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[Basel, 18. Januar 1876]: Mein geliebter Freund, habe Dank für Deine guten Nachrichten, ich erwartete sie mit Sehnsucht, jetzt kann ich doch mit Dir hoffen und weiß, daß einem von uns etwas Gutes zu Theil werden soll so wie es dieser Eine auch verdient und nöthig hat. Es scheint mir, daß alles so gut eingeleitet ist, daß wir mit Fassung nun zu Ende warten dürfen. Das Ende kommt doch wohl Ostern?1 Es macht mir Mühe zu schreiben, ich will drum kurz sein. Liebster Freund, ich habe das schlimmste schmerzhafteste und unheimlichste Weihnachten hinter mir, das ich erlebt habe! Am ersten Weihnachtstage gab es, nach manchen immer häufiger kommenden Ankündigungen, einen förmlichen Zusammenbruch, ich durfte nicht mehr zweifeln, dass ich an einem ernsthaften Gehirnleiden mich zu quälen habe, und dass Magen und Augen nur durch diese Centralwirkung so zu leiden hatten. Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirnentzündung,2 es ist möglich, dass es bei mir noch schneller geht. Nun werden mehrstündige Eiskappen, Übergiessungen auf den Kopf früh morgens, auf Immermanns3 Rath, angewendet, und es geht, nach einer Woche von gänzlicher Erschlaffung und schmerzhafter Zerquältheit, wieder etwas besser. Doch ist es nicht einmal Reconvaleszenz, der unheimliche Zustand ist nicht gehoben, alle Augenblicke werde ich an ihn4 erinnert. Man hat mir bis Ostern das Pädagogium abgenommen, an der Universität unterrichte ich wieder. Ich bin geduldig, aber voller Zweifel, was werden soll. Ich lebe fast ganz von Milch, die mir gut thut, auch schlafe ich ordentlich, Milch und Schlaf sind die besten Dinge, die ich jetzt habe. Wenn nur wenigstens die fürchterlichen tagelangen Anfälle ausbleiben wollen! Ohne sie kann man sich doch wenigstens aus einem Tag in den andern schleppen. Meine Schwester liest mir viel vor, weil mir Lesen und Schreiben schwer fällt. Walter Scott5 hätte ich neben Milch und Schlaf nennen sollen. Etwa den 19. März will ich wo möglich an den Genfersee gehen, bis dahin ist der Winter noch zu rauh, und Spaziergehen in der Kälte ist mir eher schädlich als nützlich. Meine Mutter wird in Kürze hier eintreffen. Bitte behalte den Inhalt des Briefes für Dich, wir wollen die Bayreuther6 nicht beunruhigen! Ach Bayreuth! Entweder ich darf nicht hin oder ich kann nicht hin so schwebt es mir jetzt vor der Seele. Aber es soll noch eine dritte Möglichkeit geben, und wenn ich denke, was ich alles schon durchgemacht habe, so muß ich wohl glauben, auch noch über diesen Winter hinwegzukommen. Lebe Du wenigstens wohl, ich muß inein Glück immer mehr im Glück meiner Freunde suchen. Alle meine eignen Pläne sind ja wie Rauch; ich sehe sie noch vor mir und möchte sie fassen. Denn es ist traurig, ohne sie zu leben, ja kaum möglich. Kannst Du Ostern etwas mit mir zusammen gehn, also etwa an den Genfersee? Eine ganz vorläufige Anfrage. Schreibe doch an Frl. von Meysenbug, sie frägt theilnehmend nach Dir.7 In alter Treue Bald sollst Du Besseres aus Basel hören, ich verspreche Dir's. 1. Gersdorff's plan to get engaged to a woman named Gottliebe von Wulften failed.
Genf, 11. April 1876: Mein Fräulein Sie schreiben heute Abend etwas für mich,2 ich will auch etwas für Sie schreiben. Nehmen Sie allen Muth Ihres Herzens zusammen, um vor der Frage nicht zu erschrecken, die ich hiermit an Sie richte: Wollen Sie meine Frau werden? Ich liebe Sie und mir ist es als ob Sie schon zu mir gehörten. Kein Wort über das Plötzliche meiner Neigung! Wenigstens ist keine Schuld dabei, es braucht also auch nichts entschuldigt zu werden. Aber was ich wissen möchte, ist ob Sie ebenso empfinden wie ich dass wir uns überhaupt nicht fremd gewesen sind, keinen Augenblick! Glauben Sie nicht auch daran, dass in einer Verbindung jeder von uns freier und besser werde als er es vereinzelt werden könnte, also excelsior?3 Wollen Sie es wagen mit mir zusammen zu gehen, als mit einem, der recht herzlich nach Befreiung und Besserwerden strebt? Auf alle Pfade des Lebens und des Denkens? Nun seien Sie freimüthig und halten Sie nichts zurück. Um diesen Brief und meine Anfrage weiss niemand als unser gemeinsamer Freund Herr von Senger.4 Ich reise morgen um 11 Uhr mit dem Schnellzuge nach Basel zurück, ich muss zurück; meine Addresse für Basel lege ich bei. Können Sie auf meine Frage Ja! sagen, so werde ich sofort Ihrer Frau Mutter schreiben, um deren Addresse ich Sie dann bitten würde. Gewinnen Sie es über sich, sich schnell zu entschliessen, mit Ja! oder Nein so trifft mich ein briefliches Wort5 von Ihnen bis morgen um 10 Uhr Hôtel garni de la Poste. Alles Gute und Segensvolle für immerdar Ihnen wünschend Friedrich Nietzsche 1. Mathilde Trampedach (1853-?). Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Basel, 14. April 1876: Hochverehrtes Fräulein es gab vor 14 Tagen ungefähr einen Sonntag den ich allein am Genfersee und ganz und gar in Ihrer Nähe verbrachte, von früh bis zu dem mondglänzenden Abend: ich las mit wiederhergestellten Sinnen Ihr Buch1 zu Ende und sagte mir immer wieder, dass ich nie einen weihevolleren Sonntag erlebt habe; die Stimmung der Reinheit und Liebe verliess mich nicht und die Natur war an diesem Tage nichts als das Spiegelbild dieser Stimmung. Sie gingen vor mir her als ein höheres Selbst, als ein viel höheres , aber doch noch mehr ermuthigend als beschämend: so schwebten Sie in meiner Vorstellung und ich maass mein Leben an Ihrem Vorbilde und fragte mich nach dem Vielen, was mir fehlt. Ich danke Ihnen für sehr viel mehr als für ein Buch. Ich war krank und zweifelte an meinen Kräften und Zielen; nach Weihnachten glaubte ich von allem lassen zu müssen und fürchtete nichts mehr als die Langwierigkeit des Lebens, das mit Aufgebung der