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Basel, 20. Juli 1872: Verehrter Herr, wie gerne möchte ich Ihnen noch einmal aussprechen, mit welcher Bewunderung und Dankbarkeit ich Ihrer immer eingedenk bin. Sie haben mir den Zugang zu dem erhabensten Kunsteindruck meines Lebens erschlossen; und wenn ich außer Stande war Ihnen sofort nach den beiden Aufführungen2 zu danken, so rechnen Sie dies auf den Zustand gänzlicher Erschütterung, in dem der Mensch nicht spricht, nicht dankt, sondern sich verkriecht. Wir Alle sind aber mit dem tiefsten Gefühle persönlicher Verpflichtung von Ihnen und von München geschieden; und außer Stande Ihnen dies deutlicher und beredter auszudrücken gerieth ich auf den Einfall, Ihnen durch Übersendung einer Composition,3 in der freilich dürftigen, aber nothwendigen Form einer Widmung intra parietes, meinen Wunsch zu verrathen, Ihnen recht dankbar mich erweisen zu können. Ein so guter Wunsch! Und eine so zweifelhafte Musik! Lachen Sie mich aus, ich verdiene es. Nun höre ich, aus den Zeitungen, daß Sie noch einmal, am 8 t. August, den Tristan aufführen werden. Wahrscheinlich bin ich wieder zugegen. Auch mein Freund Gersdorff will wieder zur rechten Zeit4 in München sein. Von Hr von Senger5 wurde ich in diesen Tagen durch einen Brief erfreut. Haben Sie R W[agner]'s Sendschreiben über klassische Philologie gelesen?6 Meine Fachgenossen sind in einer angenehmen Erbitterung. Ein Berliner Pamphlet7 gegen meine Schrift unter dem Titel "Zukunftsphilologie!" — befleißigt sich, mich zu vernichten, und eine wie ich höre, bald erscheinende Gegenschrift des Prof. Rohde in Kiel hat wiederum die Absicht, den Pamphletisten zu vernichten.8 Ich selbst bin mit der Conception einer neuen, leider wieder "zukunftsphilologischen" Schrift9 beschäftigt und wünsche jedem Pamphletisten eine ähnliche Beschäftigung. Mitten darin, möchte ich aber wieder die heilende Kraft des Tristan erfahren: dann kehre ich, erneuert und gereinigt, zu den Griechen zurück. Dadurch aber, daß Sie über dies Zaubermittel verfügen, sind Sie mein Arzt: und wenn Sie finden werden, daß Ihr Patient entsetzliche Musik macht, so wissen Sie das pythagoreische Kunstgeheimniß, ihn durch "gute" Musik zu kuriren. Damit aber retten Sie ihn der Philologie: während er, ohne gute Musik, sich selbst überlassen, mitunter musikalisch zu stöhnen beginnt, wie die Kater auf den Dächern. Bleiben Sie, verehrter Herr, von meiner Neigung und Ergebenheit überzeugt! Friedrich Nietzsche. 1. See GSA 101/13. For more details about the photograph, see Basel, 12-12-1872: Letter from Nietzsche to Carl von Gersdorff in Ostrichen. "[...] ich wollte Dir gerne meine Photographie mitschicken und es dauerte längere Zeit, ehe ich mich zum Photographirtwerden entschließen konnte und ehe der Photograph fertig wurde. Hier bekommst Du das erste Bild, das er mir sendet. Die Nacht bevor es aufgenommen wurde, wurde ich durch ein großes Feuer erschreckt, auch habe ich ein paar Stunden durch Wassertragen usw mit geholfen, kurz, es wird wohl an der Photographie etwas zu merken sein, daß ich die Nacht vorher nicht geschlafen hatte. Sie hat etwas Wildes und Bojarenhaftes." ([...] I wanted to send you my photograph and it took a long time before I could decide to be photographed and before the photographer was finished. Here you get the first photo that he sent me. The night before it was taken, I was terrified by a big fire [On December 4, 1872, a carriage factory caught fire at Elsässerstrasse 19. See Bruno Thommen (ed.), Die Basler Feuerwehr. Herausgegeben Anlässlich des 100Jährigen Bestehens der Basler Berufsfeuerwehr 1882-1982. Basel: Springer, 1982, 99.]; I even helped for a few hours by carrying water, etc.; in short, the