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Naumburg, 2. Januar 1875: Hochverehrter Herr ich habe mich durch Ihren Brief1 viel zu erfreut und geehrt gefühlt, um mir nicht den Vorschlag, welchen Sie mir in Betreff Leopardi's2 machen, zehnfach zu überlegen. Ich kenne dessen prosaische Schriften freilich nur zum kleinsten Theile; einer meiner Freunde,3 der mit mir in Basel zusammenwohnt, hat öfters einzelne Stücke daraus übersetzt und las sie mir vor, jedes mal zu meiner grossen Überraschung und Bewunderung; wir besitzen die neueste Livorneser Ausgabe.4 (Soeben ist übrigens ein französisches Werk über Leopardi erschienen, Paris bei Didier, der Name des Autors ist mir entfallen — Boulé?)5 Die Gedichte kenne ich nach einer Übersetzung Hamerling's.6 Ich selber nämlich verstehe gar zu wenig Italiänisch und bin überhaupt obschon Philologe doch leider gar kein Sprachenmensch (die deutsche Sprache wird mir sauer genug). Aber das Schlimmste ist: ich habe gar keine Zeit. Die nächsten 5 Jahre habe ich festgesetzt, um in ihnen die übrigen 10 Unzeitgemässen7 auszuarbeiten und um damit die Seele von all dem polemisch-leidenschaftlichen Wuste möglichst zu säubern. In Wahrheit aber begreife ich kaum, wo ich dazu die Zeit finden soll; denn ich bin nicht nur akademischer Lehrer, sondern gebe auch griechischen Unterricht am Baseler Pädagogium.8 Meine bisherigen schriftartigen Erzeugnisse9 (ich möchte nicht "Bücher" und auch nicht "Broschüren" sagen) habe ich in spärlichen Ferien und in Krankheitszeiten mir beinahe abgelistet, die Straussiade10 musste ich sogar dictiren, weil ich damals weder lesen noch schreiben konnte. Da es aber mit meiner Leiblichkeit jetzt sehr gut steht, keine Krankheit in Sicht ist und die täglichen Kaltwasserbäder mir keine Wahrscheinlichkeit geben, dass ich je wieder krank werde, so steht es mit meiner schriftstellerischen Zukunft fast hoffnungslos — es sei dass sich mein Tichten und Trachten nach einem Landgute irgendwann einmal erfüllte.11 Auf eine solche schüchterne Möglichkeit werden Sie Sich, verehrter Herr, natürlich nicht einlassen; weshalb ich Sie bitten muss, von mir bei diesem Plane abzusehen. Dass Sie aber überhaupt dabei an mich "gedacht" haben, ist eine Form der Sympathie, über die ich mich nicht genug freuen kann, selbst wenn ich erkennen sollte, dass es für jenes Vermittler-Amt zwischen Italien und Deutschland würdigere und geeignetere Persönlichkeiten giebt. Ich verharre in steter Hochschätzung 1. See 11-01-1874: Letter from Hans von Bülow. Emma Guerrieri-Gonzaga. Enhanced image The Nietzsche Channel. Naumburg, 2. Januar 1875: Also verehrte Frau! Wir müssen uns einstweilen hinein fügen, dass unsere Übereinstimmung keine völlige, vor allem noch keine grundsätzliche ist. So nämlich habe ich Ihre Empfindung mir gedeutet, wie Sie mir dieselbe mit der dankenswürdigsten Offenheit mittheilten:2 ich meine, Ihre widerstrebende Stimmung ging diesmal über das zunächst vorliegende Buch3 hinaus und brachte es zu einem allgemeinen Zweifel und Bedenken in Betreff aller meiner Wege und Ziele. Denken Sie, dass mir Ihr Brief zumal als eine Antwort auf die "Historie"4 erschien; als ob Sie nämlich jetzt dahin gelangt seien, das darin ausgesprochene Allgemeine jetzt so in der Nähe zu sehen, wie ich es etwa gewohnt bin anzusehen: wobei Sie erschraken und an den Allgemeinheiten selbst irre wurden. In diesem Zweifel muss ich Sie nun belassen, denn ich habe gar kein Vertrauen zu brieflichen Aufklärungen so complicirter Dinge; wobei zuletzt doch jeder nach seinem Maasse, ich meine nach seinen Erfahrungen und Bedürfnissen misst. Über die eigentlichen Missverständnisse wird Sie Ihr reiner und zum Wahren strebender Sinn selbst besser aufklären und vor allem fruchtbarer aufklären als das irgend ein Brief vermöchte; fragen Sie sich, ich bitte, z. B. darnach, ob ich ein Feind des nationalen Gefühls bin und ob ich das deutsche Reich verunglimpfe, oder ob nicht viel mehr — — doch nein, in solchen Dingen sollen Sie mich rechtfertigen, nicht ich mich. Aber abgesehn von den Missverständnissen — nicht wahr, Sie verzeihen es, wenn ich ganz unbefangen das Wort gebrauche? — so wünschte ich, Sie möchten im Ganzen noch einmal oder zweimal den Versuch machen, einen neuen Gesichtswinkel (Gefühlswinkel?) für diese letzte Schrift zu gewinnen, Sie möchten nicht von vornherein zu hastig darauf ausgehen, das für Sie zunächst Wesentliche finden zu wollen. Der Weg von dem Schopenhauerischen Erzieherthum bis zu dem einzelnen Individuum ist noch sehr lang, und selbst das, was ich über diesen Weg noch zu sagen habe, — der Inbegriff der noch übrigen 10 Unzeitgemässen Betrachtungen5 — ist noch sehr viel. Ein wenig Geduld! — Nein, verehrteste Frau, es darf nicht so sein, dass Sie von einer heroischen Musik einen deprimirenden Eindruck davon tragen. Es heisst dies wirklich nicht, verlangen dass Sie männlich empfinden sollen. — Leben Sie wohl und bleiben Sie geneigt Ihrem ergebensten 1. Emma Guerrieri-Gonzaga (1835-1900): German pedagogue, and friend of Nietzsche. Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Naumburg, 2. Januar 1875: Liebe hochverehrte Freundin, wenn ich so spät auf einen so ausgezeichneten und jedes Dankes würdigen Brief antworte, so liegt der Grund in meinem curiosen Elend, zu dem jetzt mein Baseler Beruf geworden ist. Ich habe gegenwärtig und für ein paar Semester so viel zu thun, dass ich ordentlich in Betäubung von einem Tag in den andern gelange; so will's die "Pflicht" und trotzdem ist mir oft dabei zu Muthe als ob ich mit dieser "Pflicht" meiner eigentlichen Pflicht nicht nachkäme; und mit der letzteren hängt gewiss der Verkehr mit den wenigen Menschen zusammen, welche — wie Sie — in allem, was sie thun und leben, mich an das, was noth thut, erinnern. Nun, ich lese griechische Literaturgeschichte1 und interpretire die Rhetorik des Aristoteles2 und gebe Stunden über Stunden, die Gesundheit hälts aus, die Augen eingeschlossen, nach der äusserlichen Ansicht der Dinge geht es mir also gut. Dabei aber weiss ich gar nicht mehr, wann ich wieder dazu kommen soll, meinen unzeitgemässen Cyclus3 fortzusetzen. Mein geheimes aber hoffnungsloses Tichten und Trachten geht auf ein Landgut.4 Ja, Weisheit mit einem Erbgut! wie Jesus Sirach sagt.5 Jetzt habe ich 10 Tage Ferien hinter mir, ich verlebte sie mit Muttter und Schwester und fühle mich recht erholt;6 ich liess während dem alles Denken und Sinnen hinter mir und machte Musik. Viele tausend Notenköpfchen sind hingemalt worden, und mit einer Arbeit bin ich ganz fertig. Der Hymnus an die Freundschaft7 ist jetzt zweihändig und vierhändig anzustimmen; seine Form ist diese: Vorspiel Festzug der Freunde zum Tempel der Freundschaft Ich bin sehr zufrieden damit. Wollte Gott, es wäre auch ein andrer Mensch, zumal meine Freunde! Die Dauer der ganzen Musik ist genau 15 Minuten — Sie wissen was darin alles vorgehen kann, gerade die Musik ist ein deutliches Argument für die Idealität der Zeit. Möchte meine Musik ein Beweis dafür sein, dass man seine Zeit vergessen kann, und dass darin Idealität liegt! Ausserdem habe ich meine Jugend-Compositionen8 revidirt und geordnet. Es bleibt mir ewig sonderbar, wie in der Musik die Unveränderlichkeit des Characters sich offenbart; was ein Knabe in ihr ausspricht, ist so deutlich die Sprache des Grundwesens seiner ganzen Natur, dass auch der Mann daran nichts geändert wünscht — natürlich die Unvollkommenheit der Technik und s. w. abgerechnet. Wenn nach Schopenhauer9 der Wille vom Vater, der Intellect von der Mutter vererbt, so scheint es mir, dass die Musik als der Ausdruck des Willens auch Erbgut vom Vater her ist. Sehen Sie sich in Ihrer Erfahrung um: im Kreise der meinigen stimmt der Satz. Heute Nachts fahre ich nach Basel zurück, durch hohen Schnee und kräftige Kälte, seien Sie froh, verehrte Freundin, jetzt nicht in unserm Bärenhäuter-Clima zu sein. — Gestern schrieb Frau Wagner10 und Gersdorff11 an mich. Wir hoffen alle in der Mitte dieses Jahres zu den Bayreuther Proben zusammen zu kommen.12 Ach könnten Sie doch dabei sein.13 Und möchte Ihnen dies Jahr erträglich und leicht werden! Und einiges Beglückende und Gute schenken! Ich sah gestern als am ersten Tage des Jahres mit wirklichem Zittern in die Zukunft. Es ist schrecklich und gefährlich zu leben — ich beneide jeden, der auf eine rechtschaffne Weise todt wird. Im Übrigen bin ich entschlossen alt zu werden; denn sonst kann man es zu nichts bringen. Aber nicht aus Vergnügen am Leben will ich alt werden. Sie verstehen diese Entschlossenheit.Mit den herzlichsten Wünschen allezeit Meine Schwester wird allernächstens schreiben. 1. Nietzsche's lectures on the "Geschichte der griechischen Litteratur" (History of Greek Literature) were held in WS1874-75, SS1875, and WS1875-76.
