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Naumburg, 1-3 Februar 1868: Mein lieber Freund, Sonnabend ist es und zwar neigt sich der Tag seinem Ende zu. Für einen Soldaten liegt ein Zauber in dem Wort "Sonnabend," ein Gefühl der Beruhigung und des Friedens, das ich als Student nicht kannte.1 Ruhig schlafen und träumen zu können, ohne daß das Schreckensbild des andern Morgens die Seele umschwebt, wiederum 7 Tage jener uniformirten Aufregung, die man Militärjahr nennt, überwunden und abgethan zu haben — was giebt das für einfache und starke Vergnügungen, eines Cynikers würdig und fast zu billig und zu bequem von uns erworben! Ich verstehe jetzt jene erste und größte Sonnabendnachmittagstimmung, in der das behagliche Wort erscholl ,2 in der der Kaffe und die Pfeife erfunden wurde und der erste Optimist ins Leben trat. Jedenfalls waren die Ebräer, die jene schöne Geschichte erdachten und glaubten, Kriegsleute oder Fabrikarbeiter, aber gewiß keine Studenten; denn diese hätten 6 Feiertage und einen Werkeltag zum Vorschlag gebracht und würden in der Praxis auch jenen einen Tag den übrigen gleich gemacht haben. Wenigstens war dies meine Praxis: und ich fühle augenblicklich den Gegensatz zwischen meinem jetzigen Leben und meiner früheren wissenschaftlichen Müssiggängerei sehr stark. Könnte man nur einmal die Philologen von 10 Jahren zusammen holen und sie zur Dienstleistung in ihrer Wissenschaft so drillen, wie es beim Militär Mode ist: nach 10 Jahren wäre eine Philologie nicht mehr nöthig, weil alle Hauptarbeit gethan wäre, sie wäre aber auch nicht mehr möglich, weil kein Mensch freiwillig unter diese Fahne treten würde, eine Fahne, bei der der Begriff des "Einjährigen-Freiwilligen" ganz wegfällt. So ein Sonnabend macht geschwätzig, wie Du merken wirst; da wir die übrige Woche zu viel zu schweigen haben und alle unsre Seelenfähigkeiten nach dem Kommandowort des Vorgesetzten zu regeln pflegen, so quillt an den unbewachten Momenten des Sonnabends das Wort aus der Lippe und die Zeile aus dem Tintefaß, zumal wenn das Feuer im Ofen knistert und draußen der frühlingschwangere Februarsturm braust. Sonnabend, Sturm und Zimmerwärme, das sind die besten Ingredienzen, aus denen der Punsch der "Briefstimmung" gebraut wird. Mein lieber Freund, dies mein Leben ist jetzt wirklich sehr einsam und freundelos. Da ist nichts von Anregungen, das ich mir nicht selbst gäbe, nichts von jenem harmonischen Zusammenklang der Seelen,3 wie es manche gute Stunde in Leipzig mit sich brachte. Vielmehr Entfremdung der Seele von sich selbst, Übergewicht eines herrschenden Einflusses, der den Geist zu straffer Furcht zusammenrafft und ihn die Dinge mit einem Ernste zu betrachten lehrt, dessen sie nicht werth sind. Dies ist die Kehrseite meiner jetzigen Existenz, wie Du sie mir gewiß nachfühlen kannst. Drehen wir aber die Münze um. Dies Leben ist zwar unbequem, aber, als Zwischengericht genossen, unbedingt nützlich. Es ist ein fortwährender Appell an die Energie eines Menschen und mundet besonders als 4 gegen die lähmende Skepsis, über deren Wirkung wir manches miteinander beobachtet haben. Dabei lernt man seine Natur kennen, wie sie sich unter fremden, meist rohen Menschen, ohne Beihülfe der Wissenschaft und ohne jene traditionelle fama, die unsern Werth für unsre Freunde und für die Gesellschaft bestimmt, zu offenbaren pflegt. Ich habe bis jetzt bemerkt, daß man mir wohl will, so Hauptmann wie Kanonier; andernseits thue ich, was mir obliegt, mit Eifer und eignem Interesse. Darf man darauf nicht stolz sein, wenn man als der beste Reiter unter 30 Rekruten gilt?5 Wahrhaftig, lieber Freund, das ist mehr als eine philologische Prämie: obwohl ich auch gegen derartige Lobsprüche nicht unempfänglich bin, wie sie mir die Leipziger Fakultät zu Theil werden ließ.6 Darf ich Dir, ohne in den Ruf eines ekeln Narren zu kommen, jenes 7 wie es im Programm S. 22 steht, abschreiben?8 [The following paragraph contains an excerpt from the above-referenced text in Latin, with a brief parenthetical remark in German by Nietzsche.] Philosophorum denique Ordini unus traditus libellus est et ex classe quidem prima: "De fontibus Laertii Diogenis" hac inscriptione 9 Pind[ar] Pyth[ia] II. v.73.10 (Denkst Du noch an unser Nirwanaplätzchen im Rosenthal?) Eius libelli scriptor, quum res, quae ad eam quaestionem pertinerent et litteras quae huc facerent penitus cognovisset earumque momenta acri ingenio examinasset, rem, quam explanandam susceperat persecutus ita est, ut, quum summo acumine in singulis locis cognoscendis atque iudicandis uteretur summaque sagacitate in vero indagando, inveniendo, e tenebris eruendo versaretur ingenioque in colligendo plurimum valeret atque ea, quae explorate perceperat, dilucide exponeret, vix quidquam reliquerit in ea quaestione, quod aut addi aut demi posse videretur, summamque et ingenii et doctrinae laudem ab ordine amplissumo consecutus sit. e. q. s. Nicht wahr, lieber Freund, tant de bruit pour une omelette?11 Aber so sind wir, wir machen uns lustig über solch ein Lob und wissen nur zu gut, was es auf sich resp. hinter sich hat, aber trotzdem verzieht sich das Gesicht zu einem wohlgefälligen Grinsen. Bei solchen Dingen ist unser alter Ritschl ein Kuppler, his laudibus splendidissimis12 sucht er uns im Netz der Dame Philologie festzuhalten. Ich habe erstaunliche Lust, in meinem nächsten in honorem Ritscheli geschriebenen Aufsatz (über Demokrits Schriftstellerei13) den Philologen eine Anzahl bittrer Wahrheiten zu sagen. Bis jetzt habe ich für denselben die schönste Hoffnung: er hat einen philosophischen Hintergrund bekommen, was mir bis jetzt bei keiner meiner Arbeiten gelungen war. Außerdem bekommen alle meine Arbeiten ohne meine Absicht, aber gerade deshalb zu meinem Vergnügen eine ganz bestimmte Richtung; sie weisen alle wie Telegraphenstangen auf ein Ziel meiner Studien, das ich nächstens auch fest ins Auge fassen werde. Es ist dies eine Geschichte der litterarischen Studien im Althertum und in der Neuzeit. Es kommt mir zunächst wenig auf die Details an; jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an, wie das Bedürfniß einer literarhistorischen Forschung sich bildet und wie es unter den formenden Händen der Philosophen Gestalt bekommt. Daß wir alle aufklärenden Gedanken in der Literaturgeschichte von jenen wenigen großen Genien empfangen haben, die im Munde der Gebildeten leben und daß alle guten und fördernden Leistungen auf dem besagten Gebiete nichts als praktische Anwendungen jener typischen Ideen waren, daß mithin das Schöpferische in der litterarischen Forschung von solchen stammt, die selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben, daß dagegen die gerühmten Werke des Gebietes von solchen verfaßt wurden, die des schöpferischen Funkens bar waren — diese stark pessimistischen Anschauungen, in sich einen neuen Kultus des Genius bergend, beschäftigen mich anhaltend und machen mich geneigt, einmal die Geschichte darauf hin zu prüfen. An mir selbst stimmt die Probe; denn mir ist es so, als ob Du bei den niedergeschrieben[en] Zeilen den Duft von Schopenhauerscher Küche riechen müßtest. Von diesen Luftschlössern ist der Abfall zur Wirklichkeit recht bitter. Denke lieber Freund, daß ich, der ich in den angedeuteten Aussichten gelegentlich schwelge, trotzdem nicht im Stande bin, das Allernächste zu beendigen. Es ist mir rein unmöglich, den versprochnen Beitrag zum Ritschlbuche zur rechten Zeit zu liefern.14 So sehr die Materie mir im Kopfe und am Herzen liegt, so fern ist doch die Ausarbeitung: da fehlt es an Hundert Dingen, an Zeit, Büchern, guten Freunden, Momenten der Sättigung und der Erhebung: und zu jedem dieser Mängel muß ich hinzu fügen, daß jeder einzelne schon die Kraft hat, mich an einer Ausarbeitung zu hindern. Glückliche Menschen, sagt Ritschl von den Studenten, ihr habt 14 Stunden des Tages für euch und eure Studien! Elender Mensch, sage ich zu mir, Du hast nicht zwei Stunden des Tages; und selbst diese mußt Du dem Mavors opfern, der dir sonst das Lieutnantpatent verweigert. Ach lieber Freund was ist so ein reitender und fahrender Artilleriste für ein Unglücksthier, wenn er litterarische Triebe hat! Unser alter Kriegsgott hatte eben die jungen Weiber, nicht alte verschrumpelte Musen gern. Ein Kanonier, der über Demokritische Probleme oft genug in der Kasernenstube nachdenkt, auf einem schmutzigen Schemel kauernd, indem ihm die Stiebein gewichst werden, ist nun einmal ein ,15 auf das die Götter mit Hohn blicken. Wenn Ihr also noch bis November dieses Jahres warten wollt, so macht Ihr mir eine große Freude.16 Wir sammeln im Frühjahr und Sommer die Aufsätze unsrer Freunde, besprechen und beurtheilen sie, verhandeln mit dem Buchhändler, lassen lustig drucken — und dann kommt mein Aufsatz, zuletzt und spät zwar, aber doch zur rechten Zeit. Übrigens fand auch Clemm,17 den bisherigen Termin als zu kurz gesteckt. Bitte, theile mir doch Deine Meinung über diesen Punkt mit! Wenn ich Dir sage, daß ich täglich von morgens 7 Uhr bis Abends um 5 im Dienst bin, außerdem noch bei einem Lieutenant und bei einem Thierarzte Vorträge höre, so kannst Du ermessen, wie schlimm ich daran bin. Abends ist der Leib schlaff und müde und sucht zeitig sein Nest. Und so geht es ohne Rast und Ruh aus einem Tag in den andern. Wo bleibt da die für wissenschaftliche Ausarbeitungen nöthige Sammlung und Contemplation! Ach sogar für Dinge, die mir näher stehen als meine litterarischen Bedürfnisse, die 18 eines freundschaftlichen Briefwechsels und der Kunst, fällt so selten eine Stunde ab! Laß mich nur erst wieder im Vollgenuß meiner Zeit und Kräfte sein — si male nunc, non olim sie erit.19 Und im nächsten Jahre gehe ich nach Paris. Beinahe bin ich überzeugt, daß Du auf denselben Gedanken kommen wirst.20 Bekanntlich muß ja ein Biedermann lustig, guter Dinge sein, wenn anders Sankt Offenbach Recht hat.21 Dir, also, Poesie der Zukunft, und dir, Freundschaft der besten Vergangenheit, den letzten Federzug, den letzten Tintenklecks! fulsere quondam candidi tibi soles!22 F Nietzsche 1. On October 9, 1867, Nietzsche began his year of obligatory military service, with the mounted field artillery unit stationed close to Naumburg.
