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Basel, Ende Januar und 15. Februar 1870: Mein lieber Freund, neulich überkam mich die Sorge, wie es Dir wohl in Rom ergehen möge, und wie abseits von der Welt und wie verlassen Du vielleicht dort lebst. Es wäre ja selbst möglich, dass Du krank wärest, ohne rechte Pflege und ohne freundschaftliche Unterstützung. Beruhige mich und nimm mir meine pessimistischen Grillen. Mir kommt das Rom des Concils1 so unheimlich giftig vor — nein ich will nicht mehr schreiben, denn das Briefgeheimniss ist für alle kirchlich-jesuitischen Dinge mir nicht sicher genug: man möchte wittern, was im Briefe stünde und Dir's entgelten lassen. — Du studirst das Alterthum und lebst das Mittelalter. — Nun will ich eins Dir recht eindringlich sagen. Denke daran, auf Deiner Rückreise einige Zeit bei mir zu wohnen: weisst Du, es möchte vielleicht für lange Zeit das letzte Mal sein. Ich vermisse Dich ganz unglaublich: mache mir also das Labsal Deiner Gegenwart und sorge dafür dass sie nicht so kurz ist. Das ist mir nämlich doch eine neue Empfindung, auch so gar niemanden an Ort und Stelle zu haben, dem man das Beste und Schwerste des Lebens sagen könnte. Dazu nicht einmal einen wirklich sympathischen Berufsgenossen. Meine Freundschaft bekommt unter so einsiedlerischen Umständen, so jungen und schweren Jahren, wirklich etwas Pathologisches: ich bitte Dich wie ein Kranker bittet: "komm nach Basel!" Mein wahres und nicht genug zu preisendes Refugium bleibt hier für mich Tribschen22 bei Luzern: nur dass es doch nur selten aufzusuchen ist. Die Weihnachtsferien habe ich dort verlebt: schönste und erhebendste Erinnerung! Es ist durchaus nöthig dass Du auch in diese Magie eingeweiht wirst. Bist Du erst mein Gast, so reisen wir auch zusammen zu Freund Wagner. Kannst Du mir nichts über Franz Liszt schreiben?3 Wenn Du vielleicht Deine Rückreise über den Laco di Como machen könntest, so wäre eine schöne Gelegenheit, uns allen eine Freude zu machen. Wir d.h. wir Tribschener haben ein Auge auf eine Villa am See, bei Fiume latte, Namens: "Villa Capuana," zwei Häuser. Kannst Du diese Villa nicht einer Musterung und Kritik unterwerfen?
Von Wackernagels4 Tod hast Du wohl gelesen. Es ist im Plane, dass Scherer5 in Wien ihn ersetzen soll. Auch ein neuer Theologe ist im Anzüge, Overbeck aus Jena.6 Romundt7 ist Erzieher bei Prof Czermak8 und wohl situirt, Dank Ritschl.9 Röscher,10 der mir über seine wärmste Verehrung für Dich geschrieben hat, ist als "bedeutender" Pädagog in Bautzen. Bücheler11 soll nach Bonn gerufen sein. Das rhein[isches] Museum hat jetzt lateinische Lettern.12 Ich habe einen Vortrag13 vor gemischtem Publikum gehalten über "das antike Musikdrama" und halte am 1 Februar einen zweiten über "Socrates und die Tragödie."14 Ich gewinne immer mehr Liebe für das Hellenenthum: man hat kein besseres Mittel sich ihm zu nähern als durch unermüdliche Fortbildung seines eigenen Persönchens. Der Grad, den ich jetzt erreicht habe, ist das allerbeschämendste Eingeständniss meiner Unwissenheit. Die Philologenexistenz in irgend einer kritischen Bestrebung, aber 1000 Meilen abseits vom Griechenthum wird mir immer unmöglicher. Auch zweifle ich, ob ich noch je ein rechter