fact that I had not slept the night before will probably be a bit noticeable in the photograph. It's somewhat wild and boyarish [like a medieval Russian aristocrat]. Friedrich Hermann Hartmann (1822-1902): German photographer from Frankfurt, who worked out of a studio in Basel from 1855 to around 1900. During the 1870s, Nietzsche resided at Schützengraben 45 in Basel. Hartmann's studio was a few doors down the street at Schützengraben 31. Hartmann took 5 photos of Nietzsche from 1872-1873. See GSA 101/13; GSA 101/14; GSA 101/15; GSA 101/16; and GSA 101/17. For 7 photos by Hartmann of Baselian society, see a list from the inventory of UBBasel.
Munich, 24. Juli 1872: Hochgeehrter Herr Professor, Ihre gütige Mittheilung und Sendung1 hat mich in eine Verlegenheit gesetzt, deren Unbehaglichkeit ich selten in derartigen Fällen so lebhaft empfunden habe. Ich frage mich, soll ich schweigen, oder eine civilisirte Banalität zur Erwiderung geben — oder — frei mit der Sprache herausrücken? Zu letzterem gehört ein bis zur Verwegenheit gesteigerter Muth: um ihn zu fassen, muß ich vorausschicken, erstlich, daß ich hoffe, Sie seien von der Verehrung, die ich Ihnen als genialschöpferischem Vertreter der Wissenschaft zolle, fest überzeugt — ferner muß ich mich auf zwei Privilegien stützen, zu denen ich begreiflicher Weise höchst ungern recurrire; das eine, überdieß trauriger Natur: die zwei oder drei Lustren die ich mehr zähle als Sie, das andere: meine Profession als Musiker. Als letzterer bin ich gewohnt gleich Hansemann, bei dem "in Geldsachen die Gemüthlichkeit aufhört"2 den Grundsatz zu praktizieren: in materia musices3 hört die Höflichkeit auf. Doch zur Sache: Ihre Manfred-Meditation ist das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste was mir seit lange von Aufzeichnungen auf Notenpapier zu Gesicht gekommen ist. Mehrmals mußte ich mich fragen: ist das Ganze ein Scherz, haben Sie vielleicht eine Parodie der sogenannten Zukunftsmusik beabsichtigt? Ist es mit Bewußtsein, daß Sie allen Regeln der Tonverbindung, von der höheren Syntax bis zur gewöhnlichen Rechtschreibung ununterbrochen Hohn sprechen? Abgesehen vom psychologischen Interesse — denn in Ihrem musikalischen Fieberprodukte ist ein ungewöhnlicher, bei aller Verwirrung distinguirter Geist zu spüren — hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkte aus nur den Werth eines Verbrechens in der moralischen Welt. Vom apollinischen Elemente habe ich keine Spur entdecken können und das dionysische anlangend habe ich, offen gestanden mehr an den lendemain4 eines Bacchanals als an dieses selbst denken müssen. Haben Sie wirklich einen leidenschaftlichen Drang, sich in der Tonsprache zu äußern, so ist es unerläßlich, die ersten Elemente dieser Sprache sich anzueignen: eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis. Die unerhörtesten Wagnerschen Kühnheiten, abgesehen davon, daß sie im dramatischen durch das Wort gerechtfertigten Gewebe wurzeln (in rein instrumentalen Sätzen enthält er sich nachweislich ähnlicher Ungeheuerlichkeiten) sind außerdem stets als sprachlich correkt zu erkennen—und zwar bis auf das kleinste Detail der Notation; wenn die Einsicht eines immerhin gebildeten Musikverständigen wie Herr Dr. Hanslick5 hierzu nicht hinreicht, so erhellt hieraus nur, daß man um Wagner als Musiker richtig zu würdigen, musicien et demi6 sein muß. Sollten Sie, hochverehrter Herr Professor, Ihre Aberration ins Componirgebiet, so wirklich ernst gemeint haben, woran ich noch immer zweifeln muss — so componiren Sie doch wenigstens nur Vokalmusik — und lassen Sie das Wort in dem Nachen, der Sie auf dem wilden Tonmeere herumtreibt, das Steuer führen. Nochmals — nichts für ungut — Sie haben übrigens