Basel, Mitte Januar 1875: Du hast mir wirklich lieber Freund eine recht grosse Freude mit Deinem Briefe1 gemacht. Wenn sich alles so verhält, wie Du es schilderst und Du die entsprechende Energie, um solche Pläne durchzuführen hast — oder bewahrst, wie ich sagen könnte, so bekommt wirklich Dein Leben in seltnem Grade den Character des Vernünftigen und Gemeinnützlichen. Ich lobe sehr Deine Absicht, Dich durch einige Jahre strengeren Frohndienstes für alle übrigen Jahre des Lebens ganz und gar unabhängig zu machen; werde in der Durchführung dieses Planes ja nicht unsicher! Es ist kaum auszudrücken, was Du damit Dir gewinnst und welcherlei Gefahren Du damit den Weg verlegst. Und noch höher erscheint dieser Plan, wenn Du für die zukünftige so schwer errungene Mussezeit ein so edles Lebenswerk Dir vorgesetzt hast, wie es das ist, die indische Philosophie durch gute Übersetzungen uns zugänglich zu machen. Wüsste ich ein Mittel, um Dich zu einer solchen Lebensrichtung zu ermuthigen, wie gern wollte ich Dich ermuthigen! Mein Lob kann Dir nicht genügen, vielleicht schon eher meine Begierde, selber aus jener Quelle zu trinken, welche Du uns allen einmal öffnen willst. Wenn Du wüsstest, mit welchem Missmuthe ich gerade immer an die indischen Philosophen gedacht habe! Was ich empfinden musste, als Prof. Windisch (der sich mit den philosophischen Texten sehr befasst hat, in London einen Katalog von c. 300 philosoph. Schriften verfasst hat!)2 mir sagen konnte, als er mir eine Sankhya-Schrift im Manuscript zeigte "Sonderbar, diese Inder haben immerfort philosophirt, und immer in die Quere!" Dieses "immer in die Quere" ist bei mir sprüchwörtlich geworden, um die Unbefähigung unsrer indischen Philologen, und ihre gänzliche Roheit zu bezeichnen. r_<@l BkÏl 8bk"<.3 Der alte Brockhaus hielt vor ein paar Jahren in Leipzig eine Rectoratsrede4 mit einem Überblick über die Resultate der indischen Philologie — aber von Philosophie war alles stumm, ich glaube, er hatte sie zufällig vergessen. Also: Du sollst gepriesen sein, dass Du sie nicht auch zufällig vergessen hast. Wie glücklich erscheint jetzt Deine vorausgegangne Beschäftigung mit Kant und Schopenhauer! Du hast eine schöne Art entdeckt, diesen Lehrmeistern Deine Dankbarkeit auszudrücken. Overbeck und Romundt sind, ebenso wie ich, voll Deines Lobes; und letzterem bist Du bereits mit einem so vernunftvollen Lebensplane vorbildlich und ermuthigend erschienen. Er verlässt Ostern die Universität und überhaupt das akademische Philosophenthum und sucht eine Lehrerstelle.5 — Beiläufig: Du hast mir vor einiger Zeit einmal gemeldet,6 dass Du durch Basel mit einem bestimmten Zug durchkommen würdest. Natürlich war ich auf dem Bahnhofe, zog aber schliesslich traurig ab, nachdem ich alle Menschen, welche der Genfer Zug brachte, gemustert hatte und Dich nicht darunter fand. Das musst Du aber irgend wann einmal wieder durch die That gut machen, nicht wahr, lieber Freund? Und nun lebe wohl! Meine Segenswünsche sollen mit Dir sein. Dein Friedrich 1. Aachen, 01-17-1875: Letter from Paul Deussen to Nietzsche in Basel.
Basel, 31. Januar 1875: Meine liebe gute Mutter, ich komme eben vom Mittagsessen bei Vischer-Heußlers1 zurück und will schnell noch mein Geburtstagsbriefchen2 schreiben, damit Du es noch zur rechten Zeit und womöglich noch vor der rechten Zeit bekommst (um es nämlich wieder gut zu machen, daß mein Brief3 voriges Jahr wohl ein wenig spät kam) Wenn Du nächsten Dienstag 49 Jahr werden solltest — ich weiß es wirklich nicht genau — so will ich erzählen, was die alten Griechen von diesem Jahre hielten; sie meinten, man sei in diesem Jahre auf der Höhe und befinde sich geistlich und leiblich recht gut; weshalb ich Dir zu diesem Jahre besonders gratuliren will. Ich nehme ungefähr an, Du habest damit das erste Halbtheil Deines Lebens abgeschlossen, doch steht einer andern Auffassung nichts entgegen, wenn Du zb. vorziehen solltest, damit erst das erste Drittel des Lebens absolvirt zu haben... In letzterem Falle würdest Du auf dieser Erde noch Zeit haben bis 1973, im ersteren bloß bis 1924. Da ich mir selber vorgenommen habe, leidlich alt zu werden, so wollen wir uns nur daran gewöhnen, uns ungefähr als gleichalterig anzusehen; und wer weiß, ob Du nicht in 10 Jahren jünger aussiehst als ich in 10 Jahren! Ich glaube es beinahe und will mich nicht wundern. Irgendwann wird mich jeder der es nicht besser weiß, für den älteren Bruder halten (und Lisbeth vielleicht, wenn sie sich so fort in ihrer Jugend einmumisirt) für unser Enkelchen. Das wird eine schöne verkehrte Welt abgeben! Und woher kommts? Daher daß die Frau Mutter partout nicht alt werden will. Wozu ich heute aber von ganzem Herzen gratulire. Mir geht es erträglich. Genug Arbeit, wenig Ruh bei Tag und Nacht. Doch halten's die Augen aus. Die Jahre rennen so hin, und ich bin ferne davon, das Leben für eine schöne Erfindung anzusehen. Am vorigen Freitag Abend war ich bei Hagenbach-Bischoffs4 zu Besuch. Siebers5 habe ich auch besucht, doch geht es nicht so gut bei Frau Sieber als man wünschen möchte. Heute Abend wird Dr. Hermann6 bei uns in der Baumannshöhle7 zu Gast sein, zum Abschied, er verläßt Basel mit diesem Monat. — 3 Sonnabende hinter einander war ich in Lörrach, wo die französische Übersetzung meiner letzten Schrift meine Anwesenheit wünschenwerth machte.8 Diese ist auch mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit fortgeführt worden; in 14 Tagen bekomme ich das fertige Manuscript und wir bemühen uns um einen Verleger in Paris. Mein deutscher Verleger9 in Schloß-Chemnitz ist über den bisherigen Verkauf recht zufrieden gestellt. Gersdorff wird Anfang März uns hier besuchen.10 — Nun, meine liebe Mutter, feiere Deinen Ehrentag, wie auch ich ihn in der Ferne feiern werde. Behalte lieb Deinen Fritz 1. Sophie Vischer-Heussler (1839-1915), and her husband Wilhelm Vischer-Heussler (1833-1886): Basel historian and politician. Malwida von Meysenbug. From b/w etching. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Basel, 7. Februar 1875: Verehrteste Freundin heute giebt es eine Bitte oder wenigstens eine Anfrage. Inzwischen nämlich ist meine Schrift über Schopenhauer,1 an der Sie eine so rührende und mich geradezu beschämende Freude gehabt haben,2 ins Französische übersetzt worden.3 Es hat sich in den letzten Jahren ein junger Mann, Adolf Baumgartner,4 sehr an mich angeschlossen, und in ihm habe ich, wie ich hoffe, einen der Unserigen heran erzogen — Sie glauben nicht, wie gute Hoffnungen ich habe. Also, dessen Mutter, Marie Baumgartner-Köchlin, ist die Übersetzerin; auch sie hat sich immer mehr unsern Ansichten genähert (sie ist beiläufig eine dankbare Leserin gewisser idealistischer Memoiren5 und überhaupt eine treffliche und erfahrene Frau, mit einem wackeren Deutschen als Gatten und voll der unglaublichsten Liebe für ihren Adolf) Die Familie ist eine elsassische, Frau Baumgartner kämpfte in Sonnetten und Schriften gegen die Annexion.6 Nun suchen wir einen Pariser Verleger und fragen bei Ihnen an, ob nicht vielleicht durch Herrn Monod7 hier geholfen werden könnte. Die Übersetzung ist sehr gut und geschickt, von mir in Betreff des Gedankens revidirt; wir haben die Hoffnung, dass Frau Wagner sie einmal durchlesen wird, bevor sie in die Druckerei wandert.8 Der Titel wäre "Arthur Schopenhauer." Ich sollte denken, es müsste für Franzosen mancherlei darin stehen, was sie nöthigte einmal aufzuhorchen. Wenn Sie, verehrtestes Fräulein, ein Wörtchen davon in einem Brief an Frau Olga9 sagen wollten — wie dankbar wäre ich Ihnen! — Wissen Sie bereits, dass seit gestern meine Schwester in Bayreuth ist, auf besonderen Wunsch von Frau Wagner, welche nächstens mit Wagner nach Wien und Pesth zu Concerten reist10 und während dem eine Stellvertreterin nöthig hatte. Meine Schwester ist sehr glücklich, einen Dienst hier leisten zu dürfen, aber sehr beklommen darüber, ob sie ihn wirklich leisten kann. Genug, ich meine, es ist eine hohe Schule für sie und die schönste Vorbereitung für die Bayreuther Sommerfeste,11 deren Gast wir beide sein werden. Diese beiden Jahre sind für mich geweiht — ich weiss nicht, wodurch ich verdient habe, sie zu erleben. Ich brüte an einigem Neuen12 und habe immer, bevor ich bis zu einem bestimmten Punkte bin, rechte Angst, wie vor böser Zauberei und dem Unsegen und Mehlthau feindseliger Mächte. Schicken Sie mir Ihren Segen, ich bitte Sie darum. Einen ausgezeichneten Brief von Frl. Mathilde Mayer13 aus Mainz, als Antwort auf den "Schopenhauer" wollte ich auch noch erwähnen. Dagegen ist Frau Guerrieri14 in Florenz diesmal nicht zufrieden, sondern durch meine letzte Schrift fast "rebellisch" geworden, wie sie selbst sagt, findet alles viel zu "polemisch" und bezweifelt den ganzen Weg, den ich gehe. Ja, was weiss ich von meinem "Weg"! Ich gehe ihn, weil ich es sonst gar nicht aushalten könnte und habe also keinen Grund, mir über ihn Zweifel und Bedenken zu machen. Es geht mir in summa ja eigentlich besser als allen meinen Mitmenschen, seit ich auf diesem Wege bin, über den zwei Sonnen Wagner und Schopenhauer leuchten und ein ganzer griechischer Himmel sich ausspannt. — Bewahren Sie mir Ihre Liebe und nehmen Sie meine herzlichsten Wünsche für Ihr Wohl an. Ihr ergebenster und 1. Unzeitgemässe Betrachtungen, 3. Schopenhauer als Erzieher, (Untimely Meditations, 3. Schopenhauer as Educator). German Text.