Philologe werden könne: wenn ich es nicht nebenbei, so zufällig erreiche, dann geht es nicht. Das Malheur nämlich ist: ich habe kein Muster und bin in der Gefahr des Narren auf eigne Hand. Mein nächster Plan ist, vier Jahre Culturarbeit an mir, dann eine jahrelange Reise — mit Dir vielleicht. Wir haben wirklich ein recht schweres Leben, die holde Unwissenheit an der Hand von Lehrern und Traditionen war so glücklich-sicher. Übrigens bist Du klug, wenn Du nicht so eine kleine Universität als Wohnsitz wählst. Man vereinsamt selbst in seiner Wissenschaft. Was gäbe ich darum, wenn wir zusammen leben könnten! Ich verlerne ganz zu sprechen. Das Lästigste aber ist mir, daß ich immer repräsentieren muss, den Lehrer, den Philologen, den Menschen und dass ich mich allen, mit denen ich umgehe, erst beweisen muss. Das aber kann ich so sehr schlecht und verlerne es immer mehr. Ich verstumme oder sage bereits absichtlich nur soviel, wieviel man als höflicher Weltmensch zu sagen pflegt. Kurz ich bin mit mir mehr unzufrieden als mit der Welt und deshalb um so zugethaner dem theuersten. Mitte Februar. Ich habe jetzt die stärkste Besorgniss, dass mich Deine Briefe und Dich die meinigen nicht erreichen: seit November habe ich nichts gehört. Meine verehrte Freundin Cosima rieth mir, durch ihren Vater (Franz Liszt) mir Auskunft über Dich zu verschaffen. Dies werde ich auch nächstens thun, heute probiere ich es nochmals mit einem Brief. — Über das Concil sind wir gut durch die "römischen" Briefe in der Augsburger unterrichtet: Kennst Du den Verfasser?15 Lass es Dir dann ja nicht merken: es wird schrecklich auf ihn gefahndet. — Ich habe hier einen Vortrag über Socrates und die Tragödie gehalten, der Schrecken und Missverständnisse erregt hat. Dagegen hat sich durch ihn das Band mit meinen Tribschener Freunden noch enger geknüpft. Ich werde noch zur wandelnden Hoffnung: auch Richard Wagner hat mir in der rührendsten Weise zu erkennen gegeben, welche Bestimmung er mir vorgezeichnet sieht. Dies ist alles sehr beängstigend. Du weisst wohl, wie sich Ritschl über mich geäussert hat. Doch will ich mich nicht anfechten lassen: litterarischen Ehrgeiz habe ich eigentlich gar nicht, an eine herrschende Schablone mich anzuschliessen brauche ich nicht, weil ich keine glänzenden und berühmten Stellungen erstrebe. Dagegen will ich mich, wenn es Zeit ist, so ernst und freimüthig äussern, wie nur möglich. Wissenschaft Kunst und Philosophie wachsen jetzt so sehr in mir zusammen, dass ich jedenfalls einmal Centauren gebären werde. Mein alter Kamerad Deussen ist mit Leib und Seele zu Schopenhauer übergegangen, als der letzte und älteste meiner Freunde. Windisch16 ist auf ein Jahr nach England, im Dienste der East-Indien-Office, um Sanskrithdschr. zu vergleichen. Romundt hat einen Schopenhauer-verein ins Leben gerufen. — Soeben ist eine skandaleuse Schrift gegen Ritschl erschienen (gegen seine Plautuskritik und das auslautende D): von Bergk, zur Schmach des deutschen Gelehrtenthums.17 Nochmals schönsten und herzlichsten Gruss. Ich freue mich auf das Frühjahr, weil es Dich durch Basel führt: nur theile mir mit, wann das geschieht: in den Osterferien bin ich mit den Meinigen am Genfersee. Lebwohl! Lebwohl!