selbst Ihre Musik als "entsetzlich" bezeichnet7 — sie ists in der That, entsetzlicher als Sie vermeinen, zwar nicht gemeinschädlich aber schlimmer als das, schädlich für Sie selbst, der Sie sogar etwaigen Ueberfluß an Muße nicht schlechter todtschlagen können, als in ähnlicher Weise Euterpe zu nothzüchtigen. Ich kann nicht widersprechen, wenn Sie mir sagen, daß ich die äusserste Grenzlinie der civilité puérile8 überschritten habe: "erblicken Sie in meiner rücksichtslosen Offenheit (Grobheit) ein Zeichen ebenso aufrichtiger Hochachtung" diese Banalität will ich nicht nachhinken lassen. Ich habe nur einfach meiner Empörung über dergleichen musikfeindliche Tonexperimente freien Lauf lassen müssen: vielleicht sollte ich einen Theil derselben gegen mich kehren, insofern ich den Tristan9 wieder zur Aufführung ermöglicht habe, und somit indirekt schuldig bin, einen so hohen und erleuchteten Geist, wie den Ihrigen, verehrter Herr Professor, in so bedauerliche Klavierkrämpfe gestürzt zu haben. Nun vielleicht curirt Sie der "Lohengrin"10 am 30sten, der übrigens leider nicht unter meiner Direktion sondern unter der des regelmäßig functionirenden Hofkapellmeisters Wüllner11 gegeben wird (einstudirt hatte ich ihn im Jahre 1867) — für Holländer12 und Tristan sind die Daten noch nicht bestimmt—man spricht vom 3 und 6 August—Andre sagen 5 und 10 August. Etwas Offizielles bin ich außer Stande Ihnen darüber mitzutheilen, da bis zum Sonntag von Sr. Excellenz ab bis zum letzten Sänger Alle die Ferienzeit auf dem Lande genießen. Ich bin wiederum in derselben Verlegenheit wie, als ich die Feder in die Hand nahm. Seien Sie mir nicht böse, verehrter Herr und erinnern Sie sich meiner gütigst nur als des durch Ihr prachtvolles Buch13 — dem hoffentlich ähnliche Werke bald nachfolgen werden — wahrhaft erbauten und belehrten und deßhalb Ihnen in vorzüglichster Hochachtung dankergebensten H v Bülow 1. Nietzsche's piano composition, Manfred Meditation.
Basel, 2. August 1872: Also fertig bist Du, mein liebster Freund? Dann vermuthe ich Dein Manuscript1 auch schon in den Händen des braven Fritzschii. Mit ihm ist alles aufs Beste abgemacht: von der Ausstattung und dem Honorario habe ich kein Wörtchen gesagt, ich denke wir vertrauen ihm und sagen gar nichts darüber. Der Titel2 und sein Problem ist herzhaft hin und her erwogen worden, und alle, Overbeck, Romundt3 und ich, bleiben bei seiner völligen Unverfänglichkeit. Wir haben doch die so populäre Bildung Afterkunst usw. Wenn der zotiacus Wilamowitz noch eine aristophan. Interpretation, aus Schuld- bewußtsein, herausspüren sollte, was gehen uns seine Würmer an?4 Doch bitte ich Dich, um Allem vorzubeugen, vielleicht schon auf der ersten Seite eine kurze Definition und Umschreibung des Wortes Afterphilologie5 zu geben; damit beruhigen wir die scabreusen Gewissen. Nach München bin ich nicht gereist — Gersdorff konnte nicht kommen, er leidet sehr an einem Ohrübel. Allein mich unter dem Pack herumzudrehen, unter lauter leichtflüssiger Schmelzbutterbegeisterung — ist nicht recht schicklich — kurz — ich blieb hier und freue mich dessen.6 Ich bin im Begriff die Bildungsvorträge7 umzuarbeiten. Sage mir doch ein Wörtchen darüber — denn Du mußt wissen daß ich gar kein Unheil über sie habe und mich gern belehren lasse. Über meine letzte Composition,8 die ich in Bayreuth Euch vorspielte, habe ich mich endlich wahrhaft belehren lassen; der Brief9 Bülows ist für mich unschätzbar in seiner Ehrlichkeit, lies ihn, lache mich aus und glaube mir daß ich vor mir selbst in einen solchen Schrecken gerathen bin, um seitdem kein Klavier anrühren zu können. Frl. von Meysenbug wird wahrscheinlich in nächster Zeit in die Schweiz kommen, und wir wollen etwas zusammen