|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||
![]() |
||||||||||||||||||||||||||||||||||||
COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited.
Minden, 8. und 29. Januar 1870: Liebster Freund, Es treibt mich, Dir heute schon zu schreiben, wenn ich auch noch nicht vermag, für Dein mir überaus werthvolles Geburtstagsgeschenk,2 durch inniges Eingehn auf Gedanken, die es in so hohem Grade verdienen, den würdigsten und allein angemessenen Dank auszudrücken. Für jetzt nimm die aufrichtige Versicherung an, daß mir Dein Werk, das ich erst einmal durchgelesen habe, erstlich ein köstliches Bild Deines ganzen Wesens, gleichsam ein großer Brief ist, zweitens aber, daß es mir, (wenn mir auch der jedenfalls eine nähere Ausführung gebietende Homergedanke3 doch sehr gewagt erscheint, indem es doch dieselben Dichterkräfte sind, welche das Allervollkommenste und das sehr Unvollkommene geleistet hätten, und schwer abzusehn ist, wie, zumal bei mündlicher, also sehr beweglicher Überlieferung, die Consequenz, die beim Componiren des Einzelnen so sehr geübt worden war, hinterher bei der "Auffädelung"4 so vielfach vernachlässigt worden wäre - - sed5 - - -) daß mir, sage ich, Dein Werk durch die Neuheit und den Reichthum von Gedanken der schönsten Art höchst bedeutend vorkommt, wie es denn hoffentlich seinen Eindruck auf die Zeitgenossen nicht verfehlen wird. Doch ich verlasse einen Boden, auf dem es mir, für jetzt wenigstens, besser ansteht zu hören, als zu reden. Fasse ich einmal alles zusammen, was Du mir gewesen bist und noch bist, so habe ich wohl Ursache, dem Schicksal zu danken, daß es mir so einen in den Weg geführt hat, indem ohne Dich meine geistige Existenz vielleicht eine ganz andere Bahn eingeschlagen hätte. Hiebei habe ich nun besonders dreierlei Dinge im Auge, die für mich Wendepunkt geworden sind: erstlich unsern persönlichen Verkehr in Pforta und Bonn,6 der mein empfängliches Gemüth mit Plänen und Zielen erfüllt hat, die eigentlich meiner plebejischen Natur unangemessen waren, aber so sehr in sie eindrangen und mit ihr verwuchsen, daß sie wohl nicht mehr abtrennbar sind; was aber noch daraus wird, das weiß ich nicht: denn jetzt bin ich etwas Hohes (s. v. v.)7 halb, während ich etwas Geringes ganz sein könnte; immerhin mag diese Oculation eine spätere Entwicklung der veredelten Pflanze entschuldigen. — "Welches das Erste war."8 — Zweitens hast Du mich kräftig aufgerüttelt, als ich einst, in Tübingen9 — von einem Kohlengas übelster Art betäubt im Begriff war, aus dem eigentlich intellectuellen Leben einschlummernd vielleicht für immer zu scheiden. — Als Drittes aber und Höchstes muß ich verzeichnen, daß Du mir das allein seligmachende Evangelium, den Messias der kommenden Jahrhunderte, — Schopenhauer den Auferstandenen gepredigt hast. Die Monate, die ich nun schon fast allein in ihm, mit ihm zugebracht habe, die haben mir das Seligste gegeben, was mir noch hier auf Erden, in diesem Aeon, zu Theil geworden ist. Es stünde mir schlecht an, zu beurteilen oder auch nur zu loben was all meinem Lobe erreichbar ist. Für mich wird es lange noch kein anderes Gefühl für diesen Mann geben, als Hingebung, Bewunderung und hohe Freude darüber, daß mir eine Natur vergönnt ist zu der solche Werke wirklich reden. Denn die von Kant angebahnte, von Schopenhauer aber erst, so weit sie vollziehbar ist, vollzogene Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an sich ist meines Erachtens die größte Leistung, welche dieses wunderliche Geschlecht der Menschen aufzuweisen hat; und die Widersprüche, in die sich Jahrtausende lang unser Denken unausbleiblich verwickeln mußte, verschwinden allzumal und so von selbst wie das Dunkel wenn der Tag kommt; das Gefühl, daß wir frei und unvergänglich sind kommt gegenüber der augenfälligen Nothwendigkeit unserer Handlungen und Hinfälligkeit unseres Daseins hier zu[m] ersten Male ohne Sophismen zu seinem Rechte; und auch der drückende Alp der immateriellen Substanzen ist beim Leuchten dieses neuen Tages verschwunden, wir brauchen keine Begriffe mehr anzuwenden, bei denen sich nichts denken läßt. Und nun vollends die ethische Seite des Systems, die mich früher als irreligiös abstieß, möchte ich jetzt die Religion κατ' έξοχήν10 (Sie verhält sich zu den verschiedenen Religionen wie die Idee zur Erscheinung, das Drama zum Leben) nennen, wobei man freilich auf den schmeichelnden Wahn verzichten muß, als wäre das Edelste und Höchste just das, was man selber ist oder zu sein sich einbildet. Überhaupt fängt bei diesem Lichte auch die Selbsterkenntniß an sich zu regen, was wohl damit zusammenhängen mag, daß der fast von der Muttermilch an mit Begriffen Aufgezogene hier zum ersten Mal inne wird, wo die wirkliche Welt liegt. Doch ich rede schon zu viel über eine Sache an der ich allein und wohl noch Jahre lang zu lernen habe. Denn, liest man es, so ist es sonnenklar; will man es aber leben, so fühlt man, wie viel noch zu verstehen bleibt. Nur noch ein Wort auf Deinen vorigen Brief.11 Wohl wäre Philosophie άνάμνησις,12 könnte man nur trennen, was dem Charakter und was den Motiven gehörte; dies aber ist überaus schwer, vielleicht unmöglich. Überhaupt ist die Lehre von der empirischen Nothwendigkeit unsrer Handlungen, ebenso gewiß wie sie wahr ist , ebenso gewiß sehr gefährlich: nämlich wenn sie praktisch, also selbst Motiv wird, so kann sie alle andern Motive so überwältigen, daß wir Schutz und Trutz vergessend dem Verderben oder der Erschlaffung anheimfallen. Hierin liegt das Teleologische der angeborenen Täuschung, als wäre unser Handeln frei, und wir müssen es für das Praktische immer festhalten. Überhaupt ist Philosophie ihrem Wesen nach, wie mir scheint, für die Praxis unbrauchbar. Daher auch — abgesehn von der ethischen Seite, und vielleicht auch dieses nicht einmal, Schopenhauer im Volke wohl nie eigentlich Boden gewinnen wird. Den 29 Januar: Nur um Dir den guten Willen zu zeigen, liebster Freund, traue ich mich, diesen veralteten Brief, dem andere an Dich, die ich auch zurückgehalten habe, vorhergiengen, jetzt noch abzusenden. Denn seitdem ist ein so bewegtes Stück Leben vorbeigerauscht, daß mich meine eignen Gedanken fremd ansehn. An dieser Bewegtheit ist nun zwar vorwiegend nicht der objektive Factor, sondern der subjektive Schuld: denn wie sollte man nicht, wenn man den Werth der Sache kennt, sich mit Begierde in das wirkliche Leben stürzen und alle Eindrücke von Außen und von Innen frei schalten und sich durcharbeiten lassen? — Indessen ist auch das zugeknöpfte Alltagsleben unserer Philisterstadt seit einigen Wochen durchbrochen durch eine ganz erträgliche Schauspielergesellschaft, die das neue und schöne Theater hier einweihen; und ich habe mich mit großer Lust in diese Kreise, die bei Tische und sonst im Wirthshause mir sehr zugänglich sind, gestürzt — nicht ohne die mannichfaltigste Anregung: — kommt dies Dir ärmlich vor, so kannst Du die Atmosphäre in der man hier gewöhnlich athmet daraus taxiren, daß ich Dir sage: sie sind an geistiger Beweglichkeit mit diesen Schauspielern und Schauspielerinnen nicht von ferne zu vergleichen. Unterdessen senkt sich die Lehre des großen Schopenhauer unbewußt, beim Studium der Wirklichkeit immer tiefer in das Innere, und ich muß es ruhig abwarten, was endlich die baare Ausbeute ihrer verborgenen Arbeit sein wird. Von der Verehrung des Begriffes sind wir geheilt: die Gesichtspunkte für die Auffaßung der Welt bewähren sich immer mehr; von religiösen und philosophischen Aberglauben ist man reingewaschen — ob man aber zu dieser Welt ja oder nein sagen will, den Streit macht kein Buch aus: Leid und Lust an uns selbst und an andern aufgefaßt und durchempfunden, das sind am Ende die Mächte die hier den Ausschlag geben. Also Du erwartest meine Verlobungsanzeige!?! War das Ironie? — Oder — "kleiner Schäker" — führst Du selbst so etwas im Schilde? Als ich es las hatte ich mir vorgenommen, Dir eine tüchtige Strafpredigt aus Schopenhauer zu excerpiren; — aber ach! zu Hause in den Weihnachtsferien habe ich ein Gebilde gefunden, welches mich einigermaßen in die Lage der Jungfrau von Orleans bringt (Act IV, 1.)