Naumburg, 20. October 1870: Mein lieber Freund, dieser Morgen brachte mir die freudigste Überraschung und Befreiung von viel Unruhe und Beängstigung — Deinen Brief. Noch vorgestern wurde ich auf das ärgste erschreckt, als ich in Pforta Deinen Namen mit zweifelnder Stimme aussprechen hörte, Du weißt, was jetzt dieser zweifelnde Ton zu bedeuten pflegt.1 Sofort requirirte ich vom Rektor2 eine Liste der gefallenen Pförtner, die gestern Abend bei mir eintraf. Sie beruhigte mich in einem Hauptpunkte. Sonst gab sie viel Trauriges. Außer den Namen, die Du schon genannt hast,3 lese ich hier an erster Stelle Stöckert,4 dann v. Oertzen (doch mit einem Fragezeichen)5 dann v. Riedesel6 usw. in summa 16. — Alles was Du mir schreibst, hat mich auf das Stärkste ergriffen, vor allem der treue ernste Ton, mit dem Du von dieser Feuerprobe der uns gemeinsamen Weltanschauung7 sprichst. Auch ich habe eine gleiche Erfahrung gemacht, auch für mich bedeuten diese Monate eine Zeit, in der jene Grundlehren sich als festgewurzelt bewährten: man kann mit ihnen sterben; das ist mehr als wenn man von ihnen sagen wollte: man kann mit ihnen leben. Ich war nämlich doch nicht in so unbedingter Sicherheit und Entrücktheit von den Gefahren dieses Krieges. Ich hatte bei meinen Behörden sofort den Antrag8 gestellt, mir Urlaub zu geben, um als Soldat meine deutsche Pflicht zu thun. Man gab mir Urlaub, aber verpflichtete mich auf Grund der schweizerischen Neutralität, keine Waffen zu tragen (Ich habe seit 69 kein preußisches Heimatsrecht mehr) Sofort reiste ich nun mit einem vortrefflichen Freunde ab, um freiwillige Krankenpflegerdienste zu thun. Dieser Freund mit dem ich durch 7 Wochen alles gemeinsam gehabt habe, ist der Maler Mosengel9 aus Hamburg, mit dem ich Dich in Friedenszeiten bekannt machen muß. Ohne seinen gemüthvollen Beistand hätte ich schwerlich die Ereignisse der nun kommenden Zeit überstanden. In Erlangen ließ ich mich von dortigen Universitätscollegen medizinisch und chirurgisch ausbilden; wir hatten dort 200 Verwundete. Nach wenigen Tagen wurden mir 2 Preußen und 2 Turko's zur speziellen Behandlung übertragen. Zwei von diesen bekamen bald die Wunddiphtheritis und ich hatte viel zu pinseln. Nach 14 Tagen wurden wir beide, Mosengel und ich, von einem dortigen Hülfsvereine ausgeschickt. Wir hatten eine Menge Privataufträge, auch erhebliche Geldsummen zur Besorgung an 80 früher ausgesandte Felddiakonen. Unser Plan war, in Pont à Mousson mit meinem Collegen Ziemsen zusammenzutreffen und uns dessen Zug von 15 jungen Männern anzuschließen. Das ist nun freilich nicht in Erfüllung gegangen. Die Erledigung unsrer Aufträge war sehr schwer, wir mußten, da wir gar keine Adressen hatten, persönlich in anstrengenden Märschen nach sehr unbestimmten Andeutungen hin die Lazarethe bei Weißenburg, auf dem Wörther Schlachtfelde, in Hagenau, Luneville Nanzig bis Metz durchsuchen. In Ars sur Moselle wurden uns Verwundete zur Verpflegung übergeben. Mit diesen sind wir, da sie nach Carlsruhe transportirt wurden, wieder zurückgekehrt. Ich hatte 6 Schwerverwundete 3 Tag und 3 Nächte lang ganz allein zu verpflegen, Mosengel 5; es war schlechtes Wetter, unsre Güterwagen mußten fast geschlossen werden, damit die armen Kranken nicht durchnäßt würden. Der Dunstkreis solcher Wagen war fürchterlich; dazu hatten meine Leute die Ruhr, zwei die Diphtheritis, kurz ich hatte unglaublich zu thun und verband Vormittag 3 Stunden und Abends ebenso lange. Dazu Nachts nie Ruhe, bei den menschlichen Bedürfnissen der Leidenden. Als ich meine Kranke Ach, mein lieber Freund, welche Segenswünsche soll ich Dir zurufen! Wir wissen beide, was wir vom Leben zu halten haben. Aber wir müssen leben, nicht für uns. Also lebe, lebeliebster Freund! und Lebe wohl! Ich kenne Deine heldenmüthige Natur. Ach daß Du mir erhalten bliebest! Treulich Friedrich Nietzsche Heute habe ich nicht mehr zum Schreiben Zeit, da meine Abreise bevorsteht. Von Basel aus erfährst Du mehr von mir. Ich bin glücklich, endlich Deine Adresse zu haben. Meine Angehörigen begleiten Dich mit ihren besten Wünschen. 1. Several of their classmates from Schulpforta were killed in the war.