höheren Ziele nur wie eine ungeheure Last drückt. Ich bin jetzt gesünder und freier, und die zu erfüllenden Aufgaben stehen wieder vor meinen Blicken, ohne mich zu quälen. Wie oft habe ich Sie in meine Nähe gewünscht, um Sie etwas zu fragen, worauf nur eine höhere Moralität und Wesenheit als ich bin Antwort geben kann! Aus Ihrem Buche entnehme ich mir jetzt Antworten auf sehr bestimmte mich betreffende Fragen; ich glaube mit meinem Verhalten nicht eher zufrieden sein zu dürfen als bis ich Ihre Zustimmung habe. Ihr Buch ist für mich aber ein strengerer Richter als Sie es vielleicht persönlich sein würden. Was muss ein Mann thun, um bei dem Bilde Ihres Lebens sich nicht der Unmännlichkeit zeihen zu müssen? das frage ich mich oft. Er muss das alles thun, was Sie thaten und durchaus nichts mehr! Aber er wird es höchst wahrscheinlich nicht vermögen, es fehlt ihm der sicher leitende Instinkt der allzeit hülfbereiten Liebe. Eins der höchsten Motive, welches ich durch Sie erst geahnt habe, ist das der Mutterliebe ohne das physische Band von Mutter und Kind, es ist eine der herrlichsten Offenbarungen der caritas. Schenken Sie mir etwas von dieser Liebe, meine hochverehrte Freundin und sehen Sie in mir einen, der als Sohn einer solchen Mutter bedarf, ach so sehr bedarf! Wir wollen uns viel in Bayreuth2 sagen: denn jetzt darf ich wieder darauf hoffen, dorthin gehen zu können: während ich ein paar Monate auch den Gedanken daran aufgeben musste. Wenn ich jetzt nur, als der Gesündere, Ihnen etwas erweisen könnte! Und warum lebe ich nicht in Ihrer Nähe! Leben Sie wohl, ich bin und Ich bin sehr dankbar für den Brief Mazzini's 3 1. Malwida von Meysenbug, Memoiren einer Idealistin. Stuttgart: Auerbach, 1876. Bd. 1. Bd. 2. Bd. 3.
Basel, 15 April. [1876]: Hochverehrtes Fräulein Sie sind grossmüthig genug, mir zu verzeihen, ich fühle es aus der Milde Ihres Briefe2 heraus, die ich wahrhaftig nicht verdient hatte. Ich habe so viel im Gedenken an meine grausame gewaltsame Handlungsweise gelitten, dass ich für diese Milde Ihnen nicht genug dankbar sein kann. Ich will nichts erklären und weiss mich nicht zu rechtfertigen. Nur hätte ich den letzten Wunsch auszusprechen, dass Sie, wenn Sie einmal meinen Namen lesen oder mich selber wiedersehen sollten, nicht nur an den Schrecken denken möchten, den ich Ihnen eingeflösst habe; ich bitte Sie unter allen Umständen daran zu glauben, dass ich gerne gut machen möchte, was ich böse gemacht habe.3 In Verehrung der Ihrige 1. Mathilde Trampedach (1853-?).
London, 25. April 1876: Dear Sir, Your kind favor news reached me until the 21st of this month, and I should certainly have written long ago to thank you for the "Unzeitgemäße Betrachtungen"2 which I have read with extreme pleasure, as yet only once, because I wanted to write to you as soon as possible, but I now intend to give it a more careful second reading, for I have found a great deal that is most thought suggesting in your pages. The piquante title of your work had already attracted my notice in an bookseller's catalogue and I had determined to read it, but I value it doubly as a direct gift from the author3 and tender you my most sincere thanks. As regards Schopenhauer I can say of him as he said of Goethe "he has educated me anew."4 I am, dear Sir, 1. This letter was written in English. Helen Zimmern (1846-1934): English writer, and translator. They first met in Bayreuth in 1876, and became better acquainted in Sils-Maria. Nietzsche wanted Zimmern to translate Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols), and Ecce Homo. Although that never happened, Zimmern would go on to translate Jenseits von Gut und Böse (Beyond Good and Evil) for Oscar Levy's edition of Nietzsche. See her comments in Anon., "Nietzsche Erinnerungen." In: Frankfurter Generalanzeiger. Nov. 16, 1926. Reprinted as Anon., "Memories of Nietzsche." In: The Living Age, 331 (Nov. 1926), 272.
2. Unzeitgemässe Betrachtungen, I. David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller. Published in 1873.
Basel, den 16 Mai 1876: Wie gerne hörte ich etwas von Dir lieber Freund! Aber ich kann mir auch denken, daß Du jetzt gar keine Lust zu Briefen hast. Es beunruhigt mich ein wenig, Deinen "Roman"1 noch nicht angekündigt zu sehen, hoffentlich ist kein neuer Kobold Dir in den Weg getreten. Von mir selbst wirst Du ein paar Zeilen erhalten, haben, die ich nach meiner Rückkehr vom Genfersee an Dich schrieb (mit der Addresse nach Jena) Es geht mir recht erträglich, nur wollen die Augen ihren Dienst nicht thun. Aber Kopf und Magen sind in Ordnung, ich strenge mich aber auch nicht an und habe ein paar alte fromme Pferdchen meinen Studenten vorgeführt,2 die ich halb im Schlafe reiten kann. Meine Arbeit, für die ich alle Kräfte sammle ist der Monat in Bayreuth.3 Um Weihnachten glaubte ich nicht daß ich ihn erleben würde. Ein junger Musiker, der meinetwegen auf ein paar Jahr nach Basel gekommen ist und den ich seines Talentes und seiner Seelengüte halber sehr schätze, ist mir in allen Stücken hülfreich. Nun möchte ich ihm gern in Einer Sache auch hülfreich sein: ich frage mich, wie ich es ermögliche, ihn nach Bayreuth zu bringen. Durch Wagner ist es leider, wie ich bestimmt weiß, unmöglich. Hast Du vielleicht noch über einen Cyclus von 4 Abenden zu verfügen? Ich höre, daß Du stolzer Inhaber von 2 Patronatsscheinen bist. Würdest Du vielleicht auf meine Fürsprache jenem Musiker das Anrecht darauf geben? Er heißt Köselitz und ist ein Instrumentalcomponist, der als ein Würdiger und wahrhaft Lernender unter dem Chaos der Bayreuther Festgäste sitzen würde. Bitte nur ein Wort über diese Anfrage, mein treuer geliebter Freund. Ich bin der Deinige 1. Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1876.