[.]13 Jedenfalls muß ich eins bekennen, daß es ganz andere Motive, als philosophische, sind, die hier den noch vorbehaltenen Ausschlag zum Ja oder (wahrscheinlicher) Nein geben. — Das Handwerk (die Schule) fleckt immer besser; werde wohl hier bleiben. Ich bin sehr in Deiner Schuld, und wenn Du daher nicht schnell antwortest, welches ich zu verlangen mich so schäme, so werde ich Dir wohl noch ein Paar Briefe auf den Hals schicken. דל םןלש ! 1. Nietzsche wrote marginal annotations in the letter before sending it to Cosima von Bulow. Basel, Ende Januar 1870: Liebe Lisbeth, besten Dank für Brief und Nachrichten.1 Inzwischen wirst Du von mir ein Lebenszeichen bekommen haben. Heute lege ich einen Brief der guten Grimmenstein2 bei, der Euch vielleicht noch mehr erfreut als mich. Die Hauptsache aber ist eine Besprechung wegen des 2ten Febr.3 Weißt Du, ich kaufe solche Dinge wie Albums so erschrecklich viel theurer als Du z. B. Dazu käme noch der Transport, so daß ich überzeugt bin, für halb so Gutes doppelt so viel zu bezahlen. Übernimm Du also diesen Einkauf, und kaufe nicht unter 4-5 Thaler. Es ist ein Zeichen der Wohlanständigkeit des Hauses, ein ordentliches Album zu haben, jetzt wo jedes Dienstmädchen eins besitzt. Geld von meinen Zinsen4 wirst Du ja wohl noch haben. Dann lege noch einige kleinere Sachen hinzu, nach Deinem Geschmack und unserer Mutter Wohlgefallen. Mein Brief an sie soll am ersten d. Febr. eintreffen. — Nun wirst Du ja auch "praktisch" wissen, was Sachets von Guerlain sind.5 — Viel Glück zu den "philosophischen" Ballvergnügungen6 — wär' nicht meine Passion! brrrr — r! — Neulich habe ich einen öffentlichen Vortrag7 gehalten: am 2ten Febr. kommt der zweite.8 — Ich freue mich auf Ostern,9 nur daß wir eine ganz verrückte Ferienordnung haben! Es muß Rath geschafft werden! — Es giebt viele Arbeit. Ich gehe damit um, mir einen Hund — dänische Dogge — anzuschaffen.10 brr — — — — r! usw. Also es bleibt bei der 1. Elisabeth's last-known letter was Naumburg, 12-24-1869: Letter to Nietzsche in Tribschen. Basel, Ende Januar und 15. Februar 1870: Mein lieber Freund, neulich überkam mich die Sorge, wie es Dir wohl in Rom ergehen möge, und wie abseits von der Welt und wie verlassen Du vielleicht dort lebst. Es wäre ja selbst möglich, dass Du krank wärest, ohne rechte Pflege und ohne freundschaftliche Unterstützung. Beruhige mich und nimm mir meine pessimistischen Grillen. Mir kommt das Rom des Concils1 so unheimlich giftig vor — nein ich will nicht mehr schreiben, denn das Briefgeheimniss ist für alle kirchlich-jesuitischen Dinge mir nicht sicher genug: man möchte wittern, was im Briefe stünde und Dir's entgelten lassen. — Du studirst das Alterthum und lebst das Mittelalter. — Nun will ich eins Dir recht eindringlich sagen. Denke daran, auf Deiner Rückreise einige Zeit bei mir zu wohnen: weisst Du, es möchte vielleicht für lange Zeit das letzte Mal sein. Ich vermisse Dich ganz unglaublich: mache mir also das Labsal Deiner Gegenwart und sorge dafür dass sie nicht so kurz ist. Das ist mir nämlich doch eine neue Empfindung, auch so gar niemanden an Ort und Stelle zu haben, dem man das Beste und Schwerste des Lebens sagen könnte. Dazu nicht einmal einen wirklich sympathischen Berufsgenossen. Meine Freundschaft bekommt unter so einsiedlerischen Umständen, so jungen und schweren Jahren, wirklich etwas Pathologisches: ich bitte Dich wie ein Kranker bittet: "komm nach Basel!" Mein wahres und nicht genug zu preisendes Refugium bleibt hier für mich Tribschen22 bei Luzern: nur dass es doch nur selten aufzusuchen ist. Die Weihnachtsferien habe ich dort verlebt: schönste und erhebendste Erinnerung! Es ist durchaus nöthig dass Du auch in diese Magie eingeweiht wirst. Bist Du erst mein Gast, so reisen wir auch zusammen zu Freund Wagner. Kannst Du mir nichts über Franz Liszt schreiben?3 Wenn Du vielleicht Deine Rückreise über den Laco di Como machen könntest, so wäre eine schöne Gelegenheit, uns allen eine Freude zu machen. Wir d.h. wir Tribschener haben ein Auge auf eine Villa am See, bei Fiume latte, Namens: "Villa Capuana," zwei Häuser. Kannst Du diese Villa nicht einer Musterung und Kritik unterwerfen?
Von Wackernagels4 Tod hast Du wohl gelesen. Es ist im Plane, dass Scherer5 in Wien ihn ersetzen soll. Auch ein neuer Theologe ist im Anzüge, Overbeck aus Jena.6 Romundt7 ist Erzieher bei Prof Czermak8 und wohl situirt, Dank Ritschl.9 Röscher,10 der mir über seine wärmste Verehrung für Dich geschrieben hat, ist als "bedeutender" Pädagog in Bautzen. Bücheler11 soll nach Bonn gerufen sein. Das rhein[isches] Museum hat jetzt lateinische Lettern.12 Ich habe einen Vortrag13 vor gemischtem Publikum gehalten über "das antike Musikdrama" und halte am 1 Februar einen zweiten über "Socrates und die Tragödie."14 Ich gewinne immer mehr Liebe für das Hellenenthum: man hat kein besseres Mittel sich ihm zu nähern als durch unermüdliche Fortbildung seines eigenen Persönchens. Der Grad, den ich jetzt erreicht habe, ist das allerbeschämendste Eingeständniss meiner Unwissenheit. Die Philologenexistenz in irgend einer kritischen Bestrebung, aber 1000 Meilen abseits vom Griechenthum wird mir immer unmöglicher. Auch zweifle ich, ob ich noch je ein rechter Philologe werden könne: wenn ich es nicht nebenbei, so zufällig erreiche, dann geht es nicht. Das Malheur nämlich ist: ich habe kein Muster und bin in der Gefahr des Narren auf eigne Hand. Mein nächster Plan ist, vier Jahre Culturarbeit an mir, dann eine jahrelange Reise — mit Dir vielleicht. Wir haben wirklich ein recht schweres Leben, die holde Unwissenheit an der Hand von Lehrern und Traditionen war so glücklich-sicher. Übrigens bist Du klug, wenn Du nicht so eine kleine Universität als Wohnsitz wählst. Man vereinsamt selbst in seiner Wissenschaft. Was gäbe ich darum, wenn wir zusammen leben könnten! Ich verlerne ganz zu sprechen. Das Lästigste aber ist mir, daß ich immer repräsentieren muss, den Lehrer, den Philologen, den Menschen und dass ich mich allen, mit denen ich umgehe, erst beweisen muss. Das aber kann ich so sehr schlecht und verlerne es immer mehr. Ich verstumme oder sage bereits absichtlich nur soviel, wieviel man als höflicher Weltmensch zu sagen pflegt. Kurz ich bin mit mir mehr unzufrieden als mit der Welt und deshalb um so zugethaner dem theuersten. Mitte Februar. Ich habe jetzt die stärkste Besorgniss, dass mich Deine Briefe und Dich die meinigen nicht erreichen: seit November habe ich nichts gehört. Meine verehrte Freundin Cosima rieth mir, durch ihren Vater (Franz Liszt) mir Auskunft über Dich zu verschaffen. Dies werde ich auch nächstens thun, heute probiere ich es nochmals mit einem Brief. — Über das Concil sind wir gut durch die "römischen" Briefe in der Augsburger unterrichtet: Kennst Du den Verfasser?15 Lass es Dir dann ja nicht merken: es wird schrecklich auf ihn gefahndet. — Ich habe hier einen Vortrag über Socrates und die Tragödie gehalten,16 der Schrecken und Missverständnisse erregt hat. Dagegen hat sich durch ihn das Band mit meinen Tribschener Freunden noch enger geknüpft. Ich werde noch zur wandelnden Hoffnung: auch Richard Wagner hat mir in der rührendsten Weise zu erkennen gegeben, welche Bestimmung er mir vorgezeichnet sieht.17 Dies ist alles sehr beängstigend. Du weisst wohl, wie sich Ritschl über mich geäussert hat.18 Doch will ich mich nicht anfechten lassen: litterarischen Ehrgeiz habe ich eigentlich gar nicht, an eine herrschende Schablone mich anzuschliessen brauche ich nicht, weil ich keine glänzenden und berühmten Stellungen erstrebe. Dagegen will ich mich, wenn es Zeit ist, so ernst und freimüthig äussern, wie nur möglich. Wissenschaft Kunst und Philosophie wachsen jetzt so sehr in mir zusammen, dass ich jedenfalls einmal Centauren gebären werde. Mein alter Kamerad Deussen ist mit Leib und Seele zu Schopenhauer übergegangen, als der letzte und älteste meiner Freunde. Windisch19 ist auf ein Jahr nach England, im Dienste der East-Indien-Office, um Sanskrithdschr. zu vergleichen. Romundt hat einen Schopenhauer-verein ins Leben gerufen.20 — Soeben ist eine skandaleuse Schrift gegen Ritschl erschienen (gegen seine Plautuskritik und das auslautende D): von Bergk, zur Schmach des deutschen Gelehrtenthums.21 Nochmals schönsten und herzlichsten Gruss. Ich freue mich auf das Frühjahr, weil es Dich durch Basel führt: nur theile mir mit, wann das geschieht: in den Osterferien bin ich mit den Meinigen am Genfersee. Lebwohl! Lebwohl!