leben, an irgend einem hübschen Winkel. Es ist so ein mütterlich-liebevolles Wesen. Wir waren in München fast fortwährend mit ihr zusammen. Ich empfehle Dir zu lesen "Aus den Memoiren eines Russen" von Alexander Herzen (dem Vater von Frl. Olga H[erzen].)10 Deussen ist hier, ein paar Tage, gewesen. Sonderbar unangenehme Nachwirkung hinter sich lassend.11 Brockhaus12 ist vom Herbst an Dein Collega in Kiel. Ein durch und durch ehrenwerther Mensch und sehr zu achten. — Von Freiburg weiß ich nichts, gar nichts. Wie würde ich die Combination Deiner Versetzung dorthin preisen! Aber ich kann gar nichts thun — Brambach13 wird wohl im Finstern schleichen. Ich habe Deinen Namen meinen Freiburger Bekannten oft und stark ins Gedächtniß gerufen.14 Aber — schicke doch Deine Wilamowitzschrift an Prof. Schönberg15 und Prof. Mendelsohn16 — ich bitte Dich. Und nun, alter lieber Freund! Ich gratulire Dir zu den Ferien und wünsche nicht hinzufügen zu müssen, daß unsere zweite Hälfte des Sommersemesters17 noch bevorsteht. Romundt18 grüßt Dich von Herzen. Ich habe ein paar Goethesche Briefe geschenkt bekommen, von dem 86jähr. Frl. Kestner (Lottens Tochter)[.]19 Ich lebe hier mit meiner Schwester guter Dinge und wünsche daß es Dir noch besser geht. Dein getreuer 1. On October 22, 1872, in response to Wilamowitz-Möllendorff's book, Rohde published Afterphilologie. Zur Beleuchtung des von dem Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff herausgegebenen Pamphlets "Zukunftsphilologie!" Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner. Leipzig: Fritzsch, 1872. (Pseudo-Philology. On the Elucidation of the Pamphlet "Philology of the Future!" Published by Ulrich von Wilamowitz-Mollendorff, Ph.D. Open Letter to Richard Wagner by a Philologist.) The title was suggested by Franz Overbeck. "After" is a pun with several meanings, from "pseudo" to "asshole." Cf. M. S. Silk, J. P. Stern, Nietzsche on Tragedy. Cambridge; New York: Cambridge Univ. Press, 1981, 98.
Basel, 29. Oktober 1872 oder kurz vorher: Nun Gott sei Dank daß ich das und gerade das von Ihnen hören muß.1 Ich weiß schone einen wie unbehaglichen Moment ich Ihnen gemacht habe dafür sage ich Ihnen, wie sehr Sie mir genützt haben. Denken Sie daß mir, in meiner musikal. Selbstzucht, allmählich jede Zucht abhanden gekommen ist, daß ich nie von einem Musiker ein Urtheil über meine Musik hörte und daß ich wahrhaft glücklich, auf eine so einfache Art über das Wesen meiner allerletzten Compositionsperiode auf geklärt zu werden. Denn leider muß ich es gestehn — mache ich Musik eigner Fabrik von Kindheit an,2 besitze die Theorie durch Studium Albrecht[s]berger's,3 habe Fugen en masse geschrieben und bin des reinen Stils — bis zu einem gewissen Grad der Reinheit fähig. Dagegen überkam mich mitunter ein so barbarisch-excessives Gelüst, eine Mischung von Trotz und Ironie daß ich — ebenso wenig wie Sie scharf empfinden kann, was in der letzten Musik als Ernst als Karikatur als Hohn gemeint. Meinen nächsten Hausgenossen4 (o die boni!) habe ich es als Pamphlet auf die Programmmusik zum Besten gegeben. Und die ursprüngliche Charakterbezeichnung der Stimmung war cannibalido. Dabei ist mir nun leider klar, daß das Ganze sammt dieser Mischung von Pathos und Bosheit, einer wirklichen Stimmung absolut entsprach und daß ich an der Niederschrift ein Vergnügen empfand, wie bei nichts Früherem. Es steht demnach recht traurig um meine Musik und noch mehr um meine Stimmungen. Wie bezeichnet man einen Zustand, in dem Lust verachtung Übermuth Erhabenheit durch einander gerathen sind? Hier und da verfalle ich in dies gefährliche mondsüchtige Gebiet. Dabei bin ich — das glauben Sie mir — unendlich weit entfernt, von dieser halb psychiatrischen