte ich unbeachtet lassen. Bald aber zog sie mich gewaltig an, in ihrem Verständnis fühlte ich alle meine Fähigkeiten aufblühen. Als ich mich prüfte, ob ich auch praktische Begabung besitze, erinnerte ich mich einer Eigenheit, die mir schon sehr viel Qual bereitet hat. Ich bin nämlich sehr ungeschickt im Verkehr mit Erwachsenen, in ihrer Gegenwart fühle ich mich unfrei, auch verstehe ich es gar nicht die Kluft, die mich von ihnen trennt durch Liebenswürdigkeit zu überbrücken. Wenn ich es versuche, so komme ich mir so unnatürlich und lächerlich vor, daß ich lieber zu meiner Weise zurückkehre. Selbst bei Menschen, gegen die ich mich gerne aussprechen würde, fühle ich dieses Gefangensein. Nur unter Kindern fühle ich mich frei und natürlich. Das entschied mich für den Lehrerberuf. Nun hatte ich auch Aussicht auf äußere Unabhängigkeit, die mir Bedürfnis ist. Ich betrachte meinen Beruf aber nicht bloß als eine schöne und nutzbringende Aufgabe, sondern auch als Sühne für die Schuld, die ich an der Menschheit begehe, indem ich sie nicht so liebe, wie es die Menschenpflicht gebietet. In der Weise, wie mir mein Beruf offenbar wurde, erkannte ich wieder, mit unendlichem Dankgefühl, über mir das Walten einer höhern Macht, die mich durch verschiedene Mittel, immer auf den rechten Weg führt, wenn ich nicht weiß wohin ich meine Schritte lenken soll. Ich habe diese höhere Leitung so oft und auffallend gefühlt, daß ich als Kind mir immer einbildete Gott müsse mich besonders lieb haben. Warum hat er mich verstoßen auf diese Erde, wo ich mich nirgends heimisch fühlen kann? — Sie haben mich gefragt, ob ich viel Mut habe, ob meine Freude am Mut groß ist, ich glaube beides, trotz meiner Schüchternheit, trotz der Furcht vor den Menschen, den Naturwissenschaften und allen möglichen wirklichen und eingebildeten Gefahren: Urtheilen Sie anders? Wollen Sie wieder so gütig sein, mir Rat zu ertheilen? Von Fräulein von Meysenbug habe ich nie etwas gehört, kann ich sie kennen lernen? Verzeihen Sie, daß ich die Erlaubnis Ihnen zu schreiben durch die Länge meines Briefes, so misbrauche, aber Sie sind der einzige Mensch, der mich versteht, und es liegt eine so große erlösende Kraft darin, sich frei zu geben, wie man ist. Irma Bleyleben6 1. Irma Regner von Bleyleben (1852-?). Daughter of Theodor Anton Wenzel Regner Ritter von Bleyleben (1822-?) and Anna Regner von Bleyleben (?-?). According to Nietzsche's 04-07-1884 letter to Franz Overbeck, Bleyleben was a friend of Resa von Schirnhofer (1855-1948). Bleyleben studied at the Ursuline school in Prague for six years, finishing her pedagogical studies in Vienna. New research shows that she became a teacher in Chile. See "Boletin de instruccion pública." In: Anales de la Universidad de Chile. Vol. 66. Santiago: Impresta nacional, 1884, 1072. "La señorita Irma Regner von Bleyleben, contratada como profesora de jeografía, cosmografía, historia i caligrafía, frecuentó el curso completo de seis años del Instituto Normal de las Ursulinas en Praga, i ademas el colejio de Veszprim, pero terminó sus estudios pedagójicos en Viena; i despues de haber practicado la enseñanza durante algunos años, obtuvo un diploma de maestra, previas las pruebas finales, en el Instituto normal de Santa Ana." (Miss Irma Regner von Bleyleben, hired as a teacher of geography, cosmography, history and calligraphy, attended the full six-year course of the Ursuline Normal Institute in Prague, and also the Veszprim school, but finished her pedagogical studies in Vienna; after having practiced teaching for a few years, she obtained a teacher's diploma after passing final exams at the Normal Institute of Santa Ana.) Nietzsche replied to Bleyleben and gave her some advice. Unfortunately, we can only glean his exact advice from her surviving replies. Bleyleben's move to Chile was apparently either unknown to Elisabeth Förster-Nietzsche, or she died there, so that Nietzsche's replies to her are lost.