Basel, 7. November 1870 [und kurz davor]: Mein lieber Freund, hoffentlich erreicht Dich auch dieser Brief bei gutem tapferen Befinden und leidlicher Stimmung. Woher diese zwar kommen soll, ist mir fast unbegreiflich — es sei denn, daß man wisse, was das Dasein ist und zu bedeuten hat. Wenn sich einmal wie jetzt die schrecklichen Untergründe des Seins aufschließen, der ganze unendliche Reichthum des Wehes sich ausschüttet, dann haben wir das Recht, als die Wissenden mitten hindurchzuschreiten. Dies giebt eine muthig resignirte Stimmung, man hält's damit aus und wird nicht zur Salzsäule. Ich habe mich mit wahrer Begierde in die Wissenschaften gestürzt; jetzt hat nun auch wieder die regelmäßige Berufsthätigkeit begonnen. Ich wünschte nur gesünder zu sein. Aber mein Organismus hat unter dem Anstürme der Ruhr1 sehr gelitten und noch lange nicht ersetzt, was ihm genommen wurde. Man hat mich hier in Basel mit großer Freundlichkeit wieder bewillkommt. Auch von Tribschen habe ich gute Nachrichten. Wagner und Frau sagen Dir die besten Grüße und Wünsche. (Du weißt doch daß im August die Hochzeit2 stattgefunden hat? Ich war als Zeuge eingeladen, konnte aber nicht erscheinen, weil ich gerade damals in Frankreich war) W[agner] hat mir vor ein paar Tagen ein wundervolles Manuscript zugeschickt "Beethoven" betitelt. Hier haben wir eine überaus tiefe Philosophie der Musik im strengen Anschluß an Schopenhauer. Diese Abhandlung erscheint zu Ehren Beethovens — als die höchste Ehre, die ihm die Nation erweisen kann. — Mein Brief ist einige Tage zu meinem Leidwesen liegen geblieben. Das neue Semester begann wie gewöhnlich mit einem kräftigen Anstürme, so daß einem Hören und Sehen verging. Ich lese dieses Semester zwei neue Collegien, griechische Metrik und Rhythmik (nach einem eignen System) und Hesiod. Sodann die Seminarübungen. Dann die griechischen Stunden am Pädagogium, in denen ich die Oresteia des Aeschylos vornehme. Dazu kommen Regenz- Fakultäts- und Bibliothekssitzungen, nebst manchen Einladungen geselliger Art. Gestern Abend hatte ich einen Genuß, den ich Dir vor allem gegönnt hätte. Jacob Burckhardt hielt eine freie Rede über "historische Größe," und zwar völlig aus unserm Denk- und Gefühlskreise heraus. Dieser ältere, höchst eigenartige Mann ist zwar nicht zu Verfälschungen, aber wohl zu Verschweigungen der Wahrheit geneigt, aber in vertrauten Spaziergängen nennt er Schopenhauer "unseren Philosophen." Ich höre bei ihm ein wöchentlich einstündiges Colleg über das Studium der Geschichte und glaube der Einzige seiner 60 Zuhörer zu sein, der die tiefen Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift, begreift. Zum ersten Male habe ich ein Vergnügen an einer Vorlesung, dafür ist sie auch derart, daß ich sie, wenn ich älter wäre, halten könnte. In seiner heutigen Vorlesung nahm er Hegels Philosophie der Geschichte vor, in einer des Jubiläums durchaus würdigen Weise. In diesem Sommer habe ich einen Aufsatz geschrieben "über die dionysische Weltanschauung," der das griechische Alterthum von einer Seite betrachtet, wo wir ihm, Dank unserm Philosophen, jetzt näher kommen können. Das sind aber Studien, die zunächst nur für mich berechnet sind. Ich wünsche nichts mehr, als daß mir die Zeit gelassen wird, ordentlich auszureifen und dann etwas aus dem Vollen produziren zu können. Vor dem bevorstehenden Culturzustande habe ich die größten Besorgnisse. Wenn wir nur nicht die ungeheuren nationalen Erfolge zu theuer in einer Region bezahlen müssen, wo ich wenigstens mich zu keinerlei Einbuße verstehen mag. Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht.3 Das Schulwesen will ich einmal später öffentlich bloßlegen, mit den religiösen Umtrieben, wie sie jetzt wieder von Berlin aus zu Gunsten der katholischen Kirchengewalt im Gange sind, mag's ein Anderer versuchen. — Es ist mitunter recht schwer, aber wir müssen Philosophen genug sein, um in dem allgemeinen Rausch besonnen zu bleiben — damit nicht der Dieb komme und uns stehle oder verringere, was für mich mit den größten militärischen Thaten, ja selbst mit allen nationalen Erhebungen nicht in Vergleichung kommen darf. Für die kommende Culturperiode sind die Kämpfer von Nöthen: für diese müssen wir uns erhalten. Lieber Freund, mit den größten Besorgnissen denke ich immer an Dich — möge Dich der Genius der Zukunft, in dem Sinne wie wir sie erhoffen, geleiten und schützen! Dein treuer Freund Fr. Nietzsche
Basel, 23. November 1870: Absolution! Mein lieber Freund! Solche Jahre kommen sobald nicht wieder vor, und somit soll es sobald nicht wieder vorkommen, daß ich so lange Zeit über mich wie ein Grab schweige. Einmal lebe ich noch — den Schlingen der Ruhr und der Diphtherie bin ich zwar nicht entgangen und sie haben mich sattsam ruinirt, aber im Ganzen bin ich jetzt wieder ein Mensch unter Menschen.1 Von meinen Kriegserlebnissen mag ich Dir nichts erzählen — warum hast Du sie nicht mitgemacht? Ich habe beiläufig nie eine Zeile von Deinen Briefen zu sehen bekommen, sie sind alle "im Felde" verschwunden! Ich hatte einen sehr wackern Reisegefährten, dem ich von Dir mancherlei erzählt habe, in dem Wunsche, daß er Dich kennen lernt. Suche dies doch zu ermöglichen, Du wirst Dich freuen. Er heißt Mosengel,2 ist Maler und wohnt Hamburg, Catharinenstr. 41. Es ist einer der besten Menschen, die mir vorgekommen sind und ein mir wohlthuender Landschaftenmaler. Er hat viel Verdienste um mich, zuletzt hat er mich noch in meiner Krankheit gepflegt. Jetzt bin ich wieder in voller Thätigkeit, und lese zwei Collegien, Hesiod und Metrik, sodann Academika im Seminar und Agamemnon im Pädagogium.3 Wie steht es denn mit Dir? Bist Du auch bereits im akademischen Joche? Wenn — nun dann Glückauf zur fröhlichen Jagd!4 Und zur Wanderung mit der Diogeneslaterne! Ich recapituliere kurz, daß mir manches Freudige widerfahren ist. Erstens giebt es von Wagner einen großen Aufsatz über Beethoven, der eine Philosophie in Schopenhauers Geist und Wagners Kraft enthält. Er wird bald gedruckt sein.5 Frau Wagner fragte bei mir brieflich an, ob Du auch mit im Felde seist und wie es Dir gienge. — Zweite Freude: Jakob Burckhardt liest jetzt allwöchentlich über das Studium der Geschichte, in Schopenhauers Geist — ein schöner aber seltner Refrain! Ich höre ihn.6 Dritte Freude: an meinem Geburtstag hatte ich den besten philologischen Einfall, den ich bis jetzt gehabt habe — nun, das klingt freilich nicht stolz, soll's auch nicht sein! Jetzt arbeite ich an ihm herum. Wenn Du mir es glauben willst, so kann ich Dir erzählen, daß es eine neue Metrik7 giebt, die ich entdeckt habe, der gegenüber die ganze neuere Entwicklung der Metrik von G.Hermann8 bis Westphal9 oder Schmidt10 eine Verirrung ist. Lache oder höhne, wie Du willst — mir selber ist die Sache sehr erstaunlich. Es giebt sehr viel zu arbeiten, aber ich schlucke Staub mit Lust,11 weil ich