Musikerregung aus, Wagnersche Musik zu beurtheilen und zu verehren. Von meiner Musik weiß ich nur eins daß ich damit Herr über eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht schädlicher ist. An jener verehre ich gerade diese höchste Nothwendigkeit — und wo ich sie als mangelhafter Musiker nicht begreife setze ich sie gläubig voraus. Was mir aber an der letzten Musik besonders vergnüglich war, das war gerade, bei dem tollsten Überschwang eine gewisse Karikatur jener Nothwendigkeit. Und gerade diese verzweifelte Contrapunktik muß mein Gefühl in dem Grade verwirrt haben daß ich absolut urtheilslos geworden war. Und in dieser Noth dachte ich mitunter selbst besser von dieser Musik — ein höchst bedauerlicher Zustand, aus dem Sie mich jetzt gerettet haben. Haben Sie Dank! Das ist also keine Musik? Da bin ich recht glücklich daran, da brauche ich mich gar nicht mehr mit dieser Art des otium cum odio, mit dieser recht odiosen Art meines Zeitvertreibs abzugeben. Mir liegt an der Wahrheit: Sie wissen es ist angenehmer sie zu hören als sie zu sagen. Da bin ich also doppelt wieder in Ihrer Schuld — Aber ich bitte Sie nur um eins, machen Sie für meine Sünde nicht den Tristan5 verantwortlich. Nach dem Anhören des Tristan hätte ich gewiß solche Musik nicht mehr concipirt — er heilt mich für lange Zeit von meiner Musik. Daß ich ihn wieder hören könnte! Dann will ich aber doch einen Versuch machen, eine musikal. Gesundcur vorzunehmen: und viell. bleibe ich wenn ich in Ihrer Ausgabe Beethoven Sonaten6 studiere, unter ihrer geistigen Aufsicht und Leitung. Im Übrigen ist mir das Ganze eine höchst belehrende Erfahrung — die Erziehungsfrage,7 die mich auf anderen Gebieten beschäftigt, wird für mich einmal, im Bereich der Kunst, mit bes[onderer] Stärke aufgeworfen. Welchen gräßlichen Verirrungen ist jetzt der Vereinzelte ausgesetzt! 1. See above.
Basel, 29. Oktober 1872: Verehrter Herr, nicht wahr, ich habe mir Zeit gelassen, die Mahnungen Ihres Schreibens zu beherzigen und Ihnen für dieselben zu danken?1 Seien Sie überzeugt, daß ich nie gewagt haben würde, auch nur im Scherze, Sie um die Durchsicht meiner "Musik" zu ersuchen, wenn ich nur eine Ahnung von deren absolutem Unwerthe gehabt hätte! Leider hat mich bis jetzt Niemand aus meiner harmlosen Einbildung aufgerüttelt, aus der Einbildung, eine recht laienhaft groteske, aber für mich höchst "natürliche" Musik machen zu können — nun erkenne ich erst, wenn auch von Ferne, von Ihrem Briefe auf mein Notenpapier zurückblickend, welchen Gefahren der Unnatur ich mich durch dies Gewährenlassen ausgesetzt habe. Dabei glaube ich auch jetzt noch, daß Sie um einen Grad günstiger — um einen geringen Grad natürlich — geurtheilt haben würden, wenn ich Ihnen jene Unmusik2 in meiner Art, schlecht doch ausdrucksvoll, vorgespielt hätte: mancherlei ist wahrscheinlich durch technisches Ungeschick so querbeinig auf's Papier gekommen, daß jedes Anstands- und Reinlichkeitsgefühl eines wahren Musikers dadurch beleidigt sein muß. Denken Sie, daß ich bis jetzt, seit meiner frühsten Jugend, somit in der tollsten Illusion gelebt und sehr viel Freude an meiner Musik gehabt habe!3 Sie sehen, wie es mit der "Erleuchtung meines Verstandes" steht, von dem Sie eine so gute Meinung zu haben scheinen. Ein Problem blieb es mir immer, woher diese Freude stamme? Sie hatte so etwas Irrationelles an sich, ich konnte in dieser Beziehung weder rechts noch links sehen, die Freude blieb. Gerade bei dieser Manfredmusik hatte ich eine so grimmig, ja höhnisch pathetische Empfindung, es war ein Vergnügen, wie bei einer teuflischen Ironie! Meine andre "Musik" ist, was Sie mir glauben müssen, menschlicher, sanfter und auch reinlicher. Selbst der Titel war ironisch — denn ich vermag mir bei dem Byronschen Manfred,4 den ich als Knabe fast als Lieblingsgedicht anstaunte, kaum mehr etwas Anderes zu denken, als daß es ein toll-formloses und monotones Unding sei. — Nun aber schweige ich davon und weiß, daß ich, seit ich das Bessere, durch Sie weiß, thun werde was sich geziemt. Sie haben mir sehr geholfen — es ist ein Geständniß, das ich immer noch mit einigem Schmerze mache. — Macht Ihnen vielleicht die mitfolgende Schrift des Prof. Rohde einiges Vergnügen? Der Begriff des "Wagnerschen Philologen" ist doch neu — Sie sehen, es sind ihrer nun schon zwei.5 Gedanken Sie meiner, verehrtester Herr, freundlich und vergessen Sie, zu meinen Gunsten, die musikalische und menschliche Qual, die ich Ihnen durch meine unbesonnene Zusendung bereitet habe: während ich Ihren Brief und Ihre Rathschläge gewiß nie vergessen werde. Ich sage, wie die Kinder sagen, wenn sie etwas Dummes gemacht haben "ich will's gewiß nicht wieder thun" und verharre in der Ihnen bekannten Neigung und Hochschätzung als Ihr stets ergebener 1. In the summer of 1872, Nietzsche informed his friends Gustav Krug (1844-1902) and Erwin Rohde of Hans von Bülow's harsh criticism. He wrote an unsent draft of a letter shortly before composing this one. Malwida von Meysenbug. As a younger woman. From tinted photo, undated. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Basel, 20. Dezember 1872: Verehrtestes Fräulein, Sie haben mir eine große Freude gemacht,1 für die ich Ihnen auf der Stelle gedankt hätte, wenn es nicht nöthig gewesen wäre, eine Photographie von mir beizulegen. Nun gab es aber keine — und wie Sie sehen — giebt es jetzt zwar welche, doch wieder vom alten Seeräuberstil,2 so daß ich zu der metaphysischen Annahme gedrängt werde, es möge das, was die Photographen so und immer wieder so darstellen, mein "intellegibler" Charakter sein; denn mein intellektueller ist es so wenig daß ich Bedenken trug, Ihnen dies Conterfei meiner schlechteren Hälfte anzubieten.3 Kurz, ich wollte sagen, es gab erst einen Zeitverlust, weil ich keine Photographie, und dann wieder einen, weil ich eine hatte — aber eben eine solche! Ich erkläre dies ausdrücklich, weil ich Ihre Photographie für unbegreiflich gut halte: wie sich auch meine Schwester über das Bild von Fräulein Olga4 eben so dankbar als erfreut zu äußern allen Grund hat. Ich reise jetzt für zwei Wochen nach Naumburg um dort Weihnachten zu feiern:5 während dieser Zeit will ich meine Schwester dazu bringen, sich photographisch hinrichten zu lassen: wenigstens bezeichnet dieser Ausdruck meine Empfindung, wenn der einäugige Cyklop als deus ex machina vor mir steht. Während ich mich dann bemühe, dem Verderben Trotz zu bieten, geschieht bereits das Unvermeidliche — und ich bin von Neuem als Seeräuber oder erster Tenor oder Bojar6 et hoc genus omne aeternisirt.7 Nun werden Sie die Vorträge8 gelesen haben und erschreckt worden sein, wie die Geschichte plötzlich abbricht, nachdem so lange präludirt war und in lauter negativis und manchen Weitschweifigkeiten der Durst nach den wirklichen neuen Gedanken und Vorschlägen immer stärker sich eingestellt hatte. Man bekommt einen trocknen Hals bei dieser Lektüre und zuletzt nichts zu trinken! Genau genommen paßte das, was ich mir für den letzten Vortrag9 erdacht hatte — eine sehr tolle und bunte Nachtbeleuchtungsscene — nicht vor mein Baseler Publikum, und es war gewiß ganz gut, daß mir das Wort im Munde stecken blieb. Im Übrigen werde ich recht um die Fortsetzung gequält: da ich aber das Nachdenken über das ganze Gebiet etwas vertagt habe, etwa auf ein Triennium — was mir, bei meinem Alter, leicht wird — so wird der letzte Vortrag gewiß nie ausgearbeitet werden. — Die ganze Rheinscenerie,10 