Basel, 19. Nov. 1877: Basel, 19. Nov. 1877 Möge ich bald von Ihnen, mein Freund, hören, dass die bösen Krankheitsgeister ganz von Ihnen gewichen sind: dann bliebe mir für Ihr neues Lebensjahr3 Nichts zu wünschen übrig, als dass Sie bleiben, der Sie sind und dass Sie mir bleiben, der Sie im letzten Jahre waren. Sie haben mich wahrscheinlich verwöhnt; aber ich muss Ihnen doch sagen, dass ich in meinem Leben noch nicht so viel Annehmlichkeiten von der Freundschaft gehabt habe, wie durch Sie in diesem Jahre, gar nicht von dem zu reden, was ich von Ihnen gelernt habe. Wenn ich von Ihren Studien höre, so wässert mir immer der Mund nach Ihrem Umgange; wir sind geschaffen dafür, uns gut zu verständigen, ich glaube, wir finden uns immer auf dem halben Wege schon, wie gute Nachbarn, die immer zur gleichen Zeit den Einfall haben, sich zu besuchen und sich auf der Gränze ihrer Besitzungen einander entgegenkommen. Vielleicht steht es ein Wenig mehr in Ihrer Gewalt, als in meiner, die grosse räumliche Entfernung zwischen Stibbe und Basel zu überwinden: darf ich in dieser Beziehung für das neue Jahr hoffen? Ich selber bin gar elend und gebrechlich daran, als dass ich nicht um die beste Freude, die es giebt, bitten dürfte, selbst wenn die Bitte unbescheiden ist — ein gutes Gespräch unter uns über menschliche Dinge, ein persönliches Gespräch, nicht ein briefliches, zu dem ich immer untauglicher werde. Im Herbste fehlten Sie uns recht; es gab da eine Zusammenkunft aller Sorrentiner,4 hinzugerechnet Olga,5 Monod6 und die zwei allerliebsten Kinderchen — und Basel gefiel nach Sorrent, selbst mit seiner Herbst-Natur. Sie werden lachen, wenn Sie hören, was die Güte Seydlitzens7 mir zu meinem Geburtstage präsentirte: ein türkisches Kaffeegeschirr, ganz so drollig und unpractisch wie das, welches wir im Hôtel Vittoria8 kennen lernten. Die Wanderung dieser Freunde hat ein Ende erreicht, sie haben sich in Salzburg niedergelassen und eingerichtet, auch schon mein Wort bekommen, dass ich sie im nächsten Jahr dort besuche. Vielleicht verbinde ich diess mit einer Reise nach Wien; dort ist jetzt ein wahres Nest von Leuten, welche den zweifelhaften Geschmack haben, meine Schriften zu schätzen (Sie wissen, ich selber bin ein wenig über diesen Standpunct hinaus), aber es scheinen mir tüchtige Menschen darunter zu sein, und einer davon ist ein Genie: derselbe Lipiner,9 von dem Sie mir zuerst schrieben. Auch ein ungarisches Edelfräulein,10 in Wien lebend, bedient sich jetzt meines Beirathes in religiösen Seelensorgen. Für solche Fälle muss ich mir ein Verzeichnis von Büchern anlegen, welche den ganzen Cursus der Freigeisterei enthalten: die "Mem[oiren] e[iner] Id[ealistin]"11 sollten den Anfang, Sie selber12 den Schluss dabei machen — haben Sie gehört, was das Jenaer Litteraturblatt von dem jungen "Spinoza" erzählt hat?13 Leben Sie wohl, liebster Freund! Meine Schwester grüsst auf das Herzlichste; Ihrer Frau Mutter bitte ich gut empfohlen zu werden. 1. In an 1891 advertisement, Ferretti states that his photographic studio existed for more than 20 years in Naples at Chiatamone 23. (Based on old photos, it seems that the studio at Chiatamone 23 opened in 1870.) In adddition, he states that his photographic works were produced in Ferrara, Rome and Naples since 1859. See L'Araldo. Almanacco nobiliare del napoletano. 1892. Anno XV. Napoli: Enrico Detken, 1891, 9.
Basel, 23. November 1877: Liebe Freundin! Nehmen Sie herzlichsten Gruß, Dank und Glückwunsch, wenn ich dies alles auch nur in den wenigsten Worten äußern kann. Mein Befinden ist schlecht, Kopf und Augen verweigern den Dienst mehr als je: ich müßte also diktiren. Aber ich will keinen Brief an Sie diktiren. Für Sie und Ihr Kind2 hoffend, treu ergeben der Ihrige F. N. 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Basel, 3. Dezember 1877: Hochgeehrter Herr Verleger! Ich danke Ihnen für die Geneigtheit, welche Sie mir zu erkennen gaben, auch mein neues Buch,2 — ich darf wohl sagen: Hauptbuch — in Verlag zu nehmen. Es versteht sich aber von selbst, dass Sie Sich durch diese vorläufige Zusage in keiner Beziehung gebunden fühlen können, da Ihnen meine Bedingungen bisher unbekannt waren. Ich beeile mich nun, Ihnen dieselben mitzutheilen, und zwar, was Sie entschuldigen mögen, in Form von Paragraphen. Vorher aber setze ich den ganzen Titel meines Buches hin; er soll also lauten: Menschliches Allzumenschliches.
