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Nietzsches Briefe

1875

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Hans von Bülow (1830-1894).
1874.
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Naumburg, 2. Januar 1875:
Brief an Hans von Bülow.

Hochverehrter Herr

ich habe mich durch Ihren Brief1 viel zu erfreut und geehrt gefühlt, um mir nicht den Vorschlag, welchen Sie mir in Betreff Leopardi's2 machen, zehnfach zu überlegen. Ich kenne dessen prosaische Schriften freilich nur zum kleinsten Theile; einer meiner Freunde,3 der mit mir in Basel zusammenwohnt, hat öfters einzelne Stücke daraus übersetzt und las sie mir vor, jedes mal zu meiner grossen Überraschung und Bewunderung; wir besitzen die neueste Livorneser Ausgabe.4 (Soeben ist übrigens ein französisches Werk über Leopardi erschienen, Paris bei Didier, der Name des Autors ist mir entfallen — Boulé?)5 Die Gedichte kenne ich nach einer Übersetzung Hamerling's.6 Ich selber nämlich verstehe gar zu wenig Italiänisch und bin überhaupt obschon Philologe doch leider gar kein Sprachenmensch (die deutsche Sprache wird mir sauer genug).

Aber das Schlimmste ist: ich habe gar keine Zeit. Die nächsten 5 Jahre habe ich festgesetzt, um in ihnen die übrigen 10 Unzeitgemässen7 auszuarbeiten und um damit die Seele von all dem polemisch-leidenschaftlichen Wuste möglichst zu säubern. In Wahrheit aber begreife ich kaum, wo ich dazu die Zeit finden soll; denn ich bin nicht nur akademischer Lehrer, sondern gebe auch griechischen Unterricht am Baseler Pädagogium.8 Meine bisherigen schriftartigen Erzeugnisse9 (ich möchte nicht "Bücher" und auch nicht "Broschüren" sagen) habe ich in spärlichen Ferien und in Krankheitszeiten mir beinahe abgelistet, die Straussiade10 musste ich sogar dictiren, weil ich damals weder lesen noch schreiben konnte. Da es aber mit meiner Leiblichkeit jetzt sehr gut steht, keine Krankheit in Sicht ist und die täglichen Kaltwasserbäder mir keine Wahrscheinlichkeit geben, dass ich je wieder krank werde, so steht es mit meiner schriftstellerischen Zukunft fast hoffnungslos — es sei dass sich mein Tichten und Trachten nach einem Landgute irgendwann einmal erfüllte.11

Auf eine solche schüchterne Möglichkeit werden Sie Sich, verehrter Herr, natürlich nicht einlassen; weshalb ich Sie bitten muss, von mir bei diesem Plane abzusehen. Dass Sie aber überhaupt dabei an mich "gedacht" haben, ist eine Form der Sympathie, über die ich mich nicht genug freuen kann, selbst wenn ich erkennen sollte, dass es für jenes Vermittler-Amt zwischen Italien und Deutschland würdigere und geeignetere Persönlichkeiten giebt.

Ich verharre in steter Hochschätzung
Ihr ergebenster
Friedrich Nietzsche

1. See 11-01-1874: Letter from Hans von Bülow.
2. In his 11-01-1874 letter to Nietzsche, Hans von Bülow, who himself had been translating the Italian philosopher and poet Giacomo Leopardi (1798-1837), wrote: "Schopenhauer's großer romanischer Bruder Leopardi harrt noch immer vergeblich seiner Einführung bei unserer Nation. Seine Prosa ist uns wichtiger als seine Poesie, die, wie Sie wissen, durch Brandes 69, und ich glaube vor Kurzem durch einen Anderen (Lobedanz?) verdeutscht worden ist. Mit einer Übersetzung aber im landläufigen Sinne ist's nicht gethan: es bedarf eines Nach- und Mit-Denkers. / Werden Sie doch dieser 'Schlegel'!" (Schopenhauer's great Romansh brother Leopardi still awaits in vain his introduction to our nation. His prose is more important to us than his poetry, which, as you know, has been translated into German by Brandes 69 and I believe recently by another (Lobedanz?). But a translation in the usual sense won't be enough: it requires a cogitator and co-thinker. / Why don't you become this "Schlegel"!) The references include: 1. Giacomo Leopardi, Gustav Brandes (übersetzt, hrsg.), Giacomo Leopardi's Dichtungen. Mit einer Einleitung über das Leben und Wirken des Dichters. Hannover: Rümpler, 1869. 2. Edmund Lobedanz (1820-1882): German-Danish librettist, lyricist, dramatist, and translator. 3. August Wilhelm Schlegel (1767-1845): German critic, poet, and translator of Shakespeare.
3. Heinrich Romundt (1845-1919) was Nietzsche's and Erwin Rohde's friend, classmate, and member of the Classical Philology Club at the University of Leipzig. He wrote his initial doctoral thesis on Kant's Critique of Pure Reason, and later earned another Ph.D on the theory of knowledge. In 1872, Romundt move to Basel where he was an unpaid lecturer in philosophy. In April 1873, he convinced his friend Paul Rée to attend Nietzsche's lectures in Basel. On 03-31-1874, Romundt became Nietzsche's and Franz Overbeck's housemate in Basel before leaving the city on 04-10-1875. He planned to become a Catholic priest but soon dropped that idea and became a high-school teacher in Oldenburg. Romundt's familiarity with Leopardi is shown in a 03-14-1875 letter from Adolf Baumgartner to Nietzsche, as well as a 10-12-1878 letter to Nietzsche from Romundt.
4. Le operette morali di Giacomo Leopardi. Con la prefazione di Pietro Giordani. Edizione accresciuta e corretta da G. Chiarini. Livorno: Vigo, 1870.
5. A. Bouché-Leclercq, Giacomo Leopardi sa vie et ses oeuvres. Paris: Didier, 1874.
6. Giacomo Leopardi, Gedichte. Verdeutscht in den Versmaßen des Originals von Robert Hamerling. Hildburghausen: Verl. d. Bibliogr. Instituts, 1866.
7. Nietzsche drew up a plan for thirteen Untimely Meditations in the autumn of 1873 (it did not include the two he published on Schopenhauer and Wagner). See Nachlass, Sommer-Herbst 1873 29[163].
8. Nietzsche taught six lessons of Greek a week at the pedagogium.
9. The Birth of Tragedy, and the first 3 "Untimely Meditations."
10. Unzeitgemässe Betrachtungen, 1. David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller, (Untimely Meditations, 1. David Strauss: The Confessor and the Writer). German Text.
11. Regarding Nietzsche's plans to be independent.

 

Emma Guerrieri-Gonzaga.
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Naumburg, 2. Januar 1875:
Brief an Emma Guerrieri-Gonzaga.1

Also verehrte Frau! Wir müssen uns einstweilen hinein fügen, dass unsere Übereinstimmung keine völlige, vor allem noch keine grundsätzliche ist. So nämlich habe ich Ihre Empfindung mir gedeutet, wie Sie mir dieselbe mit der dankenswürdigsten Offenheit mittheilten:2 ich meine, Ihre widerstrebende Stimmung ging diesmal über das zunächst vorliegende Buch3 hinaus und brachte es zu einem allgemeinen Zweifel und Bedenken in Betreff aller meiner Wege und Ziele. Denken Sie, dass mir Ihr Brief zumal als eine Antwort auf die "Historie"4 erschien; als ob Sie nämlich jetzt dahin gelangt seien, das darin ausgesprochene Allgemeine jetzt so in der Nähe zu sehen, wie ich es etwa gewohnt bin anzusehen: wobei Sie erschraken und an den Allgemeinheiten selbst irre wurden.

In diesem Zweifel muss ich Sie nun belassen, denn ich habe gar kein Vertrauen zu brieflichen Aufklärungen so complicirter Dinge; wobei zuletzt doch jeder nach seinem Maasse, ich meine nach seinen Erfahrungen und Bedürfnissen misst. Über die eigentlichen Missverständnisse wird Sie Ihr reiner und zum Wahren strebender Sinn selbst besser aufklären und vor allem fruchtbarer aufklären als das irgend ein Brief vermöchte; fragen Sie sich, ich bitte, z. B. darnach, ob ich ein Feind des nationalen Gefühls bin und ob ich das deutsche Reich verunglimpfe, oder ob nicht viel mehr — — doch nein, in solchen Dingen sollen Sie mich rechtfertigen, nicht ich mich. Aber abgesehn von den Missverständnissen — nicht wahr, Sie verzeihen es, wenn ich ganz unbefangen das Wort gebrauche? — so wünschte ich, Sie möchten im Ganzen noch einmal oder zweimal den Versuch machen, einen neuen Gesichtswinkel (Gefühlswinkel?) für diese letzte Schrift zu gewinnen, Sie möchten nicht von vornherein zu hastig darauf ausgehen, das für Sie zunächst Wesentliche finden zu wollen. Der Weg von dem Schopenhauerischen Erzieherthum bis zu dem einzelnen Individuum ist noch sehr lang, und selbst das, was ich über diesen Weg noch zu sagen habe, — der Inbegriff der noch übrigen 10 Unzeitgemässen Betrachtungen5 — ist noch sehr viel. Ein wenig Geduld! —

Nein, verehrteste Frau, es darf nicht so sein, dass Sie von einer heroischen Musik einen deprimirenden Eindruck davon tragen. Es heisst dies wirklich nicht, verlangen dass Sie männlich empfinden sollen. —

Leben Sie wohl und bleiben Sie geneigt

Ihrem ergebensten
Friedrich Nietzsche

1. Emma Guerrieri-Gonzaga (1835-1900): German pedagogue, and friend of Nietzsche.
2. Emma Guerrieri-Gonzaga "confessed" that she was depressed by Nietzsche's Unzeitgemässe Betrachtungen, 3. Schopenhauer als Erzieher, (Untimely Meditations, 3. Schopenhauer as Educator). German Text. See Florence, 12-07-1874: Letter from Emma Guerrieri-Gonzaga to Nietzsche in Basel. "Was werden Sie sagen wenn ich mich schon wieder zu einer Beichte gedrängt fühle? Ihre letzte Schrift hat mir einen deprimirenden Eindruck hinterlassen trotz mancher großer Gedanken, die mich wie Blitze durchleuchteten und mir ein Besitz für's Leben geworden sind! Aber Sie stoßen die ganze bestehende Welt in einen düstern Abgrund, in dem Alles chaotisch sich umherwälzt und nie und nimmer sich zum Lichte emporzuschwingen vermag! Sie lassen dem Sehnenden, Strebenden keine Brücke, auf der er mit langsam zögerndem Schritte aus der ihn umgebenden schlechten Welt hinüberschreiten könnte in jenes höhere Reich der Wahrheit, Schönheit, Liebe! Und doch hät uns die Natur keine Flügel gegeben!" (What will you say if yet again I feel pressured into a confession? Your last work left a depressing impression on me, despite many great ideas that shone through me like flashes of lightning and for me have become a possession for life! But you are pushing the entire existing world into a gloomy abyss, in which everything tumbles about chaotically and will never, ever be able to soar upwards into the light! You leave no bridge for those who are yearning, striving, upon which one could step slowly and hesitantly out of the evil world surrounding one into that higher realm of truth, beauty, love! And yet Nature has not given us wings!) The complete letter: In German. In English.
3. Unzeitgemässe Betrachtungen, 3. Schopenhauer als Erzieher, (Untimely Meditations, 3. Schopenhauer as Educator). German Text.
4. Unzeitgemässe Betrachtungen, 2. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, (Untimely Meditations, 2. On the Use and Abuse of History for Life). German Text.
5. Nietzsche drew up a plan for thirteen Untimely Meditations in the autumn of 1873 (it did not include the two he published on Schopenhauer and Wagner). See Nachlass, Sommer-Herbst 1873 29[163].

 


Malwida von Meysenbug.
From b/w photo, 1880.
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Naumburg, 2. Januar 1875:
Brief an Malwida von Meysenbug.

Liebe hochverehrte Freundin, wenn ich so spät auf einen so ausgezeichneten und jedes Dankes würdigen Brief antworte, so liegt der Grund in meinem curiosen Elend, zu dem jetzt mein Baseler Beruf geworden ist. Ich habe gegenwärtig und für ein paar Semester so viel zu thun, dass ich ordentlich in Betäubung von einem Tag in den andern gelange; so will's die "Pflicht" und trotzdem ist mir oft dabei zu Muthe als ob ich mit dieser "Pflicht" meiner eigentlichen Pflicht nicht nachkäme; und mit der letzteren hängt gewiss der Verkehr mit den wenigen Menschen zusammen, welche — wie Sie — in allem, was sie thun und leben, mich an das, was noth thut, erinnern.

Nun, ich lese griechische Literaturgeschichte1 und interpretire die Rhetorik des Aristoteles2 und gebe Stunden über Stunden, die Gesundheit hälts aus, die Augen eingeschlossen, nach der äusserlichen Ansicht der Dinge geht es mir also gut. Dabei aber weiss ich gar nicht mehr, wann ich wieder dazu kommen soll, meinen unzeitgemässen Cyclus3 fortzusetzen. Mein geheimes aber hoffnungsloses Tichten und Trachten geht auf ein Landgut.4 Ja, Weisheit mit einem Erbgut! wie Jesus Sirach sagt.5

Jetzt habe ich 10 Tage Ferien hinter mir, ich verlebte sie mit Muttter und Schwester und fühle mich recht erholt;6 ich liess während dem alles Denken und Sinnen hinter mir und machte Musik. Viele tausend Notenköpfchen sind hingemalt worden, und mit einer Arbeit bin ich ganz fertig. Der Hymnus an die Freundschaft7 ist jetzt zweihändig und vierhändig anzustimmen; seine Form ist diese:

Vorspiel Festzug der Freunde zum Tempel der Freundschaft
Hymnus, erste Strophe.
Zwischenspiel — wie in traurig-glücklicher Erinnerung.
Hymnus, zweite Strophe.
Zwischenspiel, wie eine Wahrsagung über die Zukunft. Ein Blick in weiteste Ferne.
Im Abziehen: Gesang der Freunde, dritte Strophe und Schluss.

Ich bin sehr zufrieden damit. Wollte Gott, es wäre auch ein andrer Mensch, zumal meine Freunde! Die Dauer der ganzen Musik ist genau 15 Minuten — Sie wissen was darin alles vorgehen kann, gerade die Musik ist ein deutliches Argument für die Idealität der Zeit. Möchte meine Musik ein Beweis dafür sein, dass man seine Zeit vergessen kann, und dass darin Idealität liegt!

Ausserdem habe ich meine Jugend-Compositionen8 revidirt und geordnet. Es bleibt mir ewig sonderbar, wie in der Musik die Unveränderlichkeit des Characters sich offenbart; was ein Knabe in ihr ausspricht, ist so deutlich die Sprache des Grundwesens seiner ganzen Natur, dass auch der Mann daran nichts geändert wünscht — natürlich die Unvollkommenheit der Technik und s. w. abgerechnet.

Wenn nach Schopenhauer9 der Wille vom Vater, der Intellect von der Mutter vererbt, so scheint es mir, dass die Musik als der Ausdruck des Willens auch Erbgut vom Vater her ist. Sehen Sie sich in Ihrer Erfahrung um: im Kreise der meinigen stimmt der Satz.

Heute Nachts fahre ich nach Basel zurück, durch hohen Schnee und kräftige Kälte, seien Sie froh, verehrte Freundin, jetzt nicht in unserm Bärenhäuter-Clima zu sein. —

Gestern schrieb Frau Wagner10 und Gersdorff11 an mich. Wir hoffen alle in der Mitte dieses Jahres zu den Bayreuther Proben zusammen zu kommen.12

Ach könnten Sie doch dabei sein.13 Und möchte Ihnen dies Jahr erträglich und leicht werden! Und einiges Beglückende und Gute schenken!

Ich sah gestern als am ersten Tage des Jahres mit wirklichem Zittern in die Zukunft. Es ist schrecklich und gefährlich zu leben — ich beneide jeden, der auf eine rechtschaffne Weise todt wird.

Im Übrigen bin ich entschlossen alt zu werden; denn sonst kann man es zu nichts bringen. Aber nicht aus Vergnügen am Leben will ich alt werden. Sie verstehen diese Entschlossenheit.

Mit den herzlichsten Wünschen allezeit
der Ihrige
Friedrich Nietzsche

Meine Schwester wird allernächstens schreiben.