Zürich, 8. Februar 1875: Hochgeehrter Herr Professor, Mein beiliegendes Büchlein, Geister-geschichten, bitte ich Sie geneigtest von mir annehmen zu wollen.2 Wenngleich dessen Inhalt für einen Philosophen "ziemlich leichte Waare" ist, so werden Sie vielleicht doch dem Zwecke, den ich, laut Vorrede,3 bei diesen Erzählungen im Auge hatte, Ihre Billigung geben. Sollte Ihnen irgend etwas in diesem Büchlein genehm sein, so würde es mir zur Freude und demselben zum Nutzen gereichen, wenn Sie in Ihren Schriften darauf Bezug nehmen wollten. Mein Herr Verleger verspricht sich sehr viel von dem Büchlein. Ich nehme indeß die Gelegenheit dieser Sendung wahr, um Ihnen, hochgeehrter Herr Professor, einen Gedankengang, event[uell] einen Plan mitzutheilen, der mich schon lange beschäftigt, und der jedenfalls auch Ihres Interesses werth ist. Seit 3-4 Jahren habe ich Schopenhauer's Werke durchstudirt und bin dessen dankbare Schülerin geworden.4 Es ist mir nun immer als ein tadelnswerther Mangel an Consequenz erschienen, eine Lehre, ein System zu bewundern, ohne denselben einen Einfluß auf die praktische, tägliche Lebensgestaltung einzuräumen. Vor neun Jahren z. B. als ich definitiv die vegetarianische Lebensweise als die naturgemäße, einzig sittliche und humane erkannte, ward ich alsbald Vegetarianerin. In noch andern Lebensfragen habe ich nach gewonnenen tiefsten Überzeugungen Entschlüsse gefaßt und darnach gehandelt. Seit ich Schopenhauer gelesen, ließ ich mich ferner als Mitglied in einen Thierschutz-Verein aufnehmen, und jüngst wurde mir von dem Münchener Thierschutz-Vereins-Vorstande eine Medaille und ein ehrendes Schreiben übersendet, wegen meines Eifers in Wort und Schrift für diese gute und gerechte Sache.5 Für die zahlreichen Jünger und Jüngerinnen Schopenhauers möchte ich nun einen Verein, event[uell] ein Vereinsblatt anregen, jedenfalls aber dieselben Alle auffordern ihr Leben nach den Lehren dieses großen Philosophen zu gestalten, was in socialer und ethischer Beziehung als gutes Beispiel nur ersprießlich wirken könnte, und gewiß dem großen Publicum gegenüber erfolgreicher wäre, als das ewige und oft bittere Polimisiren mit den seichten Gegnern des großen Mannes. Ein besonders schönes Erkennungszeichen der Anhänger Schopenhauer's sollte, meinem Wunsche gemäß, darin bestehen, daß dieselben, wenn auch in beschränktem Maßstabe die Lehre von der Gleichheit und Verwandtschaft aller Menschen im Sinne Schopenhauers zur Wahrheit machten. Jeder und Jede sollten nämlich, im Fall sie nicht durch tägliche Kopf- oder Handarbeit sich ihren Lebensunterhalt erwerben müßten, sich irgend eines Menschen oder einer verkommenen Familie dergestalt annehmen, als seien sie ihre wirklichen leiblichen Brüder und Schwestern. Sie sollten dieselben fördern und berathen in ihrem Berufe und Geschäft, sie in Nothfällen und Krankheiten unterstützen und pflegen, ja sie auch an Erholungen und Zerstreuungen Theil nehmen lassen, die wir uns verschaffen können, z. B. an kleinen Reisen, an Concerten, an gebildeter Unterhaltung und Gesellschaft usw. und dieß alles mit keinerlei Herablassung, oder als ein Werk der Wohlthätigkeit und Barmherzigkeit, sondern als etwas ganz Selbstverständliches, welches Mehreren ja Allen zu erweisen uns nur unsere beschränkten Geldmittel verbieten. Obgleich ich nur ein bescheidenes, mir selbst erworbenes Einkommen besitze, so have ich mich dennoch in obiger Weise eines alten Ehepaares angenommen. Ich habe obigen Gedankengang und Plan noch einem namhaften Schopenhauerianer6 mitgetheilt. Ihre, und Ihrer schopenhauerischen Freunde in Basel, — Beistimmung und Verwirklichung dieser Vorschläge würde indeß ein dankenswerthes, gute Früchte tragendes Werk sein. Entschuldigen Sie diesen langen Brief! Mit vorzüglicher Hochachtung zeichnet
hochgeehrter Herr Professor, 1. Meta Wellmer (1826-1889): German writer.
Luzern, 15. Februar 1875: Geliebter Meister Sie werden sich über mich wundern, aber hoffentlich nicht böse sein, wenn ich heute nichts als einen Bettelbrief schreibe. — Frau Baronin Moltke, Schwägerin des Generals, bittet durch mich um eine Ihrer Photographien und zwar um eine mit Ihrem Namen unterzeichnete.1 Der Zweck ist ein guter, wohlthätiger; verzeihen Sie also einmal das unbescheidene Mittel und den unbescheidenen Vermittler. — Es soll, wenn möglich, nicht wieder geschehen, wie die kleinen Kinder sagen. Ich lege den Brief der Frau von Moltke bei. Augenblicklich bin ich auf der Flucht vor dem Baseler Trommellärm;2 nicht länger als 4 Stunden hielt ich's aus, dann bin ich Hals über Kopf fort gereist und befinde mich jetzt in Luzern, im tiefsten Schnee und Schneegestöber. Arbeitsamer Winter! Aber es kann mich nichts Übles anwehen, weil ich an das glaube, was der Sommer bringt.3 Mit den innigsten Grüssen Eben merke ich, daß ich den Brief nicht beilegen kann, weil ich ihn nicht mitgenommen habe; in der Eile habe ich etwas Falsches eingesteckt, das Schreiben des Redacteurs der Berliner "demokratischen Zeitung," welcher sich mir "als harmlosen, aber mit dem besten Willen ausgerüsteten Bundesgenossen" empfiehlt.4 — Frau von Moltke lebt mit ihren zwei Töchtern bei dem Feldmarschall,5 der selbst familienlos ist und die Kinder seines Bruders wie seine eignen behandelt. — Die mir aus Lugano6 bekannt gewordne Frau hat grosses Zutrauen zu mir; ich würde mich sehr freuen, auch in dem heutigen Falle ihr Vertrauen nicht zu Schanden werden zu lassen. — Es ist eine herrliche Stille um mich. 1. Auguste von Moltke (1814-1902) was the sister-in-law of Field Marshal Helmuth Karl Bernhard von Moltke (1800-1891). She asked Nietzsche to request a photo in a 02-10-1875 letter. In March 1871, at the Hotel du Parc in Lugano, Nietzsche and his sister had met her and her husband, Adolph von Moltke (1805-1871, the brother of Field Marshal von Moltke) who were staying there with their family. Adolph von Moltke, while taking a boating trip around the lake, caught pneumonia and died on April 7, 1871. See Lugano, 03-22-1871: Letter from Nietzsche to Franz Overbeck in Dresden. In German. In English.
Basel, 28. Februar 1875: Wie gerne hörte ich liebster Freund, wenn auch nur durch ein Wörtchen, dass es Dir befriedigend ergehe. Ich bin neulich einmal durch einen Traum — wenn es Traum war — in eine Beunruhigung gerathen. Auch von Bayreuth1 \ aus hat man mich gebeten, Nachrichten von Dir zu geben, Du weisst und weis[s]t es doch schwerlich deutlich genug, wie herzlich und warm man dort Deiner gedenkt und wie man sich sorgt. Gegenwärtig ist meine Schwester in Bayreuth und bleibt dort einige Wochen.2 Ich will auch gleich die Aufforderung3 von Frau Wagner mittheilen, dass Du doch Dich baldigst und etwas stürmisch an den Bürgermeister von Bayreuth wenden möchtest,4 um in diesem Sommer dort Quartier zu bekommen; es wird viel Mühe machen, für alle Gäste Unterkommen zu schaffen, und es soll dem Bürgermeister recht zugesetzt werden, weil die Wohnungsfrage noch ganz im Argen liegt. Du möchtest doch ja nicht "eine bescheidene Wohnung" verlangen. Meine Schwester bemüht sich für sich und mich etwas zu finden, bis jetzt noch ohne Erfolg. Das Semester läuft dem Ende zu, noch drei Wochen giebt es an der Universität, noch fünf an dem Pädagogium.5 Hier ist alles in grosser Erregung, denn die neue Verfassung der Stadt Basel wird jetzt im grossen Rathe durchberathen, alle Parteien sind in Erbitterung, im Frühjahr entscheidet dann das Volk.6 (Heute wurde eine Stelle von mir über die Staatsomnipotenz, aus der Nr. 3, mit für den politischen Kampf benutzt; hat mir Spaass gemacht[.])7 Unser Pädagogium verliert mit Ostern den alten Gerlach,8 der endlich pensionirt wird; was aber weiter geschieht, wer möchte es errathen? Man hat bei mir angefragt, ob ich 4 latein. Stunden an der obersten Classe für das nächste Semester übernehmen wolle, ich habe Nein gesagt, meiner Augen wegen. Im Ganzen geht es mir gut und recht: mir ist als ob ich zu einem Burgherr würde, so verschanzt und innerlich unabhängig wird allmählich meine Art zu leben. Ostern soll die Nr. 4 fertig werden.9 Dass die französische Übersetzung der Nr. 3 zu Ende geführt und mit einer briefartigen Dedication an mich versehen sei, habe ich Dir schon erzählt?10 Gersdorff kommt den 12 des März auf einige Zeit hierher,11 das weisst Du ebenfalls. — Nun aber etwas, was Du noch nicht weisst und was Du, als vertrautester und mitfühlendster Freund zu wissen ein Recht hast. Auch wir — Overbeck und ich — haben ein Hausleiden, ein Hausgespenst: falle nicht vom Stuhle, wenn Du davon hörst, dass Romundt12 einen Übertritt zur katholischen Kirche projectirt und katholischer Priester in Deutschland werden will. Das ist erst neuerlich herausgekommen, ist aber, wie wir nachträglich zu unserem Schrecken hören, schon ein mehrjähriger Gedanke, nur jetzt dem Reifsein so nahe als noch nie. — Ich bin etwas innerlich verwundet dadurch und mitunter empfinde ich es als das Böseste, was man mir anthun konnte. Natürlich ist es von Romundt nicht böse gemeint, er hat bis jetzt eben noch keinen Augenblick an etwas anderes als an sich gedacht und der verfluchte Accent, der dem "Heil der eignen Seele" gegeben wird, macht ihn ganz stumpf gegen alles andre, Freundschaft einbegriffen. Mir und Overbeck war es allmählich räthselhaft geworden, dass R[omundt]. eigentlich gar nichts mehr mit uns gemein habe und sich an allem, was uns beseelte und ergriff, ärgerte oder langweilte; besonders hat er eine Art des muckischen Schweigens am Leibe, die uns längst nichts Gutes ahnen liess. Endlich kam es zu Geständnissen, und jetzt, fast alle drei Tage, zu pfäffischen Explosionen. — Der Ärmste ist in einer verzweifelten Lage und nicht mehr einem Zuspruche zugänglich, das heisst, er wird so von dumpfen Absichten gezogen, dass er uns wie eine wandelnde Velleität vorkommt. — Unsre gute reine protestantische Luft! Ich habe nie bis jetzt stärker meine innigste Abhängigkeit von dem Geiste Luthers gefühlt als jetzt, und allen diesen befreienden Genien will der Unglückliche den Rücken wenden? Ich frage mich, ob er noch bei Verstande ist und ob er nicht mit Kaltwasserbädern zu behandeln