Über den Umfang8 des Buches kann ich durchaus nichts Bestimmtes angeben; nehmen Sie immerhin an, dass es die Zahl von 300 Seiten überschreiten möchte. Falls meine Gesundheit nicht zu arg mich im Stich lässt, so bekommen Sie bis zum 1. Januar das Manuscript,9 mindestens einen Theil desselben. Zuletzt, werthester Herr, sage ich Ihnen nochmals auf das Aufrichtigste, dass Sie ja nicht glauben dürfen, gegen mich irgendeine Art Verbindlichkeit bereits zu haben. Ich weiss nicht, in welchen Verhältnissen Sie Sich gegenwärtig befinden, und würde es vollkommen verstehen, wenn Sie mir einfach schrieben: ich kann nicht. In diesem Falle müssten wir uns dessen getrösten, dass ich vielleicht noch manches Buch hervorbringen werde, das eines Verlegers bedarf und dass ich mich bei solchen späteren Anlässen Ihrer, wie sich von selbst versteht, immer gern erinnern werde. Mit vollkommener Hochachtung 1. GSA 71/BW 306,1.
Basel, 21. Dezember 1877: Lieber Freund, die größte Trivialität in der Welt ist der Tod, die zweitgrößte das Geborenwerden; dann aber kommt zu dritt das Heirathen.1 Ueberlegt man, wie viele Menschen fortwährend heirathen, so muß man über die kindliche Wichtigthuerei aller dieser Liebenden lachen; sie selber sehen gewöhnlich schon nach wenigen Monaten ein, daß sich selbst für sie nichts Wesentliches geändert hat, geschweige denn für die übrige Welt. Daß Ehen nicht zu Stande kommen, weil die beiden Parteien sich über Geldverhältnisse nicht einigen können, ist auch nichts Ungewöhnliches und giebt keinen Grund ab, viel Aufhebens davon zu machen. Dieß Letztere scheint nun bei Dir der Fall zu sein; es mag Dich eine Zeit lang betrüben, aber wenn Du die Sachlage einmal mit voller Klarheit überschaust, so wirst Du Dir dazu noch Glück wünschen müssen. Freund Rohde sagte schon damals in Bayreuth:2 "Gersdorff mag ein Kalb schlachten, wenn er N[erina] nicht bekommt!"3 Das, was für alle Zuschauer dieses schon allzu sehr in die Länge gesponnenen Schauspiels vollkommen klar geworden ist und was Rohde schon damals sah, ist, daß Eure beiden Naturen schlechterdings nicht zu einander passen. So, wie Du die Familie F[inocchietti] kanntest und wie Du sie mir bei unserem Zusammensein am Genfersee schildertest, konnte eine Heirath mit N[erina] nur den Sinn einer Rettung4 für sie haben: darüber kamen wir damals überein; es verstand sich aber von selbst, daß wenn es sich um die Rettung der Person handelte, man darauf verzichten müsse, auch all ihr Hab und Gut mitzuretten,5 — in diesem Punkte mußte man sich auf Einbußen gefaßt machen. Wenn nun Deine Eltern aus sehr vernünftigen Gründen von einer Rettung in diesem romantischen Sinne nichts wissen wollten, so hätte die Sache für Dich als für einen braven Sohn, ein Ende haben sollen. — Rettung bedeutet übrigens in jenem Falle noch viel mehr, als ein bloßes endgültiges Lostrennen. N.'s von der Familie: es war das viel Schwierigere nöthig, die edleren und werthvolleren Eigenschaften N.s von dem ihr jedenfalls anhaftenden Familien-Charakter loszutrennen und zu retten. Ist man die Tochter eines Vaters, den Du immer wieder als erbärmlichen Schuft kennzeichnest, hat man eine Mutter, welche die Geliebte ihres Kochs war, umgiebt einen vom ersten Tage an eine schlechte, feige, vorurtheilsvolle Verwandtschaft, da muß einem mancherlei Bedenkliches wohl anhaften, und es bedarf einer starken Hand, eines energischen und klaren Kopfes um das mancherlei Krumme einer solchen Natur zurechtzubiegen. Wenn es nämlich überhaupt möglich ist! Genug, Frl. v. M[eysenbug] glaubte dieß;6 und sie hatte von Dir eine so hohe Meinung, daß sie Dich für eine so schwere Aufgabe geeignet hielt. Andere dachten anders und zwei- [+ + +]7 zu beherrschen und ihr fest als Mann gegenüber zu treten, bist Du ihr völlig verfallen, daß man sagen möchte: es giebt jetzt zwei Ns. eine in Paris und eine in Berlin, und beide geben, ach! ein so erbärmliches Schauspiel. Das Benehmen dieser beiden Ns. gegen Frl. v. M. ist so abscheulich undankbar, daß es das Non plus ultra von