Basel, 1. Februar 1870: Hier, liebe Geburtstägerin und Mutter ein sehr schnell zu schreibender Geburtstagsbrief!1 Denn das Handwerk drängt, die Schule; noch mehr aber ein öffentlicher Vortrag,2 der heute Abend zu halten ist und mit dem ich noch sehr im Rückstande bin. Dies thut nun aber der Herzlichkeit meiner Wünsche keinen Eintrag: und morgen will ich, auf unsre altgewohnte Weise, den Tag selbst feiern, indem ich mir eine Hyacynthe kommen lasse — nicht wahr, so heißt doch Deine Geburtstagsblume? Ich bin mit der Botanik in der "Bredouille" (sächsisches Französisch)[.] Dann werde ich mir Pfannkuchen kommen lassen (auch habe ich einen Bäcker entdeckt, den einzigen in Basel, der Weihnachtsstollen zu backen versteht)[.] Und Mittags werde ich zwei Gläser auf den Tisch stellen und durch gegenseitiges Zusammenstoßen einen großen Geburtstagslärm machen. Dies meine projektirte Feierlichkeit, in Begleitung der allerschönsten Wünsche für Dein und Deiner Kinder Wohl. (1ter Kanonenschuß! Bum!) Zu erzählen habe ich wenig. Die Einladungen nach Weihnachten sind recht häufig und ich nehme sie mit Pflichtbewußtsein an, um hier meinen guten Willen kundzugeben[.] Sonntag haben wir bei Direktor Gerkrath3 Geburtstag gefeiert. Von Tribschen bekomme ich immer die rührendsten Aufmerksamkeiten: an allen Tagen, wo ich etwas Besonderes vor habe, ist auch gewiß ein Brief da:4 es sind die besten Menschen von der Welt. Windisch hat bestimmte Aussicht im Auftrag der East-Indien-Office (Verzeih dies jedenfalls scheußliche Englisch!) ein Jahr in London zuzubringen (mit c. 1600 Thaler) um Sanskrithandschr. zu catalogisiren.5 Deussen schrieb mir heute einen langen Brief:6 er hat sich vollständig zum Schopenhauer bekehrt und lobt meinen Homer-aufsatz7 überschwänglich, was Lisbeth mehr freuen wird als mich. Meine Zeit ist vorbei: lösen wir schnell noch zweimal als alter Artillerist8 das Geschütz Bum! Bum! rufen hurrah! und empfehlen uns glückwünschend[.] 1. Franziska Nietzsche's birthday was on February 2. For her birthday, Nietzsche dutifully wrote a letter to her every year from 1861-1887 (forgetting but later correcting his mistake in 1888).
Tribschen, 4. Februar 1870: Theuerster Herr Friedrich! Gestern Abend las ich der Freundin2 Ihre Abhandlung3 vor. Darnach hatte ich sie längere Zeit zu beruhigen: Sie waren ihr mit den ungeheuren Namen der grossen Athener in überraschender Weise modern umgegangen; ich selbst glaubte sie daran erinnern zu müssen, dass das Vorlesungs- und heutige elegante Buchschreibungs-Wesen den gebräuchlichen Ausdruck gelegentlich der Besprechung unsrer grossen antiken Muste herabgedrückt und auf ein Niveau mit der Weise der Abfertigung dezidirt moderner Erscheinungen gebracht habe. (Mommsen's — Cicero als Feuilletonist musste dabei auftauchen.)4 Das ward denn bald als aus einer Schwäche der Zeit fliessend begriffen und entschuldigt. Ich für mein Theil empfand zu meist einen Schreck über die Kühnheit, mit welcher Sie so kurz und kategorisch einem vermuthlich nicht eigentlich zur Bildung aufgelegten Publikum eine so neue Idee mittheilen, dass man zu Gunsten Ihrer Absolution nur auf das gänzliche Unverständniss derselben von jener Seite zu rechnen hat. Selbst in meine Ideen Eingeweihte dürften wieder erschrecken, wenn sie mit diesen Ideen in Conflict mit ihrem Glauben an Sophocles und selbst Aischylos geriethen. Ich — für meine Person — rufe Ihnen zwar zu: So ist es! Sie haben das Rechte getroffen, und den eigentlichen Punkt auf das Schärfste genau bezeichnet, so dass ich nicht anders als verwunderungsvoll Ihrer ferneren Entwickelung, zur Ueberzeugung des gemeinen dogmatischen Vorurtheils, entgegensehe. — Doch habe ich Sorge um Sie, und wünsche von ganzem Herzen, dass Sie sich nicht den Hals brechen sollen. Desshalb möchte ich Ihnen rathen, diese sehr unglaublichen Ansichten nicht mehr in kurzen, durch fatale Rücksichten auf leichten Effect es absehenden, Abhandlungen zu berühren, sondern, wenn Sie so tief — wie ich es erkenne — davon durchdrungen sind, sich zu einer grösseren, umfassenderen Arbeit darüber sammelten. Dann werden Sie gewiss auch das richtige Wort für die göttlichen Irrthümer des Socrates und Platon finden, welche so überwältigend schöpferischer Natur waren, dass wir, obwohl uns von ihnen bekehrend, sie doch anbeten müssen. O Freund! Wo die hymnischen Worte hernehmen, wenn wir aus unserer Welt auf jene unbegreiflich harmonischen Wesen blicken! Und wie hoch dann wieder von uns selbst denken und hoffen, wenn wir tief und klar fühlen, dass wir etwas können sollen und müssen, was Jenen versagt war! — Vor allen Dingen hoffe ich ganz bestimmt, dass Sie über meine Meinung in betreff Ihrer Socrates und and. nicht in Ungewissheit sind, denn ich sagte Ihnen soeben, wie ich darüber denke. — Ihr 1. Reply to a lost letter that Nietzsche sent along with the manuscript of his lecture: "Sokrates und die Tragödie" (Socrates and Tragedy). A lecture by Nietzsche held in the Basel Museum on 02-01-1870. 2. Cosima von Bülow. Richard Wagner and Cosima von Bülow were not married until 08-25-1870. Cosima Wagner destroyed all her correspondence from Nietzsche. However, we still have the following entries from her diary about Nietzsche at this time: Tribschen, 5. Februar 1870: "Alles Bedeutende ist unbequem,"2 diesen Goetheschen Satz habe ich neulich bei der Anhörung Ihres Vortrages3 erlebt, lieber Herr Professor. Der Meister wird Ihnen gesagt haben4 in welcher Aufregung ich dabei gerathen bin, und dass er den ganzen Abend über mit mir das Thema hat ausspinnen müssen. Denn berührte mich Ihre Grundanschauung von vornherein sympathisch, ja selbst heimisch, so war mir die Kühnheit und Schlichtheit mit welcher Sie sie durchführen, zuerst ganz überraschend; und bei einzelnen Sätzen (wie dass der Verfall der griechischen Tragödie mit Sophokles ja mit Aeschylos beginnt,5 und über die form der Platonischen Gespräche6) musste mir der Meister beweisen wie recht Sie haben. Was mich beweisen wie recht Sie haben. Was mich aufregte war auch nicht das was Sie sagen und wie Sie es sagen, sondern die Kürze in welcher Sie genöthigt waren die tiefsten und weitgehendsten Probleme aufzustellen, was den Zuhörer zu einer gewaltigen Mitarbeiterschaft auffordert; ein immerhin aufregender Zustand. Wie ich nun beinahe jeden Satz mit dem Meister durchgenommen und alles nach genauer Prüfung sich als vollständig richtig ergeben hatte, habe ich gestern für mich Ihre Arbeit noch einmal gelesen, und habe sie ruhig auf mich wirken lassen. Und diessmal war der Eindruck ein sehr grosser und schöner; hatte mich Ihre Sicherheit zuerst förmlich geängstigt so waltete sie jetzt ungemein befriedigend