diesmal die schönste Zuversicht habe und dem Grundgedanken eine immer größere Tiefe geben kann. — Im Sommer habe ich einen größeren Aufsatz für mich geschrieben "über dionysische Weltanschauung,"12 um mich bei dem einbrechenden Ungewitter13 zu beruhigen. Jetzt weißt Du, wie es mir geht. Nimm noch dazu, daß ich die größte Besorgniß vor der herankommenden Zukunft habe (in der ich ein verkapptes Mittelalter zu erkennen wähne14), auch daß meine Gesundheit schlecht ist — außer wenn ich Briefe von Freunden oder so schöne Abhandlungen bekomme, wie die Deinige aus dem rhein. Mus.15 Es fällt mir ein, daß Vischer16 sich höchst interessirt und Dir sehr dankbar darüber aussprach. Auch hast Du ja Dich um meinen 17 so verdient gemacht, habe herzlichen Dank dafür. Ritschl18 behauptet, Du seist kein Correktor, ich habe mir nie angemaßt, mich dafür zu halten. So sind wir wenigstens in gleicher Verdammniß. — Sieh doch zu daß Du aus dem fatalen kulturwidrigen Preußen herauskommst! wo die Knechte und die Pfaffen wie Pilze hervorschießen und bald mit ihrem Dunst uns ganz Deutschland verfinstern werden.19 — Nicht wahr, wir verstehen uns? Nicht? Und Du nimmst mir nichts krumm? Es wäre weiß Gott Schade. Adieu theurer Freund Meinen festlichen Geburtstagsgruß20 noch zu vermelden, ich wünsche Gesundheit, eine Professur und si placet — eine Frau. 1. Nietzsche had contracted dysentery and diphtheria during his service as a medical orderly in the Franco-Prussian War.
Basel, 15. Dezember 1870: Mein lieber Freund, keine Minute ist seit dem Lesen Deines Briefes1 verflossen, und schon schreibe ich. Ich wollte Dir nämlich nur sagen, daß ich ganz gleich fühle wie Du und es für eine Schmach halte, wenn wir nicht einmal aus diesem sehnsüchtigen Schmachten durch eine kräftige That herauskommen. Nun höre, was ich in meinem Gemüthe mit mir herum wälze. Schleppen wir uns noch ein Paar Jahre durch diese Universitätsexistenz, nehmen wir sie wie ein lehrreiches Leidwesen, das man ernsthaft und mit Erstaunen zu tragen hat. Es soll dies unter anderem eine Lernzeit für das Lehren sein, auf das mich auszubilden mir als meine Aufgabe gilt. Nur habe ich mir das Ziel etwas höher gesteckt. Auf die Dauer nämlich sehe auch ich ein, was es mit der Schopenhauerischen Lehre von der Universitätsweisheit2 auf sich hat. Es ist ein ganz radikales Wahrheitswesen hier nicht möglich. Insbesondre wird etwas wahrhaft Umwälzendes von hier aus nicht seinen Ausgang nehmen können. Sodann können wir nur dadurch zu wirklichen Lehrern werden, daß wir uns selbst mit allen Hebeln aus dieser Zeitluft herausheben und daß wir nicht nur weisere, sondern vor allembessere Menschen sind. Auch hier spüre ich vor allem das Bedürfniß, wahr sein zu müssen. Und wiederum ertrage ich deshalb die Luft der Akademien nicht mehr zu lange. Also wir werfen einmal dieses Joch ab, das steht für mich ganz fest. Und dann bilden wir eine neue griechische Akademie, Romundt3 gehört gewiß zu uns. Du kennst wohl auch aus Deinem Besuche in Tribschen4 den Baireuther Plan Wagners.5 Ich habe mir ganz im Stillen überlegt, ob nicht hiermit zugleich unsererseits ein Bruch mit der bisherigen Philologie und ihrer Bildungsperspektive geschehen sollte. Ich bereite eine große adhortatio an alle noch nicht völlig erstickten und in der Jetztzeit verschlungenen Naturen vor. Wie kläglich ist es doch, daß ich Dir darüber schreiben muß, und daß nicht jeder Einzelgedanke mit Dir bereits