so wie alles Biographisch-Scheinende ist erschrecklich erlogen. Ich werde mich hüten die Baseler mit den Wahrheiten meines Lebens zu unterhalten oder nicht zu unterhalten: aber selbst die Umgebung von Rolandseck11 ist mir in bedenklicher Weise undeutlich in der Erinnerung. Doch schreibt mir auch Frau Wagner,12 daß sie sich, am Rheine reisend, meiner Schilderung entsonnen habe. Unser Zusammentreffen hat stattgefunden, in beglückendster Weise, aber nicht hier in Basel, sondern in Straßburg:13 nach langem telegraphischen Wetterleuchten zwischen hier und mehreren süddeutschen Städten wurde endlich der Baseler Aufenthalt als unmöglich erkannt, und so reiste ich denn eines Freitags nach Straßburg, wo wir mit- und beieinander zwei und einen halben Tag verlebten, ohne alle sonstigen Geschäfte, sondern erzählend und spazierengehend und Pläne machend und der herzlichsten Zueinandergehörigkeit uns gemeinsam erfreuend. Wagner war mit seiner Reise14 recht zufrieden, er hatte tüchtige Stimmen und Menschen gefunden und war heiter und zu allem Unvermeidlichen gerüstet. Der ganze Winter geht drauf, denn nach Weihnachten geht es nach dem östlichen Norden Deutschlands, besonders nach Berlin, wo auf drei Wochen etwa Halt gemacht werden soll. Es ist nicht gewiß, aber möglich, daß er nach Mailand, zur Scala-Aufführung kommt.15 Gersdorff trifft in der ersten Hälfte des Januar hier ein, um dann unverzüglich weiter, nach Florenz und Rom zu reisen.16 Im Februar will er mit seinem Vater in Rom zusammentreffen. Er bedarf jetzt, ebenso wie sein Vater, doppelt dieser längst vorbereiteten Reise, da in der allerletzten Zeit sein einziger Bruder,17 nach dreijährigem leidensvollen Aufenthalte im Irrenhause (Illenau), gestorben ist. Er ist nun die einzige Hoffnung seines Geschlechtes; seine Eltern sind ganz vereinsamt, da auch die letzte und jüngste Schwester,18 die bisher mit den Eltern zusammen lebte, sich jetzt verheirathet hat, mit einem Gr[afen] Rothkirch-Trach. Übrigens hat Gersdorff mir neulich ganz begeistert ebenso über Ihre als die Herzenschen Memoiren geschrieben:19 woraus Sie wenigstens das entnehmen können, daß er bei seiner Vorbereitung auf Italien, sich doch besonders auch auf Florenz gut vorbereitet. Beiläufig: was sind denn das für philologische Fragen,20 vereintestes Fräulein, die Sie wie Sie schreiben auf dem Herzen haben? Machen Sie doch mit mir einen Versuch — falls Ihnen nicht etwa Wilamowitz21 den Glauben an meine Philologie erschüttert hat. Für diesen Fall stehe ich aber immer noch zu Diensten, da ich dann Freund Rohde heranziehen würde, an dessen Philologie zu zweifeln ich Niemandem erlaube.22 Was haben Sie denn für den nächsten Sommer, nach der sehr schmerzlichen Trennung von Fräulein Olga, beschlossen? Und auf welchen Termin ist die Vermählung angesetzt? Und soll sie in Paris gefeiert werden? Oder bei Ihnen in Florenz?23 Das Buch24 des Hr Monod über Gregor von Tours ist in den deutschen gelehrten Zeitschriften sehr rühmend besprochen und als das Beste und Werthvollste, gerade vom Standpunkte strenger historischer Schule aus, bezeichnet worden, was bis jetzt über Gregor geschrieben ist. Heute Abend will ich abreisen. Ich sende Ihnen und Fräulein Olga einen herzlichen Weihnachts- und Neujahrsgruß zu. Es lebe dieses Jahr, aus manchen andern Gründen, aber namentlich weil es so schöne und hoffnungsreiche Gemeinsamkeiten geschaffen hat. Es läuft alles auf einer Bahn, und dem Tapferen muß das Gute und das Schlimme gleich recht sein. Verehrungsvoll Ihr 1. Malwida von Meysenbug sent Nietzsche a photo of herself. Cf. Florence, 11-22-1872: Letter from Malwida von Meysenbug to Nietzsche in Basel. The photo is lost. |
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