1. Nietzsche's lectures on the "Geschichte der griechischen Litteratur" (History of Greek Literature) were held in WS1874-75, SS1875, and WS1875-76.
2. Nietzsche's lectures on the "Erklärung von Aristoteles' Rhetorik" (Explanation of Aristotle's Rhetoric) were held in WS1874-75 and SS1875.
3. Nietzsche drew up a plan for thirteen Untimely Meditations in the autumn of 1873 (it did not include the two he published on Schopenhauer and Wagner). See Nachlass, Sommer-Herbst 1873 29[163].
4. Regarding Nietzsche's plans to be independent.
5. A saying from the apocryphal book of Ecclesiasticus. See "Der Prediger Salamo." Chapter 7, 12. E.g., in: Martin Luther, Heinrich Ernst Bindfeil, Martin Luther's Bibelübersetzung. Nach Der Letzten Original-Ausgabe. Kritisch bearbeitet von Dr. Heinrich Ernst Bindfeil [...] und Dr. Hermann Agathon Niemeyer [...]. Dritter Theil. Die poetischen Bücher des Alten Testaments. Hiob — Hoheslied. Halle: Canstein, 1850, 405. "Weisheit ist gut mit einem Erbgut, und hilft, daß sich einer der Sonne freuen kann." (Wisdom is good with an inheritance, and helps in being able to enjoy the sun.)
6. Nietzsche stayed in Naumburg from 12-23-1874 to 01-02-1875.
7. Nietzsche's last musical composition, Hymn auf die Friendship (Hymn to Friendship). Piano: December 29, 1874. See Friedrich Nietzsche in Words and Pictures. Appendix 2. Chronology of Nietzsche's Music. The Nietzsche Channel, 2012, 24-25.
8. See Friedrich Nietzsche in Words and Pictures. Appendix 2. Chronology of Nietzsche's Music. The Nietzsche Channel, 2012.
9. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 2. §43, "Erblichkeit der Eigenschaften." In: Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Leipzig: Brockhaus, 1873, 591-607 (592).
10. Bayreuth, 12-31-1874: Letter from Cosima Wagner.
11. Ostrichen, 12-30-1874: Letter from Carl von Gersdorff.
12. Nietzsche did not attend.
13. She was in poor health and could not attend.

 


Paul Deussen.
From b/w photo, 1885.
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Basel, Mitte Januar 1875:
Brief an Paul Deussen.

Du hast mir wirklich lieber Freund eine recht grosse Freude mit Deinem Briefe1 gemacht. Wenn sich alles so verhält, wie Du es schilderst und Du die entsprechende Energie, um solche Pläne durchzuführen hast — oder bewahrst, wie ich sagen könnte, so bekommt wirklich Dein Leben in seltnem Grade den Character des Vernünftigen und Gemeinnützlichen. Ich lobe sehr Deine Absicht, Dich durch einige Jahre strengeren Frohndienstes für alle übrigen Jahre des Lebens ganz und gar unabhängig zu machen; werde in der Durchführung dieses Planes ja nicht unsicher! Es ist kaum auszudrücken, was Du damit Dir gewinnst und welcherlei Gefahren Du damit den Weg verlegst. Und noch höher erscheint dieser Plan, wenn Du für die zukünftige so schwer errungene Mussezeit ein so edles Lebenswerk Dir vorgesetzt hast, wie es das ist, die indische Philosophie durch gute Übersetzungen uns zugänglich zu machen. Wüsste ich ein Mittel, um Dich zu einer solchen Lebensrichtung zu ermuthigen, wie gern wollte ich Dich ermuthigen! Mein Lob kann Dir nicht genügen, vielleicht schon eher meine Begierde, selber aus jener Quelle zu trinken, welche Du uns allen einmal öffnen willst.

Wenn Du wüsstest, mit welchem Missmuthe ich gerade immer an die indischen Philosophen gedacht habe! Was ich empfinden musste, als Prof. Windisch (der sich mit den philosophischen Texten sehr befasst hat, in London einen Katalog von c. 300 philosoph. Schriften verfasst hat!)2 mir sagen konnte, als er mir eine Sankhya-Schrift im Manuscript zeigte "Sonderbar, diese Inder haben immerfort philosophirt, und immer in die Quere!" Dieses "immer in die Quere" ist bei mir sprüchwörtlich geworden, um die Unbefähigung unsrer indischen Philologen, und ihre gänzliche Roheit zu bezeichnen. r_<@l BkÏl 8bk"<.3 Der alte Brockhaus hielt vor ein paar Jahren in Leipzig eine Rectoratsrede4 mit einem Überblick über die Resultate der indischen Philologie — aber von Philosophie war alles stumm, ich glaube, er hatte sie zufällig vergessen.

Also: Du sollst gepriesen sein, dass Du sie nicht auch zufällig vergessen hast.

Wie glücklich erscheint jetzt Deine vorausgegangne Beschäftigung mit Kant und Schopenhauer! Du hast eine schöne Art entdeckt, diesen Lehrmeistern Deine Dankbarkeit auszudrücken.

Overbeck und Romundt sind, ebenso wie ich, voll Deines Lobes; und letzterem bist Du bereits mit einem so vernunftvollen Lebensplane vorbildlich und ermuthigend erschienen. Er verlässt Ostern die Universität und überhaupt das akademische Philosophenthum und sucht eine Lehrerstelle.5

Beiläufig: Du hast mir vor einiger Zeit einmal gemeldet,6 dass Du durch Basel mit einem bestimmten Zug durchkommen würdest. Natürlich war ich auf dem Bahnhofe, zog aber schliesslich traurig ab, nachdem ich alle Menschen, welche der Genfer Zug brachte, gemustert hatte und Dich nicht darunter fand.

Das musst Du aber irgend wann einmal wieder durch die That gut machen, nicht wahr, lieber Freund?

Und nun lebe wohl! Meine Segenswünsche sollen mit Dir sein.

Dein Friedrich
Nietzsche.

1. Aachen, 01-17-1875: Letter from Paul Deussen to Nietzsche in Basel.
2. Ernst Windisch (1844-1918): Nietzsche's friend at the University of Leipzig, and member of the Classical Philology Club there. Windisch went on to specialize in Sanskrit texts. From 1870 to 1871 he resided in London, where he helped catalog the Indian Office Library's Sanskrit manuscripts. See his entry in Nietzsche's Library.
3. "Esel zur Lyra": Ass with the lyre. A pejorative ancient proverbial expression used against feckless endeavors. See Phaedrus, Fabulae Aesopiae, 12. For a thorough analysis of the phrase, see Martin van Schaik, The Harp in the Middle Ages. The Symbolism of a Musical Instrument. 2d edition. Boston: Brill, 2005, 116-135.
4. Hermann Brockhaus (1806-1877): Sanskrit specialist and later rector of the University of Leipzig in 1872-1873.
5. Heinrich Romundt (1845-1919) was Nietzsche's friend, classmate, and member of the Classical Philology Club at the University of Leipzig. He wrote his initial doctoral thesis on Kant's Critique of Pure Reason, and later earned another Ph.D on the theory of knowledge. In 1872, Romundt move to Basel where he was an unpaid lecturer in philosophy. In April 1873, he convinced his friend Paul Rée to attend Nietzsche's lectures in Basel. On 03-31-1874, Romundt became Nietzsche's and Franz Overbeck's housemate in Basel before leaving the city on 04-10-1875. He planned to become a Catholic priest but soon dropped that idea and became a high-school teacher in Oldenburg.
6. Unknown letter.

 


Franziska Nietzsche.
By: Jakob Höflinger, Basel.
From b/w photo, ca. 1869.
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Basel, 31. Januar 1875:
Brief an Franziska Nietzsche.

Meine liebe gute Mutter, ich komme eben vom Mittagsessen bei Vischer-Heußlers1 zurück und will schnell noch mein Geburtstagsbriefchen2 schreiben, damit Du es noch zur rechten Zeit und womöglich noch vor der rechten Zeit bekommst (um es nämlich wieder gut zu machen, daß mein Brief3 voriges Jahr wohl ein wenig spät kam) Wenn Du nächsten Dienstag 49 Jahr werden solltest — ich weiß es wirklich nicht genau — so will ich erzählen, was die alten Griechen von diesem Jahre hielten; sie meinten, man sei in diesem Jahre auf der Höhe und befinde sich geistlich und leiblich recht gut; weshalb ich Dir zu diesem Jahre besonders gratuliren will. Ich nehme ungefähr an, Du habest damit das erste Halbtheil Deines Lebens abgeschlossen, doch steht einer andern Auffassung nichts entgegen, wenn Du zb. vorziehen solltest, damit erst das erste Drittel des Lebens absolvirt zu haben... In letzterem Falle würdest Du auf dieser Erde noch Zeit haben bis 1973, im ersteren bloß bis 1924. Da ich mir selber vorgenommen habe, leidlich alt zu werden, so wollen wir uns nur daran gewöhnen, uns ungefähr als gleichalterig anzusehen; und wer weiß, ob Du nicht in 10 Jahren jünger aussiehst als ich in 10 Jahren! Ich glaube es beinahe und will mich nicht wundern. Irgendwann wird mich jeder der es nicht besser weiß, für den älteren Bruder halten (und Lisbeth vielleicht, wenn sie sich so fort in ihrer Jugend einmumisirt) für unser Enkelchen. Das wird eine schöne verkehrte Welt abgeben! Und woher kommts? Daher daß die Frau Mutter partout nicht alt werden will. Wozu ich heute aber von ganzem Herzen gratulire.

Mir geht es erträglich. Genug Arbeit, wenig Ruh bei Tag und Nacht. Doch halten's die Augen aus.

Die Jahre rennen so hin, und ich bin ferne davon, das Leben für eine schöne Erfindung anzusehen.

Am vorigen Freitag Abend war ich bei Hagenbach-Bischoffs4 zu Besuch. Siebers5 habe ich auch besucht, doch geht es nicht so gut bei Frau Sieber als man wünschen möchte. Heute Abend wird Dr. Hermann6 bei uns in der Baumannshöhle7 zu Gast sein, zum Abschied, er verläßt Basel mit diesem Monat. —

3 Sonnabende hinter einander war ich in Lörrach, wo die französische Übersetzung meiner letzten Schrift meine Anwesenheit wünschenwerth machte.8 Diese ist auch mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit fortgeführt worden; in 14 Tagen bekomme ich das fertige Manuscript und wir bemühen uns um einen Verleger in Paris. Mein deutscher Verleger9 in Schloß-Chemnitz ist über den bisherigen Verkauf recht zufrieden gestellt. Gersdorff wird Anfang März uns hier besuchen.10

Nun, meine liebe Mutter, feiere Deinen Ehrentag, wie auch ich ihn in der Ferne feiern werde. Behalte lieb Deinen

Fritz

1. Sophie Vischer-Heussler (1839-1915), and her husband Wilhelm Vischer-Heussler (1833-1886): Basel historian and politician.
2. Franziska Nietzsche's birthday was on February 2.
3. See Basel, 02-01-1874: Letter to Franziska Nietzsche in Naumburg.
4. Eduard Hagenbach-Bischoff (1833-1910): Professor of Physics at Basel University.
5. Ludwig Sieber (1833-1891): Chief Librarian of the Basel University Library.
6. Ernst Hermann (?-1877): Prosector at Basel University, and son of Friedrich Benedikt Wilhelm von Hermann (1795-1868): German economist..
7. The nickname of Nietzsche's residence in Basel.
8. Marie Baumgartner's translation of Schopenhauer als Erzieher (Schopenhauer as Educator) was completed in February 1874, but never published.
9. Ernst Schmeitzner.
10. Carl von Gersdorff visited Nietzsche in Basel from 03-06-1875 to 03-31-1875.

 


Malwida von Meysenbug.
From b/w etching.
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Basel, 7. Februar 1875:
Brief an Malwida von Meysenbug.

Verehrteste Freundin

heute giebt es eine Bitte oder wenigstens eine Anfrage. Inzwischen nämlich ist meine Schrift über Schopenhauer,1 an der Sie eine so rührende und mich geradezu beschämende Freude gehabt haben,2 ins Französische übersetzt worden.3 Es hat sich in den letzten Jahren ein junger Mann, Adolf Baumgartner,4 sehr an mich angeschlossen, und in ihm habe ich, wie ich hoffe, einen der Unserigen heran erzogen — Sie glauben nicht, wie gute Hoffnungen ich habe. Also, dessen Mutter, Marie Baumgartner-Köchlin, ist die Übersetzerin; auch sie hat sich immer mehr unsern Ansichten genähert (sie ist beiläufig eine dankbare Leserin gewisser idealistischer Memoiren5 und überhaupt eine treffliche und erfahrene Frau, mit einem wackeren Deutschen als Gatten und voll der unglaublichsten Liebe für ihren Adolf) Die Familie ist eine elsassische, Frau Baumgartner kämpfte in Sonnetten und Schriften gegen die Annexion.6 Nun suchen wir einen Pariser Verleger und fragen bei Ihnen an, ob nicht vielleicht durch Herrn Monod7 hier geholfen werden könnte.

Die Übersetzung ist sehr gut und geschickt, von mir in Betreff des Gedankens revidirt; wir haben die Hoffnung, dass Frau Wagner sie einmal durchlesen wird, bevor sie in die Druckerei wandert.8

Der Titel wäre "Arthur Schopenhauer." Ich sollte denken, es müsste für Franzosen mancherlei darin stehen, was sie nöthigte einmal aufzuhorchen.

Wenn Sie, verehrtestes Fräulein, ein Wörtchen davon in einem Brief an Frau Olga9 sagen wollten — wie dankbar wäre ich Ihnen! —

Wissen Sie bereits, dass seit gestern meine Schwester in Bayreuth ist, auf besonderen Wunsch von Frau Wagner, welche nächstens mit Wagner nach Wien und Pesth zu Concerten reist10 und während dem eine Stellvertreterin nöthig hatte. Meine Schwester ist sehr glücklich, einen Dienst hier leisten zu dürfen, aber sehr beklommen darüber, ob sie ihn wirklich leisten kann. Genug, ich meine, es ist eine hohe Schule für sie und die schönste Vorbereitung für die Bayreuther Sommerfeste,11 deren Gast wir beide sein werden. Diese beiden Jahre sind für mich geweiht — ich weiss nicht, wodurch ich verdient habe, sie zu erleben.

Ich brüte an einigem Neuen12 und habe immer, bevor ich bis zu einem bestimmten Punkte bin, rechte Angst, wie vor böser Zauberei und dem Unsegen und Mehlthau feindseliger Mächte. Schicken Sie mir Ihren Segen, ich bitte Sie darum.

Einen ausgezeichneten Brief von Frl. Mathilde Mayer13 aus Mainz, als Antwort auf den "Schopenhauer" wollte ich auch noch erwähnen. Dagegen ist Frau Guerrieri14 in Florenz diesmal nicht zufrieden, sondern durch meine letzte Schrift fast "rebellisch" geworden, wie sie selbst sagt, findet alles viel zu "polemisch" und bezweifelt den ganzen Weg, den ich gehe. Ja, was weiss ich von meinem "Weg"! Ich gehe ihn, weil ich es sonst gar nicht aushalten könnte und habe also keinen Grund, mir über ihn Zweifel und Bedenken zu machen. Es geht mir in summa ja eigentlich besser als allen meinen Mitmenschen, seit ich auf diesem Wege bin, über den zwei Sonnen Wagner und Schopenhauer leuchten und ein ganzer griechischer Himmel sich ausspannt. —

Bewahren Sie mir Ihre Liebe und nehmen Sie meine herzlichsten Wünsche für Ihr Wohl an.

Ihr ergebenster und
getreuer
Friedrich Nietzsche.