indem ich in ihr die grosse Prägnanz eines mächtigen Eindruckes erkannte; die fernen Genien denen ich nur mit ehrfurchtsvoller Scheu mich genaht, und deren Stimme [ich] wie die der Propheten und hohe[n] Priester vernommen hatte, waren mir plötzlich individualisirt, und das grosse Schicksal der griechischen Kunst gieng in seiner erhebenden Tragik an mir vorüber. Das Wesen das dieses Schicksal symbolisirte und herbeiführte, erschien mir auch gross und ehrwürdig wie Alles was von dieser Welt uns kommt, und ich musste es wunderbar finden dass Sokrates selbst durch den Traum den Sie so schön anführen,7 uns den Schlüssel giebt zu dem was ihm und der von seinem Wesen beherrschte[n] Welt, fehlte. Mit der Bemerkung dass an Sokrates alles symbolisch sei,8 haben Sie für mich den bedeutendsten Zug, das Eigenthümlichste dieser für uns noch so lebendigen Figur bezeichnet, gerne hätte ich diess wie überhaupt alles in Ihrem Vortrag ausgeführt gesehen. Hier bin ich an den Punkt angelangt welchen der Meister gewiss mit Ihnen besprochen hat; machen Sie aus Ihrem Vortrag ein Buch; gewiss zum Leckerli ist das zu gut, und da Ihr Fundament so sicher und tief liegt, welche Freude werden Sie an der Ausführung des Baues [haben,] dessen äusserste Spitzen Sie gleich dem Erbauer der gothischen Wunderwerke so hoch und kühn treiben können als Sie nur wollen. Indem ich nochmals Ihre Äusserung las dass die Dialektik die Tragödie zersetzt habe, gedachte ich der letzten Sprösslinge der Dialektik, der Tragödien Racine's und Corneille's9 a selbst die Spanier leiden daran, und bis in Göthe sogar spürt man den bösen Dämon. Bei den Deutschen aber bereitet sich sogleich das Kunstwerk der Zukunft; es schimmert mir förmlich aus Schiller's Dichtungen10 entgegen, und dass Beethoven den Hymnus an die Freude komponirt11 hat ist ein göttlicher Wegweiser zu — — was wir wissen. Sonntag. Gewiss geehrtester Freund, ist Ihnen Ihre tiefe Empfindung vom Wesen der Musik der Strahl gewesen der die fernste Vergangenheit Ihnen so hell beleuchtet hat und Sie so sicher in die Zukunft blicken lässt. Nun habe ich aber eine Bitte an Sie die ich eine mütterliche nennen möchte, nämlich die ja nicht in das Wespennest zu stechen. Verstehen Sie mich wohl? Nennen Sie die Juden nicht, und namentlich nicht en passant;12 später wenn Sie den grauenhaften Kampf aufnehmen wollen, in Gottes Namen, aber von vornherein nicht, damit bei Ihrem Wege nicht auch alles Confusion und Durcheinander wird. Sie misverstehen mich hoffentlich nicht; dass im Grunde der Seele ich Ihrem Ausspruch beistimme, werden Sie wissen; allein jetzt noch nicht und nicht so; ich sehe förmlich das Heer von Misverständnissen das sich um Sie aufwirbelt. Ich befürchte überhaupt grosse Confusion in Folge Ihres Vortrages, dessen Conception viel zu grossartig, und namentlich in Bezug auf Ihre Erkenntniss des Wesen's der Musik viel zu neu, um von Zuhörern gefasst zu werden; ich bezweifle dass ein Mensch ausser Burckhard[t] Sie verstanden hat, und dieser wird gewiss gleich uns gewünscht haben dass Sie sich ausführlicher und eingehender vernehmen lassen. Wie dem auch sei Ihre Sendung und die Beschäftigung damit bezeichnet eine Wendung der Stimmung auf Tribschen. Wir waren so trübgemuth dass wir selbst nichts mehr Abends lasen, die Wal[l]fahrt die wir durch Sie zu den schönsten Zeiten der Menschheit unternehmen mussten, hat so wohlthätig auf uns gewirkt dass am andren Morgen der Meister seinen Siegfried mit Begleitung der kecksten und übermüthigsten Violinfigur auf dem Rhein sein heiteres Thema blasen lässt, welches vernehmend die Rheintöchter freudig hoffend breit und stark ihr Motiv erklingen lassen.13 (Ouverture zu der Götterdämmerung nach Brunhilden's und Siegfried's Abschied.) Die zwei Abende darauf haben wir mit den Fröschen14 [der Komödie von Aristophanes] zugebracht und heute wollen wir ein Stück von Euripides15 vornehmen. Sie sehen, dass wir Ihnen gewissenhaft folgen. Zu der Anregung, die uns Ihrerseits geworden ist noch die Zufriedenheit mit dem Benehmen des Königs von [Bayern]16 gekommen und hat wohlthätig gewirkt; leider erstreckt sich dieses Benehmen nicht auf unsere Sache, gleichviel aber der persönliche Gram ist gewichen oder erblasst vor der Freude darüber dass er seinen Minister nicht aufopfert. Möglich dass er über dieses Benehmen seinen Thron verliert (ich lege ein kleines Document17 das vielverheissend ist, bei), allein das Betrübende Niederdrückende kommt uns niemals von den Umständen, von dem Schicksal, sondern von dem Betragen der Wesen die wir durch die Verzweigungen des Lebens als zu uns gehörig erkennen müssen. Mittlerweile ist Döllinger zum Ketzer18 erklärt worden und der Unfehlbarkeits Stein19 des Anstosses rollt unaufhaltsam weiter. Ich lese das Buch von Janus,20 welches vortrefflich ist, mir aber das was ich ahnte bewiesen hat; seit dem fünften Jahrhundert arbeitet die katholische Kirche an dem was sie jetzt vollzieht. Man könnte dem Schauspiel lächelnd zusehen wenn das Heer der Armen nicht da wäre denen die Kirche den einzige[n] Ersatz für ihre Leiden bietet, und welche diesen Ersatz durch vollständige Verdummung und Knechtung erkaufen müssen. Anstatt so schöne Kammerreden und Leitartikel zu verfertigen sollten unsre Herrn Liberalen so viel Aufopferung besitzen arme Kinder zu unterrichten, arme Kranken zu pflegen, dann könnte man über das schwarze Gespenst lachen; wie sie aber sind, wie könnten sie jemals gegen diejenigen aufkommen die das Wort des Heilands wenn noch so verhüllt, verdreht, und uns zum Hohn, dem Hungernden, Darbenden bringen? Ich schicke den Brief Ihres Freundes21 zurück, und mit vielem Dank, erstens für das freundliche Vertrauen, zweitens für die Mittheilung selbst die mich sehr gefesselt hat. Ich weiss nichts rührenderes als die Wirkung des Genie's auf nicht gerade genial begabte aber ernste Naturen. Was sich bei den andren leicht und wie von selbst macht, geschieht hier wie im Krampf und mühsam, dafür aber prägt sich der Eindruck auf das ganze Wesen, und giebt eine ehrwürdige Einheitlichkeit. Dass aber Ihr Freund die Philosophie auf die Praxis des Lebens anwenden möchte, zeigt dass er noch nicht genügend Sch[openhauer] studirt hat. ["]Im Volke Boden gewinnen soll und kann nur die Religion["] — wo ist die? Ich hoffe immer noch auf eine deutsche Kirche. Ich theile aber Ihre Strengen!! in Bezug auf den Umgang Ihres — Freundes mit Schauspielern nicht.22 Die deutsche Geselligkeit ist so kleinlich und erbärmlich dass diese Art Menschen die ausserhalb ihrer Regeln und Gesetze leben, förmlich als Halbgötter erscheinen müssen. Und gerade der Mensch der sich mit tiefen Dingen ernst beschäftigt hat