längst durchsprochen ist! Und weil Du diesen ganzen vorhandenen Apparat nicht kennst, wird Dir vielleicht gar mein Plan wie eine excentrische Laune erscheinen. Das ist er nicht, er ist eine Noth. Ein eben erschienenes Buch6 von Wagner über Beethoven wird Dir Vieles andeuten können, was ich jetzt von der Zukunft will. Lies es, es ist eine Offenbarung des Geistes, in dem wir — wir! — in der Zukunft leben werden. Sei es nun auch, daß wir wenig Gesinnungsgenossen bekommen, so glaube ich doch, daß wir uns selbst so ziemlich — freilich mit einigen Einbußen — aus diesem Strome herausreißen können und daß wir eine kleine Insel erreichen werden, auf der wir uns nicht mehr Wachs in die Ohren zu stopfen brauchen. Wir sind dann unsere gegenseitigen Lehrer, unsre Bücher sind nur noch Angelhaken, um jemand wieder für unsre klösterlich-künstlerische Genossenschaft zu gewinnen. Wir leben, arbeiten, genießen für einander — vielleicht daß dies die einzige Art ist, wie wir für das Ganze arbeiten sollen. Um Dir zu zeigen, wie ernsthaft ich das meine, so habe ich bereits angefangen, meine Bedürfnisse einzuschränken, um einen kleinen Rest von Vermögen mir noch zu bewahren. Auch wollen wir in Lotterien unser "Glück" versuchen, wenn wir Bücher schreiben, so verlange ich für die nächste Zeit die höchsten Honorare. Kurz jedes nicht unerlaubte Mittel wird benutzt, um uns äußerlich in die Möglichkeit zu versetzen, unser Kloster zu gründen. — Wir haben also auch für die nächsten Paar Jahre unsre Aufgabe. Möge Dir dieser Plan vor allem würdig erscheinen, überdacht zu werden! Daß es vor allem Zeit sei, ihn Dir vorzulegen, dafür giebt mir Dein eben empfangener, wirklich ergreifender Brief Zeugniß. Sollten wir nicht im Stande sein, eine neue Form der Akademie in die Welt zu setzen
wie Faust von der Helena sagt.7 Von diesem Vorhaben weiß Niemand etwas, und von Dir soll es nun abhängen, ob wir jetzt auch Romundteine vorbereitende Mittheilung machen. Unsre Philosophenschule ist doch gewiß keine historische Reminiscenz oder eine willkürliche Laune — treibt uns nicht eine Noth auf diese Bahn hin? — Es scheint daß unser Studentenplan,8 unsre gemeinsame Reise, in einer neuen, symbolisch größeren Form wiederkehrt. Ich will nicht der sein, der Dich wiederum, wie damals, im Stiche läßt; es wurmt mich immer noch. Mit den besten Hoffnungen Dein Vom 23 Dez. bis 1 Januar bin ich in Tribschen bei Luzern. — Von Romundt weiß ich nichts. 1. Cf. Kiel, 12-11-1870: Letter from Erwin Rohde to Nietzsche in Basel. Excerpt: "In solchen Professorengesellschaften, deren ich denn ein Dutzend mit abgedient habe, herrscht doch wahrlich ein gar zu traurig gewöhnlicher Ton: Politik, Klatsch, Bücherbekritteln; man glaubt gar nicht, wie gewöhnlich es da zugeht, bis man es gähnend erlebt hat. Und wie die zwingende Gewalt des Geselligkeitstriebes das Menschenthier doch immer von Neuem zu dieser Zeitvergeudung treibt! Im Grunde erstaune ich noch fortwährend über dieses gelehrten Philisterthums gespreizte Nichtigkeit." (In the company of such professors, a dozen with whom I have served, the tone is really too sadly ordinary: politics, gossip, criticizing books; you cannot even believe how typical it is until you experience it, yawning. And how the compelling power of the drive to socialize constantly compels the human animal to this waste of time! In fact, I am always astonished at the puffed up vanity of this scholarly philistinism.)