Basel, 21. Mai 1876: An einem solchen Tage, wie Ihr Geburtstag1 ist, höchst verehrter Mann, hat eigentlich nur die allerpersönlichste Äußerung ein Recht; denn jeder hat etwas durch Sie erlebt, das ihn ganz allein, in seinem tiefsten Innern, angeht. Solche Erlebnisse kann man nicht addiren, und der Glückwunsch im Namen vieler würde heute weniger sein als das bescheidenste Wort des Einzelnen. Es sind ziemlich genau sieben Jahre her, daß ich Ihnen in Tribschen meinen ersten Besuch2 machte, und ich weiß Ihnen zu Ihrem Geburtstage nicht mehr zu sagen, als daß ich auch, seit jener Zeit, im Mai jedes Jahres meinen geistigen Geburtstag feiere. Denn seitdem leben Sie in mir und wirken unaufhörlich als ein ganz neuer Tropfen Bluthes, den ich früher gewiß nicht in mir hatte. Dieses Element, das aus Ihnen seinen Ursprung hat, treibt, beschämt, ermuthigt, stachelt mich und hat mir keine Ruhe mehr gelassen, sodaß ich beinahe Lust haben könnte, Ihnen wegen dieser ewigen Beunruhigung zu zürnen, wenn ich nicht ganz bestimmt fühlte, daß diese Unruhe mich gerade zum Freier- und Besserwerden unaufhörlich antreibt. So muß ich dem, welcher Sie erregte, mit dem allertiefsten Gefühle des Dankes dankbar sein; und meine schönsten Hoffnungen, die ich auf die Ereignisse dieses Sommers3 setze, sind die, daß viele in einer ähnlichen Weise durch Sie und Ihr Werk in jene Unruhe versetzt werden und dadurch an der Größe Ihres Wesens und Lebensganges einen Antheil bekommen. Daß dies geschehen möge, das ist heute mein einziger Glückwunsch für Sie (wo gebe es sonst das Glück, das man Ihnen wünschen könnte?) nehmen Sie ihn freundlich an aus dem Munde Ihres wahrhaft getreuen 1. May 22.
Basel, 23. Mai 1876: Da wollen wir uns denn herzlich mit einander freuen, daß Dein Werk1 fertig ist, mein geliebter Freund; ich hatte immer meine Besorgnisse, denn ich ahnte daß es ein μέγα βιβλίον werde und wußte, daß es bisher schon in mancher Beziehung ein μέγα κακòν2 gewesen war. Nun ist es da, überdies in ein schönes Fellchen gehüllt und prangt und ergötzt mich. Es enttäuschte mich gleich in einer sehr angenehmen Weise, denn ich hatte mich ein wenig davor gefürchtet, als ob meine geringe philologische Weisheit auf diesem entlegenen Gebiete sich als völlige Thorheit entpuppen werde. Nun merke ich schon so viel, daß ich sehr viel Nutzen von Deinen Ergebnissen (den allgemeinen, wie den gelegentlichen) haben werde und daß ich auch im Zusammenhang über die Griechen genug gedacht habe, um dieses Buch gar nicht mehr entbehren zu können. Ebenso wird es J. Burckhardt gehen, dem ich davon erzählte (ich bin jetzt täglich mit ihm zusammen, im vertrautesten Verkehre) Ich hebe von dem, was ich bis jetzt gelesen, ein paar Sachen hervor, die mir gleich so gut "wie Baumöl"3 eingingen, z. B. wie sich Roman und Novelle gegen einander abheben.4 Dann S. 56f. über die charakterologischen Studien der Peripatetiker, dann S. 18 (mit der morale di solitari) Ein sehr belehrender Abschnitt 4 auf p. 22 ss; dann p. 67 weibliche Leser p. 121 über die Art von wirklicher Popularität der alexandrinischen Dichter, dann p. 142 (mit Anmerk.) sehr schön über die elegische Erzählungskunst. Aufgefallen ist mir, daß Du von den päderastischen Verhältnissen so wenig sagst: und doch ist das Idealisiren des Eros und das reinere und sehnsüchtigere Empfinden der Liebespassion bei den Griechen zuerst auf diesem Boden gewachsen und wie mir scheint, von da aus auf die geschlechtliche Liebe erst übertragen worden, während es ihre (der geschlechtl[ichen] Liebe) zartere und höhere Entwicklung früher geradezu hinderte. Daß die Griechen der älteren Zeit die Männererziehung auf jene Passion gegründet haben und so lange sie diese ältere Erziehung hatten, von der Geschlechtsliebe im Ganzen mißgünstig gedacht haben, ist toll genug, scheint mir aber wahr zu sein. Auf Seite 70 und 71, glaubte ich, Du würdest an diese Dinge erinnern müssen. Der Eros, als πάθος5 der καλῶς σχολάζοντες,6 in der besten Zeit ist der päderastische: Die Meinung über den Eros, die Du "einigermaßen verstiegen"7 nennst, nach der das Aphrodisische am Eros nicht wesentlich, sondern nur gelegentlich und accidentiell ist, die Hauptsache eben φιλία8 ist, kommt mir nicht so ungriechisch vor. Aber es scheint mir daß Du mit Absicht die ganze Region gemieden hast; auch J. Burckhardt redet im Colleg9 nie davon. Vielleicht übrigens finde ich beim Weiterlesen Deines Buches auch hierüber Winke, ich bin noch nicht weit gekommen: meine Augen sind so schlimm. Du hast viel Sorgfalt auf die Darstellung verwendet; aber ich möchte Dich, den eigentlichen Rohde noch mehr durchhören, selbst mit der Einbuße, daß der Stil nicht so gefeilt wäre; wie