das Bedürfniss einer Zerstreuung; die deutsche Geselligkeit kann sie ihm nicht gewähren, sie ist seicht, pedantisch, und lächerlich, kein Wunder wenn er sich an diejenigen hält die ihm frei und leicht erscheinen müssen. In Wilhelm Meister23 finden Sie diess ausgedrückt und gewiss ist es wahr. Wenn wir unser Kunstwerk hätten, oder vielmehr unser deutsches Theater, dann würde sich Ihr Freund auch nicht mehr mit Schauspielern abgeben, dann wäre die einzige dem edlen Deutschen zusagende Zerstreuung gefunden; jetzt aber da alles so verwahrlost und verkümmert, an was soll er sich halten wenn er nicht ewig in Büchern stecken will? Ich ging so weit als der Meister etwas unwillig über Ihr Vegeta (ich kann dieses Wort immer nicht sprechen) war, ihm zu behaupten dass wenn wir unser Theater hätten Sie gewiss keine solche Grille gefangen hätten, worüber er lachte und mir recht gab.24 Nur soll um Gottes Willen Ihr Freund sein "Gebilde"25 nicht von dorther holen, das wäre sehr schlimm (den letzten Satz habe ich übrigens ganz einfach nicht verstanden!). Ueber den Passus Doris Heirath betreffend habe ich furchtbar lachen müssen;26 Brockhausen's verheirathen ja ihre Tochter wie Ali Baba seine vierzig Räuber begräbt! Ich sehe förmlich Ottilie27 in der Ausübung der "alten Ceremoniengesetze," und der zarten Schonung der jüngeren Herrn. Also noch keinen Hund?28 Ich wunderte mich dass Sie so leicht in Basel etwas so seltenes wie eine dänische Dogge gefunden hatten; ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen dass ein grosser Hund Sie in der Stube sehr belästigen wird; diese Thiere verlangen durchaus das Freie wenn auch nicht die Freiheit, — wogegen ein Wachtelhund oder ein schöner gescheidter Pudel Ihnen gewiss viel Freude machen wird. Aber ich verwerfe für den Zukunftshund den Namen Perfall29 durchaus; nur keine Ironie mit Thieren; Sie würden dem treuen ernsten Blick Ihres Hundes nicht mit gutem Gewissen entgegnen wenn Sie denselben ironisch benannt hätten, während ein humoristischer Namen aus irgend einer seiner Eigenschaften oder den Umständen unter welchen Sie zu ihm gekommen entnommen, recht wohl angebracht mir schiene. Diess wäre also auch in Ordnung gebracht; nun habe ich aber noch allerlei zu danken und zu bitten weswegen ich denn wirklich zum dritten Bogen werde greifen müssen. Dass Sie selbst an Meyer Noske30 geschrieben haben ist nicht Recht sondern Gnade; ich wollte es Ihnen ersparen deshalb hatte ich Stockers31 mit dem Briefe beauftragt. Vielen Dank dass Sie auch an Semper32 geschrieben haben. Ich bin wirklich beschämt Ihnen so viel Mühe zu geben und muss Sie doch noch wieder um etwas angehen! Es wird mir unmöglich in Luzern ein Farbe aufzutreiben; nun entsinne ich mich dass in Basel die Bänder zu Hause sind. Darf ich Sie bitten Ihrer Hausfrau den Auftrag zu geben, es ist alles auf dem Muster angegeben. Sie verzeihen, nicht wahr? Pohl33 schrieb dass er nach Leipzig reist, ihm habe ich den Auftrag ertheilt den Becher des Königs von Thule34 wieder aufzufinden, er wird mir aber gewiss kein Glück bringen! Was nennen Sie die Abfassung des gelehrten Programms?35 Ist das für die Philologen Versammlung in Leipzig,36 oder eine spezielle Arbeit für die Basler Universität? Vergessen Sie darüber nur ja Ihr Buch37 nicht. Sie haben mich recht beschämt indem Sie mir den Dank Ihrer Fräulein Schwester ausgesprochen haben, das hätten Sie nicht thun sollen! Nun aber freue ich mich von Herzen dass Ihre Familie Sie zu Ostern besucht.38 Ob die Genfer Panorama-Welt Ihnen besonders zusagen wird weiss ich nicht, mir behagen die Ufer des Vierwaldstätter See bei weitem mehr, sie sind deutscher wenn ich mich dieses Ausdruckes bedienen darf. Sie sprechen aber gar nicht mehr davon Tribschen wieder einmal zu besuchen die Bibliothek ist noch immer zu ordnen und hat sich neulich um zwei Sanskrit-Bücher vermehrt von welchen wir gar nicht wissen was sie sind (Dr. Windisch39 thäte Noth). In der Kinderstube sind Sie in lebendigster Erinnerung; wie ich neulich den Kindern verbot auf das Eis zu gehen, begann augenblicklich Eva40 folgende Erzählung: ["]war mal Herr Nützsche, gute Herr Nützsche, ging auf's Eis die Nützsche, Bein gebrochen, Johanna (ihre erste Wärterin) gekommen, Herr Nützsche getöstet, Bein wieder angemacht." Und bald darauf Eva wieder: "Herr N. heisst Fressor" worauf Loldi:41 "Nein Professor nicht Fressor, er fresst ja Niemand." Sie sehen dass Sie Tribschen nicht vernachlässigen dürfen! — Dieser Brief geht nun als Packet fort; ich beschwere ihn noch mit der Epistel eines Postmeisters aus Crivitz die Sie gewiss unterhalten wird. Es ist dem Meister nicht zu verdenken wenn er ab und zu (oder ab und an wie man in Crivitz sagt) wünscht es möchten von anderen ein wenig mehr zu Worte kommenden Seiten Zustimmungen an ihm gelangen. Nun wie Gott will — war C. M. Weber's Spruch.42 Freundlichsten Sonntagsgruss! Ich muss Ihnen doch noch sagen dass Sie Ihren Vortrag am Vorabend des Tages gehalten haben wo die Lerche wieder zu singen beginnt, (zu Lichtmess 2ten Februar); das ist doch ein gutes Zeichen. 1. Cosima Wagner destroyed all her correspondence from Nietzsche. However, we still have the following entries from her diary about Nietzsche at this time: Tribschen, kurz vor dem 12. Februar 1870: Lieber Freund! Er ist doch gut, wenn man sich solche Briefe schreiben kann! Ich habe jetzt Niemand, mit dem ich es so ernst nehmen könnte, als mit Ihnen, — die Einzige2 ausgenommen. Gott weiss, wie ich es sonst noch anfange! Wenn ich, so recht vom Unmuth zernagt, schliesslich doch immer wieder auf meine Arbeit zurückkomme, muß ich wohl öfters besonders guter Laune werden, weil ich es wirklich kaum begreifen kann, und darüber dann lachen muss. Die Erkenntniss des Grundes hiervon geht mir dann wohl auch blitzartig auf, nur fühle ich dann sogleich, wollte ich ihr nachhängen, um sie ganz in das "sokratische Wissen" umzusetzen, ich grenzenlos viel Zeit haben und nichts Besseres vorhaben müsste: denn — das Wissen solcher Gründe Anderen begreiflich zu machen, erfordert mindestens die Verzichtleistung auf alles Schaffen. Da ist nun aber Theilung der Arbeit gut. Sie könnten mir nun viel, ja ein ganzes Halbtheil meiner Bestimmung abnehmen. Und dabei gingen Sie vielleicht ganz Ihrer Bestimmung nach. Sehen Sie, wie elend ich mich mit der Philologie abgefunden habe, und wie gut es dagegen ist, das[s] Sie sich ungefähr ebenso mit der Musik abgefunden haben. Wären Sie Musiker geworden, so würden Sie ungefähr das sein, was ich geworden wäre, wenn ich mich auf die Philologie obstinirt hätte. Nun liegt mir aber die Philologie — als bedeutungsvolle Anlage — immer in den Gliedern, ja sie