ist: so unbegreiflich ist es mir, dass dicht neben mir, nach einem 8jährigen13 vertrauten Umgange, sich dies Gespenst erhebt. Und zuletzt bin ich es noch, auf dem der Makel dieser Conversion hängen bleibt. Weiss Gott, ich sage das nicht aus egoistischer Fürsorge; aber auch ich glaube etwas Heiliges zu vertreten und ich schäme mich tief, wenn ich dem Verdachte begegne, dass ich irgend was mit diesem mir grundverhassten katholischen Wesen zu thun hätte. — Lege Dir diese ungeheuerliche Geschichte nach Deiner Freundschaft zu mir zurecht und sage mir ein paar tröstende Worte. Ich bin gerade im Punkte der Freundschaft verwundet und hasse das unaufrichtige schleichende Wesen vieler Freundschaften mehr als je und werde behutsamer sein müssen. — R[omundt]. selbst wird sich in irgend einem Conventikel wohl fühlen, das ist kein Zweifel, aber unter uns leidet er, wie mir jetzt scheint fortwährend. Ach liebster Freund! Gersdorff hat recht, wenn er oft sagt "es giebt nirgends Tolleres als in der Welt."14 Mit Trauer Dein Freund Friedrich N., zugleich auch in Verbrenne den Brief, falls Dir gut scheint.15 1. Bayreuth, 12-31-1874: Letter from Cosima Wagner. Ritter, Tod, und Teufel. By: Albrecht Dürer (1471-1528). Copper engraving, 1513. Enhanced image The Nietzsche Channel. Basel, Mitte März 1875: Verehrteste Freundin hier schicke ich Ihnen ein ganzes Bündelchen Briefe:1 möchte ich damit ein wenig von der Freude zurückgeben, welche ich bei jedem Ihrer liebevollen Briefe empfange! In dieser Stube ist oft von Ihnen gesprochen worden, wie immer wenn der treue Gersdorff und ich unsere Gedanken über unsere wahren Freunde austauschen;2 und ebenfalls haben Sie in Frau Baumgartner eine herzlich verehrende Freundin gewonnen; was Ihnen irgendwann einmal, vielleicht bald, durch einen Brief bezeugt werden soll. — Inzwischen hat sich mein Verleger Schmeitzner die Erlaubniss ausgebeten, für einen Pariser Verleger zu sorgen; wozu ich um so lieber meine Einwilligung gegeben habe, als ich so Herrn Monod3 keine Beschwerde mache, wenigstens zunächst nicht. Sollte Schmeitzner kein Glück haben, so würde ich dann dankbar die Vermittlung Hr[.] M[onod]s annehmen. Es giebt jetzt ein paar Tage Ferien,4 und ich brauche sie. Gersdorff ist schon über 14 Tage um mich. Es ist an der Nr 4 gearbeitet worden.5 Seit Neujahr ist auch, ganz nebenbei, ein neues grösseres Musikstück fertig gemacht, ein Hymnus auf die Einsamkeit,6 deren schauerliche Schönheit ich aus vollem dankbaren Herzen verherrlicht habe. — Vom Hymnus auf die Freundschaft7 habe ich Ihnen erzählt. — Da fällt mir ein, dass ich etwas über Eduard8 sagen soll; aber heute werde ich's schuldig bleiben. Lange, lange kam das Werk mir nicht zu Gesicht und ich dachte nie über Eduard nach. Wollen Sie mit etwas ganz Unreifem fürlieb nehmen, so würde ich als meine Meinung dies bezeichnen. Nur im Lichtstrahl von Ottiliens Liebe sieht Eduard so aus, wie er billigerweise immer erscheinen sollte. Aber Goethe hat ihn geschildert, wie er alle schildert, die ihm selber ähnlich oder gleich sind und wie er sich selbst malt: ein wenig banaler und flacher als er ist; wie es Goethe liebte, nach eignen Geständnissen,9 sich immer etwas niedriger zu geben, schlechter zu kleiden, geringere Worte zu wählen. Diese Liebhaberei Goethe's hat der Goethe-verwandte Eduard büssen müssen. Aber, wie gesagt, Ottilien's Liebe zeigt uns erst, wer er ist, oder lässt es uns errathen; dass diese gerade den lieben musste, hat Goethe zur Verherrlichung solcher Naturen erfunden, welche tiefer sind als sie je scheinen und deren Tiefe erst der seherische Blick wahlverwandter Liebe ergründet. — Aber wie gesagt und versprochen: ich will das Werk einmal wieder lesen und dann Ihnen schreiben. Ein hiesiger Patrizier hat mir ein bedeutendes Geschenk in einem ächten Dürerschen Blatte gemacht;10 selten habe ich Vergnügen an einer bildnerischen Darstellung, aber dies Bild "Ritter Tod und Teufel" steht mir nahe, ich kann kaum sagen, wie. In der Geburt der Tragödie habe ich Schopenhauer mit diesem Ritter verglichen; und dieses Vergleiches wegen bekam ich das Bild.11 So Gutes erlebe ich. Ich wünschte ich könnte andern Menschen täglich etwas Gutes erweisen. Diesen Herbst nahm ich's mir vor, jeden Morgen damit zu beginnen, dass ich mich fragte: Giebt es Keinen, dem Du heute etwas zu Gute thun könntest? Mitunter glückt es etwas zu finden. Mit meinen Schriften mache ich zu vielen Menschen Verdruss, als dass ich nicht versuchen müsste, es irgend wodurch wieder gut zu machen. Und nun, verehrteste Freundin mag der Brief fortlaufen, sonst kommt Evchens schriftlicher Erguss zu spät.12 Meine Schwester ist mit Glück und Nutzen in Bayreuth,13 in einer Art von hoher Schule. Wagners Rückkehr14 hat sie durch eine kleine Aufführung gefeiert, bei der die guten Kinder15 sehr hübsch ihre Verschen hergesagt haben — Siegfriedchen hat meiner Schwester gesagt "ich liebe dich mehr als mich selbst." Lauter gute Nachrichten bekam ich bisher: doch weiss ich nicht, ob ich die Nachricht eine gute nennen darf, dass Wagner nach Ostern in München und Berlin Concerte geben will.16 Ihnen das Beste und mir Ihre Liebe anwünschend bleibe ich treulich 1. Nietzsche's letter, one from Carl von Gersdorff, and one from Eva von Bülow (1867-1942) in Bayreuth.
Basel, 17. April 1875: Endlich, liebster Freund, kommt Nachricht, endlich! Aber Du bist nicht böse. Wie gut wir uns zusammen vertragen, ist ja so erstaunlich, dass es bei jedem Darandenken mich zur Bewunderung und zum Dankgefühl begeistert. Ich glaube wirklich, wir können gar nicht auf einander böse sein; wir haben uns an die schönste Vertraulichkeit unter einander gewöhnt, so dass alles Schleichende, Grämliche, Übelnehmerische aus unserem Verkehre verscheucht ist, das heisst aber gerade die Ratten, die sonst an den besten Freundschaften zu nagen pflegen. Ich schreibe heute scheuslich, meine Feder inspirirt mich zur Idee des Klexes und des Schmirakels. Habe herzlichen Dank für Brief und Sendung,1 vor allem aber für Deinen Besuch;2 ich kam über jene Wochen hinweg wie in einem ganz angenehmen Traume; darauf brach die Romundtische3 Mirakel- und Ratten-Wirthschaft wieder los, es war um alle Geduld zu verlieren, heftige Abende bis um die Stunde Eins wurden zur Regel; die Buchhändler-Absicht verflog nach dreiwöchentlicher Besprechung in alle Winde, denn ich musste förmlich Romundten eine Anleihe bei meiner Phantasie eröffnen, weil er sich gar nichts Kommendes und Mögliches vorstellen kann. Overbeck und ich dachten mehr an das was ihm noth that als er selber, alle Augenblicke verfiel er wieder in Lässigkeit; das ganz Unentschiedne seines Wesens kam noch am Tage der Abreise4 fast auf eine komische Spitze, als er nämlich einige Stunden vor der Abreise nicht fort wollte; Gründe gab es nicht und so setzten wir es durch, dass er Abends reiste; es ging leidenschaftlich traurig zu und er wusste und sagte es immer wieder, dass nun alles Gute und Beste, was er erlebt habe, zu Ende sei; er bat viel weinend um Verzeihung und wusste sich nicht vor Trauer zu helfen. Eine eigenthümliche Schrecklichkeit brachte mir noch der letzte Augenblick; die Schaffner schlossen die Wagen zu, und Romundt um uns noch etwas zu sagen, wollte die Glasfenster des Coupés herunter lassen, diese widerstanden, er bemühte sich immer wieder und während er sich so quälte, sich uns verständlich zu machen — erfolglos: — ging der Zug langsam fort und nichts als Zeichen konnten wir machen. Die grässliche Symbolik der ganzen Scene war mir ebenso wie Overbeck (wie er später gestand) schwer auf die Seele gefallen, es war kaum auszuhalten. Übrigens lag ich den nächsten Tag mit einem dreissigstündigen Kopfschmerz und vielem Galle-Erbrechen zu Bette. Romundt will also Gymnasiallehrer5 werden, ich wusste es, dass es gemäss dem einzigen Gesetz das bei ihm waltet, dem der Schwere, so kommen müsste. Ich dachte mir, er werde etwas von Deiner Rüstigkeit im Unternehmen des Schweren und Neuen gelernt haben. — Mir ist es nicht gerade gut ergangen bei alledem; das ekelhaft lange Winter-halb jähr6 ist noch nicht zu Ende! Erst nächsten Donnerstag bekomme ich etwas Freiheit. Meine Arbeit7 ist fast nicht von der Stelle gerückt. Doch bin ich wieder dabei und will mich ordentlich dazu halten, die freien Tage zu nützen. Meine Schwester ist seit Ostern wieder zu Hause.8 Denke Dir, dass in Bayreuth nicht weniger als 7 Personen (drei Erwachsene und vier Kinder) das Haus Wagner's verlassen mussten: die ganze Berliner Sippschaft nämlich! Nur die Baiern haben sich brav gezeigt. Für alle diese ist nur eine einzige Person, ein neuer Diener anzuschaffen: denn seitdem giebt sich Frau W[agner] selbst von früh bis Abend mit dem Hauswesen ab.9 Concerte in Berlin10 usw. stehen bevor, das weisst Du. Die Götterdämmerung erscheint am 1ten Mai im Klavierauszug.11 Doch das ist auch nichts Neues. Was machen die Liebes-Angelegenheiten? Man muss dem Schicksale hier und da einmal eine Tatze geben. Lebewohl, mein herzlich geliebter Freund. Overbeck und Frau Baumgartner grüssen Dich auf das Wärmste. Am Samstag waren wir mit Herrn Cook,12 dem Freunde Proudhon's zusammen; es war toll. Übrigens ist er der Sohn eines vornehmen Oestreichers und einer Spanierin von den Balearen. Viel Geheimnissvolles. 