ich an dem Overbeckschen Stil meine persönliche Freude habe, trotz allem "Obwohl." Etwas Schweres, beiläufig gesagt, liegt in der von Dir häufig gebrauchten Zusammenstellung längerer Adjektiva mit Participien zb. "sprudelnd fruchtbares Talent" "künstlich vermittelndes Verfahren"10 "leichtfertig gewandte Arbeit" "mühsam sorgfältiges Verfahren" (p. 127) Doch sollte ich über solche Dinge den Mund halten.11 Aber eine große Verwunderung, mit Maulaufsperren verknüpft, muß ich noch los werden: was bist Du doch für ein sonderbarer Mensch! In diesen letzten Jahren, so wie sie für Dich leider waren, gerade dies Buch auszuarbeiten das geht ganz eigentlich über meine Fassungskraft! (beiläufig, auch über mein Talent, zu jeder Zeit: so etwas könnte ich nicht, wenn ich es auch können wollte) Der philologische Dämon steckt Dir so im Leibe, daß ich mitunter vor seinem Wüthen (in Scharfsinn und unbändiger Gelehrsamkeit) ordentlich schaudere. Ich weiß keinen Menschen, dem ich so etwas zutraute: und daß dieser Erzphilolog dabei noch ein Erzmensch und zwar mein Erzfreund ist, das ist wahrlich ein αἴνιγμα δυσλυτου,12 aber davon abgesehn "eine gute Gabe Gottes!" Lebe wohl mein getreuer Freund. Mit dem Musico Köselitz wollen wir's auf eine andre Weise noch durchsetzen.13 Overbeck schreibt in diesen Tagen.14 1. Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1876.
Basel, 26. Mai 1876: Für alle Deine Nachrichten, geliebter Freund, den besten Dank; sie haben mich bei gutem Befinden angetroffen, es scheint wirklich, dass die Unheimlichkeit des winterlichen Zustandes wie ein Gespenst vorübergegangen ist, es ist jetzt wieder heimlich bei mir.1 Das Wort,2 mit seinem Doppelsinn, erinnert mich daran, dass ich etwas ausplaudern kann, das im übrigen noch Geheimniss ist (und einstweilen bleiben soll): dass ich vorhabe, von October an auf ein Jahr nach Italien zu gehen, einer Einladung3 der besten Freundin der Welt, Frl v. Meysenbug folgend. Noch habe ich nicht die definitive Erlaubniss der Behörden dazu, aber sie wird mir wahrscheinlich zu Theil werden, zumal ich aus freien Stücken (um ein so kleines Gemeinwesen nicht zu belasten) auf meinen ganzen Gehalt für diese Zeitdauer verzichtet habe.4 Freiheit! Du glaubst nicht, wie voll ich immer die Lungen nehme, wenn ich daran denke! Wir werden in grösster Einfachheit in Fano (am adriat. Meere) leben.5 Das ist meine Neuigkeit. Alle meine Hoffnungen und Pläne zur endlichen geistigen Befreiung und zum unermüdlichen Weitergehen sind wieder in Blüthe; das Zutrauen zu mir selber, ich meine zu meinem besseren Selbst, erfüllt mich mit Muth. Selbst der Zustand meiner Augen ändert nichts daran (Schiess6 findet sie noch schlechter als damals, ich brauche einen Schreiber, das ist die Thatsache) Collegien sind sehr gut besucht, in einem c. 20, in dem andern c. 10 und ebenso im Seminar.7 Geheirathet wird nicht, zuletzt hasse ich die Beschränkung und die Einflechtung in die ganze "civilisirte" Ordnung der Dinge so sehr, dass schwerlich irgend ein Weib freisinnig genug ist, um mir zu folgen.8 Immer mehr kommen mir die griechischen Philosophen, als Vorbilder der zu erreichenden Lebensweise, vor die Augen. Ich lese die Memorabilien des Xenophon9 mit tiefstem persönlichen Interesse. Die Philologen finden sie tödtlich langweilig, Du siehst, wie wenig ich Philologe bin. Rohde's "Roman"10 ist da sehr lesenswerth auch für Dich, übrigens ein Zeugniss der tollsten Art für die guten und seltnen Eigenschaften des Autors. Gestern schrieb mir Wagner einen längeren Brief,11 zum Stolz- und Glücklichmachen, so weit er mich betrifft. Der arme arme Rau! Wir sollen alle an den Unwerth des Lebens bei Zeiten glauben lernen, jeder bekommt seine Art von tödtlicher Wunde. Ich sinne, wie ich ihm eine kleine Freude machen kann, zum Zeichen meines grossen Mitleides.12 Ich höre mit Bedauern, dass Overbeck gerade um die zweite Serie der Festspiele Dich gebeten hat.13 Das passte schwerlich in Deine Absichten hinein. Aber in irgend welchen Dingen ist man immer zuletzt unfrei und muss sich damit trösten, das Vernünftige gewollt zu haben. Meine Schwester hat Dr. Fuchs für die dritte Serie eingeladen, schon vor lange; er wäre richtig, wie sich jetzt ergiebt, ohne diese Beihülfe, gar nicht hingekommen. Der neue Emerson14 ist etwas alt geworden, kommt es Dir nicht auch so vor? Die früheren Essays sind viel reicher, jetzt wiederholt er sich, und schliesslich ist er mir gar zu sehr in das Leben verliebt. Lebe wohl, behalte mich lieb, nebst Overbecks und meiner Schwester herzlichen Grüssen. Geht es an, so vergiss den trefflichen Musicum Köselitz nicht. 1. Nietzsche was suffering from poor health in the winter of 1875/76.