1. Unzeitgemässe Betrachtungen, 3. Schopenhauer als Erzieher, (Untimely Meditations, 3. Schopenhauer as Educator). German Text.
2. See Rome, 11-15-1874: Letter from Malwida von Meysenbug to Nietzsche in Basel.
3. Marie Baumgartner's translation of Schopenhauer als Erzieher (Schopenhauer as Educator) was completed in February 1874, but never published.
4. In February 1874, Nietzsche had started dictating to Adolf Baumgartner (1855-1930): a student of Jacob Burckhardt and Nietzsche at the pedagogium in Basel, and the son of Marie Baumgartner. Baumgartner left Basel in the autumn of 1874, serving in the Hussars for his one-year military service. He returned to Basel to resume his studies, which ended in the summer of 1877. On Nietzsche's advice, he went to Jena in the autumn of 1877 to study under Erwin Rohde, but their relationship soured. Baumgartner went on to write a philological book on the Armenian historian, Moses of Khoren (ca. 410-490s). See Adolf Baumgartner, Dr. M. Lauer und das zweite Buch des Môses Chorenazi. Leipzig: Stauffer, 1885. In 1878, Nietzsche gifted him a dedicated copy of Ralph Waldo Emerson's Neue Essays (Letters and Social Aims). Autorisirte Uebersetzung mit einer Einleitung von Julian Schmidt. Stuttgart: Abendheim, 1876. The dedication reads: "Herrn Adolf Baumgartner / als Gefährten für einsame / Spaziergänge / empfohlen. / / Und dabei gedenken Sie auch / meiner! — / / F. Nietzsche / Ende 1878." (Mr. Adolf Baumgartner / Recommended as a companion on lonely walks. / / And with it remember me too! — / / F. Nietzsche / Ende 1878.) For further biographical details on Baumgartner, see Emil Dürr, "Adolf Baumgartner 1855-1930." In: Basler Jahrbuch. 1932, 211-242.
5. Malwida von Meysenbug's anonymously published book, Mémoires d'une idéaliste (entre deux révolutions): 1830-1848. Genève et Bale: Georg, 1869. She gifted Nietzsche a copy in 1872. See her entry in Nietzsche's Library.
6. Germany's annexation of Alsace and Lorraine after the Franco-Prussian War.
7. The French historian Gabriel Monod (1844-1912), who was married to Malwida von Meysenbug's foster-daughter Olga Herzen (1851-1953).
8. Since Cosima Wagner was fluent in both languages.
9. Malwida von Meysenbug's foster-daughter Olga Herzen (1851-1953).
10. They left on February 20.
11. The first Bayreuth Festival took place in August 1876. Rehearsals started in Summer 1875, which neither Nietzsche nor Meysenbug attended.
12. Nietzsche's original plan was to write "We Philologists," not the eventual Unzeitgemässe Betrachtungen, 4. Richard Wagner in Bayreuth, (Untimely Meditations, 4. Richard Wagner in Bayreuth). German Text. It's not certain when he switched to the latter.
13. Mathilde Maier was an ardent fan of both Nietzsche and Schopenhauer, as she explains after reading Nietzsche's Schopenhauer as Educator: "Seine Werke sind mein geistiges und moralisches Universalheilmittel! Wenn weder ich selbst noch sonst Jemand mir zu helfen vermag, — er hilft mir immer!* Und sollte ich an Indigestion eines verkehrten Buches leiden, — ein Kapitel Schopenhauer setzt mir gleich den Denkapparat wieder in Ordnung; mit welchem Behagen dehnt man dann seine geistigen Glieder, weil dabei Alles die angemessenste, natürlichste Richtung annimmt und sich noch einmal leicht und frei bewegt! [....] * Trostlos nennen ihn die Leute! Mir war er stets der tiefste Trost!" (His works are my intellectual and moral panacea! If neither I myself nor anyone else can help me — he always helps me!* And should I suffer from the indigestion of a preposterous book — a chapter of Schopenhauer puts my thinking apparatus back in order; with what satisfaction one then stretches one's intellectual limbs, because in doing so everything assumes the most appropriate, most natural direction and once again moves easily and freely! [....] * People call him dreary! He was always the deepest consolation to me!) See Mainz, 02-02-1875: Letter from Mathilde Maier to Nietzsche in Basel.
14. Emma Guerrieri-Gonzaga (1835-1900): German pedagogue, and friend of Nietzsche. She "confessed" that she was depressed by Nietzsche's Unzeitgemässe Betrachtungen, 3. Schopenhauer als Erzieher, (Untimely Meditations, 3. Schopenhauer as Educator). German Text. See Florence, 12-07-1874: Letter from Emma Guerrieri-Gonzaga to Nietzsche in Basel. "Was werden Sie sagen wenn ich mich schon wieder zu einer Beichte gedrängt fühle? Ihre letzte Schrift hat mir einen deprimirenden Eindruck hinterlassen trotz mancher großer Gedanken, die mich wie Blitze durchleuchteten und mir ein Besitz für's Leben geworden sind! Aber Sie stoßen die ganze bestehende Welt in einen düstern Abgrund, in dem Alles chaotisch sich umherwälzt und nie und nimmer sich zum Lichte emporzuschwingen vermag! Sie lassen dem Sehnenden, Strebenden keine Brücke, auf der er mit langsam zögerndem Schritte aus der ihn umgebenden schlechten Welt hinüberschreiten könnte in jenes höhere Reich der Wahrheit, Schönheit, Liebe! Und doch hät uns die Natur keine Flügel gegeben!" (What will you say if yet again I feel pressured into a confession? Your last work left a depressing impression on me, despite many great ideas that shone through me like flashes of lightning and for me have become a possession for life! But you are pushing the entire existing world into a gloomy abyss, in which everything tumbles about chaotically and will never, ever be able to soar upwards into the light! You leave no bridge for those who are yearning, striving, upon which one could step slowly and hesitantly out of the evil world surrounding one into that higher realm of truth, beauty, love! And yet Nature has not given us wings!) The complete letter: In German. In English.

 


Title page of:
Geistergeschichten aus neuerer Zeit erzählt von Meta Wellmer. Nordhausen: Ferd. Förstemann's Verlag, 1875.
Enhanced image The Nietzsche Channel.

Zürich, 8. Februar 1875:
Brief von Meta Wellmer.1

Hochgeehrter Herr Professor,

Mein beiliegendes Büchlein, Geister-geschichten, bitte ich Sie geneigtest von mir annehmen zu wollen.2

Wenngleich dessen Inhalt für einen Philosophen "ziemlich leichte Waare" ist, so werden Sie vielleicht doch dem Zwecke, den ich, laut Vorrede,3 bei diesen Erzählungen im Auge hatte, Ihre Billigung geben.

Sollte Ihnen irgend etwas in diesem Büchlein genehm sein, so würde es mir zur Freude und demselben zum Nutzen gereichen, wenn Sie in Ihren Schriften darauf Bezug nehmen wollten.

Mein Herr Verleger verspricht sich sehr viel von dem Büchlein.

Ich nehme indeß die Gelegenheit dieser Sendung wahr, um Ihnen, hochgeehrter Herr Professor, einen Gedankengang, event[uell] einen Plan mitzutheilen, der mich schon lange beschäftigt, und der jedenfalls auch Ihres Interesses werth ist.

Seit 3-4 Jahren habe ich Schopenhauer's Werke durchstudirt und bin dessen dankbare Schülerin geworden.4

Es ist mir nun immer als ein tadelnswerther Mangel an Consequenz erschienen, eine Lehre, ein System zu bewundern, ohne denselben einen Einfluß auf die praktische, tägliche Lebensgestaltung einzuräumen.

Vor neun Jahren z. B. als ich definitiv die vegetarianische Lebensweise als die naturgemäße, einzig sittliche und humane erkannte, ward ich alsbald Vegetarianerin. In noch andern Lebensfragen habe ich nach gewonnenen tiefsten Überzeugungen Entschlüsse gefaßt und darnach gehandelt.

Seit ich Schopenhauer gelesen, ließ ich mich ferner als Mitglied in einen Thierschutz-Verein aufnehmen, und jüngst wurde mir von dem Münchener Thierschutz-Vereins-Vorstande eine Medaille und ein ehrendes Schreiben übersendet, wegen meines Eifers in Wort und Schrift für diese gute und gerechte Sache.5

Für die zahlreichen Jünger und Jüngerinnen Schopenhauers möchte ich nun einen Verein, event[uell] ein Vereinsblatt anregen, jedenfalls aber dieselben Alle auffordern ihr Leben nach den Lehren dieses großen Philosophen zu gestalten, was in socialer und ethischer Beziehung als gutes Beispiel nur ersprießlich wirken könnte, und gewiß dem großen Publicum gegenüber erfolgreicher wäre, als das ewige und oft bittere Polimisiren mit den seichten Gegnern des großen Mannes.

Ein besonders schönes Erkennungszeichen der Anhänger Schopenhauer's sollte, meinem Wunsche gemäß, darin bestehen, daß dieselben, wenn auch in beschränktem Maßstabe die Lehre von der Gleichheit und Verwandtschaft aller Menschen im Sinne Schopenhauers zur Wahrheit machten. Jeder und Jede sollten nämlich, im Fall sie nicht durch tägliche Kopf- oder Handarbeit sich ihren Lebensunterhalt erwerben müßten, sich irgend eines Menschen oder einer verkommenen Familie dergestalt annehmen, als seien sie ihre wirklichen leiblichen Brüder und Schwestern. Sie sollten dieselben fördern und berathen in ihrem Berufe und Geschäft, sie in Nothfällen und Krankheiten unterstützen und pflegen, ja sie auch an Erholungen und Zerstreuungen Theil nehmen lassen, die wir uns verschaffen können, z. B. an kleinen Reisen, an Concerten, an gebildeter Unterhaltung und Gesellschaft usw. und dieß alles mit keinerlei Herablassung, oder als ein Werk der Wohlthätigkeit und Barmherzigkeit, sondern als etwas ganz Selbstverständliches, welches Mehreren ja Allen zu erweisen uns nur unsere beschränkten Geldmittel verbieten.

Obgleich ich nur ein bescheidenes, mir selbst erworbenes Einkommen besitze, so have ich mich dennoch in obiger Weise eines alten Ehepaares angenommen.

Ich habe obigen Gedankengang und Plan noch einem namhaften Schopenhauerianer6 mitgetheilt. Ihre, und Ihrer schopenhauerischen Freunde in Basel, — Beistimmung und Verwirklichung dieser Vorschläge würde indeß ein dankenswerthes, gute Früchte tragendes Werk sein. Entschuldigen Sie diesen langen Brief! Mit vorzüglicher Hochachtung zeichnet

hochgeehrter Herr Professor,
Ihre ergebene
Meta Wellmer

1. Meta Wellmer (1826-1889): German writer.
2. Geistergeschichten aus neuerer Zeit. Erzählt von Meta Wellmer. Nordhausen: Coburg, 1875. (3rd edition reprint, 1884.) CONTENTS: Ueber den Wunderglauben. Statt einer Vorrede; Aus Paris. Erzählung einer Kammerjungfer; Aus dem Jahre 1686; Die Geistergeschichte des Fräulein Bertha v. K. Eine Jugenderinnerung der Verfasserin; Zwei Freundinnen; Der Geist der Mutter; Der Traum der Gräfin Montléard; Der Fluch; Vom Tode erwacht; Geisterseher; Eigene Erfahrungen. For a review of the book, see J. J. Honegger, Blätter für literarische Unterhaltung. 11. November. 1875. S. 1-2. A defense of the book in response to Honegger's negative review is in a truly cultish journal dedicated to purported "psychic" events, Psychische Studien. Monatliche Zeitschrift, vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens gewidmet. Dritter Jahrgang. Leipzig: Mutze, 1876, 88-89. Coincidentally, in the early 1870s, Nietzsche went through a phase of fascination with spiritualism.
3. "Statt einer Vorrede" (In Place of a Preface) contains Wellmer's philosophical reasoning for the explanations of the stories, drawing on the writings of Jean Paul (1763-1825), and Arthur Schopenhauer (1788-1860).
4. Wellmer's interest in Nietzsche was probably due to her reading of his Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher. (Untimely Meditations III. Schopenhauer as Educator), which was published in 1874.
5. Wellmer wrote a 50-page pamphlet defending vegetarianism, Die vegetarische Lebensweise und die Vegetarier. Cöthen: P. Schettler, 1877. For a review of the 1884 2d edition, see [Anon], "Neue Schriften. 2. Natur, Länder und Völker." In: Allgemeine Conservative Monatsschrift für das christliche Deutschland. [Volksblatt für Stadt und Land], Jahrgang IXL. Leipzig, Januar-Juni, 1884, 476-477. Translated on X by TNC.
6. It's not known to whom she was referring.

 


Portrait of Richard Wagner.
Ca. 1870-75.
By: Franz Seraph von Lenbach.

Luzern, 15. Februar 1875:
Brief an Richard Wagner.

Geliebter Meister

Sie werden sich über mich wundern, aber hoffentlich nicht böse sein, wenn ich heute nichts als einen Bettelbrief schreibe. —

Frau Baronin Moltke, Schwägerin des Generals, bittet durch mich um eine Ihrer Photographien und zwar um eine mit Ihrem Namen unterzeichnete.1 Der Zweck ist ein guter, wohlthätiger; verzeihen Sie also einmal das unbescheidene Mittel und den unbescheidenen Vermittler. —

Es soll, wenn möglich, nicht wieder geschehen, wie die kleinen Kinder sagen. Ich lege den Brief der Frau von Moltke bei.

Augenblicklich bin ich auf der Flucht vor dem Baseler Trommellärm;2 nicht länger als 4 Stunden hielt ich's aus, dann bin ich Hals über Kopf fort gereist und befinde mich jetzt in Luzern, im tiefsten Schnee und Schneegestöber.

Arbeitsamer Winter! Aber es kann mich nichts Übles anwehen, weil ich an das glaube, was der Sommer bringt.3

Mit den innigsten Grüssen
Ihr treuer Friedrich Nietzsche.

Eben merke ich, daß ich den Brief nicht beilegen kann, weil ich ihn nicht mitgenommen habe; in der Eile habe ich etwas Falsches eingesteckt, das Schreiben des Redacteurs der Berliner "demokratischen Zeitung," welcher sich mir "als harmlosen, aber mit dem besten Willen ausgerüsteten Bundesgenossen" empfiehlt.4 — Frau von Moltke lebt mit ihren zwei Töchtern bei dem Feldmarschall,5 der selbst familienlos ist und die Kinder seines Bruders wie seine eignen behandelt. — Die mir aus Lugano6 bekannt gewordne Frau hat grosses Zutrauen zu mir; ich würde mich sehr freuen, auch in dem heutigen Falle ihr Vertrauen nicht zu Schanden werden zu lassen. — Es ist eine herrliche Stille um mich.

1. Auguste von Moltke (1814-1902) was the sister-in-law of Field Marshal Helmuth Karl Bernhard von Moltke (1800-1891). She asked Nietzsche to request a photo in a 02-10-1875 letter. In March 1871, at the Hotel du Parc in Lugano, Nietzsche and his sister had met her and her husband, Adolph von Moltke (1805-1871, the brother of Field Marshal von Moltke) who were staying there with their family. Adolph von Moltke, while taking a boating trip around the lake, caught pneumonia and died on April 7, 1871. See Lugano, 03-22-1871: Letter from Nietzsche to Franz Overbeck in Dresden. In German. In English.
2. The Carnival of Basel was on February 15-17.
3. An allusion to rehearsals for the Bayreuth Festival in Summer 1875, which Nietzsche did not attend.
4. Cf. Weggis, 09-03-1874: Letter from Carl Lübeck to Nietzsche in Basel. Lübeck was the editor of Berlin's Demokratische Zeitung.
5. Field Marshal Helmuth Karl Bernhard von Moltke (1800-1891).
6. Auguste von Moltke (1814-1902). See Note 1 above.

 



Erwin Rohde.
From b/w photo, ca. 1875.
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Basel, 28. Februar 1875:
Brief von Erwin Rohde.

Wie gerne hörte ich liebster Freund, wenn auch nur durch ein Wörtchen, dass es Dir befriedigend ergehe. Ich bin neulich einmal durch einen Traum — wenn es Traum war — in eine Beunruhigung gerathen. Auch von Bayreuth1 \ aus hat man mich gebeten, Nachrichten von Dir zu geben, Du weisst und weis[s]t es doch schwerlich deutlich genug, wie herzlich und warm man dort Deiner gedenkt und wie man sich sorgt. Gegenwärtig ist meine Schwester in Bayreuth und bleibt dort einige Wochen.2 Ich will auch gleich die Aufforderung3 von Frau Wagner mittheilen, dass Du doch Dich baldigst und etwas stürmisch an den Bürgermeister von Bayreuth wenden möchtest,4 um in diesem Sommer dort Quartier zu bekommen; es wird viel Mühe machen, für alle Gäste Unterkommen zu schaffen, und es soll dem Bürgermeister recht zugesetzt werden, weil die Wohnungsfrage noch ganz im Argen liegt. Du möchtest doch ja nicht "eine bescheidene Wohnung" verlangen. Meine Schwester bemüht sich für sich und mich etwas zu finden, bis jetzt noch ohne Erfolg.

Das Semester läuft dem Ende zu, noch drei Wochen giebt es an der Universität, noch fünf an dem Pädagogium.5 Hier ist alles in grosser Erregung, denn die neue Verfassung der Stadt Basel wird jetzt im grossen Rathe durchberathen, alle Parteien sind in Erbitterung, im Frühjahr entscheidet dann das Volk.6 (Heute wurde eine Stelle von mir über die Staatsomnipotenz, aus der Nr. 3, mit für den politischen Kampf benutzt; hat mir Spaass gemacht[.])7 Unser Pädagogium verliert mit Ostern den alten Gerlach,8 der endlich pensionirt wird; was aber weiter geschieht, wer möchte es errathen? Man hat bei mir angefragt, ob ich 4 latein. Stunden an der obersten Classe für das nächste Semester übernehmen wolle, ich habe Nein gesagt, meiner Augen wegen.