dirigirt mich als "Musiker." Nun bleiben Sie Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigiren zu lassen. Was ich hier sage, ist ernstlich gemeint. Das habe ich von Ihnen selbst, wie unwürdig der Kreis ist, in welchem solch ein Fach-Philolog sich heute herumdrehen kann, — und von mir werden Sie kennen gelernt haben, in welchem Zahlen-Kram im Grunde ein absoluter Musiker (besten Falls!) jetzt sich verthut. Nun zeigen Sie denn, zu was die Philologie da ist, und helfen Sie mir, die grosse "Renaissance" zu Stande bringen, in welcher Platon den Homer umarmt, und Homer, von Platons Ideen erfüllt, nun erst recht der allergrösste Homer wird. — Das sind nun so Gedanken, die mir ankommen, aber — hoffnungsvoll, seit ich Sie lieb gewonnen habe, und nie so klar — und (wie Sie sehen) zur Mittheilung bestimmend — als seit Ihrer Vorlesung von den "Centauren."3 Seien Sie also nicht unsicher über den Eindruck, den mir diese Arbeit gemacht; er hat mir einen tiefen, ernstlichen Wunsch erweckt. Den werden Sie verstehen: denn wenn er nicht Ihr eigener ist, werden Sie ihn auch nicht erfüllen können. — Aber schwatzen wollen wir etwas darüber. Darum denke ich — kurz und gut — Sie kommen nächsten Samstag nach Tribschen:4 die Schlafstube, die "Gallerie" — ist da, "der Rauchfang ist Dir auch gewiss"5 — also: auf Wiedersehen! — Von Herzen 1. Reply to a lost letter from Nietzsche. Leipzig, 12. Februar 1870: [+++]3 einer Hypergeistigkeit die dann der eigentlichen Kraft ihres Wesens Eintrag thut — Das sind alles nur leise Gedanken die mir beim Lesen Ihres Aufsatzes4 wie feine Wolken durch die Seele zogen, können Sie etwas davon brauchen, sonst vergessen Sie sie und gedenken Sie nur daß ich Sie herzlich lieb habe, an Ihren Freuden den lebhaftesten und verstehendsten Antheil nehme und mich immer sehr freuen werde wenn ich Sie wiedersehe oder wenn Sie mir etwas aus ihrer Geisteswerkstatt schicken wollen. Die freundlichen Grüße Ihrer Freunde5 sehe ich so nur als den Ausdruck Ihrer freundlichen Gesinnung an, daß ich auch Ihnen nur dafür danke und mir nicht erlaube sie zu erwiedern, schwerlich erinnert sich R[ichard] W[agner] und F[rau] von B[ülow] meiner in irgend einer bestimmten Weise.6 Die Meinigen grüßen Sie herzlich. Mit aufrichtiger Freundschaft. 1. Complete unannotated text in German. For annotated text, see: Dual text in German and English. With explanatory notes and sources. In: Nietzsche's Writings as a Professor. Homer and Classical Philology. The Nietzsche Channel, 2012. PDF. Naumburg, 20. October 1870: Mein lieber Freund, dieser Morgen brachte mir die freudigste Überraschung und Befreiung von viel Unruhe und Beängstigung — Deinen Brief. Noch vorgestern wurde ich auf das ärgste erschreckt, als ich in Pforta Deinen Namen mit zweifelnder Stimme aussprechen hörte, Du weißt, was jetzt dieser zweifelnde Ton zu bedeuten pflegt.1 Sofort requirirte ich vom Rektor2 eine Liste der gefallenen Pförtner, die gestern Abend bei mir eintraf. Sie beruhigte mich in einem Hauptpunkte. Sonst gab sie viel Trauriges. Außer den Namen, die Du schon genannt hast,3 lese ich hier an erster Stelle Stöckert,4 dann v. Oertzen (doch mit einem Fragezeichen)5 dann v. Riedesel6 usw. in summa 16. — Alles was Du mir schreibst, hat mich auf das Stärkste ergriffen, vor allem der treue ernste Ton, mit dem Du von dieser Feuerprobe der uns gemeinsamen Weltanschauung7 sprichst. Auch ich habe eine gleiche Erfahrung gemacht, auch für mich bedeuten diese Monate eine Zeit, in der jene Grundlehren sich als festgewurzelt bewährten: man kann mit ihnen sterben; das ist mehr als wenn man von ihnen sagen wollte: man kann mit ihnen leben. Ich war nämlich doch nicht in so unbedingter Sicherheit und Entrücktheit von den Gefahren dieses Krieges. Ich hatte bei meinen Behörden sofort den Antrag8 gestellt, mir Urlaub zu geben, um als Soldat meine deutsche Pflicht zu thun. Man gab mir Urlaub, aber verpflichtete mich auf Grund der schweizerischen Neutralität, keine Waffen zu tragen (Ich habe seit 69 kein preußisches Heimatsrecht mehr) Sofort reiste ich nun mit einem vortrefflichen Freunde ab, um freiwillige Krankenpflegerdienste zu thun. Dieser Freund mit dem ich durch 7 Wochen alles gemeinsam gehabt habe, ist der Maler Mosengel9 aus Hamburg, mit dem ich Dich in Friedenszeiten bekannt machen muß. Ohne seinen gemüthvollen Beistand hätte ich schwerlich die Ereignisse der nun kommenden Zeit überstanden. In Erlangen ließ ich mich von dortigen Universitätscollegen medizinisch und chirurgisch ausbilden; wir hatten dort 200 Verwundete. Nach wenigen Tagen wurden mir 2 Preußen und 2 Turko's zur speziellen Behandlung übertragen. Zwei von diesen bekamen bald die Wunddiphtheritis und ich hatte viel zu pinseln. Nach 14 Tagen wurden wir beide, Mosengel und ich, von einem dortigen Hülfsvereine ausgeschickt. Wir hatten eine Menge Privataufträge, auch erhebliche Geldsummen zur Besorgung an 80 früher ausgesandte Felddiakonen. Unser Plan war, in Pont à Mousson mit meinem Collegen Ziemsen zusammenzutreffen und uns dessen Zug von 15 jungen Männern anzuschließen. Das ist nun freilich nicht in Erfüllung gegangen. Die Erledigung unsrer Aufträge war sehr schwer, wir mußten, da wir gar keine Adressen hatten, persönlich in anstrengenden Märschen nach sehr unbestimmten Andeutungen hin die Lazarethe bei Weißenburg, auf dem Wörther Schlachtfelde, in Hagenau, Luneville Nanzig bis Metz durchsuchen. In Ars sur Moselle wurden uns Verwundete zur Verpflegung übergeben. Mit diesen sind wir, da sie nach Carlsruhe transportirt wurden, wieder zurückgekehrt. Ich hatte 6 Schwerverwundete 3 Tag und 3 Nächte lang ganz allein zu verpflegen, Mosengel 5; es war schlechtes Wetter, unsre Güterwagen mußten fast geschlossen werden, damit die armen Kranken nicht durchnäßt würden. Der Dunstkreis solcher Wagen war fürchterlich; dazu hatten meine Leute die Ruhr, zwei die Diphtheritis, kurz ich hatte unglaublich zu thun und verband Vormittag 3 Stunden und Abends ebenso lange. Dazu Nachts nie Ruhe, bei den menschlichen Bedürfnissen der Leidenden. Als ich meine Kranke Ach, mein lieber Freund, welche Segenswünsche soll ich Dir zurufen! Wir wissen beide, was wir vom Leben zu halten haben. Aber wir müssen leben, nicht für uns. Also lebe, lebeliebster Freund! und Lebe wohl! Ich kenne Deine heldenmüthige Natur. Ach daß Du mir erhalten bliebest! Treulich Friedrich Nietzsche Heute habe ich nicht mehr zum Schreiben Zeit, da meine Abreise bevorsteht. Von Basel aus erfährst Du mehr von mir. Ich bin glücklich, endlich Deine Adresse zu haben. Meine Angehörigen begleiten Dich mit ihren besten Wünschen. 1. Several of their classmates from Schulpforta were killed in the war.