Naumburg, 3. April 1868 und kurz davor: Mein lieber Freund, dieser Brief ist schlecht geschrieben und enthält Krakelfüße; dafür ist es der Brief eines Kranken, der seinen Arm noch nicht ohne Schmerzen bewegen kann. Denn siehe, lieber Freund ich bin seit 3 Wochen schon schwer leidend1 gewesen: und die Veranlassung war eine bagatelle. Da zerreiße ich mir beim Reiten ein Paar Muskeln der Brust und hatte dadurch Schmerzen, die am ersten Abend gleich ein paar Ohnmachten hervorriefen. Nun lag ich 10 Tage fest in der schlimmen Bedeutung des Wortes dh. unbeweglich, wie aufgespannt und mit Stricken gebunden, unter schrecklichen Schmerzen, fortwährendem Fieber, ruhelos Tag und Nacht, mit Eisumschlägen. Dazu kam noch als schlimmer Gesell ein hartnäckiger Magenkatarrh. Endlich nach diesen zehn Tagen wurden Schnitte in die Brust gemacht, und ich habe seit jener Zeit das philokteteische Vergnügen2 einer starken Eiterung. Bei der Zerreißung jener Muskeln hat sich viel Blut im Innern der Brust versetzt: und dies ist nun in Eiterung übergegangen. Ich sage zu wenig, wenn ich sage daß schon 4, 5 Tassen von Eiter aus jener Wunde hervorgequollen sind. Seit jener Zeit bin ich wieder vom Bette aufgestanden; aber der Zustand ist noch kläglich: matt wie eine Fliege, angegriffen wie eine alte Jungfer mager wie ein Storch. Dabei muß ich mich aus einer liegenden Stellung immer noch empor heben lassen; die ganze Brust ist wie eingeschnürt, und alle Bänder Muskeln und Sehnen schmerzen. Vorgestern bin ich auch einmal im Freien gewesen und ich schleppte Bein hinter Bein wie ein Invalide und wurde nach einer Viertelstunde müde. Dies das ärztliche Bulletin. Die Moral: Zerreiße keine Muskel nicht! Nun lieber Freund will ich Dir erzählen, wie unter den vielen abscheulichen Medizinen auch eine sehr angenehme war, die mir mehr genützt hat als jene abscheulichen. Das war Dein Brief und Deine Sendung. Da wachte ich eines Morgens auf, erquickt durch den Schlaf — ich nahm alle Abende Morphium — und bekam wie ein Geschenk des jungen Tages Deinen Brief auf das Bett. Ach bekämen doch alle Kranken solche Briefe; in denen Lebenskraft, Freundschaft, Hoffnung, Erinnerung, kurz alle guten Dämonen stecken. Zugleich war es Deine mitgeschickte Arbeit,3 die mich zum ersten Male wieder zum geordneten wissenschaftlichen Denken reizte, deren Lektüre mich einen Vormittag meine Schmerzen vergessen ließ. Aber heilger Buddha, Du verlangst nun Kritik von mir; ich weiß nicht, was ich Dir als Gesunder darauf antworten würde, als homo miser sage ich nur, daß ich ;4 wie es einmal vom Kallimachus heißt; was mich immer sehr gefreut hat. Doch habe ich für unsre lanx satura5 nur den einen Wunsch: daß die andern 8 Aufsätze6 nicht allzu tief unter das von Dir angenommene Niveau steigen mögen. Ich selbst empfand wirkliche Gewissensbisse: und die Folge war, daß seit jenem Tage ich mich immer mit meinem Demokrit7 schleppe wie eine schwangre Frau; doch ohne Aussicht sobald zu gebären. Der ganze Handel ist etwas bedenklich geworden, und vor meinem leidlich rigorosen philologischen Gewissen zerbrödtelt immer mehr. Du kannst wirklich in puncto Deiner Abhandlung gutes Muthes sein; der Stoff hat doch viel Würze in sich, und Deine ganze Fassung des Problems hat gesunde frische Glieder und rothe Backen. Insbesondre ist jener Zug im Ganzen, der den Leser zwingt erst am Ende Halt zu machen: womit viel gesagt ist. Ein paar Mal hast Du mich etwas erschreckt: obwohl ich mich gleich wieder beruhigte. Aber warum soll der Leser erschrecken? Wenn Du zB. S. 30 gegen Teuffel8 sag[s]t "um so mehr als ja der Lucianische Ursprung des durchaus nicht unbestritten ist,"9 so erschrickt der Leser, den man sich ja als ein wenig dumm vorstellen muß: weil er in dem Glauben stand, es stehe jener Ursprung fest, da Du ohne ein Wort anzudeuten auf jenen Ursprung hin Deine Hypothese behauptet und andre bestritten hast. Liest der dumme Leser nun weiter, so bekommt er die ganze Sachlage später vor Gesicht und entscheidet sich mit Dir, daß der aus dem Stalle Lucians ist. Aber das angeführte Sätzchen muß fort, damit es bei den Nervenschwachen keinen plötzlichen Schrecken macht. Wo Du später die Frage nach der Autorschaft Lucians zu untersuchen beginnst, da hast Du mich zum zweiten Male erschreckt "Nun könnte es scheinen, sagst Du als ob die ganze Frage sich am kürzesten so erledigen lasse, daß man dem Lucian zwar die Autorschaft der Schrift abspräche, dann sich aber usw. — was die Ansicht eines gewissen Hoffmann10 ist. Dieser Satz erregt sogar unser Grausen, weil er so leichthin gegen all die schönen Ausführungen der ersten Kapitel streitet: besonders aber sprichst Du zu kaltblütig von dieser ganzen Auffassung; dies "es könnte scheinen," dies "am kürzesten so erledigen lasse" berührt mich peinlich. Willst Du nicht den Hoffmann bei Seite lassen oder in eine Anmerkung werfen?11 Schließlich kann ich Dir kaum einen Satz der nächsten Seite zugeben "und alles bisher Vorgetragne könnte richtig sein, auch wenn Lucian nicht der Verfasser unsres wäre";12 was in dieser Allgemeinheit gesagt schnell den Widerspruch weckt. So habe ich mich doch noch zu einigen Äußerungen verlocken lassen, die ganz von ferne an das von Dir gewünschte munus critici13 erinnern. Na, verzeih, daß sie überhaupt geschrieben sind. Denke Dir, daß man mir in diesen Tagen feierlich durch den Unteroffizier du jour im Namen des Hauptman[n]s und der Avancirten gratulirte, daß ich auf Regimentsbefehl "Gefreiter" geworden sei. Ach, beim Hund, daß ich doch erst "Befreiter" wäre! Das erinnert mich an jene Pariser-Reiseaussichten,14 die Du wie einen schönen bunten Ball mir zugeworfen hast. Ich stimme bei, ich bin überzeugt, ich hoffe, ich arrangiere; der Gedanke ist bei mir schon fest in mein nächstes Zukunftsgewebe eingewoben. Aber lieber Freund nicht vor Sommer nächsten Jahres! Denn Schreckliches verlangen die Himmlischen vorher noch von mir: sie haben vor jene Reise 15 gestellt. Doktordissertation,16 Ritschl-satura,17 Museumsindex18 — "Brich nicht Steg[.]"19 Übrigens möchte ich nicht in Paris leben, wenn es nicht möglich wäre, etwas mit für seinen Broderwerb zu sorgen. Man ist dort so fleißig und man bezahlt den Arbeiter gut. Seien wir Arbeiter! Auf die Dauer kann ich nicht auf mein Restchen Vermögen hin leben, besonders nach Pariser Fuß. Jedenfalls wird dort großartig gearbeitet, die Bibliothek zerwühlt, eine Revolution mitgemacht, der Tod des Kaisers20 erlebt und Französisch gelernt. Ach lieber Freund was für Aussichten für einen Philoktet, der wieder sein voll 21 — sind das wirklich die richtigen griechischen Worte: ich verlerne 22 — etc. —
Da liegt wieder eine Reihe von Tagen. Daß man nicht einmal an seine Freunde ungestraft schreiben darf. Ja die Götter sind böse und neidisch von Jugend auf. Dies Bischen Briefschreiben hat mir so geschadet, wie ich nicht vermuthen konnte. Ich mußte wieder zu Bett liegen bleiben und bin seit der Zeit steifer als ein Bock. Du hast keinen Begriff, was für vorsichtige Anstalten ich heute bei dem Schreiben dieser Zeilen treffen muß, um zB. mit der Feder Tinte zu fangen. Und trotzdem alle Augenblicke dieser krampfartige Schmerz. Die Wunde eitert fort. Der Arzt ist zu einer andern Garnison versetzt. Ja ich weiß es die Götter können die Cynismen, das Proletariat des Witzes nicht vertragen; sie zürnen mir, weil ich Dir von und 23 geschrieben habe. Nun zwei Erlebnisse. Gestern kam Kohls Dissertation24 an und zwar mit dem Titel "I. Kants Ansicht von der Willensfreiheit" Denke Dir, eine philosophische Dissertation von Kohl! In der der Name Schopenhauer lustig herumschwimmt. Ohne Unbescheidenheit sei es gesagt: ich roch so etwas von unsrer Athmosphaere heraus. So recht innerlich ist die Aneignung Schopenhauers nicht: er wird mitunter mißgedeutet; und am Schluß