1. In his 04-02-1875 letter to Nietzsche, Carl von Gersdorff mentions sending Nietzsche some articles about Kapar Hauser (1812-1833) by Georg Friedrich Kolb (1808-1884), a German journalist and politician. The publisher of the articles is not known, although Kolb went on to publish another book about Hauser in 1883. Gersdorff also mentions a 3-part series on Hauser by an anonymous author that was published in Leipzig's Illustrirte Zeitung on 03-06-1875, 03-20-1875, and 03-27-1875. See Illustrirte Zeitung (1875) Bd. 64, Nr. 1653, 175-178; Nr. 1655, 211-214; Nr. 1656, 231-234. Basel, 24. Mai 1875: Meine Wünsche kommen hinterdrein gehinkt,1 Sie müssen es schon einmal verzeihen, geliebter Meister. Ich gedenke dabei meiner leiblichen Unsicherheit und Schwäche, und bewundere Ihre Rüstigkeit, mit der Sie sich in den letzten Jahren durch das Gewirr von neuen Aufgaben, Beschwerden, Aerger, Ermüdung hindurch geschlagen haben; so daß ich nicht einmal das Recht habe, Ihnen in dieser Beziehung irgend etwas anzuwünschen. (Wenn ich doch lieber etwas von Ihnen lernen könnte!) Ich habe immer, wenn ich an Ihr Leben denke, das Gefühl von einem dramatischen Verlaufe desselben: als ob Sie so sehr Dramatiker seien, daß Sie selber nur in dieser Form leben und jedenfalls erst am Schlüsse des fünften Aktes sterben könnten. Wo alles zu einem Ziele hin drängt und stürmt, da weicht der Zufall aus, er fürchtet sich, scheint es. Alles wird nothwendig und ehern, bei der größten Bewegtheit: so, wie ich Ihren Ausdruck auf dem schönen Medaillon2 wiederfinde, mit dem ich neulich beschenkt worden bin. Wir andern Menschen flackern immer etwas, und so bekommt nicht einmal die Gesundheit etwas Stätiges. Nun will ich nur erzählen, daß ich eine merkwürdig schöne Prophezeiung gefunden habe, welche ich Ihnen gerne zu Ihrem Geburtstage hätte schicken mögen. Sie lautet so: O heilig Herz der Völker, o Vaterland! Das sagt alles der arme Hölderlin, dem es nicht so gut wurde, wie mir und der es nur in der Ahnung trug, was wir trauen und schauen werden.4 Wahrhaftig, geliebter Meister, Ihnen zum Geburtstag schreiben, heißt immer nur: uns Glück wünschen, uns Gesundheit wünschen, um an Ihnen recht theilnehmen zu können. Denn ich sollte wirklich meinen: es ist das Kranksein, und der in der Krankheit lauernde Egoismus, wodurch sie gezwungen werden, immer an sich zu denken: während der Genius, in der Fülle seiner Gesundheit immer nur an die andern denkt, unwillkürlich segnend und heilend, wo er nur seine Hand hinlegt. Jeder kranke Mensch ist ein Schuft, las ich neulich; und woran sind die Menschen nicht alles krank! Auf Ihren Reisen durch Deutschland werden Sie manches gehört haben z. B. von der ganz allgemeinen Krankheit "des Hartmannianismus."5 Leben Sie wohl, verehrter Meister, und bleiben Sie das, was wir nicht sind, gesund. Treuergeben 1. Wagner's birthday was on May 22. Paris, Ende Mai 1875: Hochgeehrter Herr! Ich schicke Ihnen hiemit mein eben erschienenes Buch.2 Sie werden viel Bekanntes und wenig Neues darin finden. Auch soll es nicht als eine Erwiederung für Ihre letzte bedeutende Sendung3 oder für die seltenen Anregungen und Lichtblicke die ich Ihrer höchst merkwürdigen und außerordentlichen Schrift über die griechische Tragödie,4 verdanke, gelten. Nehmen Sie mein Buch, das in verschiedenen Umständen entstanden ist, und für ein ganz Anderes Publikum geschrieben wurde, nur als freundlichen Gruß und besten Dank. Und sollten Sie etwa in diesen Blättern ein dem Ihrigen verwandtes Streben entdecken, so wird es mich herzlich freuen. So viel ich aus Ihrem letzten Briefe5 entnehme, hatten Sie vor diesen Herbst nach Bayreuth zu kommen. Auch ich habe halb und halb vor (Ende August) mich dort an dem Vorspiel zu dem großen Feste zu erquicken und zu erfrischen.6 Wird es mein gutes Glück zulassen Sie dort zu treffen? Ich wünsche und hoffe es. Leben Sie wohl bis dahin. Meine wärmsten Wünsche für Ihr weiteres Leben und Schaffen. In Hochachtung Ihr ergebenster 1. Edouard Schuré (1841-1929): French writer, notable music critic, and an admirer and acquaintance of Nietzsche. They first met at the 1876 Bayreuth Festival. For Schuré's account of the meeting, see Edouard Schuré, "L'individualisme et l'anarchie en littérature. Frédéric Nietzsche et sa philosophie." In: Revue des deux mondes. August 15, 1895, 775-805 (782ff.). Excerpt: "Je rencontrai Nietzsche à Bayreuth, en 1876, aux premières représentations de l'Anneau du Nibelung. Si ces mémorables fêtes scéniques marquent désormais un point capital dans l'histoire de l'art dramatique, elles furent peut-être aussi l'origine secrète de la nouvelle évolution de Nietzsche. Du moins m'a-t-il semble qu'il reçut là les premières atteintes du mal qui l'a poussé dans cette voie. / En causant avec lui, je fus frappé de la supériorité de son esprit et de l'étrangeté de sa physionomie. Front large, cheveux courts repoussés en brosse, pommettes saillantes du Slave. La forte moustache pendante, la coupe hardie du visage lui auraient donné l'air d'un officier de cavalerie, sans un je ne sais quoi de timide et hautain à la fois dans l'abord. La voix musicale, le parler lent, dénotaient son organisation d'artiste; la démarche prudente et méditative était d'un philosophe. Rien de plus trompeur que le calme apparent de son expression. L'oeil fixe trahissait le travail douloureux de la pensée. C'était à la fois l'oeil d'un observateur aigu et d'un visionnaire fanatique. Ce double caractère lui donnait quelque chose d'inquiet et d'inquiétant, d'autant plus qu'il semblait toujours rivé sur un point unique. Dans les momens d'effusion, ce regard s'humectait d'une douceur de rêve, mais bientôt il redevenait hostile. Toute la manière d'être de Nietzsche avait cet air distant, ce dédain discret et voilé qui caractérise souvent les aristocrates de la pensée. [....] Nietzsche assista donc sans enthousiasme aux scènes grandioses de la Walkyrie, de Siegfried et du Crépuscule des Dieux, dont il s'était promis tant de joie. Quand nous partîmes ensemble, aucune critique, aucune parole de blàme ne lui échappa, mais il avait la tristesse résignée d'un vaincu. Je me souviens de l'expression de lassitude et de déception avec laquelle il parla de l'oeuvre prochaine du maître et laissa tomber ce propos: 'Il m'a dit qu'il voulait relire l'histoire universelle avant d'écrire son poème de Parsifal!...' Ce fut dit avec le sourire et l'accent d'une indulgence ironique, dont le sens caché pouvait être celui-ci: 'Voilà bien les illusions des poètes et des musiciens, qui croient faire entrer l'univers dans leurs fantasmagories et n'y mettent qu'eux-mêmes!'" (I met Nietzsche in Bayreuth, in 1876, at the first performances of the Ring of the Nibelung. If these memorable scenic celebrations now mark a crucial point in the history of dramatic art, they were perhaps also the secret origin of Nietzsche's new evolution. At least it seems to me that he received the first attacks of the illness there that propelled him on this path. / While chatting with him, I was struck by the superiority of his mind and the strangeness of his physiognomy. Broad forehead, short hair brushed back, prominent Slavic cheekbones. The heavy drooping mustache, the bold cut of his facial features seemed to give him the look of a cavalry officer, with, at the same time, an indefinable sort of timidity and haughtiness. The musical voice, the slow way of speaking, bespoke of his artistic constitution; the cautious and meditative approach was that of a philosopher. Nothing could be more misleading than the seeming calm of his expression. The fixed eye betrayed the dolorous travail of his thinking. It was both the eye of an acute observer and a fanatical visionary. This double character gave him somewhat of an unquiet and disquieting aspect, especially since he always seemed riveted on one single point. In moments of effusion, his gaze softened with a dreamy gentleness, but soon became hostile again. Nietzsche's entire way of being had that distant look, that quiet and veiled disdain that often characterizes the aristocrats of thought. [....] Nietzsche therefore attended without enthusiasm the grandiose scenes of the Valkyrie, of Siegfried and of the Twilight of the Gods, from which he had promised himself so much joy. When we left together, no criticism, no word of censure escaped him, but he had the resigned sadness of a vanquished man. I remember the expression of lassitude and disappointment with which he spoke of the master's forthcoming work and dropped this remark: "He told me that he wanted to reread universal history before writing his tone poem of Parsifal!..." It was said with a smile and accent of an ironic indulgence, the hidden meaning of which could be this: "Here indeed are the illusions of poets and musicians, who believe they bring the universe into their phantasmagoria and only put themselves in it!") Basel, 24. Juni 1875: Griechischer Unterricht am Pädagogium1 p. 1. Die Zeit des
gesammten griechischen Unterrichts, den ein
Schüler der hiesigen Anstalten bis zu seinem
Abgange zur Universität genießt, ist
gegenwärtig sehr gering; er umfaßt drei Jahre
am Pädagogium und zwei Jahre vor dem Eintritt in
dasselbe, für jede Schulwoche 6 Stunden
gerechnet. Es wäre zu überlegen, ob dieser
Zeitraum nicht verlängert werden könnte,
beispielsweise durch Hinzufügung einer obersten
Classe, einer Selecta; denn ein Unterricht, der
es nicht erreicht, den Schülern eine tiefere
Neigung für das hellenische Leben einzuflössen
und der sie nicht zuletzt mit der Fähigkeit
entläßt, griechische Schriftsteller leicht zu
lesen ein solcher Unterricht hat sein
natürliches Ziel verfehlt. Ein wenig weiter
heißt in solchen Fällen sehr
viel weiter, nämlich zum Ziel zu
kommen. p. 2. Sehr zu bedauern ist, daß das Griechische für Mediziner an unserer Schule als fakultativ angesehen wird. Immerhin sollte die Entbindung vom griechischen Unterricht nur in den seltensten Fällen zugestanden werden; denn welcher junge Mann kann ein paar Jahre vor seiner Universitätszeit mit der nöthigen Bestimmtheit wissen, daß er eben Medizin studieren werde? Dazu kommt, daß gerade die hiesigen Professoren der Medizin sich so dringend wie möglich zu Gunsten der griechischen Ausbildung zukünftiger Mediziner ausgesprochen haben. p. 3 Ein weiterer Wunsch, den wir bei dieser Gelegenheit mit aussprechen wollen, bezieht sich auf die Einführung einer und derselben griechischen Grammatik für alle Jahre des Unterrichts, zum Beispiel der Koch'schen Grammatik.2 p. 4. Wir verlangen, daß die Schüler, um als reif angesehen werden zu können, gelesen haben Bei dieser Aufstellung wird nicht nur auf die Schul- sondern auch auf die Privatlektüre der Schüler Bezug genommen. p. 5. Der ersten Classe fällt zu: Xenophons Anabasis oder Hellenika. Die Odyssee. In grammatischer Beziehung die Formenlehre und die Syntax der Casus, mit wöchentlichen schriftlichen Übungen. Prof. Dr. Nietzsche.