Im Ganzen geht es mir gut und recht: mir ist als ob ich zu einem Burgherr würde, so verschanzt und innerlich unabhängig wird allmählich meine Art zu leben.

Ostern soll die Nr. 4 fertig werden.9 Dass die französische Übersetzung der Nr. 3 zu Ende geführt und mit einer briefartigen Dedication an mich versehen sei, habe ich Dir schon erzählt?10 Gersdorff kommt den 12 des März auf einige Zeit hierher,11 das weisst Du ebenfalls. —

Nun aber etwas, was Du noch nicht weisst und was Du, als vertrautester und mitfühlendster Freund zu wissen ein Recht hast. Auch wir — Overbeck und ich — haben ein Hausleiden, ein Hausgespenst: falle nicht vom Stuhle, wenn Du davon hörst, dass Romundt12 einen Übertritt zur katholischen Kirche projectirt und katholischer Priester in Deutschland werden will. Das ist erst neuerlich herausgekommen, ist aber, wie wir nachträglich zu unserem Schrecken hören, schon ein mehrjähriger Gedanke, nur jetzt dem Reifsein so nahe als noch nie. — Ich bin etwas innerlich verwundet dadurch und mitunter empfinde ich es als das Böseste, was man mir anthun konnte. Natürlich ist es von Romundt nicht böse gemeint, er hat bis jetzt eben noch keinen Augenblick an etwas anderes als an sich gedacht und der verfluchte Accent, der dem "Heil der eignen Seele" gegeben wird, macht ihn ganz stumpf gegen alles andre, Freundschaft einbegriffen. Mir und Overbeck war es allmählich räthselhaft geworden, dass R[omundt]. eigentlich gar nichts mehr mit uns gemein habe und sich an allem, was uns beseelte und ergriff, ärgerte oder langweilte; besonders hat er eine Art des muckischen Schweigens am Leibe, die uns längst nichts Gutes ahnen liess. Endlich kam es zu Geständnissen, und jetzt, fast alle drei Tage, zu pfäffischen Explosionen. — Der Ärmste ist in einer verzweifelten Lage und nicht mehr einem Zuspruche zugänglich, das heisst, er wird so von dumpfen Absichten gezogen, dass er uns wie eine wandelnde Velleität vorkommt. — Unsre gute reine protestantische Luft! Ich habe nie bis jetzt stärker meine innigste Abhängigkeit von dem Geiste Luthers gefühlt als jetzt, und allen diesen befreienden Genien will der Unglückliche den Rücken wenden? Ich frage mich, ob er noch bei Verstande ist und ob er nicht mit Kaltwasserbädern zu behandeln ist: so unbegreiflich ist es mir, dass dicht neben mir, nach einem 8jährigen13 vertrauten Umgange, sich dies Gespenst erhebt. Und zuletzt bin ich es noch, auf dem der Makel dieser Conversion hängen bleibt. Weiss Gott, ich sage das nicht aus egoistischer Fürsorge; aber auch ich glaube etwas Heiliges zu vertreten und ich schäme mich tief, wenn ich dem Verdachte begegne, dass ich irgend was mit diesem mir grundverhassten katholischen Wesen zu thun hätte. — Lege Dir diese ungeheuerliche Geschichte nach Deiner Freundschaft zu mir zurecht und sage mir ein paar tröstende Worte. Ich bin gerade im Punkte der Freundschaft verwundet und hasse das unaufrichtige schleichende Wesen vieler Freundschaften mehr als je und werde behutsamer sein müssen. — R[omundt]. selbst wird sich in irgend einem Conventikel wohl fühlen, das ist kein Zweifel, aber unter uns leidet er, wie mir jetzt scheint fortwährend. Ach liebster Freund! Gersdorff hat recht, wenn er oft sagt "es giebt nirgends Tolleres als in der Welt."14 Mit Trauer

Dein Freund Friedrich N., zugleich auch in
Overbecks Namen. —

Verbrenne den Brief, falls Dir gut scheint.15

1. Bayreuth, 12-31-1874: Letter from Cosima Wagner.
2. Elizabeth Nietzsche housesat for the Wagner's while he was on a concert tour.
3. See Bayreuth, 02-17-1875: Letter from Elizabeth Nietzsche.
4. Theodor Muncker (1823-1900): Mayor of Bayreuth.
5. The university semester ended on 03-31-1875, while the pedagogium ended on 04-22-1875.
6. It passed with 3430 in favor and 786 against.
7. Cf. Unzeitgemässe Betrachtungen, 3. Schopenhauer als Erzieher, §4 (Untimely Meditations, 3. Schopenhauer as Educator, §4). "Hier erleben wir aber die Folgen jener neuerdings von allen Dächern gepredigten Lehre, dass der Staat das höchste Ziel der Menschheit sei, und dass es für einen Mann keine höheren Pflichten gebe, als dem Staate zu dienen: worin ich nicht einen Rückfall in's Heidenthum, sondern in die Dummheit erkenne." (But here we are experiencing the consequences of the doctrine recently preached from every rooftop, that the state is the highest goal of mankind, and that there are no higher duties for a man than to serve the state: in which [doctrine] I recognize a relapse not into paganism, but into stupidity.)
8. Franz Dorotheus Gerlach (1793-1876), who retired from the Basel Paedagogium in 1870 after fifty years of service teaching Latin.
9. Nietzsche's original plan was to write "We Philologists," not the eventual Unzeitgemässe Betrachtungen, 4. Richard Wagner in Bayreuth, (Untimely Meditations, 4. Richard Wagner in Bayreuth). German Text. It's not certain when he switched to the latter.
10. Marie Baumgartner's translation of Schopenhauer als Erzieher (Schopenhauer as Educator) was completed in February 1874, but never published.
11. Carl von Gersdorff visited Nietzsche in Basel from 03-06-1875 to 03-31-1875.
12. Heinrich Romundt (1845-1919) was Nietzsche's and Erwin Rohde's friend, classmate, and member of the Classical Philology Club at the University of Leipzig. He wrote his initial doctoral thesis on Kant's Critique of Pure Reason, and later earned another Ph.D on the theory of knowledge. In 1872, Romundt move to Basel where he was an unpaid lecturer in philosophy. In April 1873, he convinced his friend Paul Rée to attend Nietzsche's lectures in Basel. On 03-31-1874, Romundt became Nietzsche's and Franz Overbeck's housemate in Basel before leaving the city on 04-10-1875. He planned to become a Catholic priest but soon dropped that idea and became a high-school teacher in Oldenburg.
13. The start of their friendship was as classmates at the University of Leipzig.
14. See Hohenheim, 02-22-1875: Letter from Carl von Gersdorff.
15. See the tragi-comic circumstances of Romundt's departure from Basel described in a 04-17-1875 letter to Carl von Gersdorff.

 


Ritter, Tod, und Teufel.
By: Albrecht Dürer (1471-1528).
Copper engraving, 1513.
Enhanced image The Nietzsche Channel.

Basel, Mitte März 1875:
Brief an Malwida von Meysenbug.

Verehrteste Freundin

hier schicke ich Ihnen ein ganzes Bündelchen Briefe:1 möchte ich damit ein wenig von der Freude zurückgeben, welche ich bei jedem Ihrer liebevollen Briefe empfange!

In dieser Stube ist oft von Ihnen gesprochen worden, wie immer wenn der treue Gersdorff und ich unsere Gedanken über unsere wahren Freunde austauschen;2 und ebenfalls haben Sie in Frau Baumgartner eine herzlich verehrende Freundin gewonnen; was Ihnen irgendwann einmal, vielleicht bald, durch einen Brief bezeugt werden soll. — Inzwischen hat sich mein Verleger Schmeitzner die Erlaubniss ausgebeten, für einen Pariser Verleger zu sorgen; wozu ich um so lieber meine Einwilligung gegeben habe, als ich so Herrn Monod3 keine Beschwerde mache, wenigstens zunächst nicht. Sollte Schmeitzner kein Glück haben, so würde ich dann dankbar die Vermittlung Hr[.] M[onod]s annehmen.

Es giebt jetzt ein paar Tage Ferien,4 und ich brauche sie. Gersdorff ist schon über 14 Tage um mich. Es ist an der Nr 4 gearbeitet worden.5

Seit Neujahr ist auch, ganz nebenbei, ein neues grösseres Musikstück fertig gemacht, ein Hymnus auf die Einsamkeit,6 deren schauerliche Schönheit ich aus vollem dankbaren Herzen verherrlicht habe. — Vom Hymnus auf die Freundschaft7 habe ich Ihnen erzählt. —

Da fällt mir ein, dass ich etwas über Eduard8 sagen soll; aber heute werde ich's schuldig bleiben. Lange, lange kam das Werk mir nicht zu Gesicht und ich dachte nie über Eduard nach. Wollen Sie mit etwas ganz Unreifem fürlieb nehmen, so würde ich als meine Meinung dies bezeichnen. Nur im Lichtstrahl von Ottiliens Liebe sieht Eduard so aus, wie er billigerweise immer erscheinen sollte. Aber Goethe hat ihn geschildert, wie er alle schildert, die ihm selber ähnlich oder gleich sind und wie er sich selbst malt: ein wenig banaler und flacher als er ist; wie es Goethe liebte, nach eignen Geständnissen,9 sich immer etwas niedriger zu geben, schlechter zu kleiden, geringere Worte zu wählen. Diese Liebhaberei Goethe's hat der Goethe-verwandte Eduard büssen müssen. Aber, wie gesagt, Ottilien's Liebe zeigt uns erst, wer er ist, oder lässt es uns errathen; dass diese gerade den lieben musste, hat Goethe zur Verherrlichung solcher Naturen erfunden, welche tiefer sind als sie je scheinen und deren Tiefe erst der seherische Blick wahlverwandter Liebe ergründet. —

Aber wie gesagt und versprochen: ich will das Werk einmal wieder lesen und dann Ihnen schreiben.

Ein hiesiger Patrizier hat mir ein bedeutendes Geschenk in einem ächten Dürerschen Blatte gemacht;10 selten habe ich Vergnügen an einer bildnerischen Darstellung, aber dies Bild "Ritter Tod und Teufel" steht mir nahe, ich kann kaum sagen, wie. In der Geburt der Tragödie habe ich Schopenhauer mit diesem Ritter verglichen; und dieses Vergleiches wegen bekam ich das Bild.11

So Gutes erlebe ich. Ich wünschte ich könnte andern Menschen täglich etwas Gutes erweisen. Diesen Herbst nahm ich's mir vor, jeden Morgen damit zu beginnen, dass ich mich fragte: Giebt es Keinen, dem Du heute etwas zu Gute thun könntest? Mitunter glückt es etwas zu finden. Mit meinen Schriften mache ich zu vielen Menschen Verdruss, als dass ich nicht versuchen müsste, es irgend wodurch wieder gut zu machen.

Und nun, verehrteste Freundin mag der Brief fortlaufen, sonst kommt Evchens schriftlicher Erguss zu spät.12

Meine Schwester ist mit Glück und Nutzen in Bayreuth,13 in einer Art von hoher Schule. Wagners Rückkehr14 hat sie durch eine kleine Aufführung gefeiert, bei der die guten Kinder15 sehr hübsch ihre Verschen hergesagt haben — Siegfriedchen hat meiner Schwester gesagt "ich liebe dich mehr als mich selbst."

Lauter gute Nachrichten bekam ich bisher: doch weiss ich nicht, ob ich die Nachricht eine gute nennen darf, dass Wagner nach Ostern in München und Berlin Concerte geben will.16

Ihnen das Beste und mir Ihre Liebe anwünschend

bleibe ich treulich
Ihr
Friedrich Nietzsche

1. Nietzsche's letter, one from Carl von Gersdorff, and one from Eva von Bülow (1867-1942) in Bayreuth.
2. Carl von Gersdorff visited Nietzsche in Basel from 03-06-1875 to 03-31-1875.
3. The French historian Gabriel Monod (1844-1912), who was married to Malwida von Meysenbug's foster-daughter Olga Herzen (1851-1953).
4. Easter holiday.
5. Nietzsche's original plan was to write "We Philologists," not the eventual Unzeitgemässe Betrachtungen, 4. Richard Wagner in Bayreuth, (Untimely Meditations, 4. Richard Wagner in Bayreuth). German Text. It's not certain when he switched to the latter.
6. Nietzsche's musical composition is lost.
7. Nietzsche's last musical composition, Hymn auf die Friendship (Hymn to Friendship). Piano: December 29, 1874. See Friedrich Nietzsche in Words and Pictures. Appendix 2. Chronology of Nietzsche's Music. The Nietzsche Channel, 2012, 24-25.
8. In a 02-28-1875 letter to Nietzsche, Malwida von Meysenbug asked for his opinion about Eduard, a character in Johann Wolfgang von Goethe's novel, "Die Wahlverwandtschaften" [Elective Affinities]. See Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 15. Stuttgart; Tübingen: Cotta, 1854. She explained why she wanted his opinion in a subsequent 07-02-1875 letter. "Ich will Ihnen nun auch sagen, wie ich dazu kam, Sie zu fragen. Es war nämlich das einzige Mal, daß ich in Bayreuth ganz ernstlich mit Wagner aneinander kam. Er wurde so böse, als ich meine Meinung über Eduard sagte, wie er es sonst nie über mich gewesen ist. Ich bleibe aber doch bei meiner Ansicht. Nur was Sie sagen, hat mich getroffen und mein Urtheil gemildert." (I will now also tell you how I came to ask you about it. You see, it was the only time in Bayreuth that I had a really serious encounter with Wagner. When I stated my opinion about Eduard, he got so angry with me like he never was before. But I still stand by my opinion. Only I was struck by what you said and have softened my judgement.)
9. An allusion to a 07-09-1796 letter from Goethe to Friedrich Schiller. In: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Bd. 1: Vom Jahre 1794 bis 1797. Stuttgart: Cotta, 1870, 177-178 (177). "So werde ich immer gerne incognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern wählen, und in der Unterredung mit Fremden oder Falbbekannten den unbedeutendern Gegenstand oder doch den weniger bedeutenden Ausdrud vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin, und mich so, ich möchte sagen, zwischen mich selbst und zwischen meine eigene Erscheinung stellen." (Thus I will always gladly travel incognito, choose my more modest clothing over the better, and in my discussions with strangers or acquaintances prefer the unimportant subject or at least the less important expression, comport myself more frivolously than I am, and thus, I dare say, place myself between myself and my own appearance.)
10. A copy of Ritter, Tod, und Teufel [Knight, Death, and Devil] from Adolf Vischer (1839-1902). See above. In 1885, Nietzsche gave it to his sister as a wedding present. See Basel, 03-06-1875: Letter from Adolf Vischer. "Lieber Herr Professor! / Mitfolgend erhalten Sie das Bild, an dem Sie gestern so große Freude hatten. / Auf der Rückseite habe ich den 23 Psalm aufgeschrieben. Darin ist Das genannt, was Einzig und Allein dem Menschen im Thal der Todesschatten Muth und Freudigkeit bewahren kann. / 'Der Glaube an Gott, als unseren Hirten, Der ja sich jedes Einzelnen annimmt und selbst das irrende Schaf aufsucht.' / In Freundschaft / Ihr / A. Vischer." (Dear Herr Professor! / Attached is the picture that gave you so much joy yesterday. / I wrote Psalm 23 on the back. What is stated therein is that which can uniquely maintain courage and cheerfulness for a person in the valley of the shadow of death. / "Belief in God as our shepherd, who takes care of every individual and even seeks out the stray sheep." / Yours / In friendship / A. Vischer.) The proselytizing quote didn't stop Nietzsche from being delighted with the print.
11. See excerpt from Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, §20 (The Birth Of Tragedy Out of the Spirit of Music, §20). "Was wüssten wir sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte? Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen." (What else could we name that might awaken any comforting expectations for the future in the midst of the desolation and exhaustion of contemporary culture? In vain we look for a single vigorously developed root, for a spot of fertile and healthy soil: everywhere there is dust and sand; everything has become rigid and languishes. One who is disconsolate and lonely could not choose a better symbol than the Knight with Death and Devil, as Dürer has drawn him for us, the armored knight with the iron, hard look, who knows how to pursue his terrible path, undeterred by his gruesome companions, and yet without hope, alone with his horse and dog. Our Schopenhauer was such a Dürer knight: he lacked all hope, but he desired truth. He has no peers.)
12. Evchen: a diminutive for Eva von Bülow (1867-1942). See Note 1 above.
13. Elizabeth Nietzsche housesat for the Wagner's while he was on a concert tour.
14. They returned on 03-16-1875.
15. There were 6 children in the Wagner household.
16. In April 1875, Wagner went on another concert tour.