geht es ihm schlecht als einem, dessen Lehre von der Unveranderlichkeit des Charakters im Grunde daher stamme, daß er seinen eignen selbst nicht habe im Zaume halten können.25 Übrigens hat mich dies auf den Einfall gebracht, auch einmal philosophisch zu promovieren26 und so meiner Studentenkarte in Bonn und Leipzig noch nachträglich zu ihrem Rechte zu verhelfen; ich bin nämlich immer als stud. philos. spazieren gegangen. Jetzt das zweite Erlebniß. Am selbigen Tage bekomme ich einen verführerisch liebenswürdigen Brief von Zarnke,27 in dem er mir die Mitarbeiterschaft am litter. Centralblatt anträgt und zugleich für selbiges eine Anzeige der eben erschienenen Theogonieausgabe von Schümann28 wünscht: als welches Buch er mitschickt. So tauft man mich gebrechliches Menschenkind erst zum Gefreiten und dann zum Recensenten! Gestern erzählte Volkmann,29 Curt Wachsmuth habe eine große Entdeckung30 gemacht. Mehr wußte er nicht. Einen zweiten Sohn hat er auch gezeugt. Lieber Freund, ein Wort nach und aus meinem Herzen hast Du geschrieben: der Instinkt ist das Beste am Intellekt. Besagter Instinkt sagt mir jetzt wie ein 31 "Denke noch etwas an Deinen fernen Freund, aber schreibe nicht mehr." Und damit Lebwohl! 1. In March 1868, Nietzsche sustained a severe injury to his sternum in a riding accident. Cf. 06-22-1868 letter to Carl von Gersdorff.
Naumburg, 2. Juni 1868: Mein lieber Freund, ich setze voraus, daß es Dich weniger Zeit kosten wird, einen Brief zu lesen als zu schreiben und gestatte mir deshalb, Deine tiefe Arbeit auf eine harmlose und vielleicht erquickliche Weise zu unterbrechen. Im Grunde hole ich nur nach was ich kürzlich versäumt habe, als das Pförtner Schulfest1 lebhafter als je in mir die Hoffnung rege machte, Dich einmal wieder von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Damals lag der Stoff zu den schönsten Unterhaltungen auf meinen Lippen; im festlichen Gewände wartete ich, daß ein wohl bekannter Schritt die Treppe herauf poltern werde — und wartete vergebens. Keiner aus der Schaar meiner Pförtner Bekannten (excepto Schenkio2) hat jenes Fest der Beachtung werth gefunden — wie ich es selbst nicht geachtet habe, ja sogar weder beim Empfang der Gäste, noch im Turnsaal oder auf dem Bergtage zugegen gewesen bin. Nun hielt mich zwar vor allem mein durchaus noch nicht gehobenes Leiden3 zurück, das ich mit allen möglichen Maschinen bekämpfe und das doch hartnäckiger ist als es auch der Laune eines geduldigen Mannes erträglich ist. Im Ganzen ist aber auch die gegenwärtige Pforte für mich kein Gegenstand der Sympathie: wir denken wohl noch gerne an sie wie an eine ehemalige Geliebte, aber mögen doch nicht vergnügt zusehn, wie sich die Abtrünnige mit ihrem neuen Liebhaber amüsirt. Dazu ist dieser Liebhaber auch zu schäbig, vor allem zu schwarz.4 Aus dem Munde des Volkes vernahm ich, daß Du in Deiner Heimat lebtest — und dies erklärte mir hinreichend, weshalb Du nicht gekommen warst. Was dieser Mund hinzufügte "Du seist in Aristoteles versenkt" wird wohl ebenfalls mutato nomine5 seine Richtigkeit haben. Jedenfalls aber war ich sehr ärgerlich, daß eine so schöne Hoffnung mir zwischen den Fingern zerlaufen war; denn ich hatte mir vorgenommen, Dich auf gewaltsame Weise in Naumburg festzuhalten, um uns gegenseitig die "wichtigen" Ergebnisse und Erfahrungen mitzutheilen, wie sie junge Leute die am Schlüsse des ersten Drittels ihres Daseins stehen auf dem Herzen zu haben pflegen. Da ist zum Beispiel die große Thatsache eines Bartes und die kleine einer Lebensphilosophie, da ist der erhabene Standpunkt eines Cylinders usw. — Übrigens fällt mir eben ein, daß es ein böser Dämon vielleicht verhindert hat, daß mein letzter Brief6 überhaupt in Deine Hände kam. Ich habe ihn nach Berlin unter Deiner alten Addresse geschickt. Er enthielt die Nachricht über meine Erkrankung und etwas Philologie, wenn ich mich recht erinnre. Es ärgert mich immer, wenn ein Brief an meine Freunde verlorengeht: denn ich kann es nicht über das Herz bringen, dieselbe Sache zweimal zu besprechen. Wenn Du übrigens Deine Heimat wieder verläßt, um in Berlin die Tortur7 zu erleiden, so zwinge Dich einmal, über Naumburg zu reisen. Hier will ich Dir alle möglichen schönen Zauberformeln ins Ohr sagen, damit Dich der Teufel nicht verschlinge. Einstweilen wünsche ich Dir die hellsten Blicke und die frohste Ausdauer zum Vollbringen Deiner Arbeit. Meine Lebenspläne (an denen freilich das Schicksal, der große Censor, noch viel herumcorrigieren wird) sind zunächst diese. Im nächsten Jahre ist eine Reise nach Paris beabsichtigt, wo ich nicht unter einem Jahre zu bleiben gedenke. Meine Freunde Rohde und Dr[.] Kleinpaul8 begleiten mich. Nachher werde ich mich wahrscheinlich in Leipzig habilitieren, wo eben ein andrer Freund Dr[.] Windisch9 sich für Sanskritbedürfnisse etablirt, und wo ich immer noch durch den blühenden philolog. Verein in einem Verhältniß zur Philologenschaft stehe. Nächstens werde ich Dir hoffentlich mein Laertianum und einen andern Aufsatz zuschicken können, die beide im rhein. Mus. gedruckt sind.10 Letzterer behandelt jenes allerliebste Danaelied, dessen Wohlgeschmack mir noch von Bonn her auf der Zunge liegt. Größere litterarische Absichten wachsen in mir von Tag zu Tag, und ebenso rüste ich mich geistig zu dem Berufe eines Universitätslehrers, indem ich viel für mich über die rechte Methode des Lehrens und Lernens, über das Maß und die Bedürfnisse jetziger Philologie nachdenke.11 Soviel über mich. Gestern noch habe ich aber jemand gesprochen, der Dich häufiger getroffen hatte und mir einige Einzelheiten über Deine Studien etc mittheilte. Dies ist Stedtefeld,12 gegenwärtig Lehrer in Schulpforte. Er klagte etwas über Deinen allzu leicht erregten Enthusiasmus, über die Schnelligkeit und Umfänglichkeit Deiner Pläne, denen die nöthige Ausdauer nicht entspräche. Nun, lieber Freund, solche Dinge verzeihe ich am allerersten; ja ich lobe diese Fähigkeit, weil sie Dich verhindern wird, in den Sumpf zu fallen, in den so viele junge Philologen gerathen. Sie werden durch das ängstliche Bestreben beunruhigt, möglichst bald auch einmal eine wissenschaftliche That aufweisen zu können und stürzen deshalb wie Wüthende auf einen Schriftsteller, der ihnen Gelegenheit und Stoff zu solchen Thaten geben soll. Auch bei diesen armen Ehrgeizigen stat pro ratione voluntas:13 sie plagt nicht sowohl ein schöpferischer Trieb, als der Wille schöpferisch zu sein. Und wehe der ratio, die erst vom Willen ins Schlepptau genommen wird: Beiläufig sind diese Naturen gerade die prätentiösesten. Überhaupt wirst Du finden, daß den meisten Philologen irgendwo eine moralische Verschrobenheit anhaftet. Zum Theil erklärt sich dies sogar physisch, insofern sie gezwungen sind ein Leben gegen die Natur zu führen, ihren Geist mit unsinniger Zufuhr zu überfüttern, ihre seelische Entwicklung auf Kosten des Gedächtnisses und des Urtheils zu vernachlässigen. Gerade die schöne Fähigkeit der Begeisterung ist am seltensten unter den jetzigen Philologen: als trauriges Surrogat derselben zeigt sich Selbstüberschätzung und Eitelkeit. Es hat mich geradezu geschmerzt, dies auch von Bernays14 zu hören, den ich im Ganzen doch als den glänzendsten Vertreter einer Philologie der Zukunft (dh. der nächsten Generation nach Ritschl Haupt Lehrs Bergk Mommsen usw15) aufzufassen gewohnt bin. Ähnliches gilt von Lucian Müller,16 dem begabtesten Gassenjungen unsrer Philologie. Ja man nenne einen beliebigen Namen, man denke an V. Rose oder Ribbeck, oder Bücheler, oder Wachsmuth etc.;17 überall zeigt sich eine wunderliche Hochachtung des eignen Naturells und Mangel an ächter Begeisterung. Wo diese Leute warm werden, wo ihr Wesen, ihre Sprache, ihr Denken in Fluß und Schwung kommt, da ist es das Gefühl ihrer Zeugungskraft: sie erwärmen