1. Nietzsche taught six lessons of Greek a week at the pedagogium. Steinabad, 2. August 1875: Sie haben mir jedesmal, hochverehrte Frau eine wahrhafte Freude gemacht; und Ihren letzten Brief, über die Bonner Reise, habe ich mit Rührung gelesen, Ihren Sohn1 glücklich preisend und fest überzeugt, dass das Gefährlichste über den Menschen keine Macht gewinnt, wo eine solche Liebe ihn hütet und tröstet. Ich habe jetzt auch an Adolf geschrieben;2 Sie glauben nicht, in welchem traulich-freudigem Lichte der Winter vor meiner Seele aufsteigt, der in einigen Monaten kommen wird. Zum ersten Male fühle ich mich gleichsam geborgener;3 ich habe einen reichen Zuwachs an Liebe und bin dadurch geschützter und nicht mehr so leicht verletzlich und so preisgegeben, wie es bisher das Loos des Baseler Exils mit sich brachte. Sie müssen nicht glauben, dass ich je in meinem Leben durch Liebe verwöhnt worden sei, ich glaube, Sie haben mir's auch angemerkt. Etwas Resignirtes trage ich von der frühesten Kindheit in dieser Beziehung mit mir herum. Aber es mag sein, dass ich es nie besser verdient habe. Jetzt nun habe ich es besser, das ist kein Zweifel! Ich erstaune mitunter mehr darüber als dass ich mich freue, es ist mir so neu. Nun wächst jetzt in mir mancherlei auf und von Monat zu Monat sehe ich einiges über meine Lebensaufgabe bestimmter, ohne noch den Muth gehabt zu haben, es irgend Jemandem zu sagen. Ein ruhiger, aber ganz entschiedener Gang von Stufe zu Stufe — das ist es, was mir verbürgt noch ziemlich weit zu kommen. Es kommt mir so vor als ob ich ein geborner Bergsteiger sei. — Sehen Sie, wie stolz ich reden kann. — Meine Krankheit beunruhigt mich gar nicht mehr, sondern nöthigt nur für die spätere Zeit zu bestimmten Weisen zu leben, in denen keine erhebliche Beschränkung liegt. Ich lag zwar wieder einen Tag in der bösen Baseler Manier zu Bett, am Tag, wo meine Freunde in Bayreuth zusammeneilen4 — mir ein sehr bestimmter Wink, ja nicht meine Kur zu unterbrechen. Also ich bleibe noch zwei Wochen hier. Eine bedeutende Verringerung der Magenerweiterung ist festgestellt. Aber auch Dr. Wiel5 denkt jetzt, wie Immermann6 mehr an eine nervöse Affection des Magens, die immer ein langwieriges Ding ist. Für Ihre Mühe um die Bayreuther Münder und Mägen7 auch meinerseits den herzlichsten Dank. Es war ja viel beschwerlicher als ich dachte!! — Ist denn meine Schwester jetzt wieder in Basel?8 Die Posteinrichtungen sind hier nicht gut, aber Ihr Erlebniss9 mit der Eisenbahn ist beschämend für mich als Deutschen. Die Übersetzung von Grote's Plato10 bitte ich doch ein wenig noch zu bedenken. Die Mühe ist ausserordentlich, die Frage, ob in Frankreich das Werk als nöthig und als angenehm empfunden wird, sehr aufzuwerfen, und dann — was die Hauptsache ist — Grote referirt ja zum grössten Theile über den griechischen Text Platons; und da kommt es immer darauf an, nicht nur das Englisch Grotes, sondern auch das zu Grunde liegende Griechisch Plato's zu verstehen und zur Hand zu haben — eine schwere und mühselige Aufgabe selbst für Philologen! Sonst wäre das Werk gewiss längst in's Deutsche übersetzt. — Für heute leben Sie wohl, verehrte Frau und nehmen Sie die herzlichen Versicherungen meiner treuen Ergebenheit und Dankbarkeit freundlich auf. Der Ihrige Overbeck geht es sehr gut, er ist ebenso wie Rohde und Gersdorff in Bayreuth. 1. Nietzsche was replying to two letters from her written on 07-22-1875 and 07-31-1875. In February 1874, Nietzsche had started dictating to Adolf Baumgartner (1855-1930): a student of Jacob Burckhardt and Nietzsche at the pedagogium in Basel, and the son of Marie Baumgartner. Baumgartner left Basel in the autumn of 1874, serving in the Hussars for his one-year military service. He returned to Basel to resume his studies, which ended in the summer of 1877. On Nietzsche's advice, he went to Jena in the autumn of 1877 to study under Erwin Rohde, but their relationship soured. Baumgartner went on to write a philological book on the Armenian historian, Moses of Khoren (ca. 410-490s). See Adolf Baumgartner, Dr. M. Lauer und das zweite Buch des Môses Chorenazi. Leipzig: Stauffer, 1885. In 1878, Nietzsche gifted him a dedicated copy of Ralph Waldo Emerson's Neue Essays (Letters and Social Aims). Autorisirte Uebersetzung mit einer Einleitung von Julian Schmidt. Stuttgart: Abendheim, 1876. The dedication reads: "Herrn Adolf Baumgartner / als Gefährten für einsame / Spaziergänge / empfohlen. / / Und dabei gedenken Sie auch / meiner! / / F. Nietzsche / Ende 1878." (Mr. Adolf Baumgartner / Recommended as a companion on lonely walks. / / And with it remember me too! / / F. Nietzsche / Ende 1878.) For further biographical details on Baumgartner, see Emil Dürr, "Adolf Baumgartner 1855-1930." In: Basler Jahrbuch. 1932, 211-242. Steinabad, 11. August 1875: Hochverehrte Freundin es ist nicht Undankbarkeit, sondern Noth, was mich so lange verstummen machte, das glauben Sie mir wohl gern. Ich weiss nichts besseres als daran zu denken, wie ich doch in den letzten Jahren immer reicher an Liebe geworden bin; und dabei fällt mir Ihr Name und Ihre treue tiefe Gesinnung immer zuerst mit ein. Wenn mir nun die Möglichkeit fehlt, solchen, die mich lieben, Freude zu machen, ja selbst der Glaube daran, so fühle ich mich ärmer und beraubter als je — und in so einer Lage war ich. Es war mir, meiner Gesundheit wegen, so aussichtslos zu Muthe, dass ich glaubte, ich müsste nun unter-ducken und wie an einem heissen drückenden Tage nur eben unter der Schwüle und Last so fortschleichen. Alle meine Pläne veränderten sich darnach1 und immer überlief's mich schmerzlich bei dem Gedanken: deine Freunde haben besseres von dir erwartet, sie müssen nun ihre Hoffnungen fahren lassen und haben keinen Lohn für ihre Treue. — Kennen Sie diesen Zustand? Ich bin jetzt über ihn wieder hinaus, weiss aber nicht, auf wie lange — doch mache ich wieder Entwürfe über Entwürfe und suche mein Leben in einen Zusammenhang zu bringen — ich thue nichts lieber, nichts angelegentlicher, sobald ich nur einmal wieder allein bin. Daran habe ich einen förmlichen Barometer für meine Gesundheit. Unsereins, ich meine Sie und mich, leidet nie rein körperlich, sondern alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen, so dass ich gar keinen Begriff habe, wie ich je aus Apotheken und Küchen allein wieder gesund werden könnte. Ich meine, Sie wissen und glauben das so fest wie ich und ich sage Ihnen etwas recht Überflüssiges! Das Geheimnis aller Genesung für uns ist, eine gewisse Härte der Haut wegen der grossen innerlichen Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit zu bekommen. Von aussen her darf uns wenigstens so leicht nichts mehr anwehen und zustossen; wenigstens quält mich nichts mehr als wenn man so auf beiden Seiten ins Feuer kommt, von innen her und von aussen. — Meine durch die gute Schwester eingerichtete Häuslichkeit,2 die ich in den nächsten Tagen kennen lernen werde, soll für mich so eine neue feste harte Haut werden, es macht mich glücklich, mich in mein Schneckenhaus hineinzudenken. Sie wissen, nach Ihnen und einigen wenigen strecke ich die Fühlhörner immerdar mit Liebe aus, verzeihen Sie den thierischen Ausdruck. Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, das Beste wünschend Ihr allzeit getreuer Friedrich Nietzsche. 1. Nietzsche was in Steinabad for treatment of gastric problems by the physician and dietitian Josef Wiel (1828-1881). See his entry in Nietzsche's Library. Basel, 26. September 1875: Mein geliebter Freund, gestern lief das Semester zu Ende, mein dreizehntes Semester, und von heute an giebt es vierzehn Tage Ferien. Gern hätte ich eine kurze Fussreise gemacht, denn mich verlangt im Herbst immer darnach, den Pilatus1 noch einmal bevor es Winter wird zu sehen; je länger ich nun in der Schweiz bin, umso persönlicher und lieber wird mir dieser Berg; aber draussen ist es schauerlich nass und früh-novemberlich, ich werde warten oder verzichten müssen — wie so oft im Leben. Man merkt doch recht, dass man die Zwanziger Jahre hinter sich hat. Eine gewisse Art von Enttäuschung, aber eine solche, welche zur eignen Thätigkeit spornt, wie die frische Luft des Herbstes, begleitet mich jetzt fast aus jedem Tag in den andern. Also inzwischen habe ich mit Hülfe meiner Schwester mich häuslich eingerichtet,2 und es ist gut gelungen. So bin ich endlich, seit meinem dreizehnten Lebensjahre,3 wieder in traulicheren Umgebungen, und je mehr man sich aus allem, was Andre erfreut, exilirt hat, um so wichtiger ist, dass unsereins seine eigne Burg hat, von wo man zusehen kann und wo man vom Leben sich nicht mehr so gehudelt fühlt. Ich habe es durch das glückliche Wesen meiner Schwester, das mit meinem Temperament auf das beste zusammenstimmt, vielleicht günstiger getroffen als sehr viele Andere; unsere Nietzschische Art, die ich mit Freude selbst an allen Geschwistern meines Vaters wiedergefunden habe, hat nur am Für-sich-sein seine Freude, weiss sich selber zu beschäftigen und giebt eher den Menschen als dass sie viel von ihnen fordert. Dabei erträgt es sich vortrefflich, als Denker und Lehrer zu leben — wozu man nun einmal sich verurtheilt fühlt. Ich knüpfe