 


Heinrich Romundt.
From b/w photograph, ca. 1870.
Colorized and enhanced image © The Nietzsche Channel.

Basel, 17. April 1875:
Brief an Carl von Gersdorff.

Endlich, liebster Freund, kommt Nachricht, endlich! Aber Du bist nicht böse. Wie gut wir uns zusammen vertragen, ist ja so erstaunlich, dass es bei jedem Darandenken mich zur Bewunderung und zum Dankgefühl begeistert. Ich glaube wirklich, wir können gar nicht auf einander böse sein; wir haben uns an die schönste Vertraulichkeit unter einander gewöhnt, so dass alles Schleichende, Grämliche, Übelnehmerische aus unserem Verkehre verscheucht ist, das heisst aber gerade die Ratten, die sonst an den besten Freundschaften zu nagen pflegen.

Ich schreibe heute scheuslich, meine Feder inspirirt mich zur Idee des Klexes und des Schmirakels.

Habe herzlichen Dank für Brief und Sendung,1 vor allem aber für Deinen Besuch;2 ich kam über jene Wochen hinweg wie in einem ganz angenehmen Traume; darauf brach die Romundtische3 Mirakel- und Ratten-Wirthschaft wieder los, es war um alle Geduld zu verlieren, heftige Abende bis um die Stunde Eins wurden zur Regel; die Buchhändler-Absicht verflog nach dreiwöchentlicher Besprechung in alle Winde, denn ich musste förmlich Romundten eine Anleihe bei meiner Phantasie eröffnen, weil er sich gar nichts Kommendes und Mögliches vorstellen kann. Overbeck und ich dachten mehr an das was ihm noth that als er selber, alle Augenblicke verfiel er wieder in Lässigkeit; das ganz Unentschiedne seines Wesens kam noch am Tage der Abreise4 fast auf eine komische Spitze, als er nämlich einige Stunden vor der Abreise nicht fort wollte; Gründe gab es nicht und so setzten wir es durch, dass er Abends reiste; es ging leidenschaftlich traurig zu und er wusste und sagte es immer wieder, dass nun alles Gute und Beste, was er erlebt habe, zu Ende sei; er bat viel weinend um Verzeihung und wusste sich nicht vor Trauer zu helfen. Eine eigenthümliche Schrecklichkeit brachte mir noch der letzte Augenblick; die Schaffner schlossen die Wagen zu, und Romundt um uns noch etwas zu sagen, wollte die Glasfenster des Coupés herunter lassen, diese widerstanden, er bemühte sich immer wieder und während er sich so quälte, sich uns verständlich zu machen — erfolglos: — ging der Zug langsam fort und nichts als Zeichen konnten wir machen. Die grässliche Symbolik der ganzen Scene war mir ebenso wie Overbeck (wie er später gestand) schwer auf die Seele gefallen, es war kaum auszuhalten. Übrigens lag ich den nächsten Tag mit einem dreissigstündigen Kopfschmerz und vielem Galle-Erbrechen zu Bette.

Romundt will also Gymnasiallehrer5 werden, ich wusste es, dass es gemäss dem einzigen Gesetz das bei ihm waltet, dem der Schwere, so kommen müsste.

Ich dachte mir, er werde etwas von Deiner Rüstigkeit im Unternehmen des Schweren und Neuen gelernt haben. —

Mir ist es nicht gerade gut ergangen bei alledem; das ekelhaft lange Winter-halb jähr6 ist noch nicht zu Ende! Erst nächsten Donnerstag bekomme ich etwas Freiheit.

Meine Arbeit7 ist fast nicht von der Stelle gerückt. Doch bin ich wieder dabei und will mich ordentlich dazu halten, die freien Tage zu nützen.

Meine Schwester ist seit Ostern wieder zu Hause.8 Denke Dir, dass in Bayreuth nicht weniger als 7 Personen (drei Erwachsene und vier Kinder) das Haus Wagner's verlassen mussten: die ganze Berliner Sippschaft nämlich! Nur die Baiern haben sich brav gezeigt. Für alle diese ist nur eine einzige Person, ein neuer Diener anzuschaffen: denn seitdem giebt sich Frau W[agner] selbst von früh bis Abend mit dem Hauswesen ab.9

Concerte in Berlin10 usw. stehen bevor, das weisst Du. Die Götterdämmerung erscheint am 1ten Mai im Klavierauszug.11 Doch das ist auch nichts Neues.

Was machen die Liebes-Angelegenheiten? Man muss dem Schicksale hier und da einmal eine Tatze geben.

Lebewohl, mein herzlich geliebter Freund. Overbeck und Frau Baumgartner grüssen Dich auf das Wärmste. Am Samstag waren wir mit Herrn Cook,12 dem Freunde Proudhon's zusammen; es war toll. Übrigens ist er der Sohn eines vornehmen Oestreichers und einer Spanierin von den Balearen. Viel Geheimnissvolles.

1. In his 04-02-1875 letter to Nietzsche, Carl von Gersdorff mentions sending Nietzsche some articles about Kapar Hauser (1812-1833) by Georg Friedrich Kolb (1808-1884), a German journalist and politician. The publisher of the articles is not known, although Kolb went on to publish another book about Hauser in 1883. Gersdorff also mentions a 3-part series on Hauser by an anonymous author that was published in Leipzig's Illustrirte Zeitung on 03-06-1875, 03-20-1875, and 03-27-1875. See Illustrirte Zeitung (1875) Bd. 64, Nr. 1653, 175-178; Nr. 1655, 211-214; Nr. 1656, 231-234.
2. Carl von Gersdorff visited Nietzsche in Basel from 03-06-1875 to 03-31-1875.
3. Heinrich Romundt (1845-1919) was Nietzsche's and Erwin Rohde's friend, classmate, and member of the Classical Philology Club at the University of Leipzig. He wrote his initial doctoral thesis on Kant's Critique of Pure Reason, and later earned another Ph.D on the theory of knowledge. In 1872, Romundt move to Basel where he was an unpaid lecturer in philosophy. In April 1873, he convinced his friend Paul Rée to attend Nietzsche's lectures in Basel. On 03-31-1874, Romundt became Nietzsche's and Franz Overbeck's housemate in Basel before leaving the city on 04-10-1875. He planned to become a Catholic priest but soon dropped that idea and became a high-school teacher in Oldenburg.
4. Romundt left Basel on 04-10-1875.
5. Romundt became a high-school teacher in Oldenburg in August 1875.
6. The university semester ended on 03-31-1875, while the pedagogium ended on 04-22-1875.
7. Probably referring to his "We Philologists."
8. She returned on March 25, 1875.
9. There were problems with the domestic help.
10. In April 1875, Wagner went on another concert tour.
11. Nietzsche acquired it.
12. Unknown reference.

 


Portrait of Richard Wagner.
Ca. 1878.
By: Franz Seraph von Lenbach.

Basel, 24. Mai 1875:
Brief an Richard Wagner.

Meine Wünsche kommen hinterdrein gehinkt,1 Sie müssen es schon einmal verzeihen, geliebter Meister. Ich gedenke dabei meiner leiblichen Unsicherheit und Schwäche, und bewundere Ihre Rüstigkeit, mit der Sie sich in den letzten Jahren durch das Gewirr von neuen Aufgaben, Beschwerden, Aerger, Ermüdung hindurch geschlagen haben; so daß ich nicht einmal das Recht habe, Ihnen in dieser Beziehung irgend etwas anzuwünschen. (Wenn ich doch lieber etwas von Ihnen lernen könnte!) Ich habe immer, wenn ich an Ihr Leben denke, das Gefühl von einem dramatischen Verlaufe desselben: als ob Sie so sehr Dramatiker seien, daß Sie selber nur in dieser Form leben und jedenfalls erst am Schlüsse des fünften Aktes sterben könnten. Wo alles zu einem Ziele hin drängt und stürmt, da weicht der Zufall aus, er fürchtet sich, scheint es. Alles wird nothwendig und ehern, bei der größten Bewegtheit: so, wie ich Ihren Ausdruck auf dem schönen Medaillon2 wiederfinde, mit dem ich neulich beschenkt worden bin. Wir andern Menschen flackern immer etwas, und so bekommt nicht einmal die Gesundheit etwas Stätiges.

Nun will ich nur erzählen, daß ich eine merkwürdig schöne Prophezeiung gefunden habe, welche ich Ihnen gerne zu Ihrem Geburtstage hätte schicken mögen.

Sie lautet so:

O heilig Herz der Völker, o Vaterland!
Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erd'
und allverkannt, wenn schon aus deiner
Tiefe die Fremden ihr Bestes haben.

Sie ernten den Gedanken, den Geist von dir,
Sie pflücken gern die Traube, doch höhnen sie
dich ungestalte Rebe, daß du
schwankend den Boden und wild umirrest.

Du Land des hohen ernsteren Genius!
Du Land der Liebe! Bin ich der Deine schon,
oft zürnte ich weinend, daß du immer
blöde die eigene Seele läugnest.

Noch säumst und schweigst du, sinnst ein freudig Werk,
das von dir zeuge, sinnst ein neu Gebild,
das einzig, wie du selber, das aus
Liebe geboren, und gut, wie du, sei.

Wo ist dein Delos, wo dein Olympia,
daß wir uns alle finden am höchsten Fest?
Doch wie erräth dein Sohn, was du den
Deinen, Unsterbliche, längst bereitest? —3

Das sagt alles der arme Hölderlin, dem es nicht so gut wurde, wie mir und der es nur in der Ahnung trug, was wir trauen und schauen werden.4

Wahrhaftig, geliebter Meister, Ihnen zum Geburtstag schreiben, heißt immer nur: uns Glück wünschen, uns Gesundheit wünschen, um an Ihnen recht theilnehmen zu können. Denn ich sollte wirklich meinen: es ist das Kranksein, und der in der Krankheit lauernde Egoismus, wodurch sie gezwungen werden, immer an sich zu denken: während der Genius, in der Fülle seiner Gesundheit immer nur an die andern denkt, unwillkürlich segnend und heilend, wo er nur seine Hand hinlegt. Jeder kranke Mensch ist ein Schuft, las ich neulich; und woran sind die Menschen nicht alles krank! Auf Ihren Reisen durch Deutschland werden Sie manches gehört haben z. B. von der ganz allgemeinen Krankheit "des Hartmannianismus."5

Leben Sie wohl, verehrter Meister, und bleiben Sie das, was wir nicht sind, gesund.

Treuergeben
Ihr
Friedrich Nietzsche.

1. Wagner's birthday was on May 22.
2. Cosima Wagner had sent Nietzsche a medaillion depicting Ricard Wagner created by the Viennese medalist Anton Scharff (1845-1904).
3. Excerpt from Friedrich Hölderlin, "Gesang der Deutschen" (Song of the German), lines 1-12, 53-60. In: Friedrich Hölderlin, Christoph Theodor Schwab (hrsg.), Friedrich Hölderlins ausgewählte Werke. Stuttgart: Cotta, 1874, 90f.
4. Namely, Ricard Wagner's operas in Bayreuth.
5. Eduard von Hartmann (1842-1906): German philosopher whom Nietzsche despised.

 


Edouard Schuré.
From b/w photograph, ca. 1880s.
Colorized and enhanced image © The Nietzsche Channel.

Paris, Ende Mai 1875:
Brief von Edouard Schuré.1

Hochgeehrter Herr!

Ich schicke Ihnen hiemit mein eben erschienenes Buch.2 Sie werden viel Bekanntes und wenig Neues darin finden. Auch soll es nicht als eine Erwiederung für Ihre letzte bedeutende Sendung3 oder für die seltenen Anregungen und Lichtblicke die ich Ihrer höchst merkwürdigen und außerordentlichen Schrift über die griechische Tragödie,4 verdanke, gelten. Nehmen Sie mein Buch, das in verschiedenen Umständen entstanden ist, und für ein ganz Anderes Publikum geschrieben wurde, nur als freundlichen Gruß und besten Dank. Und sollten Sie etwa in diesen Blättern ein dem Ihrigen verwandtes Streben entdecken, so wird es mich herzlich freuen.

So viel ich aus Ihrem letzten Briefe5 entnehme, hatten Sie vor diesen Herbst nach Bayreuth zu kommen. Auch ich habe halb und halb vor (Ende August) mich dort an dem Vorspiel zu dem großen Feste zu erquicken und zu erfrischen.6 Wird es mein gutes Glück zulassen Sie dort zu treffen? Ich wünsche und hoffe es.

Leben Sie wohl bis dahin. Meine wärmsten Wünsche für Ihr weiteres Leben und Schaffen. In Hochachtung

Ihr ergebenster
E. Schuré

1. Edouard Schuré (1841-1929): French writer, notable music critic, and an admirer and acquaintance of Nietzsche. They first met at the 1876 Bayreuth Festival. For Schuré's account of the meeting, see Edouard Schuré, "L'individualisme et l'anarchie en littérature. Frédéric Nietzsche et sa philosophie." In: Revue des deux mondes. August 15, 1895, 775-805 (782ff.). Excerpt: "Je rencontrai Nietzsche à Bayreuth, en 1876, aux premières représentations de l'Anneau du Nibelung. Si ces mémorables fêtes scéniques marquent désormais un point capital dans l'histoire de l'art dramatique, elles furent peut-être aussi l'origine secrète de la nouvelle évolution de Nietzsche. Du moins m'a-t-il semble qu'il reçut là les premières atteintes du mal qui l'a poussé dans cette voie. / En causant avec lui, je fus frappé de la supériorité de son esprit et de l'étrangeté de sa physionomie. Front large, cheveux courts repoussés en brosse, pommettes saillantes du Slave. La forte moustache pendante, la coupe hardie du visage lui auraient donné l'air d'un officier de cavalerie, sans un je ne sais quoi de timide et hautain à la fois dans l'abord. La voix musicale, le parler lent, dénotaient son organisation d'artiste; la démarche prudente et méditative était d'un philosophe. Rien de plus trompeur que le calme apparent de son expression. L'oeil fixe trahissait le travail douloureux de la pensée. C'était à la fois l'oeil d'un observateur aigu et d'un visionnaire fanatique. Ce double caractère lui donnait quelque chose d'inquiet et d'inquiétant, d'autant plus qu'il semblait toujours rivé sur un point unique. Dans les momens d'effusion, ce regard s'humectait d'une douceur de rêve, mais bientôt il redevenait hostile. Toute la manière d'être de Nietzsche avait cet air distant, ce dédain discret et voilé qui caractérise souvent les aristocrates de la pensée. [....] Nietzsche assista donc sans enthousiasme aux scènes grandioses de la Walkyrie, de Siegfried et du Crépuscule des Dieux, dont il s'était promis tant de joie. Quand nous partîmes ensemble, aucune critique, aucune parole de blàme ne lui échappa, mais il avait la tristesse résignée d'un vaincu. Je me souviens de l'expression de lassitude et de déception avec laquelle il parla de l'oeuvre prochaine du maître et laissa tomber ce propos: 'Il m'a dit qu'il voulait relire l'histoire universelle avant d'écrire son poème de Parsifal!...' Ce fut dit avec le sourire et l'accent d'une indulgence ironique, dont le sens caché pouvait être celui-ci: 'Voilà bien les illusions des poètes et des musiciens, qui croient faire entrer l'univers dans leurs fantasmagories et n'y mettent qu'eux-mêmes!'" (I met Nietzsche in Bayreuth, in 1876, at the first performances of the Ring of the Nibelung. If these memorable scenic celebrations now mark a crucial point in the history of dramatic art, they were perhaps also the secret origin of Nietzsche's new evolution. At least it seems to me that he received the first attacks of the illness there that propelled him on this path. / While chatting with him, I was struck by the superiority of his mind and the strangeness of his physiognomy. Broad forehead, short hair brushed back, prominent Slavic cheekbones. The heavy drooping mustache, the bold cut of his facial features seemed to give him the look of a cavalry officer, with, at the same time, an indefinable sort of timidity and haughtiness. The musical voice, the slow way of speaking, bespoke of his artistic constitution; the cautious and meditative approach was that of a philosopher. Nothing could be more misleading than the seeming calm of his expression. The fixed eye betrayed the dolorous travail of his thinking. It was both the eye of an acute observer and a fanatical visionary. This double character gave him somewhat of an unquiet and disquieting aspect, especially since he always seemed riveted on one single point. In moments of effusion, his gaze softened with a dreamy gentleness, but soon became hostile again. Nietzsche's entire way of being had that distant look, that quiet and veiled disdain that often characterizes the aristocrats of thought. [....] Nietzsche therefore attended without enthusiasm the grandiose scenes of the Valkyrie, of Siegfried and of the Twilight of the Gods, from which he had promised himself so much joy. When we left together, no criticism, no word of censure escaped him, but he had the resigned sadness of a vanquished man. I remember the expression of lassitude and disappointment with which he spoke of the master's forthcoming work and dropped this remark: "He told me that he wanted to reread universal history before writing his tone poem of Parsifal!..." It was said with a smile and accent of an ironic indulgence, the hidden meaning of which could be this: "Here indeed are the illusions of poets and musicians, who believe they bring the universe into their phantasmagoria and only put themselves in it!")
2. The book Schuré refers to is his Le drame musical. Vol. 1: La musique et la poésie dans leur développement historique. Vol. 2: Richard Wagner. Son oeuvre et son idée. Paris, Sandoz et Fischbacher, 1875.
3. Unzeitgemässe Betrachtungen, 3. Schopenhauer als Erzieher, (Untimely Meditations, 3. Schopenhauer as Educator). German Text. Cf. Barr, 10-29-1874: Letter from Edouard Schuré to Nietzsche in Basel.
4. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig: Fritzsch, 1872 (The Birth Of Tragedy Out of the Spirit of Music. Leipzig: Fritzsch, 1872).
5. The letter is lost.
6. Regarding rehearsals for the Bayreuth Festival in Summer 1875, which Nietzsche did not attend.