sich als Künstler, nicht als Ethiker. Nur der Ethiker aber kennt die wahre Begeisterung, die durch und durch selbstlos ist. Nun, mein lieber Freund, will ich Dich noch bitten, mir einmal einen recht ausführlichen Brief über Deine Arbeit zu schreiben; ja ich habe gar nichts dagegen, daß Du mir dieselbe zuschickst. Du sollst dann von mir hören, was ein freimüthiger Freund theils zu loben, theils zu tadeln hat. Insbesondere, wenn Deine Arbeit etwa die Echtheitsfrage berühren sollte, würde mein Interesse für dieselbe das doppelte sein. Nur verschone mich mit einer Conjekturensammlung. Eine musterhafte Arbeit eines Freundes ist noch kürzlich in meinen Händen gewesen, verfaßt von meinem Freunde E. Rohde in Kiel. Mit niemandem in der Welt bin ich so eins sowohl über philosophisch ethische Dinge als über philologische Anforderungen und Wünsche als mit diesem. Seine Abhandlung über "Lucians _<@l im Verhältniß zu Lucius v[on] Paträ und Apulejus," ist in diesen Tagen an das rheinische Museum abgegangen.18 Übrigens gehört auch Rohde zu den Verführten, die in Schopenhauer ihr geistiges Centrum gefunden haben. Meine größte Freude in der letzten Zeit ist die gewesen, hier und da begeisterte Anhänger für diesen Namen geworben zu haben. Was wirst Du sagen, daß zu diesen auch der eminente Oberpfarrer Wenkel gehört, der mit flatternden Fahnen in jenes Lager übergegangen ist? Er gestand mir kürzlich, daß er erst jetzt erfahren habe, was Philosophie ist, und daß was Philosophen außer Kant und Schopenhauer geleistet haben, im Grunde gleich Null ist. Ich erwärme mich förmlich an diesen Flammen der Begeisterung, die mich an meine "erste Liebe"19 erinnern. Selbst die von Wenkel20 so hochgeschätzten Männer wie Schleiermacher und Strauß21 sind für ihn jetzt blaß und farblos geworden. Doch wozu erzähle ich Dir das? Gewiß nicht, um Dich ärgerlich zu machen. Im Grunde nur, um Dir zu beweisen, daß mein Geschmack auch in diesem Punkte nicht so paradox ist, wie es mitunter erscheinen mag meinem Freunde Paul Deussen.
Empfiehl mich bestens Deinen verehrten Angehörigen; ich denke mitunter mit großem Behagen an Deine Heimat. — Im Übrigen schreib mir bald einmal, addressire nur nach Naumburg: der Brief erreicht mich schon, wenn ich noch das Leben habe.22 Aber auch dies Flackerding kann einmal auslöschen. 1. Schulpforta, 05-21-1868. Naumburg, 22. Juni 1868: Mein lieber Freund, heute haben mich meine militärischen Kameraden sammt und sonders verlassen; sie sind auf dem Wege nach Magdeburg um sich dort im Schießen zu üben. Somit bin ich ziemlich der einzige bunte Rock in Naumburgs Mauern, ein übrig gebliebener flügellahmer Storch, der mit Neid seine kräftigeren Gefährten von dannen ziehen sieht. Ja, lieber Freund, was auf mannichfach verschlungenem Wege das Gerücht Dir schon zu Ohren gebracht hat, ist zum besten (dh. zum schlechtesten) Theile wahr: meine Kriegerlaufbahn ist nicht gerade glücklich von mir in Scene gesetzt worden.2 Ich hatte den Winter und mit ihm die schwerste und unerquicklichste Hälfte des Dienstes überstanden; man hatte mich zum Gefreiten gemacht und war wohl auch mit meinem Gebühren, zufrieden. Ich selbst athmete auf, als die schöneren Tage kamen und ich das Pferd auf dem weiten Exercirplatze tummeln konnte. Zuletzt ritt ich das feurigste und unruhigste Thier der Batterie. Eines Tages mißlingt mir in der Reitstunde ein schnell ausgeführter Sprung aufs Pferd; ich traf mit der Brust hart auf den Vorderzwiesel und spürte in der linken Seite einen zuckenden Riß. Ich ritt ruhig weiter und hielt auch noch anderthalb Tage den wachsenden Schmerz aus. Am zweiten Tage abends aber kamen zwei Ohnmachten und am dritten lag ich fest und wie angenagelt unter den heftigsten Schmerzen und starkem Fieber zu Bett. Er ergab sich durch ärztliche Untersuchung, daß ich mir zwei Brustmuskeln zersprengt hatte. Die Folge war ein entzündlicher Zustand des ganzen Muskel- und Bändersystems im Oberkörper und eine mächtige Eiterung, durch die Blutversetzung bei der Zerreißung herbeigeführt. Als etwa nach 8 Tagen ein Schnitt in die Brust gemacht wurde, kamen mehere Tassenköpfe voll Eiter hervorgestürzt. Seit jener Zeit dh. seit einem Vierteljahr hat die Eiterung nicht aufgehört; natürlich war ich, als ich vom Bett wieder aufstand, so erschöpft, daß ich erst wieder gehen lernen mußte. Der Zustand war kläglich; ich brauchte zum Aufrichten, Gehen, Niederlegen fremde Hülfe und konnte nicht schreiben. Allmählich wurde mein Befinden besser; ich genoß eine stärkende Diät, gieng viel Spazieren und kam wieder zu Kräften. Aber die Wunde blieb offen und die Eiterung nahm kaum ab. Endlich ergab sich, daß der Brustknochen verletzt war, und daß hierin das impedimentum der Genesung liege. Eines Abends erschien auch der erste sichere Bote dieser Thatsache, ein Knöchelchen, das der Eiter mit herausgeschwemmt hatte. Das hat sich seitdem wiederholt und steht nach der Aussage der Ärzte noch öfter zu erwarten. Löst sich ein größeres Stück Knochen ab, so muß auch eine leichte Operation vorgenommen werden. Die Sache ist durchaus nicht gefährlich, aber langwierig; die Ärzte haben nichts zu thun als die Natur in ihrem Ausscheidungs- und Ergänzungsprozeß zu unterstützen. Dazu mache ich öfter des Tages Einspritzungen mit Kamillenthee und Höllensteinauflösung und bade täglich in warmem Wasser. Von unserm Stabsarzte werde ich in einiger Zeit für "zeitig unbrauchbar" erklärt werden; und es ist möglich, daß ich eine Schwäche an der betroffnen Stelle immer behalte. In nächster Woche will ich einmal nach Halle reisen, um den berühmten Operateur Volkmann3 zu consultieren. Diese Gelegenheit benutze ich, um das geliebte Leipzig sammt seinen Insassen heimzusuchen. Ich freue mich außerordentlich darauf, den vortrefflichen Ritschl4 wiederzusehn, der, seitdem ich von Leipzig weg bin, immer die liebenswürdigsten Beweise seiner Theilnahme und seines Wohlwollens mir gegeben hat: so daß ein ziemlich regelmäßiges Herüber- und Hinüberschreiben entstanden ist, und nie ein Monat vergeht, wo ich im Ungewissen über sein Befinden bin. Auch, was ich sonst von Leipzig höre, ist für mich voller Genuß: z. B. daß der philologische Verein5 kräftig zunimmt, daß meine guten philologischen Kameraden sich mit Doktorhüten oder gelehrten Arbeiten schmücken, daß der wunderliche Kauz Romundt6 mit einer Tragödie schwanger geht, die er im Leipziger Theater aufzuführen hofft, daß Freund Windisch7 sich unter glänzenden Auspicien in Leipzig habilitieren wird usw. Sobald ich wieder die Feder führen konnte, habe ich mich wieder in meine Studien gestürzt, von denen ich Dir durch das zugesandte Danaeliedchen8 eine Probe gegeben habe. Auf Arbeiten war ich angewiesen, da ich aus begreiflichen Gründen wenig Umgang in Naumburg habe und nur selten einmal Besuch von Volkmann oder Dr Blass (einem Philologen vom Domgymnasio)9 oder von Stedtefeld10 bekomme, welcher letztere in Pforte die Stellung eines Adjunkten einnimmt. Auch erfreue ich mich mitunter an dem geistreichen Wenkel,11 von dem ich Dir auch erzählt habe. Wir sprachen früher viel zusammen über Philosophie etc. und ich konnte ihm, obschon er Hegeling12 war, meine vollste Hochschätzung nie versagen. Kürzlich, als ich wieder mit ihm zusammentreffe, erfahre ich, daß er seit jener Zeit mit vollen flatternden Fahnen in Schopenhauers13 Lager übergegangen ist und daß er mit begeisterter Wärme allseits und überall auf diesen Genius hinweist. Dies ist ein glänzender Zuwachs zu jener stillen Ketzergemeinde, welche Haym14 die "wunderbaren Heiligen" zu nennen pflegt. — In Kürze bekommst Du weitere Nachrichten von mir, theurer Freund! F.N. 1. See GSA 101/8. Ferdinand Anders-Paltzow (1826-1894): German photographer with a studio at Grosse Ulrichstrasse 35 in Halle, which was about a 5-minute walk from the university.
