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Leipzig, 12. Februar 1869: Visitenkarte
1. On February 10, 1869, Nietzsche was appointed professor of classical philology at the University of Basel.
Naumburg, 11. April 1869: Mein lieber Freund, der letzte Termin ist herangekommen, der letzte Abend, den ich noch in der Heimat verlebe: morgen früh geht's hinaus in die weite weite Welt, in einen neuen ungewohnten Beruf, in eine schwere und drückende Athmosphaere von Pflicht und Arbeit.1 Wieder einmal gilt es Abschied nehmen: die goldne Zeit der freien unumschränkten Thätigkeit, der souveränen Gegenwart, des Kunst- und Weltgenusses als unbetheiligter oder wenigstens schwach betheiligter Zuschauer — diese Zeit ist unwiederbringlich hinüber: jetzt regiert die strenge Göttin, die Tagespflicht. "Bemooster Bursche zieh' ich aus" Du kennst ja das ergreifende Studentenlied. Ja ja! Muß selber nun Philister sein! Irgendwo hat dieser Satz immer seine Wahrheit.2 Man ist nicht ungestraft in Amt und Würden — es handelt sich nur darum ob die Fesseln von Eisen oder von Zwirn sind. Und ich habe noch den Muth, gelegentlich einmal eine Fessel zu zerreissen und anderwärts und auf andre Weise das bedenkliche Leben zu versuchen. Von dem obligaten Buckel der Professoren spüre ich noch nichts. Philister zu sein, ,3 Heerdenmensch — davor behüte mich Zeus und alle Musen! Auch wüßte ich kaum, wie ich's anstellen sollte, es zu werden, da ichs nicht bin. Einer Art des Philisteriums bin ich zwar näher gerückt, der species "Fachmensch"; es ist nur zu natürlich, daß die tägliche Last, die allstündliche Concentration des Denkens auf bestimmte Wissensgebiete und Probleme die freie Empfänglichkeit etwas abstumpft und den philosophischen Sinn in der Wurzel angreift. Aber ich bilde mir ein, dieser Gefahr mit mehr Ruhe und Sicherheit entgegen gehen zu können als die meisten Philologen; zu tief wurzelt schon der philosophische Ernst, zu deutlich sind mir die wahren und wesentlichen Probleme des Lebens und Denkens von dem großen Mystagogen Schopenhauer gezeigt worden, um jemals einen schmählichen Abfall von der "Idee" befürchten zu müssen.4 Meine Wissenschaft mit diesem neuen Blute zu durchdringen, auf meine Zuhörer jenen Schopenhauerischen Ernst zu übertragen, der auf der Stirne des erhabnen Mannes ausgeprägt ist — dies ist mein Wunsch, meine kühne Hoffnung: etwas mehr möchte ich sein als ein Zuchtmeister tüchtiger Philologen: die Lehrergeneration der Gegenwart, die Sorgfalt für die nachwachsende Brut, alles dies schwebt mir vor der Seele. Wenn wir einmal unser Leben austragen müssen, versuchen wir es, dieses Leben so zu gebrauchen, daß andere es als werthvoll segnen, wenn wir glücklich von ihm erlöst sind. Dir, theurer Freund, mit dem ich in vielen Grundfragen des Lebens eins bin, wünsche ich das Glück, das Du verdienst, mir Deine alte treue Freundschaft. Lebe wohl! Friedrich Nietzsche Dr. Ich danke Dir herzlich für Deine inhaltsreichen Briefe. Verzeih es meiner πολυπραγμοσύνη,5 wenn ich so spät danke. Wieseke [sic] habe ich brieflich gedankt.6 Adr.: Prof. Dr. Friedrich Nietzsche in Basel. 1. Nietzsche was about to begin his appointment as professor of classical philology at Basel University.