 



Portrait of Friedrich Hölderlin.
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Basel, 24. Juni 1875:
Eingabe an die Erziehungsbehörde in Basel.

Griechischer Unterricht am Pädagogium1

p. 1. Die Zeit des gesammten griechischen Unterrichts, den ein Schüler der hiesigen Anstalten bis zu seinem Abgange zur Universität genießt, ist gegenwärtig sehr gering; er umfaßt drei Jahre am Pädagogium und zwei Jahre vor dem Eintritt in dasselbe, für jede Schulwoche 6 Stunden gerechnet. Es wäre zu überlegen, ob dieser Zeitraum nicht verlängert werden könnte, beispielsweise durch Hinzufügung einer obersten Classe, einer Selecta; denn ein Unterricht, der es nicht erreicht, den Schülern eine tiefere Neigung für das hellenische Leben einzuflössen und der sie nicht zuletzt mit der Fähigkeit entläßt, griechische Schriftsteller leicht zu lesen — ein solcher Unterricht hat sein natürliches Ziel verfehlt. Ein wenig weiter heißt in solchen Fällen sehr viel weiter, nämlich zum Ziel zu kommen.

p. 2. Sehr zu bedauern ist, daß das Griechische für Mediziner an unserer Schule als fakultativ angesehen wird. Immerhin sollte die Entbindung vom griechischen Unterricht nur in den seltensten Fällen zugestanden werden; denn welcher junge Mann kann ein paar Jahre vor seiner Universitätszeit mit der nöthigen Bestimmtheit wissen, daß er eben Medizin studieren werde? Dazu kommt, daß gerade die hiesigen Professoren der Medizin sich so dringend wie möglich zu Gunsten der griechischen Ausbildung zukünftiger Mediziner ausgesprochen haben.

p. 3 Ein weiterer Wunsch, den wir bei dieser Gelegenheit mit aussprechen wollen, bezieht sich auf die Einführung einer und derselben griechischen Grammatik für alle Jahre des Unterrichts, zum Beispiel der Koch'schen Grammatik.2

p. 4. Wir verlangen, daß die Schüler, um als reif angesehen werden zu können, gelesen haben
a) den ganzen Homer
b) drei Werke der tragischen Dichter
c) eine größere Anzahl [sic: Auswahl] ausgewählter Stücke von platonischen Dialogen
d) ebenfalls ausgewählte Theile des Thukydides, des Herodot und des Xenophon
e) Reden des Lysias oder Demosthenes

Bei dieser Aufstellung wird nicht nur auf die Schul- sondern auch auf die Privatlektüre der Schüler Bezug genommen.

p. 5. Der ersten Classe fällt zu: Xenophons Anabasis oder Hellenika. Die Odyssee. In grammatischer Beziehung die Formenlehre und die Syntax der Casus, mit wöchentlichen schriftlichen Übungen.
Der zweiten Classe fällt zu: Herodot. Die Redner. Die Ilias. Die Syntax der Tempora, des Infinitivs und des Participiums. Schriftliche Übungen.
Der dritten Classe fällt zu: Tragiker. Plato. Thukydides. Ilias. Die Syntax der Moduslehre. Schriftliche Übungen.

Prof. Dr. Nietzsche.
den 24 Juni 1875.

1. Nietzsche taught six lessons of Greek a week at the pedagogium.
2. Ernst Koch, Griechische Schulgrammatik auf Grund der Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung bearbeitet von Dr. Ernst Koch, Oberlehrer an der K. S. Landesschule zu Grimma. 1. Aufl. Leipzig: Teubner, 1869.

 


Marie Baumgartner (1831-1897).
From b/w photo, 1866.
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Steinabad, 2. August 1875:
Brief an Marie Baumgartner.

Sie haben mir jedesmal, hochverehrte Frau eine wahrhafte Freude gemacht; und Ihren letzten Brief, über die Bonner Reise, habe ich mit Rührung gelesen, Ihren Sohn1 glücklich preisend und fest überzeugt, dass das Gefährlichste über den Menschen keine Macht gewinnt, wo eine solche Liebe ihn hütet und tröstet. Ich habe jetzt auch an Adolf geschrieben;2 Sie glauben nicht, in welchem traulich-freudigem Lichte der Winter vor meiner Seele aufsteigt, der in einigen Monaten kommen wird. Zum ersten Male fühle ich mich gleichsam geborgener;3 ich habe einen reichen Zuwachs an Liebe und bin dadurch geschützter und nicht mehr so leicht verletzlich und so preisgegeben, wie es bisher das Loos des Baseler Exils mit sich brachte. Sie müssen nicht glauben, dass ich je in meinem Leben durch Liebe verwöhnt worden sei, ich glaube, Sie haben mir's auch angemerkt. Etwas Resignirtes trage ich von der frühesten Kindheit in dieser Beziehung mit mir herum. Aber es mag sein, dass ich es nie besser verdient habe. Jetzt nun habe ich es besser, das ist kein Zweifel! Ich erstaune mitunter mehr darüber als dass ich mich freue, es ist mir so neu. Nun wächst jetzt in mir mancherlei auf und von Monat zu Monat sehe ich einiges über meine Lebensaufgabe bestimmter, ohne noch den Muth gehabt zu haben, es irgend Jemandem zu sagen. Ein ruhiger, aber ganz entschiedener Gang von Stufe zu Stufe — das ist es, was mir verbürgt noch ziemlich weit zu kommen. Es kommt mir so vor als ob ich ein geborner Bergsteiger sei. — Sehen Sie, wie stolz ich reden kann. —

Meine Krankheit beunruhigt mich gar nicht mehr, sondern nöthigt nur für die spätere Zeit zu bestimmten Weisen zu leben, in denen keine erhebliche Beschränkung liegt. Ich lag zwar wieder einen Tag in der bösen Baseler Manier zu Bett, am Tag, wo meine Freunde in Bayreuth zusammeneilen4 — mir ein sehr bestimmter Wink, ja nicht meine Kur zu unterbrechen. Also ich bleibe noch zwei Wochen hier. Eine bedeutende Verringerung der Magenerweiterung ist festgestellt. Aber auch Dr. Wiel5 denkt jetzt, wie Immermann6 mehr an eine nervöse Affection des Magens, die immer ein langwieriges Ding ist.

Für Ihre Mühe um die Bayreuther Münder und Mägen7 auch meinerseits den herzlichsten Dank. Es war ja viel beschwerlicher als ich dachte!! — Ist denn meine Schwester jetzt wieder in Basel?8 Die Posteinrichtungen sind hier nicht gut, aber Ihr Erlebniss9 mit der Eisenbahn ist beschämend für mich als Deutschen.

Die Übersetzung von Grote's Plato10 bitte ich doch ein wenig noch zu bedenken. Die Mühe ist ausserordentlich, die Frage, ob in Frankreich das Werk als nöthig und als angenehm empfunden wird, sehr aufzuwerfen, und dann — was die Hauptsache ist — Grote referirt ja zum grössten Theile über den griechischen Text Platons; und da kommt es immer darauf an, nicht nur das Englisch Grotes, sondern auch das zu Grunde liegende Griechisch Plato's zu verstehen und zur Hand zu haben — eine schwere und mühselige Aufgabe selbst für Philologen! Sonst wäre das Werk gewiss längst in's Deutsche übersetzt. —

Für heute leben Sie wohl, verehrte Frau und nehmen Sie die herzlichen Versicherungen meiner treuen Ergebenheit und Dankbarkeit freundlich auf.

Der Ihrige
Dr Friedrich Nietzsche.

Overbeck geht es sehr gut, er ist ebenso wie Rohde und Gersdorff in Bayreuth.

1. Nietzsche was replying to two letters from her written on 07-22-1875 and 07-31-1875. In February 1874, Nietzsche had started dictating to Adolf Baumgartner (1855-1930): a student of Jacob Burckhardt and Nietzsche at the pedagogium in Basel, and the son of Marie Baumgartner. Baumgartner left Basel in the autumn of 1874, serving in the Hussars for his one-year military service. He returned to Basel to resume his studies, which ended in the summer of 1877. On Nietzsche's advice, he went to Jena in the autumn of 1877 to study under Erwin Rohde, but their relationship soured. Baumgartner went on to write a philological book on the Armenian historian, Moses of Khoren (ca. 410-490s). See Adolf Baumgartner, Dr. M. Lauer und das zweite Buch des Môses Chorenazi. Leipzig: Stauffer, 1885. In 1878, Nietzsche gifted him a dedicated copy of Ralph Waldo Emerson's Neue Essays (Letters and Social Aims). Autorisirte Uebersetzung mit einer Einleitung von Julian Schmidt. Stuttgart: Abendheim, 1876. The dedication reads: "Herrn Adolf Baumgartner / als Gefährten für einsame / Spaziergänge / empfohlen. / / Und dabei gedenken Sie auch / meiner! — / / F. Nietzsche / Ende 1878." (Mr. Adolf Baumgartner / Recommended as a companion on lonely walks. / / And with it remember me too! — / / F. Nietzsche / Ende 1878.) For further biographical details on Baumgartner, see Emil Dürr, "Adolf Baumgartner 1855-1930." In: Basler Jahrbuch. 1932, 211-242.
2. The letter is lost.
3. Nietzsche and his sister rented an apartment at Spalentorweg 48 in Basel.
4. From 08-01-1815 to 08-15-1875, Franz Overbeck, Erwin Rohde, and Carl von Gersdorff attended the rehearsals for the first Bayreuth Festival.
5. Nietzsche was in Steinabad for treatment of gastric problems by the physician and dietitian Josef Wiel (1828-1881). See his entry in Nietzsche's Library.
6. Hermann Immermann (1838-1899) was a doctor and professor of pathology in Basel.
7. In his 07-19-1875 letter to Marie Baumgartner, Nietzsche asked her to procure some sweets for Cosima Wagner.
8. She returned to Basel in early August 1875.
9. Her luggage was stolen. See Lörrach, 07-31-1875: Letter from Marie Baumgartner to Nietzsche in Steinabad.
10. Marie Baumgartner wanted to translate Georg Grote (1794-1871), Plato, and the Other Companions of Socrates. London: J. Murray. Vol. 1 (1865 ed.); Vol. 2; Vol. 3. But she eventually gave up on that idea.

 

Interior of a pharmacy.
By: Jos van Brée, 1860.
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Steinabad, 11. August 1875:
Brief an Malwida von Meysenbug.

Hochverehrte Freundin

es ist nicht Undankbarkeit, sondern Noth, was mich so lange verstummen machte, das glauben Sie mir wohl gern. Ich weiss nichts besseres als daran zu denken, wie ich doch in den letzten Jahren immer reicher an Liebe geworden bin; und dabei fällt mir Ihr Name und Ihre treue tiefe Gesinnung immer zuerst mit ein. Wenn mir nun die Möglichkeit fehlt, solchen, die mich lieben, Freude zu machen, ja selbst der Glaube daran, so fühle ich mich ärmer und beraubter als je — und in so einer Lage war ich. Es war mir, meiner Gesundheit wegen, so aussichtslos zu Muthe, dass ich glaubte, ich müsste nun unter-ducken und wie an einem heissen drückenden Tage nur eben unter der Schwüle und Last so fortschleichen. Alle meine Pläne veränderten sich darnach1 und immer überlief's mich schmerzlich bei dem Gedanken: deine Freunde haben besseres von dir erwartet, sie müssen nun ihre Hoffnungen fahren lassen und haben keinen Lohn für ihre Treue. — Kennen Sie diesen Zustand? Ich bin jetzt über ihn wieder hinaus, weiss aber nicht, auf wie lange — doch mache ich wieder Entwürfe über Entwürfe und suche mein Leben in einen Zusammenhang zu bringen — ich thue nichts lieber, nichts angelegentlicher, sobald ich nur einmal wieder allein bin. Daran habe ich einen förmlichen Barometer für meine Gesundheit. Unsereins, ich meine Sie und mich, leidet nie rein körperlich, sondern alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen, so dass ich gar keinen Begriff habe, wie ich je aus Apotheken und Küchen allein wieder gesund werden könnte. Ich meine, Sie wissen und glauben das so fest wie ich und ich sage Ihnen etwas recht Überflüssiges!

Das Geheimnis aller Genesung für uns ist, eine gewisse Härte der Haut wegen der grossen innerlichen Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit zu bekommen. Von aussen her darf uns wenigstens so leicht nichts mehr anwehen und zustossen; wenigstens quält mich nichts mehr als wenn man so auf beiden Seiten ins Feuer kommt, von innen her und von aussen. — Meine durch die gute Schwester eingerichtete Häuslichkeit,2 die ich in den nächsten Tagen kennen lernen werde, soll für mich so eine neue feste harte Haut werden, es macht mich glücklich, mich in mein Schneckenhaus hineinzudenken. Sie wissen, nach Ihnen und einigen wenigen strecke ich die Fühlhörner immerdar mit Liebe aus, verzeihen Sie den thierischen Ausdruck.

Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, das Beste wünschend

Ihr allzeit getreuer Friedrich Nietzsche.

1. Nietzsche was in Steinabad for treatment of gastric problems by the physician and dietitian Josef Wiel (1828-1881). See his entry in Nietzsche's Library.
2. Nietzsche and his sister rented an apartment at Spalentorweg 48 in Basel.

 


Jacob Burckhardt.
Rome, 1875.
From b/w photo by Guiseppe Felici (1839-1923).
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Basel, 26. September 1875:
Brief an Carl von Gersdorff.

Mein geliebter Freund, gestern lief das Semester zu Ende, mein dreizehntes Semester, und von heute an giebt es vierzehn Tage Ferien. Gern hätte ich eine kurze Fussreise gemacht, denn mich verlangt im Herbst immer darnach, den Pilatus1 noch einmal bevor es Winter wird zu sehen; je länger ich nun in der Schweiz bin, umso persönlicher und lieber wird mir dieser Berg; aber draussen ist es schauerlich nass und früh-novemberlich, ich werde warten oder verzichten müssen — wie so oft im Leben. Man merkt doch recht, dass man die Zwanziger Jahre hinter sich hat. Eine gewisse Art von Enttäuschung, aber eine solche, welche zur eignen Thätigkeit spornt, wie die frische Luft des Herbstes, begleitet mich jetzt fast aus jedem Tag in den andern.

Also inzwischen habe ich mit Hülfe meiner Schwester mich häuslich eingerichtet,2 und es ist gut gelungen. So bin ich endlich, seit meinem dreizehnten Lebensjahre,3 wieder in traulicheren Umgebungen, und je mehr man sich aus allem, was Andre erfreut, exilirt hat, um so wichtiger ist, dass unsereins seine eigne Burg hat, von wo man zusehen kann und wo man vom Leben sich nicht mehr so gehudelt fühlt. Ich habe es durch das glückliche Wesen meiner Schwester, das mit meinem Temperament auf das beste zusammenstimmt, vielleicht günstiger getroffen als sehr viele Andere; unsere Nietzschische Art, die ich mit Freude selbst an allen Geschwistern meines Vaters wiedergefunden habe, hat nur am Für-sich-sein seine Freude, weiss sich selber zu beschäftigen und giebt eher den Menschen als dass sie viel von ihnen fordert. Dabei erträgt es sich vortrefflich, als Denker und Lehrer zu leben — wozu man nun einmal sich verurtheilt fühlt.