[Basel, 18. Juli 1876]: Sei es zum Guten, lieber getreuer Freund, was Du mir da meldest, zum wahrhaft Guten: das wünsche ich Dir aus ganzem vollen Herzen. So willst Du denn im Jahre des Heils1 1876 Dein Nest bauen, wie unser Overbeck,2 und ich meine, Ihr werdet mir dadurch dass Ihr glücklicher werdet, nicht abhanden kommen. Ja, ich werde ruhiger an Dich denken können: wenn ich Dir auch in diesem Schritte vielleicht nicht folgen sollte.3 Denn Du hattest die ganz vertrauende Seele so nöthig und hast sie und damit Dich selbst auf einer höheren Stufe gefunden. Mir geht es anders, der Himmel weiss es oder weiss es nicht. Mir scheint das alles nicht so nöthig seltne Tage ausgenommen. Vielleicht habe ich da eine böse Lücke in mir. Mein Verlangen und meine Noth ist anders: ich weiss kaum es zu sagen und zu erklären. Diese Nacht fiel's mir ein einen Vers4 daraus zu machen; ich bin kein Dichter, aber Du wirst mich schon verstehen.
So geredet zu mir, Nachts nach der Ankunft Deines Briefs. F N. Nebst den allerherzlichsten Glückwünschen meiner Schwester. 1. An allusion to the August 1876 Bayreuth Festival, with the final rehearsal of Richard Wagner's Der Ring der Nibelungen.
[Bayreuth, 1. August 1876]: Meine liebe Schwester, es geht nicht mit mir, das sehe ich ein! Fortwährender Kopfschmerz, obwohl noch nicht von der schlimmsten Art, und Mattigkeit. Gestern habe ich die Walküre1 nur in einem dunkeln Raume mit anhören können; alles Sehen unmöglich! Ich sehne mich weg, es ist zu unsinnig wenn ich bleibe. Mir graut vor jedem dieser langen Kunst-Abende; und doch bleibe ich nicht weg.2 In dieser Noth schlage ich Dir vor: besprich Dich mit Baumgartners!3 Biete Mutter und Sohn 8 Billete zum zweiten Aufführung's Cyclus,4 alles zu 100 Thaler, an (ich kann ja meine Billete zur dritten Serie für Baumgartn. auf die zweite umschreiben lassen.) In der Giesselschen Wohnung könnt Ihr zusammen wohnen; sie ist so, wie wir sie haben, die billigste Wohnung in Bayreuth! Du solltest die sonstigen Preise hören. Du musst diesmal auch für mich mithören und -sehen! Eine Verständigung mit Baumgartners über die Wohnung (resp. Zahlung eines Theils der Kosten) wird leicht sein. Ich habe es ganz satt. Auch zur ersten Vorstellung5 will ich nicht da sein. Sondern irgendwo, nur nicht hier, wo es mir nichts als Qual ist. Vielleicht schreibst Du auch ein Paar Worte an Schmeitzner6 und bietest ihm für die erste Vorstellung meinen Platz an. Oder jemandem anders, wem du willst. Z. B. Frau Bachofen.7 Verzeih mir alle Mühe, die Du wieder mit mir hast! Ich will fort in's Fichtelgebirge oder sonst wohin Dein Fritz. Telegraphire nur über Deine Ankunft an Frl. v Meysenbug Natürlich hast Du Eintritt zur Generalprobe, das ist abgemacht. 1. Richard Wagner's Die Walküre was rehearsed in Bayreuth on 07-31-1876.
Berlin, 13. August 1876: Hochverehrter Herr Professor. Anliegend bin ich so frei Ihnen ein Exemplar meiner Doctor-Dissertation1 zu übersenden. Nicht als ob ich die Arbeit für werth hielte ein besonderes Interesse Ihrerseits zu erregen. Allein es ist schon seit längerer Zeit mein Wunsch gewesen, Ihnen ein Zeichen der Dankbarkeit geben zu dürfen für manche gute Stunde und manche, wie ich hoffe, dauernde Anregung, die mir im Laufe meiner Universitätsjahreen aus der Lectüre Ihrer Schriften zu Theil geworden ist. Die Uebersendung der Dissertation hat sich durch äußere Umstände um einige Zeit verzögert, was Sie, hochverehrter Herr Professor, gütigst entschuldigen wollen.2 Genehmigen Sie, verehrter Herr, die Versicherungen der vollkommensten Hochachtung, mit der ich die Ehre habe zu sein Ihr 1. Rudolf Lehmann (1855-1927), "Kant's Lehre vom Ding an sich. Ein Beitrag zur Kantphilologie." (Kant's Doctrine of the Thing-in-Itself. A Contribution to Kantian Philology.)