Basel, 22. Mai 1869: Sehr verehrter Herr, wie lange habe ich schon die Absicht gehabt, einmal ohne alle Scheu auszusprechen, welchen Grad von Dankbarkeit ich Ihnen gegenüber empfinde; da sich thatsächlich die besten und erhobensten Momente meines Lebens an Ihren Namen knüpfen und ich nur noch einen Mann kenne, noch dazu Ihren großen Geistesbruder Arthur Schopenhauer,1 an den ich mit gleicher Verehrung, ja religione quadam2 denke. Ich freue mich, Ihnen an einem festlichen Tage3 dies Bekenntniß ablegen zu können und thue dies nicht ohne ein Gefühl des Stolzes. Denn wenn es das Loos des Genius ist, eine Zeitlang nur paucorum hominum4 zu sein: so dürfen doch wohl diese pauci sich in einem besonderen Grade beglückt und ausgezeichnet fühlen, weil es ihnen vergönnt ist, das Licht zu sehen und sich an ihm zu wärmen, wenn die Masse noch im kalten Nebel steht und friert. Auch fällt diesen Wenigen der Genuß des Genius nicht so ohne alle Mühe in den Schooß, vielmehr haben sie kräftig gegen die allmächtigen Vorurtheile und die entgegenstrebenden eignen Neigungen zu kämpfen; so daß sie, bei glücklichem Kampfe, schließlich eine Art Eroberungsrecht auf den Genius haben. Nun habe ich es gewagt, mich unter die Zahl dieser pauci zu rechnen, nachdem ich wahrnahm, wie unfähig fast alle Welt, mit der man verkehrt, sich zeigt, wenn es gilt Ihre Persönlichkeit als Ganzheit zu fassen, den einheitlichen, tiefethischen Strom zu fühlen, der durch Leben Schrift und Musik geht, kurz, die Athmosphäre einer ernsteren und seelenvolleren Weltanschauugn zu spüren, wie sie uns armen Deutschen durch alle möglichen politischen Miseren, durch philosophischen Unfug und vordringliches Judenthum über Nacht abhandengekommen war. Ihnen und Schopenhauer danke ich es, wenn ich bis jetzt festgehalten habe an dem germanischen Lebensernst, an einer vertieften Betrachtung dieses so räthselvollen und bedenklichen Daseins.5 Wie viele rein wissenschaftlichen Probleme sich mir durch den Hinblick auf Ihre so einsam und merkwürdig dastehende Persönlichkeit allmählich erklärt haben, möchte ich Ihnen lieber einmal mündlich sagen, wie ich es auch gewünscht hätte, alles was ich eben geschrieben habe, nicht schreiben zu müssen. Wie gern würde ich an dem heutigen Tage in Ihrer See- und Bergeinsamkeit6 erschienen sein, wenn nicht die leidige Kette meines Berufes mich in meiner Basler Hundehütte zurückhielte. Schließlich habe ich noch die Bitte auszusprechen, der Frau Bronin von Bülow7 bestens empfohlen zu werden und mich selbst zeichnen zu dürfen als Ihren treusten Dr Nietzsche 1. Arthur Schopenhauer (1788-1860): German philosopher. See his entry in Nietzsche's Library.
Basel, Mitte Juni 1869: Liebe Mutter, nun laß Dir wieder einmal etwas erzählen von Deinem Sohne dem freien Schweizer, und zwar nur Angenehmes und Erfreuliches, eitel "Milch und Honigseim": ein Gleichniß, das uns unsre Schweizer Frühstückssitte ganz besonders nahe bringt. Freilich ist es ein recht verändertes Leben, das ich hier lebe; nichts mehr von jener souveränen Disposition, von der Verachtung des Tages und der Woche. Vielmehr empfinde ich recht deutlich, wie auch die erwünschteste Thätigkeit, wenn sie "amtlich" und "berufsmäßig" betrieben wird, eine Fessel ist, an der unser einer mitunter ungeduldig zerrt. Und dann beneide ich meinen Freund Rohde, der in der Campagna und Etrurien umherschweift, frei wie das Wüstenthier.1 Am lästigsten wird mir wie Du Dir denken kannst, die greuliche Masse der "geehrten" Collegen, die sich pflichtmäßig bemühen, mich Abend für Abend einzuladen: so daß ich bereits erfinderisch bin, in geschickter Art Einladungen abzulehnen. Im Übrigen sind die Leute mir wohlgesinnt. Und wer mit einiger Verstimmung meine Ankunft an Ort und Stelle aufgenommen hat,2 hat sich jetzt entweder ins Unvermeidliche gefügt oder auch bei näherer Bekanntschaft mit mir den Grund seiner Verstimmung gehoben gefühlt. Besonders wichtig nach dieser Seite war meine Antrittsrede, die ich vor ungewöhnlich angefüllter Aula kürzlich erst gehalten habe und zwar "über die Persönlichkeit Homers." Durch diese Antrittsrede sind die Leute hier von Verschiedenem überzeugt worden, und mit ihr war meine Stellung, wie ich deutlich erkenne, gesichert. — Ich würde noch viel zufriedner sein, wenn ich meinen Freund Rohde hier hätte: denn es ist lästig sich wieder einen intimen Freund und Berather anschaffen zu müssen, als Hausbedarf. Sonst habe ich Dir wohl schon den Collegen Bur[c]khardt bezeichnet, einen geistvollen Kunsthistoriker, und ebenso den Nationalökonomen Schönberg,3 als umgangswerthe Menschen. Von äußerster Wichtigkeit ist aber, daß ich ja den ersehntesten Freund und Nachbar in Luzern habe, zwar nicht nahe genug, aber doch immer nur so weit, daß jeder freie Tag zu einer Zusammenkunft benutzt werden kann. Dies ist Richard Wagner, der als Mensch durchaus von gleicher Größe und Singularität ist, wie als Künstler. Mit ihm und der genialen Frau von Bülow (Tochter Liszt's) zusammen habe ich nun schon mehere glückliche Tage verlebt, zB. die letzten wieder, Sonnabend und Sonntag.4 Wagner's Villa, am Vierwaldstätter See gelegen, am Fuße des Pilatus, in einer bezaubernden See- und Gebirgseinsamkeit, ist wie Du Dir denken kannst, vortrefflich eingerichtet: wir leben dort zusammen in der angeregtesten Unterhaltung, im liebenswürdigsten Familienkreise und ganz entrückt von der gewöhnlichen gesellschaftlichen Trivialität. Dies ist für mich ein großer Fund. Soviel für heute. Ich werde Dir sehr dankbar sein, wenn Du mich bald wieder durch einen Deiner inhalt- und liebereichen Briefe über Dein Befinden, und über alles was mich angeht benachrichtigst: denn ich lebe wie auf einer Insel. Meinen lieben Verwandten, in deren Mitte Du lebst, meinen besten Gruß, insgleichen dem Vetter Rudolf.5 Ich erwarte eine Notiz über Lisbeth's Geburtstagswünsche.6 F. N. 1. Erwin Rohde spent over a year in central and southern Italy, engaging in philological pursuits. See Otto Crusius, Erwin Rohde. Ein biographischer Versuch. Tübingen; Leipzig: Mohr, 1902:33-37.
Basel, July 4, 1869: Lieber Wilhelm, das erste Lebenszeichen, das Du von mir aus Basel erhältst, wird nun gar zu einem Geburtstagsbrief.3 Da sieht man, welchen demoralisirenden Einfluß so ein Amt4 hat: man lernt seine heiligsten Pflichten, die Freundschaftspflichten, zu vernachlässigen. Heute aber, als ein Blick auf den Kalender mir mein begangnes Unrecht vor Augen führte, drängt es mich, von Dir Absolution zu erbitten, die ich natürlich am liebsten mündlich und personaliter zu haben wünsche, eingedenk nämlich jener feierlichen Rütliscene5 auf dem Naumburger Straßenpflaster und des dort gegebnen gegenseitigen Versprechens, baldigst wieder in Basel zusammenzutreffen und zwar zum Zwecke eines guten Frühstücks und andrer ernster Dinge. Auf diese erquickliche Aussicht wollen wir heute, ein jeder im Weine seiner Heimat,6 bei Tische anstoßen. Ich sollte denken, daß Dir nach den Stürmen und Aufregungen Deines Berufes7 häufig die Sehnsucht kommen müßte, seitab von Mördern und andern Strolchen einmal in einem Alpenthale etwas Dich auszuruhen. Solche Pläne mußt Du mir aber immer zuerst mittheilen: denn ich bin jetzt für alle meine Freunde der Alpenführer, der sie an der Grenze der Schweiz empfängt und es sich angelegen sein lassen wird, sein neues Vaterland mit seinen Schönheiten würdig zu präsentieren. In dieser neuen Eigenschaft mich empfehlend, zugleich mit den besten Wünschen für Dein Wohl und unsre Freundschaft, endlich mit vielen angelegentlichen Grüßen an Gustav und Deine verehrten Angehörigen bin ich 1. See GSA 101/376 (unavailable). Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and reproduced a photo taken at the 1871 Leipzig Book Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
Naumburg, 7. Oktober 1869: Heil und Segen voran! die Überschrift des Briefes zeigt Dir, welche Üppigkeit mir zu Theil geworden, heimatliche Wärme1 und Erinnerungsfülle. Draußen vor den Fenstern liegt der gedankenreiche Herbst im klaren mildwärmenden Sonnenlichte, der nordische Herbst, den ich so liebe wie meine allerbesten Freunde, weil er so reif und wunschlos-unbewußt ist. Die Frucht fällt vom Baume, ohne Windstoß. Und so ist es mit der Liebe der Freunde: ohne Mahnung, ohne Rütteln, in aller Stille fällt sie nieder und beglückt. Sie begehrt nichts für sich und giebt alles von sich. Nun vergleiche die scheußlich-gierige Geschlechtsliebe2 mit der Freundschaft! Ich sollte auch meinen, daß jemand, der den Herbst, wenige Freunde und die Einsamkeit wahrhaft liebt, sich einen großen, fruchtbar-glücklichen Lebensherbst prophezeien darf.