Ich knüpfe an dieses Lob meiner begonnenen Häuslichkeit das Lob Deines Entschlusses oder vielmehr den herzlichen Ausdruck meiner Freude, Dich überzeugt und entschlossen zu sehen, eine gute Ehe zu schliessen. Bringe aber ja in diesem Herbste die ganze Angelegenheit durch eine Reise nach Berlin in's Reine und Fertige, ich rathe es Dir nur mit dem Wunsche, dass Du nicht zu lange am fürchterlichsten Elemente des Lebens, an der Ungewissheit leiden mögest.

Darf ich glauben, dass wenn Du mich noch vor Anfang Deines Semesters besuchst,4 Du mir eine glückliche Nachricht5 mitbringst? Im andern Falle stelle ich mir vor, dass eine neue Berliner Winter-Saison6 Deinem Vorhaben ernstlich gefährlich werden könne. — Doch davon verstehe ich wenig.

Unser Freund Rohde, der immer in den Unglückstopf des Lebens zu greifen pflegt und sich gewöhnlich etwas Herbes herausloost, war hier bei mir7 und meinte zuletzt, es sei der einzige Ort auf der Erde, wo er sich noch zu Hause fühle.8 Von der grässlichen Lage,9 in der er sich befand, mag ich brieflich nichts sagen; er wurde durch einen Brief des Vaters10 der Dame an einer ganz besonders verwundbaren Stelle getroffen und quälte sich sehr. Er reiste von hier nach München und hörte dort den Tristan, mit übermässiger Erschütterung.11 In den nächsten Tagen wird er wohl in Rostock sein, wo er an der Philologen-versammlung Theil nimmt und einen Vortrag "über die Novelle bei den Griechen"12 hält. — Ich habe bei diesem Zusammensein mit R. mehr gehabt als bei allen bisherigen, er war in seltenem Grade vertrauend und liebevoll, so dass es mir herzlich wohl that, ihm in der absurden Lage noch etwas sein zu können, jetzt wo sein Leben sich um ein kleines Mädchen dreht — der Himmel behüte Dich und mich vor gleichem Schicksale! —

Nun kommt auch bald unser Baumgartner13 zurück, er wird der Insasse meiner früheren Wohnung. Mannichfaltig zurechtgewiesen und belehrt kehrt er heim, er hatte mancherlei Unglück: so stürzte er neuerdings sehr gefährlich mit seinem geliebten Pferd, kam selber noch davon, musste aber das Pferd sofort erschiessen.

Mit J. Burckhardt geht es immer gut. Ich hörte gestern, er habe sich in Lörrach zu einem vertrauten alten Freunde14 über mich ausgesprochen, sehr günstig, man wollte mir gar nicht sagen, wie. Nur das Eine erfuhr ich: er habe gemeint, einen solchen Lehrer würden die Basler nicht wieder bekommen.

Man rückt jetzt wieder an unsrer Sommerferien-ordnung. Im ungünstigen Falle ist es möglich, dass die Bayreuther Feste15 nächstes Jahr und die Jahre darauf mich nicht sehen werden; höchstens dass man mir einmal Urlaub für ein paar Tage giebt. Es kann aber auch günstiger werden als es bis jetzt ist: wenn nämlich der ganze Monat August als Ferienzeit festgesetzt würde. Komme es nun, wie es wolle, ich will schon zusehn, nicht ganz darum betrogen zu werden, wie dies Jahr.16

Mit meiner Gesundheit verbinde ich gute Hoffnungen, wenn ich die neue Lebensweise fortführe, die ich jetzt seit den Ferien auf Rath des Dr. Wiel17 eingerichtet habe. Ich esse alle 4 Stunden: um 8 Uhr ein Ei, Cacao und Zwieback, um 12 ein Beefsteak oder etwas Andres von Fleisch, um 4 Uhr Suppe Fleisch und wenig Gemüse, um 8 Uhr kalten Braten und Thee. Jedermann zu empfehlen! Ein Gleichgewicht ist da erreicht, bei dem man an Verdauungs-fiebern der gewöhnl. Diners nicht zu leiden hat.

Doch giebt es Rückfälle meines Magenleidens; und sehr viel guten Willen gesund zu werden, muss ich haben.18

Für die Besorgung der Briefe,19 welche ich nach Bayreuth schickte, danke ich sehr; beide sind angekommen, und von beiden Seiten sind auch Antworten darauf eingetroffen. —

Sehr gute Nachrichten von Romundt!20 Wie ich mich freue! Ein Brief mit völliger Veränderung der Gemüthsart traf ein, wie von einem Genesenden. Er hat mehr zu thun und zu placken als je im Leben, aber er fühlt die segensreiche Wirkung und sagt selbst, es müsse sich inzwischen etwas in ihm gedreht haben. Er ist Gymnasiallehrer in Oldenburg21 und hat bis jetzt den ganzen griechischen Unterricht in Unter- und Obersecunda gegeben und bekommt von jetzt ab das Deutsch für Prima. Und es geht! Seine Adresse ist per adr. Frau Oberjustizrath Mencke, Petersstr. 17. Oldenburg im Grossherzogthum.

Miaskowski geht also Ostern nach Hohenheim,22 die Sache ist also erledigt, nachdem sie lange schwebte.

Meine Addresse ist: Spalenthorweg 48.

Liebster Freund, Litteratur mache ich nicht, der Ekel gegen Veröffentlichungen nimmt täglich zu. Wenn Du aber kommst, will ich Dir etwas vorlesen, was Dir Freude machen wird, etwas aus der unpublicirbaren Betrachtung Nr. 4 mit dem Titel "Richard Wagner in Bayreuth."23 — Stillschweigen erbeten.

Lebe wohl, mein Getreuester
und Geliebter.
Dein F N.

Die besten Grüsse auch von meiner Schwester.

Bitte, empfiehl mich Deinen verehrtesten Eltern. — Sei guten Muths. Du darfst es sein.

1. Mountain near Lucerne.
2. Nietzsche and his sister rented an apartment at Spalentorweg 48 in Basel.
3. When he had left Naumburg to attend Schulpforta.
4. Carl von Gersdorff would visit Nietzsche in Basel from 10-12-1875 to 10-21-1875.
5. Gersdorff was attending the Agricultural Academy at Hohenheim, and talking about getting engaged.
6. Gersdorff was courting two women in Berlin.
7. Erwin Rohde visited Nietzsche in Basel from 08-31-1875 to 09-07-1875.
8. See Munich, 09-09-1875: Letter from Erwin Rohde to Nietzsche in Basel.
9. Rohde was involved with a married woman, who eventually decided to stay with her husband.
10. The letter is lost.
11. On 09-08-1875, Rohde attended a performance of Wagner's Tristan und Isolde in Munich.
12. Erwin Rohde, "Über griechische Novellendichtung und ihren Zusammenhang mit dem Orient." In: Verhandlungen der dreissigsten Philologen-Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Rostock vom 28. September bis 1. October 1875. Leipzig: Teubner, 1876, 55-70.
13. In February 1874, Nietzsche had started dictating to Adolf Baumgartner (1855-1930): a student of Jacob Burckhardt and Nietzsche at the pedagogium in Basel, and the son of Marie Baumgartner. Baumgartner left Basel in the autumn of 1874, serving in the Hussars for his one-year military service. He returned to Basel to resume his studies, which ended in the summer of 1877. On Nietzsche's advice, he went to Jena in the autumn of 1877 to study under Erwin Rohde, but their relationship soured. Baumgartner went on to write a philological book on the Armenian historian, Moses of Khoren (ca. 410-490s). See Adolf Baumgartner, Dr. M. Lauer und das zweite Buch des Môses Chorenazi. Leipzig: Stauffer, 1885. In 1878, Nietzsche gifted him a dedicated copy of Ralph Waldo Emerson's Neue Essays (Letters and Social Aims). Autorisirte Uebersetzung mit einer Einleitung von Julian Schmidt. Stuttgart: Abendheim, 1876. The dedication reads: "Herrn Adolf Baumgartner / als Gefährten für einsame / Spaziergänge / empfohlen. / / Und dabei gedenken Sie auch / meiner! — / / F. Nietzsche / Ende 1878." (Mr. Adolf Baumgartner / Recommended as a companion on lonely walks. / / And with it remember me too! — / / F. Nietzsche / Ende 1878.) For further biographical details on Baumgartner, see Emil Dürr, "Adolf Baumgartner 1855-1930." In: Basler Jahrbuch. 1932, 211-242. The reference in this letter refers to Baumgartner having completed his miltary service and planning to live at Schützengraben 45, Nietzsche's former apartment in Basel.
14. Eduard Kaiser (1813-1903): a physician in Lörrach and a friend of Jacob Burckhart.
15. The first year of the Bayreuth Festival was 1876.
16. Nietzsche was unable to attend rehearsals in the summer of 1875.
17. In Steinabad, Nietzsche's gastric problems were treated by the physician and dietitian Josef Wiel (1828-1881). See his entry in Nietzsche's Library.
18. Nietzsche's stomach ailment finally improved in February 1876.
19. Letters to Malwida von Meysenbug and Edouard Schuré.
20. See Oldenburg, 09-19-1875: Letter from Heinrich Romundt to Nietzsche in Basel.
21. Since August 2, 1875.
22. August von Miaskowski (1838-1899): professor of economics in Basel, and friend of Nietzsche. In 1876 he took a position at the Hohenheim Agricultural Academy (where Carl von Gersdorff was studying), but only stayed one year.
23. Unzeitgemässe Betrachtungen, 4. Richard Wagner in Bayreuth, (Untimely Meditations, 4. Richard Wagner in Bayreuth). German Text. It was published on 07-10-1876. This is the first time Nietzsche mentions the title. Nietzsche started to explore writing an essay on Wagner in the autumn of 1874, but didn't begin serious work on it until the autumn of 1875. In autumn 1874 through March 1875, Nietzsche wrote preparatory material for a work entitled "We Philologists" — to combat criticism of The Birth of Tragedy — but abandoned that work shortly thereafter.

 


Paul Rée.
From b/w photo, ca. 1876-77.
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Basel, 22. Oktober 1875:
Brief an Paul Rée.

Lieber Herr Doctor, ich habe mich viel zu sehr über Ihre psychologischen Beobachtungen gefreut, als dass ich es mit Ihrem Todten-Incognito ("aus dem Nachlass")1 so ernst nehmen könnte. Beim Durchstöbern einer Menge neuer Bücher fand ich neulich Ihre Schrift und erkannte auf der Stelle einige jener Gedanken als Ihr Eigenthum wieder, und ebenso ergieng es Gersdorff, der aus der früheren Zeit noch neulich mir citirte "behaglich mit einander schweigen zu können soll ja ein grösseres Zeichen von Freundschaft sein als behaglich mit einander reden zu können, wie Rée sagte."2 Sie leben also noch in mir und meinen Freunden fort, und nichts hatte ich damals als ich Ihr von mir so hochgehaltenes Manuscript in den Händen hatte, mehr zu bedauern als gerade durch ein starkes Augenleiden zu absoluter Entsagung im Briefeschreiben gezwungen zu sein.

Ich bin ferne davon, mir es herauszunehmen Sie zu loben, ebenso wenig will ich Sie mit irgend welchen "Hoffnungen" belästigen, die ich etwa auf Sie setze. Nein! wenn Sie nie etwas anderes drucken lassen, wie diese geistbildenden Maximen, wenn diese Schrift wirklich Ihr Nachlass ist und bleibt, so soll es gut und recht sein: wer so selbständig lebt und für sich daher geht, hat das Recht sich auszubitten, dass man ihn mit Lob und Hoffnungen verschone. Nur möchte ich Sie für den Fall irgend einer Publications-Absicht darauf aufmerksam machen, dass Sie immer mit Sicherheit auf meinen Verleger, Herrn E. Schmeitzner in Schloss-chemnitz rechnen können. Ich sage dies namentlich deshalb, weil das Einzige, worüber ich mich bei Ihrer Schrift nicht freute, die letzte Seite war, auf der die Schriften des Herrn E. von Hartmann3 hinter einander her prangen; die Schrift eines Denkers sollte aber auch nicht einmal auf Ihrem Hintertheil an die Schriften eines Scheindenkers erinnern.

Mit recht guten Wünschen für Ihr leibliches Wohl und der Bitte meinen Dank dafür freundlich aufzunehmen, dass Sie Ihre Maximen überhaupt der Öffentlichkeit übergeben haben — womit Sie zeigen, dass Ihnen das geistige Wohl Ihrer Mitmenschen am Herzen liegt,

bin und bleibe ich
der Ihrige
Friedrich Nietzsche.

1. Nietzsche refers to the title of Paul Rée's anonymously published work, Psychologische Beobachtungen. Aus dem Nachlaß von * * *. [Psychological Observations. From the Postumous Writings of * * *.] Berlin: Duncker, 1875.
2. The actual Rée quote is: "Behaglich mit einander sprechen können ist ein geringeres Zeichen von Sympathie, als behaglich mit einander schweigen können." (To be able to be comfortable talking with one another is a lesser sign of sympathy than to be able to be comfortable in silence with one another.) Psychologische Beobachtungen, p. 105.
3. Eduard von Hartmann (1842-1906): German philosopher whom Nietzsche despised.

 


Title page:
Paul Rée, Psychologische Beobachtungen.
Berlin: Duncker, 1875.
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Paris, 31. Oktober 1875:
Brief von Paul Rée.

Lieber Herr Professor!

Vergebens suche ich nach Worten, um Ihnen die Freude auszudrücken, welche Sie mir durch Ihren Brief1 bereitet haben. Auch bin ich froh darüber, daß Sie den Ausdruck meiner Freude nicht mit angesehen haben: Sie hätten nämlich einen Menschen gesehen, der im Zimmer auf und absprang, wie ein Satyr,2 und dabei mit den Händen gesticulirte, wie ein Verrückter. Diese Freude hat zwei Gründe: Erstens hatte ich sie damals in Base[l]3 so außerordentlich lieb gewonnen und stellte Sie gleichzeitig so hoch, daß ich fast untröstlich darüber war, durch meine zahlreichen Kindereien (es geht einem aber zuweilen so!) die Veranlassung zu werden, daß ich Ihnen nicht so nahe treten konnte, wie ich meiner Empfindung nach gewollt hätte. Ich konnte es Ihnen nicht verzeihen, daß ich mich tactlos gegen Sie benommen4 hatte (Die Sentenz: Wer fühlt, daß er sich tactlos gegen uns benommen hat, verzeihet uns das nicht,5 — entstand gerade damals durch Reflexion über mich selbst). Ich hatte zu Ihnen eine unglückliche Liebe! Seitdem habe ich dann so oft an Sie gedacht und es immer von Neuem beklagt, daß ich nicht an Sie als einen Freund denken konnte. Von nun an werde ich es aber, wenn Sie nicht böse darüber sein wollen, thun. — Sodann ist mir die Anerkennung, welche Sie in Ihrem Briefe aussprechen, so außerordentlich, so im höchsten Grade werth: Ich habe schon manches Lob und manchen Tadel über mein Buch6 gehört, aber theils kamen sie von Leuten, die ich nicht als competente Beurtheiler ansehen konnte, theils machten persönliche Beziehungen mir das eine, wie das andere verdächtig, — und man selbst ist einerseits gewiß der beste, anderseits aber auch der schlechteste Beurtheiler, den es giebt. Erst von heute an fasse ich volles Zutrauen zu mir selbst.—

Leben Sie für diesmal wohl! Wie sehr wünsche ich, daß es Ihnen so recht gut gehen möchte. Bitte grüßen Sie auch H. Overbeck und Gersdorf[f] herzlichst von

Ihrem
dankbar ergebenen
Paul Rée

1. See 10-22-1875: Letter to Paul Rée.
2. Satyrs were companions of the Greek god Dionysus.
3. Heinrich Romundt (1845-1919), Nietzsche's friend and classmate at the University of Leipzig, became Nietzsche's and Franz Overbeck's roommate in Basel in October 1874. In April 1873, Romundt convinced Paul Rée to come to Basel and attend Nietzsche's lectures. Romundt left Basel on 04-10-1875 planning to become a Catholic priest, but soon dropped those plans and became a high-school teacher in Oldenburg.
4. The context of these remarks is unknown.
5. Anon. [Paul Rée], Psychologische Beobachtungen. Berlin: Duncker, 1875, 37.
6. Anon. [Paul Rée], Psychologische Beobachtungen. Berlin: Duncker, 1875.

 



Walter Scott (1788-1864).
By: John Watson Gordon.
Ca. 1830.
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Basel, 8. Dezember 1875:
Brief an Erwin Rohde.