an dieses Lob meiner begonnenen Häuslichkeit das Lob Deines Entschlusses oder vielmehr den herzlichen Ausdruck meiner Freude, Dich überzeugt und entschlossen zu sehen, eine gute Ehe zu schliessen. Bringe aber ja in diesem Herbste die ganze Angelegenheit durch eine Reise nach Berlin in's Reine und Fertige, ich rathe es Dir nur mit dem Wunsche, dass Du nicht zu lange am fürchterlichsten Elemente des Lebens, an der Ungewissheit leiden mögest. Darf ich glauben, dass wenn Du mich noch vor Anfang Deines Semesters besuchst,4 Du mir eine glückliche Nachricht5 mitbringst? Im andern Falle stelle ich mir vor, dass eine neue Berliner Winter-Saison6 Deinem Vorhaben ernstlich gefährlich werden könne. — Doch davon verstehe ich wenig. Unser Freund Rohde, der immer in den Unglückstopf des Lebens zu greifen pflegt und sich gewöhnlich etwas Herbes herausloost, war hier bei mir7 und meinte zuletzt, es sei der einzige Ort auf der Erde, wo er sich noch zu Hause fühle.8 Von der grässlichen Lage,9 in der er sich befand, mag ich brieflich nichts sagen; er wurde durch einen Brief des Vaters10 der Dame an einer ganz besonders verwundbaren Stelle getroffen und quälte sich sehr. Er reiste von hier nach München und hörte dort den Tristan, mit übermässiger Erschütterung.11 In den nächsten Tagen wird er wohl in Rostock sein, wo er an der Philologen-versammlung Theil nimmt und einen Vortrag "über die Novelle bei den Griechen"12 hält. — Ich habe bei diesem Zusammensein mit R. mehr gehabt als bei allen bisherigen, er war in seltenem Grade vertrauend und liebevoll, so dass es mir herzlich wohl that, ihm in der absurden Lage noch etwas sein zu können, jetzt wo sein Leben sich um ein kleines Mädchen dreht — der Himmel behüte Dich und mich vor gleichem Schicksale! — Nun kommt auch bald unser Baumgartner13 zurück, er wird der Insasse meiner früheren Wohnung. Mannichfaltig zurechtgewiesen und belehrt kehrt er heim, er hatte mancherlei Unglück: so stürzte er neuerdings sehr gefährlich mit seinem geliebten Pferd, kam selber noch davon, musste aber das Pferd sofort erschiessen. Mit J. Burckhardt geht es immer gut. Ich hörte gestern, er habe sich in Lörrach zu einem vertrauten alten Freunde14 über mich ausgesprochen, sehr günstig, man wollte mir gar nicht sagen, wie. Nur das Eine erfuhr ich: er habe gemeint, einen solchen Lehrer würden die Basler nicht wieder bekommen. Man rückt jetzt wieder an unsrer Sommerferien-ordnung. Im ungünstigen Falle ist es möglich, dass die Bayreuther Feste15 nächstes Jahr und die Jahre darauf mich nicht sehen werden; höchstens dass man mir einmal Urlaub für ein paar Tage giebt. Es kann aber auch günstiger werden als es bis jetzt ist: wenn nämlich der ganze Monat August als Ferienzeit festgesetzt würde. Komme es nun, wie es wolle, ich will schon zusehn, nicht ganz darum betrogen zu werden, wie dies Jahr.16 Mit meiner Gesundheit verbinde ich gute Hoffnungen, wenn ich die neue Lebensweise fortführe, die ich jetzt seit den Ferien auf Rath des Dr. Wiel17 eingerichtet habe. Ich esse alle 4 Stunden: um 8 Uhr ein Ei, Cacao und Zwieback, um 12 ein Beefsteak oder etwas Andres von Fleisch, um 4 Uhr Suppe Fleisch und wenig Gemüse, um 8 Uhr kalten Braten und Thee. Jedermann zu empfehlen! Ein Gleichgewicht ist da erreicht, bei dem man an Verdauungs-fiebern der gewöhnl. Diners nicht zu leiden hat. Doch giebt es Rückfälle meines Magenleidens; und sehr viel guten Willen gesund zu werden, muss ich haben.18 — Für die Besorgung der Briefe,19 welche ich nach Bayreuth schickte, danke ich sehr; beide sind angekommen, und von beiden Seiten sind auch Antworten darauf eingetroffen. — Sehr gute Nachrichten von Romundt!20 Wie ich mich freue! Ein Brief mit völliger Veränderung der Gemüthsart traf ein, wie von einem Genesenden. Er hat mehr zu thun und zu placken als je im Leben, aber er fühlt die segensreiche Wirkung und sagt selbst, es müsse sich inzwischen etwas in ihm gedreht haben. Er ist Gymnasiallehrer in Oldenburg21 und hat bis jetzt den ganzen griechischen Unterricht in Unter- und Obersecunda gegeben und bekommt von jetzt ab das Deutsch für Prima. Und es geht! Seine Adresse ist per adr. Frau Oberjustizrath Mencke, Petersstr. 17. Oldenburg im Grossherzogthum. Miaskowski geht also Ostern nach Hohenheim,22 die Sache ist also erledigt, nachdem sie lange schwebte. Meine Addresse ist: Spalenthorweg 48. Liebster Freund, Litteratur mache ich nicht, der Ekel gegen Veröffentlichungen nimmt täglich zu. Wenn Du aber kommst, will ich Dir etwas vorlesen, was Dir Freude machen wird, etwas aus der unpublicirbaren Betrachtung Nr. 4 mit dem Titel "Richard Wagner in Bayreuth."23 — Stillschweigen erbeten. Lebe wohl, mein Getreuester Die besten Grüsse auch von meiner Schwester. Bitte, empfiehl mich Deinen verehrtesten Eltern. — Sei guten Muths. Du darfst es sein. 1. Mountain near Lucerne. Basel, 22. Oktober 1875: Lieber Herr Doctor, ich habe mich viel zu sehr über Ihre psychologischen Beobachtungen gefreut, als dass ich es mit Ihrem Todten-Incognito ("aus dem Nachlass")1 so ernst nehmen könnte. Beim Durchstöbern einer Menge neuer Bücher fand ich neulich Ihre Schrift und erkannte auf der Stelle einige jener Gedanken als Ihr Eigenthum wieder, und ebenso ergieng es Gersdorff, der aus der früheren Zeit noch neulich mir citirte "behaglich mit einander schweigen zu können soll ja ein grösseres Zeichen von Freundschaft sein als behaglich mit einander reden zu können, wie Rée sagte."2 Sie leben also noch in mir und meinen Freunden fort, und nichts hatte ich damals als ich Ihr von mir so hochgehaltenes Manuscript in den Händen hatte, mehr zu bedauern als gerade durch ein starkes Augenleiden zu absoluter Entsagung im Briefeschreiben gezwungen zu sein. Ich bin ferne davon, mir es herauszunehmen Sie zu loben, ebenso wenig will ich Sie mit irgend welchen "Hoffnungen" belästigen, die ich etwa auf Sie setze. Nein! wenn Sie nie etwas anderes drucken lassen, wie diese geistbildenden Maximen, wenn diese Schrift wirklich Ihr Nachlass ist und bleibt, so soll es gut und recht sein: wer so selbständig lebt und für sich daher geht, hat das Recht sich auszubitten, dass man ihn mit Lob und Hoffnungen verschone. Nur möchte ich Sie für den Fall irgend einer Publications-Absicht darauf aufmerksam machen, dass Sie immer mit Sicherheit auf meinen Verleger, Herrn E. Schmeitzner in Schloss-chemnitz rechnen können. Ich sage dies namentlich deshalb, weil das Einzige, worüber ich mich bei Ihrer Schrift nicht freute, die letzte Seite war, auf der die Schriften des Herrn E. von Hartmann3 hinter einander her prangen; die Schrift eines Denkers sollte aber auch nicht einmal auf Ihrem Hintertheil an die Schriften eines Scheindenkers erinnern. Mit recht guten Wünschen für Ihr leibliches Wohl und der Bitte meinen Dank dafür freundlich aufzunehmen, dass Sie Ihre Maximen überhaupt der Öffentlichkeit übergeben haben — womit Sie zeigen, dass Ihnen das geistige Wohl Ihrer Mitmenschen am Herzen liegt, bin und bleibe ich 1. Nietzsche refers to the title of Paul Rée's anonymously published work, Psychologische Beobachtungen. Aus dem Nachlaß von * * *. [Psychological Observations. From the Postumous Writings of * * *.] Berlin: Duncker, 1875.
Paris, 31. Oktober 1875: Lieber Herr Professor! Vergebens suche ich nach Worten, um Ihnen die Freude auszudrücken, welche Sie mir durch Ihren Brief1 bereitet haben. Auch bin ich froh darüber, daß Sie den Ausdruck meiner Freude nicht mit angesehen haben: Sie hätten nämlich einen Menschen gesehen, der im Zimmer auf und absprang, wie ein Satyr,2 und dabei mit den Händen gesticulirte, wie ein Verrückter. Diese Freude hat zwei Gründe: Erstens hatte ich sie damals in Base[l]3 so außerordentlich lieb gewonnen und stellte Sie gleichzeitig so hoch, daß ich fast untröstlich darüber war, durch meine zahlreichen Kindereien (es geht einem aber zuweilen so!) die Veranlassung zu werden, daß ich Ihnen nicht so nahe treten konnte, wie ich meiner Empfindung nach gewollt hätte. Ich konnte es Ihnen nicht verzeihen, daß ich mich tactlos gegen Sie benommen4 hatte (Die Sentenz: Wer fühlt, daß er sich tactlos gegen uns benommen hat, verzeihet uns das nicht,5 — entstand gerade damals durch Reflexion über mich selbst). Ich hatte zu Ihnen eine unglückliche Liebe! Seitdem habe ich dann so oft an Sie gedacht und es immer von Neuem beklagt, daß ich nicht an Sie als einen Freund denken konnte. Von nun an werde ich es aber, wenn Sie nicht böse darüber sein wollen, thun. — Sodann ist mir die Anerkennung, welche Sie in Ihrem Briefe aussprechen, so außerordentlich, so im höchsten Grade werth: Ich habe schon manches Lob und manchen Tadel über mein Buch6 gehört, aber theils kamen sie von Leuten, die ich nicht als competente Beurtheiler ansehen konnte, theils machten persönliche Beziehungen mir das eine, wie das andere verdächtig, — und man selbst ist einerseits gewiß der beste, anderseits aber auch der schlechteste Beurtheiler, den es giebt. Erst von heute an fasse ich volles Zutrauen zu mir selbst.— Leben Sie für diesmal wohl! Wie sehr wünsche ich, daß es Ihnen so recht gut gehen möchte. Bitte grüßen Sie auch H. Overbeck und Gersdorf[f] herzlichst von Ihrem 1. See 10-22-1875: Letter to Paul Rée.