Wittekind, 2. Juli 1868: Hochverehrte Frau Geheimräthin, auch wenn ich das entliehene Buch nicht zurückzuschicken hätte, würden Sie doch heute einen Brief von mir bekommen haben. Denn allzusehr hat mich dieser letzte Sonntag verpflichtet, ein Tag von solcher Anmuth und Sonne, daß die Erinnerung an ihn das Beste ist, was ich aus Leipzig mit in mein einsames Bad gebracht habe.2 Wenn Sie aber einmal, ich weiß nicht durch welchen Genius geleitet, mir Ihre auszeichnende Theilnahme geschenkt haben,3 so müssen Sie auch geduldig die Folgen tragen, deren erste dieser heutige Brief sein mag. Vorgestern Mittag bin ich in dem anmaßlichen Badedorf, das sich Wittekind nennt, eingetroffen; es regnete stark, und die Fahnen, die man zum Brunnenfeste aufgesteckt hatte, hingen schlaff und schmutzig herab. Mein Wirth, ein unzweideutiger Gauner mit blauer undurchsichtiger Brille kam mir entgegen und führte mich in das vor 6 Tagen gemiethete Logis, das bis auf ein völlig verschimmeltes Sopha öde war wie ein Gefängnis. Alsbald wurde mir auch deutlich, daß derselbe Wirth für zwei Häuser voller Gäste, also vielleicht für 20-40 Personen, nur ein Dienstmädchen im Sold habe. Die nächste Stunde brachte mir schon einen Besuch, aber einen so unangenehmen, daß ich ihn nur durch energische Höflichkeit von mir abschütteln konnte.4 Kurz die ganze Atmosphäre, in die ich trat, war frostig, regnerisch und verdrießlich. Gestern habe ich etwas die Natur und die Menschheit des Ortes recognoscirt. Bei Tisch wurde mir das Glück zu Theil, in der Nähe eines taubstummen Herrn und einiger wunderbar geformter Frauengestalten zu sitzen.5 Die Gegend scheint nicht übel; aber vor Regen und Feuchtigkeit kann man keinen Schritt vorwärtsgehen und sehen. Volkmann6 hat mich besucht und mir die hiesigen Bäder verordnet, im Übrigen eine Operation in nahe Aussicht gestellt. — Wie danke ich Ihnen, daß Sie mir das Buch Ehlerts mitgaben, ein Buch, das ich am ersten Abend, bei kläglicher Beleuchtung, auf dem Schimmelsopha las und mit Vergnügen und innerer Erwärmung las. Böse Menschen könnten sagen, daß das Buch aufgeregt und schlecht geschrieben sei. Aber das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen; im Grunde ist es Musik, die zufällig nicht mit Noten, sondern mit Worten geschrieben ist. Ein Maler muß die peinlichste Empfindung bei diesem Bildertrödel haben, der ohne jede Methode zusammengeschleppt ist. Aber ich habe leider Neigung für das pariser Feuilleton, für Heines Reisebilder usw. und esse ein Ragout lieber als einen Rinderbraten. Was hat es mich für Mühe gekostet, ein wissenschaftliches Gesicht zu machen um nüchterne Gedankenfolgen mit der nöthigen Dezenz und alla breve niederzuschreiben. Davon weiß Ihr Herr Gemahl7 auch ein Lied zu singen (nicht nach der Melodie "Ach lieber Franz, noch" u.s.w.),8 der sich sehr über den völligen Mangel an "Stil" gewundert hat. Schließlich ging es mir wie dem Seemann, der auf dem Lande sich unsichrer fühlt als im bewegten Schiff. Vielleicht finde ich aber einmal einen philologischen Stoff, der sich musikalisch behanden läßt, und dann werde ich stammeln wie ein Säugling und Bilder häufen, wie ein Barbar, der vor einem antiken Venuskopfe einschläft, und trotz der „blühenden Eile“ der Darstellung — Recht haben.9 Und Recht hat Ehlert fast allerwärts. Aber vielen Menschen ist die Wahrheit in dieser Harlekinjacke unkenntlich. Uns nicht, die wir kein Blatt dieses Lebens für so ernst halten, in das wir nicht den Scherz als flüchtige Arabeske hineinzeichnen dürften. Und welcher Gott darf sich wundern, wenn wir uns gelegentlich wie Satyrn geberden und ein Leben parodiren, das immer so ernst und pathetisch blickt und den Kothurn am Fuße trägt? Daß es mir doch nicht gelingt, meine Neigung zum Mißklang vor Ihnen zu bergen! Nicht wahr, Sie haben davon schon eine erschreckliche Probe?10 Hier haben Sie die zweite. Die Pferdefüße Wagners und Schopenhauers11 lassen sich schlecht verstecken. Doch ich werde mich bessern. Und wenn Sie mir wieder einmal etwas zu spielen erlauben sollten, so werde ich meine Erinnerung an den schönen Sonntag in Töne formen und Sie sollen hören, wie Sie es heute lesen, wie hoch diese Erinnerung gilt einem schlechten Musikanten u.s.w. 1. Sophie Ritschl (1820-?): wife of Nietzsche's philology professor, Friedrich Ritschl. She was a friend of Richard Wagner's sister, Ottilie Brockhaus, through whom she was able to introduce Nietzsche to Wagner.
Naumburg, 6. August 1868: Mein lieber Freund, heute darf ich Dir und mir gratulieren, Dir als dem glücklichen und vielbewunderten Sieger im akademischen Wettkampfe,3 mir als dem endlich Genesenen, von dem die Engel singen: Gerettet ist das edle Glied In Leipzig war das Gerücht Deiner Krönung allseitig verbreitet, zugleich mit einem stereotypen Refrain, daß Du Dich in Kiel habilitieren würdest, und daß dies der spezielle Wunsch Ribbecks sei.5 Vielleicht ist der Ursprung dieses Gerüchtes in dem bekannten Plauderstübchen (Lehmanns Garten N. 2 Mittags 12-16) zu suchen: wo ich wenigstens einem ähnlichen Gerede auf die Spur kam, das mich als den zukünftigen und erwarteten Leipziger Privatdocenten bezeichnet. Trösten wir uns mit einander; man traut’s uns doch wenigstens zu. Aber nichts darf uns abhalten, erst noch ein Jahr in Paris zusammen zu verleben: nachher sei es jedem von uns gestattet, auf einer beliebigen Universität beliebige Irrlehren in beliebige "milchsaugende" Seelen zu streuen. Vorher aber lernen wir noch die göttliche Kraft des Cancan und üben uns "gelbes Gift"7 zu trinken, um später würdig an der Spitze der Civilisation marschiren zu können. Beiläufig die Nachricht, daß der Lucianische schon einen zweiten Reiter gefunden hat.8 Da kommt mir ein Schreiben zu von dem kleinen Doktor Roscher,9 der mir eine Nachricht "von der höchsten Wichtigkeit" ankündigt, so daß ich sofort (nach meiner neuen leidigen Gewohnheit) blaß werde und mir den Angstschweiß von der Stirne wische. Man höre: es cirkulirt eine Dissertation eines gewissen Knauth10 in der philologischen Sektion für Doktorexamina in Leipzig, die den von Dir occupirten Stoff ebenfalls behandelt und von Klotz11 und Ritschl glänzend beurtheilt ist! Roscher stößt einen Hülfsschrei aus, als ob irgend jemand im Begriffe stände ins Wasser zu fallen und zu ertrinken und als ob alle guten Freunde und getreuen Nachbarn heranstürzen müßten, um zu retten. — Glücklicher Mensch, Du hast einen Concurrenten, einen leibhaftigen Concurrenten von Fleisch und Bein, während mir kürzlich das Vergnügen zu Theil wurde Bergks Colleg über Theognis zu hören und dabei todtgeschwiegen zu werden, obschon ich mit gezückten Ohren lauschte und Deinem verehrten sehr ähnlich ausgesehn haben muß.12 Was Du an dem simonideischen Eiapopeia13 aussetzest, ist aus meiner Seele geschrieben: thue mir nun noch den Gefallen und mache die entsprechende Conjektur ( È), die ich obwohl ich schon seit Jahren darnach suche, nicht auftreiben kann.14 Sobald sie da ist, werfe ich das 15 zum Fenster hinaus und schreibe ein Zusätzchen an das rhein[isches] Museum.16
Ich merke eben, daß mein Brief bereits außer Rand und Band ist; aber es wäre wirklich ein Kunststück, wenn ich alles das in eine logische Folge bringen wollte, was ich mir vorgenommen habe heute noch zu erwähnen. Gestatte mir, mich der Ziffern zu bedienen.