Ach geliebter Freund, ich wußte Dir nichts zu sagen, schwieg, fürchtete und sorgte für Dich, ich mochte nicht einmal fragen, wie es stehe, aber wie oft, wie oft liefen meine mitleidvollsten Gedanken zu Dir! Es ist nun alles so schlimm wie möglich gekommen, und nur Eins könnte noch schlimmer sein: wenn die Sache1 nicht die furchtbare Deutlichkeit hätte, die sie nun hat. Das Unerträglichste ist doch der Zweifel, das gespensterhaft halb-wirkliche: und dieser Zustand ist doch wenigstens von Dir genommen, unter dem Du hier2 so gräßlich littest. Was wollen wir nun machen! Ich zerbreche mir den Kopf, wodurch Dir jetzt in irgend welcher Weise genützt werden könnte. Lange hatte ich mir eingebildet, man werde Dir die Diversion des Ortes machen, was ja sehr wichtig ist und Dich nach Freiburg im Breisgau berufen. Aber hinterdrein kommt es mir so vor als ob man gar nicht daran gedacht hätte. Da bleibt denn freilich die Herausgabe Deines Werkes3 immer das Heilsamste, es ist so etwas nicht ohne einige Freude und fesselt jedenfalls das Nachdenken, auch hat dies Geschäft Stätigkeit und hilft Dir vielleicht über diesen schrecklichen Winter hinweg. Ich erzähle Dir, wie es mir geht. Mit der Gesundheit nicht so, wie ich es eigentlich voraussetzte, als ich die völlige Umänderung meiner hiesigen Lebensweise durchsetzte.4 Ich liege alle 14 Tage bis 3 Wochen einmal auf 36 Stunden etwa zu Bett, recht gepeinigt, in der Art, wie Du es ja kennst. Vielleicht wird es allmählich besser, aber ich meine immer, daß mir noch nie ein Winter so schwer gefallen sei. Der Tag verläuft so mühevoll, durch neue Collegien5 usw, daß ich immer am Abend mit aller weiteren Lebenslust fertig bin und mich eigentlich wundere, wie schwer es sich doch lebt. Es scheint sich doch nicht zu lohnen, diese ganze Quälerei, man nützt weder sich noch anderen im Verhältniß zu der Noth, die man sich und andern auflegt! Dies ist die Meinung eines Menschen, der gerade nicht von den Leidenschaften gepeinigt wird — freilich auch nicht von ihnen beglückt wird. In den Ruhestunden für die Augen liest mir meine Schwester vor, und zwar fast immer Walter Scott,6 den ich gerne mit Schopenhauer den "unsterblichen" nennen will:7 so sehr sagt mir seine künstlerische Ruhe, sein Andante zu, ich möchte ihn Dir empfehlen, doch Deinem Geiste ist mit solchen Mitteln nicht immer beizukommen, welche bei mir anschlagen: deshalb weil Du schärfer und schneller denkst als ich; und von der Behandlung des Gemüths durch Romane will ich gar nichts sagen, zumal Du schon gezwungen bist Dir mit Deinem eignen "Roman"8 zu helfen. Aber vielleicht liesest Du jetzt noch einmal den Don Quixote9 — nicht weil es die heiterste, sondern weil es die herbste Lektüre ist, die ich kenne, ich nahm sie in den Sommerferien vor, und alles Persönliche Leid kam mir sehr verkleinert vor, ja als würdig, daß man darüber ganz unbefangen lache und selbst nicht einmal Grimassen dabei mache. Aller Ernst und alle Leidenschaft und alles, was den Menschen an's Herz geht ist Don Quixoterie, es ist gut dies zu wissen, für einige Fälle; sonst ist es für gewöhnlich besser es nicht zu wissen.

Gersdorff will in den Weihnachtsferien Schritte thun, sich zu verloben.10 Freund Krug hat einen Knaben bekommen,11 Dr. Fuchs ist eingeladen, auf Einen Cyclus der Bayreuther Aufführungen im nächsten Jahr vom Patronatsschein meiner Schwester Gebrauch zu machen.12 Zwei junge gute Musiker und Componisten13 studiren diesen Winter hier, um meine Vorlesungen zu hören, es sind Freunde Schmeitzners, ich thue mich um Verleger und Orientalisten zur Herausgabe des Tripitaka14 der Buddhisten aufzureizen. Dr. Deussen hält den ganzen Winter über begeisternde Vorträge15 über Schopenhauer, jede Woche 3, in Aachen, vor mehr als 300 festen Zuhörern. Baumgartner16 studirt jetzt hier unter meiner Führung Philologie. In meinem philologischen Seminar17 habe ich 13 Mann, zum Theil sehr gut begabte Leute. Mein Schüler Brenner ist leidend und mußte fort nach Catania;18 ich habe ihm für Frl. v. Meysenbug Grüße mitgegeben. Dr. Rée, mir sehr ergeben, hat ein ausgezeichnetes Büchlein,19 "Psycholog. Beobachtungen" anonym erscheinen lassen, es ist ein "Moralist" vom schärfsten Blick, etwas ganz Seltnes von Begabung unter Deutschen. Die Schrift Arnims "Pro nihilo" ist mir lehrreich gewesen.20 Wagner's bleiben bis Ende Januar in Wien.21 Ich lebe völlig zurückgezogen, mit meiner Schwester und bin zufrieden, wie ein Einsiedler, der keine Wünsche mehr hat als daß es recht schön wäre, wenn es einmal aus wäre.

Nun lebe wohl, lebe erträglich, geliebtester Freund, denke daß wir hier an Dich immer so denken, als ob wir Dir damit unsere Freundschaft fühlen lassen könnten. Das ist nun leider nicht der Fall, und so nimm mit diesen elenden Zeilen fürlieb. Meine Schwester und Overbeck grüßen Dich auf das Theilnehmendste, und ich bleibe Dein

Freund F. N.

1. Erwin Rohde was involved with a married woman, who eventually decided to stay with her husband.
2. Rohde visited Nietzsche in Basel from 08-31-1875 to 09-07-1875.
3. Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1876.
4. Nietzsche and his sister rented an apartment at Spalentorweg 48 in Basel.
5. In WS1875-76, Nietzsche's lectures included: Geschichte der griechischen Litteratur III (History of Greek Literature III); Der Gottesdienst der Griechen (The Religious Worship of the Greeks); and a seminar on Diogenes Laertius.
6. Walter Scott (1771-1832): Scottish writer.
7. In his Parerga and Paralipomena, Arthur Schopenhauer praises Walter Scott. However, the reference to "immortal" by Nietzsche is unfounded. A possible passage could be one in which Schopenhauer calls Scott "incomparable": "Selbst in einer Allen zugänglichen Sphäre sehn wir den unvergleichlichen Walter Scott bald durch unwürdige Nachahmer aus der Aufmerksamkeit des großen Publikums verdrängt werden." (Even in a sphere accessible to all, we soon see the incomparable Walter Scott being ousted from the attention of the general public by unworthy imitators.) See Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874, 489.
8. Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1876.
9. Although Nietzsche's personal library does not contain a copy of Don Quixote by Miguel de Cervantes (1547-1616), there are numerous references to the novel in Nietzsche's writings. See the entry for Cervantes in Nietzsche's Library.
10. Gersdorff's engagement was called off.
11. Gustav Krug (1844-1902), Nietzsche's friend since childhood, and his wife Therese, had their first child, Walther Krug, who was born on 09-23-1875.
12. Nietzsche, his sister Elisabeth, and Carl Fuchs all attended the first Bayreuth Festival in 1876.
13. Paul Widemann and Heinrich Köselitz.
14. The texts of the Buddhist canon.
15. In WS1875/76, Paul Deussen delivered a lecture called "Hauptfragen der Philosophie." Cf. Paul Deussen, Erika Rosenthal-Deussen (hrsg.), Mein Leben. Leipzig: Brockhaus, 1922, 174-177.
16. In February 1874, Nietzsche had started dictating to Adolf Baumgartner (1855-1930): a student of Jacob Burckhardt and Nietzsche at the pedagogium in Basel, and the son of Marie Baumgartner. Baumgartner left Basel in the autumn of 1874, serving in the Hussars for his one-year military service. He returned to Basel to resume his studies, which ended in the summer of 1877. On Nietzsche's advice, he went to Jena in the autumn of 1877 to study under Erwin Rohde, but their relationship soured. Baumgartner went on to write a philological book on the Armenian historian, Moses of Khoren (ca. 410-490s). See Adolf Baumgartner, Dr. M. Lauer und das zweite Buch des Môses Chorenazi. Leipzig: Stauffer, 1885. In 1878, Nietzsche gifted him a dedicated copy of Ralph Waldo Emerson's Neue Essays (Letters and Social Aims). Autorisirte Uebersetzung mit einer Einleitung von Julian Schmidt. Stuttgart: Abendheim, 1876. The dedication reads: "Herrn Adolf Baumgartner / als Gefährten für einsame / Spaziergänge / empfohlen. / / Und dabei gedenken Sie auch / meiner! — / / F. Nietzsche / Ende 1878." (Mr. Adolf Baumgartner / Recommended as a companion on lonely walks. / / And with it remember me too! — / / F. Nietzsche / Ende 1878.) For further biographical details on Baumgartner, see Emil Dürr, "Adolf Baumgartner 1855-1930." In: Basler Jahrbuch. 1932, 211-242.
17. Nietzsche's seminar on Diogenes Laertius.
18. Nietzsche's student Albert Brenner (1856-1878) spent the winter of 1875/76 with Malwida von Meysenbug in Rome.
19. Nietzsche refers to the title of Paul Rée's anonymously published work, Psychologische Beobachtungen. Aus dem Nachlaß von * * *. [Psychological Observations. From the Postumous Writings of * * *.] Berlin: Duncker, 1875.
20. Harry Graf von Arnim (1824-1881), Pro nihilo! Vorgeschichte des Arnim'schen Prozesses. Erstes Heft. Zürich: Verlags-Magazin, 1875. [Written under the pseudonym Wilhelm Eichhoff.]
21. He returned to Bayreuth on 12-17-1875.

 


Title page:
Sir Mutu Coomáraswámy, Sutta Nipáta: Or, Dialogues and Discourses of Gotama Buddha. London: Trübner, 1874.
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Basel, 13. Dezember 1875:
Brief an Carl von Gersdorff.

Gestern, mein geliebter Freund, kam Dein Brief1 und heute morgen, recht am Beginne einer schweren Arbeitswoche, Deine Bücher:2 da soll man schon guten Muthes bleiben, wenn man so theilnehmende liebevolle Freunde hat! Wirklich, ich bewundere den schönen Instinkt Deiner Freundschaft — der Ausdruck klingt Dir hoffentlich nicht zu thierisch — daß Du gerade auf diese indischen Sprüche verfallen mußtest, während ich mit einer Art von wachsendem Durst mich gerade in den 2 letzten Monaten nach Indien umsah. Ich entlieh von dem Freunde Schmeitzners Hr. Widemann die englische Übersetzung der Sutta Nipáta, etwas aus den heiligen Büchern der Buddhaisten; und eine der festen Schlußworte einer Sutta habe ich schon in Hausgebrauch genommen "so wandle ich einsam wie das Rhinoceros."3 Die Überzeugung von dem Unwerthe des Lebens und dem Truge aller Ziele drängt sich mir oft so stark auf, zumal wenn ich krank zu Bette liege, daß ich verlange, davon etwas mehr zu hören, aber nicht verquickt mit den jüdisch-christlichen Redensarten: gegen die ich mir irgendwann einen Ekel angegessen habe, so daß ich mich vor Ungerechtigkeit in Acht zu nehmen habe. Wie es nun mit dem Leben steht, magst Du auch aus beiliegendem Briefe4 des unsäglich leidenden Freundes Rohde ersehen; man soll sein Herz nicht an dasselbe hängen, das ist klar, und doch worin kann man es aushalten, wenn man wirklich nichts mehr will! Ich meine, das Erkennen-Wollen bleibe als letzte Region des Lebens-Willens übrig, als ein Zwischenbereich zwischen Wollen und Nichtmehrwollen, ein Stück Purgatorium, so weit wir auf das Leben unbefriedigt und verachtend zurückblicken und ein Stück Nirwana, insofern die Seele dadurch dem Zustande reinen Anschauens nahe kommt. Ich übe mich darin, die Hast des Erkennen-Wollens zu verlernen; daran leiden ja die Gelehrten alle und darüber entgeht ihnen die herrliche Beruhigung aller gewonnenen Einsicht. Nun bin ich immer noch etwas zu straff zwischen die verschiedenen Anforderungen meines Amtes eingespannt, als daß ich nicht allzu oft, wider Willen, in jene Hast gerathen müßte: allmählich will ich mir schon alles zurechtrücken. Dann wird auch die Gesundheit beständiger werden; die ich nicht eher erlange, bis ich sie auch verdiene, bis ich den Zustand meiner Seele gefunden habe, der der mir gleichsam verheißene ist, der Gesundheits-Zustand derselben, wo sie nur noch den Einen Trieb, das Erkennen-Wollen, übrig behalten hat und sonst von Trieben und Begehrungen frei geworden ist. Ein einfacher Haushalt, ein ganz geregelter Tageslauf, keine aufreizende Ehrsucht oder Geselligkeitssucht, das Zusammenleben mit meiner Schwester5 (wodurch alles um mich herum so ganz Nietzschisch ist und sonderbar beruhigt wird) das Bewußtsein ganz ausgezeichnete liebevolle Freunde zu haben, der Besitz von 40 guten Büchern aus allen Zeiten und Völkern (und von noch mehrern nicht gerade schlechten), das unwandelbare Glück, in Schopenhauer und Wagner Erzieher, in den Griechen die täglichen Objekte meiner Arbeit gefunden zu haben, der Glaube daß es mir an guten Schülern von jetzt an nicht mehr fehlen wird — das macht jetzt mein Leben. Leider kommt die chronische Quälerei hinzu, die mich alle zwei Wochen fast zwei ganze Tage, mitunter noch länger packt — nun, das soll einmal ein Ende haben.

Später einmal, wenn Du Dein Haus sicher und wohlbedacht gegründet hast, wirst Du auch auf mich als einen länger weilenden Feriengast rechnen können; ich erquicke mich öfter mit der Vergegenwärtigung Deines späteren Lebens und denke, daß ich Dir auch noch einmal in Deinen Söhnen nützen kann. Wir haben nun, alter treuer Freund Gersdorff, ein gutes Stück Jugend, Erfahrung, Erziehung, Neigung Haß Bestrebung Hoffnung mit einander bis jetzt gemein gehabt, wir wissen, daß wir uns von Herzen freuen, auch nur bei einander zu sitzen, ich glaube, wir brauchen uns nichts zu versprechen und geloben, weil wir einen recht guten Glauben zu einander haben. Du hilfst mir, wo Du kannst, das weiß ich aus Erfahrung; und ich denke bei allem, was mich freut "wie wird sich Gersdorff dabei freuen!" Denn, um Dir dies zu sagen, Du hast die herrliche Fähigkeit zur Mitfreude; ich meine, sie ist selbst seltener und edler als die des Mitleidens.

Nun lebe wohl und gehe in Dein neues Lebensjahr hinüber, als der welcher Du im alten warst, ich weiß Dir sonst nichts zu wünschen. Als solcher hast Du Deine Freunde erworben; und wenn es noch gescheute Weiber giebt, dann wirst Du nicht mehr lange

"einsam wandeln wie das Rhinoceros."

Treugesinnt der Deine
Friedrich Nietzsche.

Herzliche Grüße und Glückwünsche meiner Schwester. Meine Empfehlungen an Deinen verehrten Vater.

Ich schickte Dir Rütimeyers Programm,6 hoffentlich kam es an.

1. See Hohenheim, 12-10-1875: Letter from Carl von Gersdorff to Nietzsche in Basel.
2. For a Christmas present, Carl von Gersdorff sent Nietzsche a copy of Otto Böhtlingk (1815-1904), Indische Sprüche. Sanskrit und Deutsch. Th. 1-3. Leipzig: Voss, 1870-73. See the entry for Böhtlingk in Nietzsche's Library.
3. Cf. Sir Mutu Coomáraswámy, Sutta Nipáta: Or, Dialogues and Discourses of Gotama Buddha. London: Trübner, 1874, 11ff. Cf. Morgenröthe, §469 (Dawn, §469).
4. A lost letter, probably about Erwin Rohde's affair with a married woman, who eventually decided to stay with her husband.
5. Nietzsche and his sister rented an apartment at Spalentorweg 48 in Basel.
6. Ludwig Rütimeyer (1825-1895): Swiss zoologist and paleontologist. Unknown reference. Possibly L. Rütimeyer, Die Veränderungen der Thierwelt in der Schweiz seit Anwesenheit des Menschen. Basel: Schweighauserische Verlagsbuchhandlung, 1875.

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