Aber Du weißt, welchen Müßiggang wir meinen: haben wir doch schon zusammen gelebt, als ächte σχολαστικοί4 dh. Müssiggänger. Und was hindert uns, von jenem Lebensherbst zu hoffen, daß er wieder uns so zusammenbringt? Sei dies denn Wunsch und Hoffnung, ausgesprochen am Gedenktage Deiner Geburt,5 aber immer und allezeit im Herzen getragen.! Von hier aus suche ich denn die alten Erinnerungsstätten in Leipzig auf, und Romundt meldet6 mir freundschaftlichst, daß er bereits dort eingetroffen sei, um mich nicht zu verfehlen. Habe ich Dir geschrieben daß er meine Einladung angenommen hat, den Anfang des Wintersemesters in Basel zu erleben, und daß wir dort die schwierige Frage seiner Zukunftsstellung mitsammen erledigen wollen.7 Schreibe mir doch Deine Meinung: wie ich ihn jetzt kenne, nach der schönen Entwicklung des letzten Jahres, halte ich ihn der Aussicht auf einen philosophischen Lehrstuhl durchaus für würdig. Wohlverstanden der Aussicht! Er wird viel zu thun haben, zur systematischen Bewältigung ganzer philosophischer Disciplinen. Und es möchte noch manches Jahr hingehen dürfen. Übrigens wünsche ich unser Zusammentreffen auch deshalb so sehnlich, weil eine ganze Fülle von aesthetischen Problemen und Antworten seit den letzten Jahren in mir gährt, und mir der Rahmen eines Briefes zu eng ist, um Dir etwas darüber deutlich machen zu können. Ich benütze die Gelegenheit öffentlicher Reden,8 um kleine Theile des Systems auszuarbeiten, wie ich es zB. schon mit meiner Antrittsrede9 gethan habe. Natürlich ist mir Wagner im höchsten Sinne förderlich, vornehmlich als Exemplar, das aus der bisherigen Aesthetik unfaßbar ist. Es gilt vor allem kräftig über den Lessingschen Laokoon10 hinauszuschreiten: was man kaum aussprechen darf, ohne innere Beängstigung und Scham. Windisch ist nun habilitirt:11 Brockhausens12 haben mich in Basel besucht, auch sind wir einen Tag in Tribschen13 zusammengewesen. Ritschl und Frau14 haben eine ganz unglaubliche Liebe und Hochschätzung vor mir: was ich Dir verrathe, um Dir Freude zu machen. Es sind doch höchst liberale Menschen, mit vieler eigner Kraft: sie ehren sich, wenn sie das Andersartige so unbefangenfreudig gelten lassen. Und ich sollte mich sehr wundern, wenn Sie nicht auch über Dich so und ähnlich urtheilen. Das muß doch das Philologenthum empfinden, daß wir gute Freunde sind und unterschiedlich doch von allen anderen. Nicht wahr? Liebster Freund? F.N. Bis zum 17ten Okt. bin ich hier. — Die schöne und nützliche Collation des certamen15 ist ein rechter Freundschaftsdienst! Gott, daß solche ausgezeichneten Freunde wie Du, Handschriftsclaverei und ähnliche Scheußlichkeiten mir zu Liebe über sich nehmen!! 1. Nietzsche was spending his autumn vacation at home in Naumburg from October 4-18. |
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