Zu 1) Mein Freund Gersdorff (Leutnant a.D. eifriger Nationalökonom) berichtet mir folgendes. In Plaue an der Havel, unweit Brandenburg, lebt ein Rittergutsbesitzer Wisecke [sic],27 ein wirklicher Freund Schopenhauers, der Einzige, der ein wohlgelungenes Porträt in Öl von dem großen Manne besitzt. Ein echter Schüler, ein vielgebildeter Mann, ein genialer Landwirth, der eine elende Sandscholle in fruchtbares Land umgewandelt hat (Gersdorff berichtet ausführlich über die Methode; Kavalleriemist aus den Berliner Ställen spielt dabei die Hauptrolle) ist er jetzt reich und seines Reichthums würdig; für seine Armen hält er einen eignen Arzt mit 800 Thl. Gehalt etc. Er hat ein gastfreies Haus, einen vorzüglichen Weinkeller, dessen feinste Weine immer nur in einem Pokale kreisen, der dem Manne gehört hat, dessen Genius in diesem Hause waltet. Jeder Besucher empfängt zum Abschiede ein Porträt Schopenhauers und ein Bild von seinem Wohnhause in Frankfurt, wohin Herr Wieseke [sic] alljährlich ein Zu 2) Der vortreffliche, anziehend organisirte Romundt tauchte wieder in Leipzig auf und zwar mit einer Tragödie Mariamne und Herodes, als in welcher ein echauffirtes Frauenzimmer diverse Malheurs anrichtet, ohne unsre affection dabei zu lukrieren. Der poetische Funke in unserem Freunde ist nicht stark genug um Ochsen zu tödten, aber zur Betäubung eines Menschen ausreichend, so daß ich ihn inständig gebeten habe seine gefährliche Feuerwerkerei einzustellen. Er ist also zunächst wieder Philologe, schwimmt, so viel ich weiß, in den Gewässern Demokrits (um hier einen Fisch zum Doktorschmause zu fangen) und schwelgt in der Hoffnung, einmal die Regie eines Theaters zu übernehmen.30 Zu 3) Eines Morgens, als ich in Wittekind eine Stunde in Salzlake gesessen hatte und mit der Munterkeit eines neueingesalznen Härings an das Tageslicht sprang, kam mir in der Höhe meines halben Leibes ein freundliches Gesicht entgegen, das dem liebenswerthen Clemm aus Gießen angehörte. Er trägt sein mißliches Geschick und seinen Fuß mit einer rührenden Sanftmuth. Eine lobende Recension seiner Habilitationsschr. wirst Du im Centralblatt gelesen haben. Sie rührt von Georg Curtius her.31 Ich springe gleich zu 11). Ich erinnre mich, da Du im August eine größere Reise machen wolltest, die Dich auch über Naumburg führt. Rechne ein paar Tage auf Naumburg; ich wäre sonst im Stande Dich hier mit Hülfe meiner braven Kanoniere festzuhalten. Hier an Ort und Stelle sollst Du die weiteren Ausführungen der übersprungnen Paragraphen hören. Und was haben wir alles mit einander abzumachen, zu verabreden, zu hoffen etc. Heute folgt eine Photographie, die mich in einer etwas gewagten Situation darstellt. Im Grunde ist es eine Unhöflichkeit mit gezogenem Säbel vor seine Freunde zu treten und dazu mit einem so saueren bitterbösen Gesicht. Es ist etwas Rohes um so einen Krieger. Aber warum ärgert uns der schlechte Photograph, warum ärgert uns der ganze Lebensplunder so, daß wir nicht mehr aussehn wie frische neugewaschne junge Mädchen? Warum müssen wir immer mit dem Säbel bereit stehn? Und wenn wir nun energisch dem schlechten Photographen zu Leibe wollen, was macht er? Er kriecht hinter seine Kappe und ruft "Jetzt!" Adieu, lieber Freund! Sage Deiner verehrten Frau Mutter meinen besten Gruß und besuche mich so bald als möglich! In alter Treue Auch meine Angehörigen lassen Dich grüßen und freuen sich auf Deinen Besuch. 1. In March 1868, Nietzsche sustained a severe injury to his sternum in a riding accident. In the photograph Nietzsche sent with this letter, his uniform looks tight because he was still wearing bandages around his chest. On the back of the photograph, Nietzsche's dedication: "Rohdio suo. 'extra Lipsiam non est vita, si est vita, non est ita.'" (To Rohde: "There's no life outside of Leipzig: if there is, it's not as good.") A popular saying attributed to the Leipzig theologian Johann
Gottlob Carpzov (1679-1767), that Nietzsche perhaps read in his copy of Carl Julius Weber's Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen [Demokritos, Or the Literary Remains of a Laughing Philosopher]. Bd. 3. Stuttgart: Rieger, 1868, 282. Nietzsche had his picture taken in uniform at the suggestion of his friends, Rudolf Kleinpaul and Rohde, who intimated that it would be a shame to waste the uniform, since — despite being placed on medical leave — Nietzsche still had an "appropriate costume" for a photo depicting him as a mounted artillerist (see Rohde's April 28, 1868 letter to Nietzsche).
Leipzig, 27. Oktober 1868: Mein lieber Freund, daß ich lebe, wird Dir wohl das kürzlich zugesandte Laertianum1 angedeutet haben; daß ich gut lebe, wird Deine Combinationsgabe wahrscheinlich aus der Ort und Wohnungsanzeige am untern Ende des Widmungsblattes eruirt haben. Ich bin nach Leipzig übergesiedelt,2 mit total veränderten Ansprüchen, und gänzlicher Ausziehung der Studentenhose und auch des damit verbundenen Lebens. Ein freundlicher Dämon, unter Vermittlung des vortrefflichen Windisch3 hat mich eine Behausung finden lassen, die bis jetzt jenen Ansprüchen genügt und das Zurückfallen in die studentische inquies,4 sammt Restaurations- und Theaterfieber, unmöglich macht. Meine Wohnung liegt am Eingang der Lessingstraße, in einem Garten, hat eine wirklich anmuthige und mannichfaltige Aussicht und erlaubt es mir, mit Vergnügen in meinen vier Pfählen zu sitzen, Abende zu durchschwitzen und mich an Philologie zu erhitzen: das ist etwas für Fritzen,5 der früher die Neigung hatte, alle Abende ins Theater zu flitzen. Nun bin ich freilich genöthigt, mich etwas näher mit der Familie des Prof. Biedermann6 einzulassen, z. B. Mittag und Abend mit ihnen zu essen, überhaupt mich zu geberden, wie ein Jungferchen, das in die Pension kommt. Das kann, was die Götter nicht wollen, mir aber die Frau Ritschl,7 meine erfahrene Freundin, prophezeit hat, entsetzlich langweilig werden, ist es aber noch nicht: und schließlich kann ein Biedermann,8 wie ich, der schon Pferde gestriegelt9 hat, im schlimmsten Falle Askese üben. Lieber Gott, was erträgt nicht ein Philolog, dessen Existenz auf geistigem und körperlichem Hungerleiden beruht! Übrigens ist der alte Biedermann der Mann seines Namens,10 ein guter Hausvater, Ehegatte, kurz alles, was man in einem Nekrolog zu rühmen pflegt: seine Gattin11 ist die Biederfrau: wo mit wiederum alles gesagt ist. Und so fort, bis zu Biederfräulein I und II. Nun hat die Familie viel erlebt und steckt immer noch mitten drin, im Getreibe politischer Interessen: zu meinem Tröste aber wird von Politik fast nicht gesprochen, da ich kein ζäον πολιτικον12 bin, und gegen derartige Dinge eine Stachelschweinnatur habe. Im Übrigen ist Biedermann der natürliche Bruder von Beust:13 dessen Charakter mir jetzt recht klar geworden ist, durch Anwendung der Schopenhauerischen Erblichkeitstheorie.14 Die Frau ist die Schwester vom Bürgermeister Koch. Unser Tisch- und Hausgenosse ist sodann noch ein Franzose Mr. Flaxland (größte Musikverlagshdl. in Paris),15 ein possirliches Kerlchen, der für Gelächter wie ein Bajazzo sorgt, und von dem ich etwas Französisch lerne resp. lernen werde. Gelegentlich gehe ich jetzt als Vertreter der Deutschen Allgemeinen in Conzerte und Vorlesungen;16 ja sogar die Kritik der Oper ist mir offerirt — nego ac pernego.17 Natürlich muß ich auch mit den etwaigen Gästen des Hauses fürlieb nehmen; und mitunter braucht man nicht einmal fürlieb zu nehmen: z. B. wenn unsere Freundin und häufige Gästin ΓΛΑΥΚΙΔΙΟΝ18 bei uns ist, als welche neulich nach Hause zu begleiten, eine angenehme Pflicht war. Hoffentlich ist Dir noch in Erinnerung, wen wir also getauft haben: wenn nicht, so schreibe es und ich werde auf photographischem Wege Dein Gedächtniß auffrischen. In den nächsten Tagen wird Laube19 bei uns eintreffen, als definitiver Übernehmer des thèâtres: und ich werde mich freuen, ihn kennen zu lernen. Heute Abend war ich in der Euterpe,20 die ihre Winterconzerte begann und mich sowohl mit der Einleitung zu Tristan und Isolde, als auch mit der Ouvertüre zu den Meistersingern erquickte.21 Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre.22 Sonst ist mein Abonnementsplatz umlagert von kritischen Geistern: unmittelbar vor mir sitzt Bernsdorf, jenes signalisirte Scheusal,23 links neben mir Dr. Paul, jetzt Tageblattheld,24 2 Plätze rechts mein Freund Stade, der für die Brendelsche Musikzeitung kritische Gefühle produzirt:25 es ist eine scharfe Ecke: und wenn wir Vier einmüthig mit dem Kopfe schütteln, so bedeutet es ein Unglück.26 Lieber Freund, Vater Ritschl27 fragt, ob Du nicht einen kleinen Nachtrag über die Knauthsche Dissertation28 einschicken willst: selbige wird Dir durch Ribbeck29 zugekommen sein. Deine Arbeit (deren Vorzüge vor der Kn. Abhandlung sogar den Maulwürfen einleuchten müssen) kommt bald zum Abdruck.30 Und so nimm einen freundlichen Leipziger gemüthlichen biedermännischen Händedruck von Deinem treuen Freunde Privatgel. zu Leipzig Lessingstr. 22, 2 Tr. 1. "De Laertii Diogenis fontibus, 1-2." In: Rheinisches Museum für Philologie. Bd. 23: 632-653.