Basel, 7. November 1870 [und kurz davor]: Mein lieber Freund, hoffentlich erreicht Dich auch dieser Brief bei gutem tapferen Befinden und leidlicher Stimmung. Woher diese zwar kommen soll, ist mir fast unbegreiflich — es sei denn, daß man wisse, was das Dasein ist und zu bedeuten hat. Wenn sich einmal wie jetzt die schrecklichen Untergründe des Seins aufschließen, der ganze unendliche Reichthum des Wehes sich ausschüttet, dann haben wir das Recht, als die Wissenden mitten hindurchzuschreiten. Dies giebt eine muthig resignirte Stimmung, man hält's damit aus und wird nicht zur Salzsäule. Ich habe mich mit wahrer Begierde in die Wissenschaften gestürzt; jetzt hat nun auch wieder die regelmäßige Berufsthätigkeit begonnen. Ich wünschte nur gesünder zu sein. Aber mein Organismus hat unter dem Anstürme der Ruhr1 sehr gelitten und noch lange nicht ersetzt, was ihm genommen wurde. Man hat mich hier in Basel mit großer Freundlichkeit wieder bewillkommt. Auch von Tribschen habe ich gute Nachrichten. Wagner und Frau sagen Dir die besten Grüße und Wünsche. (Du weißt doch daß im August die Hochzeit2 stattgefunden hat? Ich war als Zeuge eingeladen, konnte aber nicht erscheinen, weil ich gerade damals in Frankreich war) W[agner] hat mir vor ein paar Tagen ein wundervolles Manuscript zugeschickt "Beethoven" betitelt. Hier haben wir eine überaus tiefe Philosophie der Musik im strengen Anschluß an Schopenhauer. Diese Abhandlung erscheint zu Ehren Beethovens — als die höchste Ehre, die ihm die Nation erweisen kann. — Mein Brief ist einige Tage zu meinem Leidwesen liegen geblieben. Das neue Semester begann wie gewöhnlich mit einem kräftigen Anstürme, so daß einem Hören und Sehen verging. Ich lese dieses Semester zwei neue Collegien, griechische Metrik und Rhythmik (nach einem eignen System) und Hesiod. Sodann die Seminarübungen. Dann die griechischen Stunden am Pädagogium, in denen ich die Oresteia des Aeschylos vornehme. Dazu kommen Regenz- Fakultäts- und Bibliothekssitzungen, nebst manchen Einladungen geselliger Art. Gestern Abend hatte ich einen Genuß, den ich Dir vor allem gegönnt hätte. Jacob Burckhardt hielt eine freie Rede über "historische Größe," und zwar völlig aus unserm Denk- und Gefühlskreise heraus. Dieser ältere, höchst eigenartige Mann ist zwar nicht zu Verfälschungen, aber wohl zu Verschweigungen der Wahrheit geneigt, aber in vertrauten Spaziergängen nennt er Schopenhauer "unseren Philosophen." Ich höre bei ihm ein wöchentlich einstündiges Colleg über das Studium der Geschichte und glaube der Einzige seiner 60 Zuhörer zu sein, der die tiefen Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift, begreift. Zum ersten Male habe ich ein Vergnügen an einer Vorlesung, dafür ist sie auch derart, daß ich sie, wenn ich älter wäre, halten könnte. In seiner heutigen Vorlesung nahm er Hegels Philosophie der Geschichte vor, in einer des Jubiläums durchaus würdigen Weise. In diesem Sommer habe ich einen Aufsatz geschrieben "über die dionysische Weltanschauung," der das griechische Alterthum von einer Seite betrachtet, wo wir ihm, Dank unserm Philosophen, jetzt näher kommen können. Das sind aber Studien, die zunächst nur für mich berechnet sind. Ich wünsche nichts mehr, als daß mir die Zeit gelassen wird, ordentlich auszureifen und dann etwas aus dem Vollen produziren zu können. Vor dem bevorstehenden Culturzustande habe ich die größten Besorgnisse. Wenn wir nur nicht die ungeheuren nationalen Erfolge zu theuer in einer Region bezahlen müssen, wo ich wenigstens mich zu keinerlei Einbuße verstehen mag. Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht.3 Das Schulwesen will ich einmal später öffentlich bloßlegen, mit den religiösen Umtrieben, wie sie jetzt wieder von Berlin aus zu Gunsten der katholischen Kirchengewalt im Gange sind, mag's ein Anderer versuchen. — Es ist mitunter recht schwer, aber wir müssen Philosophen genug sein, um in dem allgemeinen Rausch besonnen zu bleiben — damit nicht der Dieb komme und uns stehle oder verringere, was für mich mit den größten militärischen Thaten, ja selbst mit allen nationalen Erhebungen nicht in Vergleichung kommen darf. Für die kommende Culturperiode sind die Kämpfer von Nöthen: für diese müssen wir uns erhalten. Lieber Freund, mit den größten Besorgnissen denke ich immer an Dich — möge Dich der Genius der Zukunft, in dem Sinne wie wir sie erhoffen, geleiten und schützen! Dein treuer Freund Fr. Nietzsche
Basel, 23. November 1870: Absolution! Mein lieber Freund! Solche Jahre kommen sobald nicht wieder vor, und somit soll es sobald nicht wieder vorkommen, daß ich so lange Zeit über mich wie ein Grab schweige. Einmal lebe ich noch — den Schlingen der Ruhr und der Diphtherie bin ich zwar nicht entgangen und sie haben mich sattsam ruinirt, aber im Ganzen bin ich jetzt wieder ein Mensch unter Menschen.1 Von meinen Kriegserlebnissen mag ich Dir nichts erzählen — warum hast Du sie nicht mitgemacht? Ich habe beiläufig nie eine Zeile von Deinen Briefen zu sehen bekommen, sie sind alle "im Felde" verschwunden! Ich hatte einen sehr wackern Reisegefährten, dem ich von Dir mancherlei erzählt habe, in dem Wunsche, daß er Dich kennen lernt. Suche dies doch zu ermöglichen, Du wirst Dich freuen. Er heißt Mosengel,2 ist Maler und wohnt Hamburg, Catharinenstr. 41. Es ist einer der besten Menschen, die mir vorgekommen sind und ein mir wohlthuender Landschaftenmaler. Er hat viel Verdienste um mich, zuletzt hat er mich noch in meiner Krankheit gepflegt. Jetzt bin ich wieder in voller Thätigkeit, und lese zwei Collegien, Hesiod und Metrik, sodann Academika im Seminar und Agamemnon im Pädagogium.3 Wie steht es denn mit Dir? Bist Du auch bereits im akademischen Joche? Wenn — nun dann Glückauf zur fröhlichen Jagd!4 Und zur Wanderung mit der Diogeneslaterne! Ich recapituliere kurz, daß mir manches Freudige widerfahren ist. Erstens giebt es von Wagner einen großen Aufsatz über Beethoven, der eine Philosophie in Schopenhauers Geist und Wagners Kraft enthält. Er wird bald gedruckt sein.5 Frau Wagner fragte bei mir brieflich an, ob Du auch mit im Felde seist und wie es Dir gienge. — Zweite Freude: Jakob Burckhardt liest jetzt allwöchentlich über das Studium der Geschichte, in Schopenhauers Geist — ein schöner aber seltner Refrain! Ich höre ihn.6 Dritte Freude: an meinem Geburtstag hatte ich den besten philologischen Einfall, den ich bis jetzt gehabt habe — nun, das klingt freilich nicht stolz, soll's auch nicht sein! Jetzt arbeite ich an ihm herum. Wenn Du mir es glauben willst, so kann ich Dir erzählen, daß es eine neue Metrik7 giebt, die ich entdeckt habe, der gegenüber die ganze neuere Entwicklung der Metrik von G.Hermann8 bis Westphal9 oder Schmidt10 eine Verirrung ist. Lache oder höhne, wie Du willst — mir selber ist die Sache sehr erstaunlich. Es giebt sehr viel zu arbeiten, aber ich schlucke Staub mit Lust,11 weil ich diesmal die schönste Zuversicht habe und dem Grundgedanken eine immer größere Tiefe geben kann. — Im Sommer habe ich einen größeren Aufsatz für mich geschrieben "über dionysische Weltanschauung,"12 um mich bei dem einbrechenden Ungewitter13 zu beruhigen. Jetzt weißt Du, wie es mir geht. Nimm noch dazu, daß ich die größte Besorgniß vor der herankommenden Zukunft habe (in der ich ein verkapptes Mittelalter zu erkennen wähne14), auch daß meine Gesundheit schlecht ist — außer wenn ich Briefe von Freunden oder so schöne Abhandlungen bekomme, wie die Deinige aus dem rhein. Mus.15 Es fällt mir ein, daß Vischer16 sich höchst interessirt und Dir sehr dankbar darüber aussprach. Auch hast Du ja Dich um meinen Adieu theurer Freund Meinen festlichen Geburtstagsgruß20 noch zu vermelden, ich wünsche Gesundheit, eine Professur und si placet — eine Frau. 1. Nietzsche had contracted dysentery and diphtheria during his service as a medical orderly in the Franco-Prussian War.