Basel, 30. August 1876: Meine liebe Frau Ott, es wurde dunkel um mich, als Sie Bayreuth verliessen,2 es war mir als ob jemand das Licht mir weggenommen hätte. Ich musste mich erst wiederfinden, aber das habe ich gethan, und Sie können ohne Besorgniss diesen Brief in Ihre Hand nehmen. Wir wollen an der Reinheit des Geistes festhalten, der uns zusammenführte, wir wollen in allem Guten uns gegenseitig treu bleiben. Ich denke mit einer solchen brüderlichen Herzlichkeit an Sie, dass ich Ihren Gemahl3 lieben könnte, weil er Ihr Gemahl ist; und werden Sie es glauben, dass Ihr kleiner Marcel4 mir zehnmal des Tages in den Sinn gekommen ist? Wollen Sie meine ersten drei Unzeitgemässen Betrachtungen von mir haben?5 Sie sollen doch wissen, woran ich glaube, wofür ich lebe. Bleiben Sie mir gut und helfen Sie mir in dem, was meine Aufgabe ist. In reiner Gesinnung 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Paris, 2 Septembre 1876: Mein Freund, Ihre Worte, die so edel, rein und treu zu mir herüberklingen konnten nicht anders als tief und stark in mein Herz dringen. Ich war so glücklich! Wie gut, daß es nun zu einer treuen, gesunden Freundschaft zwischen uns kommen kann, so daß wir so recht vom Herzen, ohne daß unser Gewissen es uns verbietet, Eines an das Andere denken können. Haben wir doch das Beste uns noch gegenseitig zu geben: Herz und Geist! Ihre Augen kann ich aber nicht vergessen: immer ruht Ihr liebevoller tiefer Blick auf mir wie damals ... O ja! schicken Sie mir Ihre Werke2 ich muß meinen theuren Freund näher kennen lernen! So wird auch ganz einfach unser Briefwechsel entstehen dürfen. Erwähnen Sie aber von Ihrem und meinem Briefe dabei nichts Alles was bis jetzt vorgegangen, bleibt unter uns es ist unser Heiligthum für uns beide allein. Dank, für die Liebe die Sie Marcel3 gewidmet ich hoffe er wird einst ihrer würdig! Wie sind Ihre armen Augen? Ein ander Mal schreibe ich größer und hoffentlich besser. Ihre neue Schwester Louise 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Paris, le 8 Sept. 1876: Theurer Freund, Wie werde ich Worte finden, um meine Freude, die ich bei Empfang Ihres schönen Buches2 empfunden, aussprechen zu können? Ich werde es gar nicht versuchen. Sie müssen mich so ohne Worte[n] verstehen! Mein Herz wurde warm, so warm ich mußte laut aufweinen und doch war es nur Glück! Mein Freund mein Freund! Ich möchte mit Ihnen, Ihr Werk lesen und bei Allen Stellen, die mir nicht sehr klar sind, anhalten und Sie recht ausfragen. Ach, ich bin noch so unwissend, ich muß mich schämen wenn ich an Sie denke, die trotzdem so gut für mich sind. Wissen Sie, daß ich eine Christen bin? Ich finde meine Bibel schön, rein und groß! Sie sagen, daß seit Alexander dem Großen, die Menschheit einen Rückschritt gemacht3 finden Sie, daß die Influenz des Christentums eine Schlechte war und ist? Von meiner Kindheit auf, habe ich nur Gutes und Schönes über meine Religion gehört Alles was ich von freisinnigen Predigern gehört, hat mir nicht recht gefallen wollen es war so kalt und trostlos! Warum glauben Sie nicht, was Christ versprochen und gesagt? Lieber Herr Nietzsche, Sie sind zu edel gesinnt um über mich zu lachen wenn Sie mich auch kindisch finden darum will ich immer frei und offen mit Ihnen sein. Ihre Schrift über Wagner hat mir schon den Blick erweitert und ich denke viel über Alles was ich darin finde, doch glaube ich, daß es nur großen Gelehrten und einzelnen besonders begabten Geistern gegeben ist, ohne Religion und bloß durch Philosophie sich glücklich und befriedigt zu fühlen. Glauben Sie an ein ewiges Leben der Seele? Doch genug für heute mein Marcel4 ist seit acht Tagen sehr leidend an den Zähnchen wahrscheinlich Er will nicht von mir lassen und weint und weint Tag und Nacht! Es ist so traurig es hören zu müssen ohne helfen zu können. Sagen Sie mir, theurer lieber Freund, wie es mit Ihrer Gesundheit steht! Sollten Ihre armen Augen leidend sein, so schreiben Sie mir nicht viel! Sie sollen nicht wegen mir leiden! Unbekannter Weise grüßt mein Mann,5 von mir aber nehmen Sie meine ganze treue Freundschaft dahin. Louise 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Basel, [22. September 1876]: Liebe gute Freundin, erst konnte ich nicht schreiben, denn man machte mit mir eine Augenkur2 und jetzt soll ich nicht schreiben, auf lange lange Zeit hinaus! Trotzdem ich las Ihre zwei Briefe immer wieder, ich glaube fast, ich habe sie zu viel gelesen, aber diese neue Freundschaft ist wie neuer Wein, sehr angenehm, aber ein wenig gefährlich vielleicht. Für mich jedenfalls. Aber auch für Sie, wenn ich denke an was für einen Freigeist Sie da gerathen sind! An einen Menschen, der nichts mehr wünscht als täglich irgend einen beruhigenden Glauben zu verlieren, der in dieser täglich grösseren Befreiung des Geistes sein Glück sucht und findet. Vielleicht dass ich sogar noch mehr Freigeist sein will als ich es sein kann! Was sollen wir nun machen? Eine "Entführung aus dem Serail"3 des Glaubens, ohne Mozartische Musik? Kennen Sie die Lebensgeschichte Fräulein's von Meysenbug, unter dem Titel "Memoiren einer Idealistin"?4 Was macht der arme kleine Marcel5 mit seinen Zähnchen? Wir müssen alle leiden, bevor wir ordentlich beissen lernen, physisch und moralisch. Beissen um uns zu nähren, versteht sich, nicht beissen, um zu beissen! Giebt es nicht von einem gewissen schönen blonden Weibchen ein gutes Bild? 6 Ich reise Sonntag über 8 Tage fort nach Italien, auf lange Zeit. Von dort bekommen Sie Nachricht. Ein Brief an meine Adresse in Basel (Schützengraben 45) erreicht mich jedenfalls. Von ganzem Herzen 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Basel, 24. September 1876: Lieber und werther Herr, nach einem solchen Briefe, einem so ergreifenden Zeugnisse Ihrer Seele und Ihres Geistes kann ich nichts sagen: als allein dies bleiben wir uns nahe, sehen wir zu dass wir uns nicht wieder verlieren, nachdem wir uns gefunden haben! Ich sehe die schöne Gewissheit vor mir, einen wahren Freund mehr zu gewinnen. Und wenn Sie wüssten, was dies für mich bedeutet! Bin ich doch immer auf Menschenraub aus, wie nur irgend ein Corsar; aber nicht um diese Menschen in der Sclaverei, sondern um mich mit ihnen in die Freiheit zu verkaufen. Nun wünschte ich, dass wir eine Zeit einmal zusammen leben möchten: denn meine Augen (welche man noch dazu mit einer Atropinkur behandelt) verbieten mir eine briefliche Verständigung, selbst wenn eine solche möglich wäre; woran ich aber zweifle.1 Sie gehen am 1 October nach Davos, und ich, am gleichen Tage, nach Italien, um in Sorrent meine Gesundheit wieder zu finden, im Zusammenleben mit meiner verehrten Freundin Fräulein von Meysenbug (kennen Sie deren "Memoiren einer Idealistin"? Stuttgart 1875)2 ebenfalls begleiten mich ein Freund und ein Schüler3 dahin wir alle haben ein Haus zusammen und alle höheren Interessen überdies gemeinsam: es wird eine Art Kloster für freiere Geister. Von dem erwähnten Freunde will ich nicht verschweigen, dass er der Verfasser eines anonymen sehr merkwürdigen Buches ist "psychologische Beobachtungen" (Berlin Carl Duncker 1875)4 Warum erzähle ich dies Ihnen? O Sie errathen meine stille Hoffnung: wir bleiben ungefähr ein Jahr in Sorrent. Dann kehre ich nach Basel zurück, es sei denn dass ich irgendwo mein Kloster, ich meine "die Schule der Erzieher" (wo diese sich selbst erziehen) in höherem Style aufbaue. Von ganzem Herzen Ihnen ergeben Friedr. Nietzsche 1. Nietzsche's opthamologist and colleague at Basel, Johann Heinrich Schieß-Gemuseus (1833-1914), prescribed an atropine cure.