Leipzig, 9. November 1868: Mein lieber Freund, heute habe ich die Absicht, Dir eine Reihe von heiteren Dingen zu erzählen, lustig in die Zukunft zu blicken und mich so idyllisch-behaglich zu geberden, daß Dein böser Geist, jenes katzenartige Fieber, einen krummen Buckel macht und sich ärgerlich von dannen trollt. Und damit jeder Mißton vermieden werde, will ich die bekannte res severa,1 die Deinen zweiten Brief2 veranlaßte, auf einem besonderen Blatt besprechen, das Du dann in besonderer Stimmung und auf besonderem Orte lesen magst. Die Akte meiner Komödie heißen: 1. Ein Vereinsabend oder der Unterprofessor, 2. der herausgeworfene Schneider. 3. ein Rendezvous mit +. Einige alte Weiber spielen mit. Am Donnerstag Abend verführte mich Romundt3 für das meine Gefühle sehr erkalten:4 wir wollten ein Stück von unserm Zukunftsdirektor Heinrich Laube sehn und saßen wie thronende Götter im Olymp zu Gericht über ein Machwerk, genannt Graf Essex.5 Natürlich schimpfte ich auf meinen Verführer, der sich auf die Empfindungen seiner zehnjährigen Kindheit berief und war glücklich einen Raum verlassen zu können, in dem sich nicht einmal ΓΛΑΥΚΙΔΙΟΝ6 vorfand: wie sich bei mikroscopischer Durchsuchung aller Winkel des Theaters erwies.
Zu Hause fand ich zwei Briefe, den Deinigen und eine Einladung von Curtius,7 den jetzt näher zu kennen mir Vergnügen macht. Wenn sich zwei Freunde unserer Art Briefe schreiben, da freuen sich bekanntlich die Engelchen; und so freuten sie sich auch, als ich Deinen Brief las, ja sie kicherten sogar. Am andern Morgen zog ich festlich aus, um mich bei der Curtia8 für die Einladung zu bedanken, da ich sie leider nicht annehmen konnte. Ich weiß nicht, ob Du diese Dame kennst; mir hat sie sehr gefallen, und es entstand zwischen dem Ehepaar und mir eine unverwüstliche Heiterkeit. In dieser Stimmung gieng ich zu meinem Redakteur en chef Zarncke,9 fand herzliche Aufnahme, ordnete mit ihm unsre Verhältnisse — meine Recensionsprovinz ist jetzt unter anderem fast die gesammte griechische Philosophie, mit Ausnahme von Aristoteles, den Torstrik10 inne hat und eines anderen Theiles, in dem mein ehemaliger Lehrer Heinze11 (Hofrath und Prinzenerzieher in Oldenburg) thätig ist. Hast Du beiläufig meine Anzeige von Rose’s Symposiaca Anacreontea gelesen?12 Nächstens kommt auch mein Namensvetter dran, der an der Eudocia zum Ritter geworden ist — langweilige Dame, langweiliger Ritter!13 Zu Hause angelangt fand ich Deinen zweiten Brief, entrüstete mich14 und beschloß ein Attentat. Am Abend war der erste Vortrag unseres philologischen Vereines für dies Semester angesetzt: und man hatte mich sehr höflich ersucht, diesen zu übernehmen. Ich, der ich Gelegenheiten brauche, mich auf akademische Waffen einzupauken, war auch gleich bereit und hatte das Vergnügen, bei meinem Eintritt bei Zaspel15 eine schwarze Masse von 40 Zuhörern vorzufinden. Romundt war von mir beauftragt, recht persönlich aufzupassen, damit er mir sagen könne, wie die theatralische Seite, also Vortrag, Stimme, Stil, Disposition beschaffen sei und gewirkt habe. Ich habe ganz frei gesprochen, bloß mit Zuhülfenahme eines Deminutivzettels, und zwar über die Varronischen Satiren und den Cyniker Menippus:16 und siehe, es war alles .17 Es wird schon gehn mit dieser akademischen Laufbahn! Hier nun ist zu erwähnen, daß ich beabsichtige bis Ostern mich hier aller Habilitationsscherereien zu entledigen und zugleich bei dieser Gelegenheit zu promovieren. Dies ist erlaubt: einen speziellen Dispens brauche ich nur, in sofern ich noch nicht das übliche quinquennium hinter mir habe.18 Nun ist sich habilitieren und lesen zweierlei: aber recht passend scheint es mir, nachdem ich mir die Hände frei gemacht habe, dann hinaus zu reisen in die Welt, zum letzten Male in nichtamtlicher Stellung! Ach lieber Freund, es wird die Empfindung eines Bräutigams sein, Freude und Ärger gemischt, Humor, ,19 Menippus! Im Bewußtsein eines guten Tagewerkes gieng ich zu Bett und überlegte mir die bewußte bei Ritschl aufzuführende Scene: als welche auch am andern Mittag aufgeführt wurde.20 Als ich nach Hause kam, fand ich einen Zettel, an mich addressirt, mit der kurzen Notiz: Willst Du Richard Wagner kennen lernen, so komme um ¾4 in das Café théâtre. Windisch.21 Diese Neuigkeit verwirrte mir etwas den Kopf, verzeih mir!, so daß ich die eben gehabte Scene ganz vergaß und in einen ziemlichen Wirbel gerieth.