Basel, 15. Dezember 1870: Mein lieber Freund, keine Minute ist seit dem Lesen Deines Briefes1 verflossen, und schon schreibe ich. Ich wollte Dir nämlich nur sagen, daß ich ganz gleich fühle wie Du und es für eine Schmach halte, wenn wir nicht einmal aus diesem sehnsüchtigen Schmachten durch eine kräftige That herauskommen. Nun höre, was ich in meinem Gemüthe mit mir herum wälze. Schleppen wir uns noch ein Paar Jahre durch diese Universitätsexistenz, nehmen wir sie wie ein lehrreiches Leidwesen, das man ernsthaft und mit Erstaunen zu tragen hat. Es soll dies unter anderem eine Lernzeit für das Lehren sein, auf das mich auszubilden mir als meine Aufgabe gilt. Nur habe ich mir das Ziel etwas höher gesteckt. Auf die Dauer nämlich sehe auch ich ein, was es mit der Schopenhauerischen Lehre von der Universitätsweisheit2 auf sich hat. Es ist ein ganz radikales Wahrheitswesen hier nicht möglich. Insbesondre wird etwas wahrhaft Umwälzendes von hier aus nicht seinen Ausgang nehmen können. Sodann können wir nur dadurch zu wirklichen Lehrern werden, daß wir uns selbst mit allen Hebeln aus dieser Zeitluft herausheben und daß wir nicht nur weisere, sondern vor allembessere Menschen sind. Auch hier spüre ich vor allem das Bedürfniß, wahr sein zu müssen. Und wiederum ertrage ich deshalb die Luft der Akademien nicht mehr zu lange. Also wir werfen einmal dieses Joch ab, das steht für mich ganz fest. Und dann bilden wir eine neue griechische Akademie, Romundt3 gehört gewiß zu uns. Du kennst wohl auch aus Deinem Besuche in Tribschen4 den Baireuther Plan Wagners.5 Ich habe mir ganz im Stillen überlegt, ob nicht hiermit zugleich unsererseits ein Bruch mit der bisherigen Philologie und ihrer Bildungsperspektive geschehen sollte. Ich bereite eine große adhortatio an alle noch nicht völlig erstickten und in der Jetztzeit verschlungenen Naturen vor. Wie kläglich ist es doch, daß ich Dir darüber schreiben muß, und daß nicht jeder Einzelgedanke mit Dir bereits längst durchsprochen ist! Und weil Du diesen ganzen vorhandenen Apparat nicht kennst, wird Dir vielleicht gar mein Plan wie eine excentrische Laune erscheinen. Das ist er nicht, er ist eine Noth. Ein eben erschienenes Buch6 von Wagner über Beethoven wird Dir Vieles andeuten können, was ich jetzt von der Zukunft will. Lies es, es ist eine Offenbarung des Geistes, in dem wir — wir! — in der Zukunft leben werden. Sei es nun auch, daß wir wenig Gesinnungsgenossen bekommen, so glaube ich doch, daß wir uns selbst so ziemlich — freilich mit einigen Einbußen — aus diesem Strome herausreißen können und daß wir eine kleine Insel erreichen werden, auf der wir uns nicht mehr Wachs in die Ohren zu stopfen brauchen. Wir sind dann unsere gegenseitigen Lehrer, unsre Bücher sind nur noch Angelhaken, um jemand wieder für unsre klösterlich-künstlerische Genossenschaft zu gewinnen. Wir leben, arbeiten, genießen für einander — vielleicht daß dies die einzige Art ist, wie wir für das Ganze arbeiten sollen. Um Dir zu zeigen, wie ernsthaft ich das meine, so habe ich bereits angefangen, meine Bedürfnisse einzuschränken, um einen kleinen Rest von Vermögen mir noch zu bewahren. Auch wollen wir in Lotterien unser "Glück" versuchen, wenn wir Bücher schreiben, so verlange ich für die nächste Zeit die höchsten Honorare. Kurz jedes nicht unerlaubte Mittel wird benutzt, um uns äußerlich in die Möglichkeit zu versetzen, unser Kloster zu gründen. — Wir haben also auch für die nächsten Paar Jahre unsre Aufgabe. Möge Dir dieser Plan vor allem würdig erscheinen, überdacht zu werden! Daß es vor allem Zeit sei, ihn Dir vorzulegen, dafür giebt mir Dein eben empfangener, wirklich ergreifender Brief Zeugniß. Sollten wir nicht im Stande sein, eine neue Form der Akademie in die Welt zu setzen
wie Faust von der Helena sagt.7 Von diesem Vorhaben weiß Niemand etwas, und von Dir soll es nun abhängen, ob wir jetzt auch Romundteine vorbereitende Mittheilung machen. Unsre Philosophenschule ist doch gewiß keine historische Reminiscenz oder eine willkürliche Laune — treibt uns nicht eine Noth auf diese Bahn hin? — Es scheint daß unser Studentenplan,8 unsre gemeinsame Reise, in einer neuen, symbolisch größeren Form wiederkehrt. Ich will nicht der sein, der Dich wiederum, wie damals, im Stiche läßt; es wurmt mich immer noch. Mit den besten Hoffnungen Dein Vom 23 Dez. bis 1 Januar bin ich in Tribschen bei Luzern. — Von Romundt weiß ich nichts. 1. Cf. Kiel, 12-11-1870: Letter from Erwin Rohde to Nietzsche in Basel. Excerpt: "In solchen Professorengesellschaften, deren ich denn ein Dutzend mit abgedient habe, herrscht doch wahrlich ein gar zu traurig gewöhnlicher Ton: Politik, Klatsch, Bücherbekritteln; man glaubt gar nicht, wie gewöhnlich es da zugeht, bis man es gähnend erlebt hat. Und wie die zwingende Gewalt des Geselligkeitstriebes das Menschenthier doch immer von Neuem zu dieser Zeitvergeudung treibt! Im Grunde erstaune ich noch fortwährend über dieses gelehrten Philisterthums gespreizte Nichtigkeit." (In the company of such professors, a dozen with whom I have served, the tone is really too sadly ordinary: politics, gossip, criticizing books; you cannot even believe how typical it is until you experience it, yawning. And how the compelling power of the drive to socialize constantly compels the human animal to this waste of time! In fact, I am always astonished at the puffed up vanity of this scholarly philistinism.)
Tribschen, 30. Dezember 1870: Verehrtester Herr Geheimrath, auch ich wünsche Ihnen zum Jahreswechsel auszudrücken, daß ich Sie immer in dankbarster Erinnerung halte und über nichts mehr erfreut sein kann, als wenn ich von Ihrem rüstigen Wohlbefinden und Ihrem Wohlwollen gegen mich höre. Möge uns allen das neue Jahr eine leidliche und erträgliche Antwort auf die vielen Fragezeichen geben, zu denen uns die Gegenwart zwingt, möge vor allem die staatliche Machtentfaltung Deutschlands nicht mit zu erheblichen Opfern der Kultur erkauft werden!1 Einiges werden wir jedenfalls einbüßen und hoffentliche auch dies nur in Hoffnung auf eine spätere reichliche und vielfältige Wiedererstattung Um Ihnen etwas von meinen Studien zu berichten — so bin auch ich recht ordentlich in die Netze der Rhythmik und Metrik gerathen,2 bekenne Ihnen übrigens meine Überzeugung, daß je mehr wir von der modernen Musik zum Verständniß der Metrik hinzugewonnen haben, wir um so weiter uns auch von der wirklichen Metrik des Alterthums entfernt haben; wenn ich auch glaube daß dieser ganze Prozeß von G. Hermann3 bis H. Schmidt4 einmal durchgemacht werden mußte. Mit Westphal5 bin ich fast in allen wesentlichen Punkten nicht mehr einverstanden. Sehr freue ich mich darauf, in dem angekündigten Buche von Brambach6 auch Ihre Lehren (so viel ich weiß, in der Vorrede)7 vorzufinden; wenn Brambach selbst noch im Sinne seiner "Sophokleischen Studien"8 dies neue Buch verfaßt hat, so fürchte ich auch ihn auf einem Irrpfade anzutreffen. Hier thut einmal ein völliger Radikalismus noth, eine wirkliche Rückkehr zum Alterthum, selbst auf die Gefahr hin, daß man in wichtigen Punkten den Alten nicht mehr nachfühlen könnte und daß man dies gestehn müßte. — Von der Berufung des Prof. Lange9 nach Leipzig habe ich in diesen Tagen gelesen. Ich habe mir den Mechanismus dieser Berufung nicht klar machen können, weil ich seit dem Oktober nichts mehr von Leipzig gehört habe. Jedenfalls spüre ich, daß Bursian10 nicht durchgebracht worden ist: vielleicht ist Lange das Resultat eines Compromisses. — Mit meinen Baseler Verhältnissen bin ich zufrieden. Jetzt wird ein philosophischer Lehrstuhl frei, da Teichmüller nach Dorpat berufen ist.11 Ich lese jetzt Hesiod und Metrik, im Seminar Cicero's Academica. Wir haben 12 Zuhörer.12 Der alte Gerlach13 ist von unverwüstlicher Natur und — jedenfalls für das Pädagogium ein sehr guter Lehrer. Was mir hier fehlt, ist eins: Zeit. Ich komme zum Schluß und wiederhole meine Wünsche für Ihr Wohlergehen. Zugleich bitte ich Ihrer Frau Gemahlin14 meine herzliche Gratulation aussprechen zu dürfen. In steter Treue und Dankbarkeit 1. An allusion to the rise of Prussian power as a danger to culture. Cf. 11-07-1870 letter to Carl von Gersdorff; 11-23-1870 letter to Erwin Rohde. |
Not to be reproduced without permission. All content © The Nietzsche Channel.