Basel, den 27. September 1876: Hochverehrter Freund! Sie haben mir durch den kleinen Auftrag, welchen Sie mir erteilten, Freude gemacht: es erinnert mich an die Tribschener Zeiten.1 Ich habe jetzt Zeit, an Vergangenes, Fernes wie Nahes, zu denken, denn ich sitze viel im dunkelen Zimmer, einer Atropin-Kur der Augen wegen, welche man nach meiner Heimkehr für nötig fand.2 Der Herbst, nach diesem Sommer ist für mich, und wohl nicht für mich allein, mehr Herbst als ein früherer. Hinter dem grossen Ereignisse liegt ein Streifen schwärzester Melancholie,3 aus dem man sich gewiß nicht schnell genug nach Italien oder ins Schaffen oder in beides retten kann. Wenn ich Sie mir in Italien denke, so vergegenwärtige ich mir, daß Ihnen dort die Inspiration zum Anfange der Rheingold-Musik kam. Möge es für Sie immer das Land der Anfänge bleiben! Sodann werden Sie die Deutschen eine Zeit lang los, und es scheint dies hie und da nötig zu sein, um etwas Ordentliches für sie tun zu können. Sie wissen vielleicht, daß ich auch im nächsten Monat nach Italien gehe, aber nicht, wie ich meine, als in ein Land der Anfänge, sondern des Endes meiner Leiden. Diese sind wieder auf einem Höhepunkte; es ist wirklich die höchste Zeit: meine Behörden wissen, was sie tun, wenn sie mir ein ganzes Jahr Urlaub geben, obgleich dieses Opfer für ein so kleines Gemeinwesen unverhältnismäßig groß ist; sie würden mich nämlich auf eine oder die andere Weise verlieren, wenn sie mir nicht diesen Ausweg eröffneten; ich habe in den letzten Jahren, dank der Langmütigkeit meines Temperamentes, Schmerzen über Schmerzen eingeschluckt, wie als ob ich dazu und zu nichts Weiterem geboren wäre. Der Philosophie, welche dies etwa lehrt, habe ich praktisch meinen Tribut in reichem Maße gezahlt. Diese Neuralgie geht so gründlich, so wissenschaftlich zu Werke, sie sondiert förmlich, bis zu welcher Grenze ich den Schmerz aushalten kann, und nimmt sich zu dieser Untersuchung jedesmal dreißig Stunden Zeit. Alle vier bis acht Tage muß ich auf eine Wiederholung dieses Studiums rechnen: Sie sehen, es ist die Krankheit eines Gelehrten; aber nun habe ich es satt, und ich will gesund leben oder nicht mehr leben. Völlige Ruhe, milde Luft, Spaziergänge, dunkele Zimmer das erwarte ich von Italien; mir graut davor, dort etwas sehen oder hören zu müssen. Glauben Sie nicht, daß ich morose bin; nicht die Krankheiten, nur die Menschen vermögen mich zu verstimmen, und ich habe immer die hilfbereitesten, rücksichtsvollsten Freunde um mich. Zuerst nach meiner Rückkehr den Moralisten Dr. Rée, jetzt den Musiker Köselitz, denselben, der diesen Brief schreibt; auch Frau Baumgartner will ich unter den guten Freunden nennen; vielleicht freut es Sie zu hören, daß die französische Übersetzung meiner letzten Schrift (R[ichard] W[agner] i[n] B[ayreuth]) von der Hand dieser Frau im nächsten Monat gedruckt wird.4 Käme der "Geist" über mich, so würde ich Ihnen einen Reisesegen dichten; aber dieser Storch hat sein Nest neuerdings nicht auf mir gebaut: was ihm zu verzeihen ist. So nehmen Sie denn mit den herzlichsten Wünschen fürlieb, die Ihnen als gute Begleiter folgen mögen: Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin, meiner "edelsten Freundin" um dem Juden Bernays einen seiner unerlaubtesten Germanismen zu entwenden.5 Treulich, wie immer 1. When the Wagners resided in the Landhaus Tribschen near Lucerne, Cosima Wagner often sent requests to Nietzsche to purchase things in Basel shops, which were better stocked than those in Lucerne. But, in this case, Richard Wagner sent a 09-23-1876 telegram to Nietzsche asking him to purchase "zweier Paar seiedeneren unterjacke und hosen" (two pairs of silk vests and underpants[!]), and send them to Italy, where he was traveling after the financial failure of the August 1876 Bayreuth Festival.