Basel, 8. Dezember 1875: Ach geliebter Freund, ich wußte Dir nichts zu sagen, schwieg, fürchtete und sorgte für Dich, ich mochte nicht einmal fragen, wie es stehe, aber wie oft, wie oft liefen meine mitleidvollsten Gedanken zu Dir! Es ist nun alles so schlimm wie möglich gekommen, und nur Eins könnte noch schlimmer sein: wenn die Sache1 nicht die furchtbare Deutlichkeit hätte, die sie nun hat. Das Unerträglichste ist doch der Zweifel, das gespensterhaft halb-wirkliche: und dieser Zustand ist doch wenigstens von Dir genommen, unter dem Du hier2 so gräßlich littest. Was wollen wir nun machen! Ich zerbreche mir den Kopf, wodurch Dir jetzt in irgend welcher Weise genützt werden könnte. Lange hatte ich mir eingebildet, man werde Dir die Diversion des Ortes machen, was ja sehr wichtig ist und Dich nach Freiburg im Breisgau berufen. Aber hinterdrein kommt es mir so vor als ob man gar nicht daran gedacht hätte. Da bleibt denn freilich die Herausgabe Deines Werkes3 immer das Heilsamste, es ist so etwas nicht ohne einige Freude und fesselt jedenfalls das Nachdenken, auch hat dies Geschäft Stätigkeit und hilft Dir vielleicht über diesen schrecklichen Winter hinweg. Ich erzähle Dir, wie es mir geht. Mit der Gesundheit nicht so, wie ich es eigentlich voraussetzte, als ich die völlige Umänderung meiner hiesigen Lebensweise durchsetzte.4 Ich liege alle 14 Tage bis 3 Wochen einmal auf 36 Stunden etwa zu Bett, recht gepeinigt, in der Art, wie Du es ja kennst. Vielleicht wird es allmählich besser, aber ich meine immer, daß mir noch nie ein Winter so schwer gefallen sei. Der Tag verläuft so mühevoll, durch neue Collegien5 usw, daß ich immer am Abend mit aller weiteren Lebenslust fertig bin und mich eigentlich wundere, wie schwer es sich doch lebt. Es scheint sich doch nicht zu lohnen, diese ganze Quälerei, man nützt weder sich noch anderen im Verhältniß zu der Noth, die man sich und andern auflegt! Dies ist die Meinung eines Menschen, der gerade nicht von den Leidenschaften gepeinigt wird — freilich auch nicht von ihnen beglückt wird. In den Ruhestunden für die Augen liest mir meine Schwester vor, und zwar fast immer Walter Scott,6 den ich gerne mit Schopenhauer den "unsterblichen" nennen will:7 so sehr sagt mir seine künstlerische Ruhe, sein Andante zu, ich möchte ihn Dir empfehlen, doch Deinem Geiste ist mit solchen Mitteln nicht immer beizukommen, welche bei mir anschlagen: deshalb weil Du schärfer und schneller denkst als ich; und von der Behandlung des Gemüths durch Romane will ich gar nichts sagen, zumal Du schon gezwungen bist Dir mit Deinem eignen "Roman"8 zu helfen. Aber vielleicht liesest Du jetzt noch einmal den Don Quixote9 — nicht weil es die heiterste, sondern weil es die herbste Lektüre ist, die ich kenne, ich nahm sie in den Sommerferien vor, und alles Persönliche Leid kam mir sehr verkleinert vor, ja als würdig, daß man darüber ganz unbefangen lache und selbst nicht einmal Grimassen dabei mache. Aller Ernst und alle Leidenschaft und alles, was den Menschen an's Herz geht ist Don Quixoterie, es ist gut dies zu wissen, für einige Fälle; sonst ist es für gewöhnlich besser es nicht zu wissen. Gersdorff will in den Weihnachtsferien Schritte thun, sich zu verloben.10 Freund Krug hat einen Knaben bekommen,11 Dr. Fuchs ist eingeladen, auf Einen Cyclus der Bayreuther Aufführungen im nächsten Jahr vom Patronatsschein meiner Schwester Gebrauch zu machen.12 Zwei junge gute Musiker und Componisten13 studiren diesen Winter hier, um meine Vorlesungen zu hören, es sind Freunde Schmeitzners, ich thue mich um Verleger und Orientalisten zur Herausgabe des Tripitaka14 der Buddhisten aufzureizen. Dr. Deussen hält den ganzen Winter über begeisternde Vorträge15 über Schopenhauer, jede Woche 3, in Aachen, vor mehr als 300 festen Zuhörern. Baumgartner16 studirt jetzt hier unter meiner Führung Philologie. In meinem philologischen Seminar17 habe ich 13 Mann, zum Theil sehr gut begabte Leute. Mein Schüler Brenner ist leidend und mußte fort nach Catania;18 ich habe ihm für Frl. v. Meysenbug Grüße mitgegeben. Dr. Rée, mir sehr ergeben, hat ein ausgezeichnetes Büchlein,19 "Psycholog. Beobachtungen" anonym erscheinen lassen, es ist ein "Moralist" vom schärfsten Blick, etwas ganz Seltnes von Begabung unter Deutschen. Die Schrift Arnims "Pro nihilo" ist mir lehrreich gewesen.20 Wagner's bleiben bis Ende Januar in Wien.21 Ich lebe völlig zurückgezogen, mit meiner Schwester und bin zufrieden, wie ein Einsiedler, der keine Wünsche mehr hat als daß es recht schön wäre, wenn es einmal aus wäre. Nun lebe wohl, lebe erträglich, geliebtester Freund, denke daß wir hier an Dich immer so denken, als ob wir Dir damit unsere Freundschaft fühlen lassen könnten. Das ist nun leider nicht der Fall, und so nimm mit diesen elenden Zeilen fürlieb. Meine Schwester und Overbeck grüßen Dich auf das Theilnehmendste, und ich bleibe Dein Freund F. N. 1. Erwin Rohde was involved with a married woman, who eventually decided to stay with her husband.
Basel, 13. Dezember 1875: Gestern, mein geliebter Freund, kam Dein Brief1 und heute morgen, recht am Beginne einer schweren Arbeitswoche, Deine Bücher:2 da soll man schon guten Muthes bleiben, wenn man so theilnehmende liebevolle Freunde hat! Wirklich, ich bewundere den schönen Instinkt Deiner Freundschaft — der Ausdruck klingt Dir hoffentlich nicht zu thierisch — daß Du gerade auf diese indischen Sprüche verfallen mußtest, während ich mit einer Art von wachsendem Durst mich gerade in den 2 letzten Monaten nach Indien umsah. Ich entlieh von dem Freunde Schmeitzners Hr. Widemann die englische Übersetzung der Sutta Nipáta, etwas aus den heiligen Büchern der Buddhaisten; und eine der festen Schlußworte einer Sutta habe ich schon in Hausgebrauch genommen "so wandle ich einsam wie das Rhinoceros."3 Die Überzeugung von dem Unwerthe des Lebens und dem Truge aller Ziele drängt sich mir oft so stark auf, zumal wenn ich krank zu Bette liege, daß ich verlange, davon etwas mehr zu hören, aber nicht verquickt mit den jüdisch-christlichen Redensarten: gegen die ich mir irgendwann einen Ekel angegessen habe, so daß ich mich vor Ungerechtigkeit in Acht zu nehmen habe. Wie es nun mit dem Leben steht, magst Du auch aus beiliegendem Briefe4 des unsäglich leidenden Freundes Rohde ersehen; man soll sein Herz nicht an dasselbe hängen, das ist klar, und doch worin kann man es aushalten, wenn man wirklich nichts mehr will! Ich meine, das Erkennen-Wollen bleibe als letzte Region des Lebens-Willens übrig, als ein Zwischenbereich zwischen Wollen und Nichtmehrwollen, ein Stück Purgatorium, so weit wir auf das Leben unbefriedigt und verachtend zurückblicken und ein Stück Nirwana, insofern die Seele dadurch dem Zustande reinen Anschauens nahe kommt. Ich übe mich darin, die Hast des Erkennen-Wollens zu verlernen; daran leiden ja die Gelehrten alle und darüber entgeht ihnen die herrliche Beruhigung aller gewonnenen Einsicht. Nun bin ich immer noch etwas zu straff zwischen die verschiedenen Anforderungen meines Amtes eingespannt, als daß ich nicht allzu oft, wider Willen, in jene Hast gerathen müßte: allmählich will ich mir schon alles zurechtrücken. Dann wird auch die Gesundheit beständiger werden; die ich nicht eher erlange, bis ich sie auch verdiene, bis ich den Zustand meiner Seele gefunden habe, der der mir gleichsam verheißene ist, der Gesundheits-Zustand derselben, wo sie nur noch den Einen Trieb, das Erkennen-Wollen, übrig behalten hat und sonst von Trieben und Begehrungen frei geworden ist. Ein einfacher Haushalt, ein ganz geregelter Tageslauf, keine aufreizende Ehrsucht oder Geselligkeitssucht, das Zusammenleben mit meiner Schwester5 (wodurch alles um mich herum so ganz Nietzschisch ist und sonderbar beruhigt wird) das Bewußtsein ganz ausgezeichnete liebevolle Freunde zu haben, der Besitz von 40 guten Büchern aus allen Zeiten und Völkern (und von noch mehrern nicht gerade schlechten), das unwandelbare Glück, in Schopenhauer und Wagner Erzieher, in den Griechen die täglichen Objekte meiner Arbeit gefunden zu haben, der Glaube daß es mir an guten Schülern von jetzt an nicht mehr fehlen wird — das macht jetzt mein Leben. Leider kommt die chronische Quälerei hinzu, die mich alle zwei Wochen fast zwei ganze Tage, mitunter noch länger packt — nun, das soll einmal ein Ende haben. Später einmal, wenn Du Dein Haus sicher und wohlbedacht gegründet hast, wirst Du auch auf mich als einen länger weilenden Feriengast rechnen können; ich erquicke mich öfter mit der Vergegenwärtigung Deines späteren Lebens und denke, daß ich Dir auch noch einmal in Deinen Söhnen nützen kann. Wir haben nun, alter treuer Freund Gersdorff, ein gutes Stück Jugend, Erfahrung, Erziehung, Neigung Haß Bestrebung Hoffnung mit einander bis jetzt gemein gehabt, wir wissen, daß wir uns von Herzen freuen, auch nur bei einander zu sitzen, ich glaube, wir brauchen uns nichts zu versprechen und geloben, weil wir einen recht guten Glauben zu einander haben. Du hilfst mir, wo Du kannst, das weiß ich aus Erfahrung; und ich denke bei allem, was mich freut "wie wird sich Gersdorff dabei freuen!" Denn, um Dir dies zu sagen, Du hast die herrliche Fähigkeit zur Mitfreude; ich meine, sie ist selbst seltener und edler als die des Mitleidens. Nun lebe wohl und gehe in Dein neues Lebensjahr hinüber, als der welcher Du im alten warst, ich weiß Dir sonst nichts zu wünschen. Als solcher hast Du Deine Freunde erworben; und wenn es noch gescheute Weiber giebt, dann wirst Du nicht mehr lange "einsam wandeln wie das Rhinoceros." Treugesinnt der Deine Herzliche Grüße und Glückwünsche meiner Schwester. Meine Empfehlungen an Deinen verehrten Vater. Ich schickte Dir Rütimeyers Programm,6 hoffentlich kam es an. 1. See Hohenheim, 12-10-1875: Letter from Carl von Gersdorff to Nietzsche in Basel. |
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