Allem ist, was mir in dieser Gattung menschlicher Erbärmlichkeit bekannt wurde. Schon in Sorrent8 war ich öfters erzürnt über die zudringliche Rücksichtslosigkeit mit der Jedermann sich in ellenlangen Episteln an diese bevorzugte Seele wendete, an sie, die wahrlich eine höhere Mission zu erfüllen hat, als die unklare Sache unklarer Personen immer wieder zurecht zu legen und zum Besten zu kehren. Sie hat Euch Beide mehr geliebt und geschätzt als Ihr Beide verdientet, das ist kein Zweifel; sie hat sich für Euch aufgeopfert, wie bis jetzt Niemand in Eurem curiosen Handel, als die beredteste Fürsprecherin Eurer Beider Naturen. Ihr habt Ansprüche über Ansprüche an den leidenden Kopf, die kranken Augen die kostbare Zeit eines Wesens gemacht, welches so rein und leuchtend, so wirkungsvoll im schönsten Sinne des Wortes jetzt dasteht, daß sie von der plumpen Zudringlichkeit Eurer Florentiner Misere wohl geschützt sein sollte. Wenn N. nach der reinsten Seele unter den deutschen Frauen den Koth ihrer Verdächtigung und ihres Undankes wirft, so verräth sie eben damit, daß sie zu ihrer Florentiner Sippschaft gehört. Ich würde es schmählich und entehrend für einen deutschen Edelmann finden, zum Werkzeug und Polizei-Agenten im Dienste jener Undankbaren zu werden, ich würde es ausreichend finden, um mit ihm allen persönlichen Verkehr abzubrechen, wenn ich nicht wüßte, daß er im Zustande völliger Verblendetheit gehandelt hat. Aber im Namen von Frl. v. M. verbiete ich9 hiermit diesem Verblendeten, fürderhin noch Briefe an dieselbe zu richten — und selbst in dem Falle, den ich bestimmt voraussetze, daß ein tiefes Gefühl des Unrechtes über ihn kommt und er bitter um Verzeihung flehen möchte, so soll auch dann der Brief erst in Basel seine endgültige Addresse bekommen. Der Zustand der Gesundheit von Frl. v. M. macht diese Maßregel der Vorsicht nothwendig. Salvavi animam meam,10 nimm Dir's zu Herzen. Es ist auch für meinen Gesundheitszustand Etwas, das ich zu büßen habe und gewiß nicht zum zweiten Male thun werde. — Ich denke ich darf mich nach diesem Briefe mehr als je nennen Deinen wahren Freund 1. Cf. Der Wanderer und sein Schatten, §58 (The Wanderer and His Shadow, §58).
Salzburg, 30. Dezember 1877: Ein Psalm Rinaldo's, vorzusingen von Frauenstimmen. v. 1. (Vom Neujahr das da sein wird.) v. 2. (Vom Lipiner,1 wie er ist.) v. 3. (Vom Parsifal, wie er gewesen ist.) v. 4. (Von der Mönchsklause, wie sie nicht ist.) v. 5. (Von Vielem andern) soll heut nichts mehr gesagt werden. Dank für Ihren Brief, bitte um Nachricht — Wünsche — Grüße — all das wissen Sie voraus.8 Sela.9 Von meiner Frau das Gleiche. Sela. Ihr heute etwas schwachköpfiger P. S. Ist das ein Brief! 1. Siegfried Lipiner (born Salomo Lipiner, 1856-1911): Jewish Viennese writer. Lipiner was a member of the student organization at the University of Vienna, the "Leseverein der deutschen Studenten Wiens" (the group existed from 1872-1878). Amidst its members, he had assumed leadership of the "Pernerstorfer circle," or the so-called "Nietzsche Society." Earlier overtures by the group to Nietzsche were made in April and June 1876 by another member, Joseph Ehrlich. For more information on the "Pernerstorfer circle," see Aldo Venturelli, "Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien." In: Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Berlin; New York: de Gruyter, 2003, 257-290 (also in Nietzsche-Studien, 13 (1984): 448-480). William J. McGrath, "Mahler and the Vienna Nietzsche Society." In: Jacob Golomb, ed., Nietzsche and Jewish Culture. London: Routledge, 1997, 218-232. Reinhard Gasser, "Kontakte mit Nietzsche-Verehrern in der Studentenzeit." In: Nietzsche und Freud. Berlin; New York: de Gruyter, 1997, 7-29. For more details on Lipiner, see Siegfried Mandel, "The Lipiner Interlude." In: Nietzsche & the Jews. Exaltation & Denigration. Amherst: Prometheus, 1998, 123-136. Cf. 04-02-1884 letter to Franz Overbeck. |
Not to be reproduced without permission. All content © The Nietzsche Channel.