Ich lief natürlich hin, fand unsern Biederfreund, der mir neue Aufschlüsse gab. Wagner war im strengsten incognito in Leipzig bei seinen Verwandten: die Presse hatte keinen Wind, und alle Dienstboten Brockhausens22 waren stumm gemacht wie Gräber in Livree. Nun hatte die Schwester Wagners, die Prof. Brockhaus, jene bewußte gescheute Frau, auch ihre gute Freundin, die Ritschelin,23 ihrem Bruder vorgeführt: wobei sie den Stolz hatte, vor dem Bruder mit der Freundin und vor der Freundin mit dem Bruder zu renommiren, das glückliche Wesen! Wagner spielt in Gegenwart der Frau Ritschl das Meisterlied,24 das ja auch Dir bekannt ist: und die gute Frau sagt ihm, daß ihr dies Lied schon wohl bekannt sei, mea opera.25 Freude und Verwunderung Wagners: giebt allerhöchsten Willen kund, mich incognito kennen zu lernen. Ich sollte für Freitag Abend eingeladen werden: Windisch aber setzt auseinander, daß ich verhindert sei durch Amt, Pflicht, Versprechen: also schlägt man Sonnabend Nachmittag vor. Windisch und ich liefen also hin, fanden die Familie des Professors, aber Richard nicht, der mit einem ungeheuren Hute auf dem großen Schädel ausgegangen war. Hier lernte ich also besagte vortreffliche Familie kennen und bekam eine liebenswürdige Einladung für Sonntag Abend. Meine Stimmung war wirklich an diesen Tagen etwas romanhaft; gieb mir zu, daß Einleitung dieser Bekanntschaft, bei der großen Unnahbarkeit des Sonderlings, etwas an das Mährchen streifte. In der Meinung, daß eine große Gesellschaft geladen sei, beschloß ich große Toilette zu machen und war froh, daß gerade für den Sonntag mein Schneider mir einen fertigen Ballanzug versprochen hatte. Es war ein schrecklicher Regen- und Schneetag, man schauderte, ins Freie zu gehn, und so war ich denn zufrieden, daß mich Nachmittags Roscherchen26 besuchte, mir etwas von den Eleaten erzählte und von dem Gott in der Philosophie — denn er behandelt als candidandus27 den von Ahrens28 gegebnen Stoff "Entwicklung des Gottbegriffs bis Aristoteles," während Romundt die Preisaufgabe der Universität „über den Willen“ zu lösen trachtet. — Es dämmerte, der Schneider kam nicht und Roscher gieng. Ich begleitete ihn, suchte den Schneider persönlich auf und fand seine Sclaven heftig mit meinem Anzüge beschäftigt: man versprach, in ¾ Stunden ihn zu schicken. Ich gieng vergnügter Dinge weg, streifte Kintschy,29 las den Kladderadatsch30 und fand mit Behagen die Zeitungsnotiz, daß Wagner in der Schweiz sei, daß man aber in München ein schönes Haus für ihn baue: während ich wußte, daß ich ihn heute Abend sehen würde und daß gestern ein Brief vom kleinen König31 an ihn angekommen sei, mit der Adr[esse]: "an den großen deutschen Tondichter Richard Wagner." Zu Hause fand ich zwar keinen Schneider, las in aller Gemächlichkeit noch die Dissertation über die Eudocia und wurde nur von Zeit zu Zeit durch gellendes, aber aus der Ferne kommendes Läuten beunruhigt. Endlich wurde mir zur Gewißheit, daß an dem altväterlichen eisernen Gitterthor jemand warte: es war verschlossen, eben so wie die Haustür. Ich schrie über den Garten weg dem Manne zu, er solle in das Naundörfchen32 kommen: unmöglich, sich bei dem Geplätscher des Regens verständlich zu machen. Das Haus gerieth in Aufregung, endlich wurde aufgeschlossen, und ein altes Männchen mit einem Paket kam zu mir. Es war halb 7 Uhr; es war Zeit meine Sachen anzuziehn und Toilette zu machen, da ich sehr weit ab wohne. Richtig, der Mann hat meine Sachen, ich probiere sie an, sie passen. Verdächtige Wendung! Er präsentirt die Rechnung. Ich acceptire höflich: er will bezahlt sein, gleich bei Empfang der Sachen. Ich bin erstaunt, setze ihm auseinander, daß ich gar nichts mit ihm als einem Arbeiter für meinen Schneider zu thun habe, sondern nur mit dem Schneider selbst, dem ich den Auftrag gegeben habe. Der Mann wird dringender, die Zeit wird dringender; ich ergreife die Sachen und beginne sie anzuziehn, der Mann ergreift die Sachen und hindert mich sie anzuziehn: Gewalt meiner Seite, Gewalt seiner Seite! Scene. Ich kämpfe im Hemde: denn ich will die neuen Hosen anziehn. Endlich Aufwand von Würde, feierliche Drohung, Verwünschung meines Schneiders und seines Helfershelfers, Racheschwur: während dem entfernt sich das Männchen mit meinen Sachen. Ende des 2ten Aktes: ich brüte im Hemde auf dem Sofa und betrachte einen schwarzen Rock, ob er für Richard gut genug ist. — Draußen gießt der Regen. — Ein viertel auf Acht: um halb acht, habe ich mit Windisch verabredet, wollen wir uns im Theatercafé treffen. Ich stürme in die finstre regnerische Nacht hinaus, auch ein schwarzes Männchen, ohne Frack, doch in gesteigerter Romanstimmung: das Glück ist günstig, selbst die Schneiderscene hat etwas Ungeheuerlich-Unalltägliches. Wir kommen in dem sehr behaglichen Salon Brockhaus an: es ist niemand weiter vorhanden als die engste Familie, Richard und wir beide. Ich werde Richard vorgestellt und rede zu ihm einige Worte der Verehrung: er erkundigt sich sehr genau, wie ich mit seiner Musik vertraut geworden sei, schimpft entsetzlich auf alle Aufführungen seiner Opern, mit Ausnahme der berühmten Münchener33 und macht sich über die Kapellmeister lustig, welche ihrem Orchester im gemüthlichen Tone zurufen: „meine Herren, jetzt wird’s leidenschaftlich," "Meine Gutsten, noch ein bischen leidenschaftlicher!" W[agner] imitirt sehr gern den Leipziger Dialekt. — Nun will ich Dir in Kürze erzählen, was uns dieser Abend bot, wahrlich Genüße so eigenthümlich pikanter Art, daß ich auch heute noch nicht im alten Gleise bin, sondern eben nichts besseres thun kann, als mit Dir, mein theurer Freund, zu reden und "wundersame Mär" zu künden. Vor und nach Tisch spielte Wagner und zwar alle wichtigen Stellen der Meistersinger, indem er alle Stimmen imitirte und dabei sehr ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht. Inzwischen hatte ich ein längeres Gespräch mit ihm über Schopenhauer:34 ach, und Du begreifst es, welcher Genuß es für mich war, ihn mit ganz unbeschreiblicher Wärme von ihm reden zu hören, was er ihm verdanke, wie er der einzige Philosoph sei, der das Wesen der Musik erkannt habe: dann erkundigte er sich, wie sich jetzt die Professoren zu ihm verhalten, lachte sehr über den Philosophencongreß in Prag35 und sprach "von den philosophischen Dienstmännern." Nachher las er ein Stück aus seiner Biographie vor, die er jetzt schreibt, eine überaus ergötzliche Scene aus seinem Leipziger Studienleben, an die ich jetzt noch nicht ohne Gelächter denken kann; er schreibt übrigens außerordentlich gewandt und geistreich. — Am Schluß, als wir [d.h. Windisch und Nietzsche] beide uns zum Fortgehen anschidtten, drückte er mir sehr warm die Hand und lud mich sehr freundlich ein, ihn zu besuchen, um Musik und Philosophie zu treiben, auch übertrug er mir, seine Schwester und seine Anverwandten mit seiner Musik bekannt zu machen: was ich denn feierlich übernommen habe. — Mehr sollst Du hören, wenn ich diesem Abende etwas objektiver und ferner gegenüberstehe. Heute ein herzliches Lebewohl und beste Wünsche für Deine Gesundheit. F. N. Res severa! Res severa! Res severa! Mein lieber Freund, ich bitte Dich, direkt an Dr. Klette nach Bonn zu schreiben und (ohne weitere Formen und Gründe) das Manuscript zurückzufordern.36 Wenigstens würde ich so handeln. Die Ritschl’sche Taktlosigkeit ist zu stark: und in der stattgehabten Unterredung trat sie deutlich hervor: so daß ich etwas kühl mit ihm gesprochen habe, was ihn stark choquirte. Das ist allerdings Wahrheit, daß das rhein[isches] Mus[eum] jetzt überhäuft ist: und das wird Dir das letzte Heft dieses Jahres bezeugen, das mit 4 Bogen über die gewöhnliche Seitenzahl hinausschießt. Daß ich persönlich noch besonders über die Geschichte ärgerlich bin, liegt nahe. War ich es doch, der in bester Absicht und freundschaftlichster Meinung Dir den Vorschlag machte, Dein M[anu]scr[i]pt dem rhein[isches] Mus[eum] anzuvertrauen: dem ich damit etwas recht Angenehmes zu erweisen glaubte. Besonders wurmt es mich, wenn ich daran denke, zu welchem Zweck die schöne Abh[an]dl[ung] zunächst bestimmt war. Willst Du Dich rächen, so schicke die Schrift an den Hermes; doch bin ich selbst kein Freund einer derartigen Rache. Vom Philologus darf unter diesen Verhältnissen keine Rede sein: und mit Fleckeisens J[ahr]b[üc]h[er]37 steht es ähnlich wie mit dem rhein[isches] Mus[eum]. Also lieber Freund, muß ein Verleger gesucht werden (und wenn ich Dir rathen darf, gieb zugleich mit den heraus, nach dem von Dir erkannten Handschriftenverhältniß) Natürlich wirst Du einen Verleger am liebsten in Deinem Hamburg suchen: sonst vertraue, daß ich mich mit Eifer nach einem noblen Buchhändler umsehen werde, falls Du mich dazu beauftragst.38 Jedenfalls muß die Sache schnell gehn, ja in Monatsfrist muß das 3-4 Bogen starke Schriftchen gedruckt sein. — Liegt Dir nichts an dieser Eile, so läßt sich vielleicht unter uns beiden ein kleiner Plan arrangieren: wir machen ein Buch mitsammen, genannt "Beiträge zur griechischen Literaturgeschichte" in dem wir einige größere Aufsätze vereinigen (von mir zB. über Demokrits Schriftstellerei, über den homerisch-hesiodischen ,39 über den Cyniker Menipp) und auch eine Anzahl Miscellen beigeben. Was denkst Du dazu?
1.Res severa est verum gaudium (True joy is a serious thing) is the motto over the entrance to the Leipzig Gewandhaus, home of the Gewandhaus civic orchestra, at the time led by Carl Reinecke. The saying comes from Seneca, Epistles: xxiii. |
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