Sorrent près de Naples. Villa Rubinacci. 16. Dezember [1876]: Sie sind mir hoffentlich, meine verehrte Freundin, gut geblieben, ob ich Ihnen schon so lange Zeit jede Auskunft über meinen Aufenthalt und mein Ergehen schuldig blieb. Aber allen meinen Freunden ging es so wie Ihnen, ich konnte und durfte nicht anders meine unerträglichen Kopfschmerzen, gegen welche ich kein Mittel bewährt gefunden habe, zwingen mich zu einer stillschweigenden Entsagung im freundschaftlichen Verkehre. Auch heute mache ich nur eine Ausnahme von der Regel und fürchte auch selbst dafür büssen zu müssen. Aber ich möchte gar zu gerne etwas von Ihnen hören, und vielleicht etwas Ausführliches machen Sie mir dieses Weihnacht-Vergnügen. Es wird die französische Übersetzung meiner Schrift über R. Wagner2 unterwegs sein und hoffentlich zu Weihnachten bei Ihnen eintreffen eine neue kleine Zudringlichkeit wie dieser Brief, um ein paar Zeilen nein, mehrere Paar Zeilen von Ihnen zu erobern. In unserem kleinen Kreise3 ist viel Nachdenken, Freundschaft, Aussinnen, Hoffen, kurz ein ganzes Theil Glück beisammen; dies empfinde ich trotz der vielen Schmerzen und der schlimmen Perspective meiner Gesundheit. Es ist vielleicht noch ein bischen Glück mehr in der Welt, aber einstweilen wünsche ich von Herzen allen Menschen, dass es ihnen ergehen möge wie uns, wie mir: sie dürfen dann schon zufrieden sein. Neulich fiel mir ein, Sie, meine Freundin, möchten einen kleinen Roman schreiben und ihn mir zu lesen geben: man übersieht so schön, was man hat und was man vom Leben wünscht und wird gewiss dabei nicht unglücklicher das ist die Wirkung der Kunst. Jedenfalls wird man weiser dabei. Vielleicht ist es ein thörichter Rath: dann sagen Sie mir, dass Sie über mich gelacht haben; es macht mir Vergnügen dies zu hören. Herzlich grüßend Ihr 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
[Sorrent, 19. Dezember 1876]: Verehrteste Frau! Ihr Geburtstag ist da und ich weiß kein Wort, mit dem ich denken könnte, Ihrer Empfindung dabei zu begegnen. Wünschen? Glück wünschen? ich verstehe diese Worte kaum mehr, wenn ich an Sie denke; hat man erst gelernt, das Leben groß zu nehmen, so fällt der Unterschied von Glück und Unglück hinweg, und gar über das "Wünschen" kommt man hinaus. Alles das, woran Ihr Leben jetzt hängt, hat kommen müssen, wie es kam, und namentlich das gegenwärtige ganze Nach-Bayreuth1 ist nicht anders vorzustellen als es ist, denn es entspricht dem ganzen Vor-Bayreuth; was vorher elend und trostlos war, ist es auch jetzt noch, und was groß war, ist es geblieben, ja ist es jetzt erst recht. Wir können solche Tage wie den Ihrigen nur feiern, nicht beglückwünschen. Von Jahr zu Jahr wird man stiller und zuletzt sagt man über Persönliches kein ernstes Wort mehr. Der Abstand meiner jetzigen, durch Kranksein erzwungenen Lebensweise ist so groß, daß die letzten 8 Jahre mir fast aus dem Kopfe kommen und die früheren Lebenszeiten, an welche ich in der gleichartigen Mühsal dieser Jahre gar nicht gedacht hatte, sich mit Gewalt hinzudrängen. Fast alle Nächte verkehre ich im Traume mit längstvergessenen Menschen, ja vornehmlich mit Todten. Kindheit Knaben- und Schulzeit sind mir ganz gegenwärtig; mir ist bei Betrachtung früherer Ziele und des thatsächlich Erreichten aufgefallen, daß ich in allem, was ich thatsächlich erreicht habe, bei Weitem über die Hoffnungen und allgemeinen Wünsche der Jugend hinausgekommen bin; daß ich dagegen von allem, was ich mir absichtlich vorgenommen habe, durchschnittlich immer nur den dritten Theil zu erreichen vermochte. So wird es wahrscheinlich auch fernerhin bleiben. Wenn ich völlig gesund wäre wer weiß, ob ich nicht meine Aufgaben mir in's Abenteuerliche weit steckte? Inzwischen bin ich gezwungen, die Segel etwas einzuziehen. Für die nächsten Baseler Jahre habe ich mir die Vollendung einiger philologischer Arbeiten vorgenommen, und Freund Köselitz2 hat sich bereit erklärt, mir als Sekretär, vorlesend und nachschreibend, hülfreich zu sein (denn mit meinen Augen ist es so gut wie vorbei)[.] Bin ich mit den Philologica wieder in Ordnung, so erwartet mich Schwereres: werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in's Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer's Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch[openhauer] schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen. In der Zwischenzeit ist meine "Vernunft" sehr thätig3 gewesen damit ist denn das Leben wieder um einen Grad schwieriger, die Last größer geworden! Wie wird man's nur am Ende aushalten? Wissen Sie, daß mein Lehrer Ritschl4 gestorben ist? Ich bekam die Nachricht fast zugleich mit der Meldung vom Tode meiner Großmutter und meines nächsten Baseler philolog. Collegen Gerlach.5 Ich habe noch in diesem Jahre durch einen Brief Ritschl's6 den rührenden Eindruck bestätigt erhalten, den ich aus seinem früheren Verkehre mit mir hatte: er war gegen mich herzlich vertrauensvoll und treu geblieben, ob er schon eine zeitweilige Schwierigkeit des Verkehrs, ja eine rücksichtsvolle Trennung als nothwendig begriff. Ihm verdanke ich die einzige wesentliche Wohlthat meines Lebens, meine Baseler Stellung als Professor der Philologie: ich verdanke sie seiner Freisinnigkeit, seiner Scharfsichtigkeit und Hülfbereitschaft für junge Menschen. In ihm starb der letzte grosse Philologe; er hinterläßt gegen 2000 Schüler, die sich nach ihm nennen, darunter etwa 30 Universitätsprofessoren. Indem ich meinen Brief enden muß (ich darf nicht schreiben), fällt mir ein, daß Frau Marie Baumgartner7 die ergebne Bitte um Zurücksendung der französischen Schopenhauer-Übersetzung durch mich aussprechen läßt; ihre Adresse ist: Lörrach, Großherzogth. Baden. In treuer Verehrung Sorrento Ich vergaß die Empfehlungen von Dr. Rée. 1. Allusion to the financial failure of the August 1876 Bayreuth Festival. |
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