Tribschen, 30. Dezember 1870: Verehrtester Herr Geheimrath, auch ich wünsche Ihnen zum Jahreswechsel auszudrücken, daß ich Sie immer in dankbarster Erinnerung halte und über nichts mehr erfreut sein kann, als wenn ich von Ihrem rüstigen Wohlbefinden und Ihrem Wohlwollen gegen mich höre. Möge uns allen das neue Jahr eine leidliche und erträgliche Antwort auf die vielen Fragezeichen geben, zu denen uns die Gegenwart zwingt, möge vor allem die staatliche Machtentfaltung Deutschlands nicht mit zu erheblichen Opfern der Kultur erkauft werden!1 Einiges werden wir jedenfalls einbüßen und hoffentliche auch dies nur in Hoffnung auf eine spätere reichliche und vielfältige Wiedererstattung Um Ihnen etwas von meinen Studien zu berichten — so bin auch ich recht ordentlich in die Netze der Rhythmik und Metrik gerathen,2 bekenne Ihnen übrigens meine Überzeugung, daß je mehr wir von der modernen Musik zum Verständniß der Metrik hinzugewonnen haben, wir um so weiter uns auch von der wirklichen Metrik des Alterthums entfernt haben; wenn ich auch glaube daß dieser ganze Prozeß von G. Hermann3 bis H. Schmidt4 einmal durchgemacht werden mußte. Mit Westphal5 bin ich fast in allen wesentlichen Punkten nicht mehr einverstanden. Sehr freue ich mich darauf, in dem angekündigten Buche von Brambach6 auch Ihre Lehren (so viel ich weiß, in der Vorrede)7 vorzufinden; wenn Brambach selbst noch im Sinne seiner "Sophokleischen Studien"8 dies neue Buch verfaßt hat, so fürchte ich auch ihn auf einem Irrpfade anzutreffen. Hier thut einmal ein völliger Radikalismus noth, eine wirkliche Rückkehr zum Alterthum, selbst auf die Gefahr hin, daß man in wichtigen Punkten den Alten nicht mehr nachfühlen könnte und daß man dies gestehn müßte. — Von der Berufung des Prof. Lange9 nach Leipzig habe ich in diesen Tagen gelesen. Ich habe mir den Mechanismus dieser Berufung nicht klar machen können, weil ich seit dem Oktober nichts mehr von Leipzig gehört habe. Jedenfalls spüre ich, daß Bursian10 nicht durchgebracht worden ist: vielleicht ist Lange das Resultat eines Compromisses. — Mit meinen Baseler Verhältnissen bin ich zufrieden. Jetzt wird ein philosophischer Lehrstuhl frei, da Teichmüller nach Dorpat berufen ist.11 Ich lese jetzt Hesiod und Metrik, im Seminar Cicero's Academica. Wir haben 12 Zuhörer.12 Der alte Gerlach13 ist von unverwüstlicher Natur und — jedenfalls für das Pädagogium ein sehr guter Lehrer. Was mir hier fehlt, ist eins: Zeit. Ich komme zum Schluß und wiederhole meine Wünsche für Ihr Wohlergehen. Zugleich bitte ich Ihrer Frau Gemahlin14 meine herzliche Gratulation aussprechen zu dürfen. In steter Treue und Dankbarkeit 1. An allusion to the rise of Prussian power as a danger to culture. Cf. 11-07-1870 letter to Carl von Gersdorff; 11-23-1870 letter to Erwin Rohde. |
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