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Naumburg, 4. Januar 1867: Lieber Freund, recht wohl weiß ich, daß in einem meiner Kästchen in Leipzig ein fertiger Brief2 an Dich liegt: doch fühle ich heute ein solches Bedürfniß, mich mit einem meiner Freunde zu unterhalten und mich im Briefschreiben aufzuheitern, daß ich lieber noch einen neuen Brief schreibe. Und dazu ist ja auch Anlaß reichster Fülle da. Zunächst sind es die üblichen Neujahrswünsche, die erledigt werden sollen. Aber wahrlich, es ist mehr als Gewohnheit, wenn ich Dir heute meine herzlichen Wünsche darbringe. Denn Du hast dieses Jahr einen wichtigen Schritt3 vor, bei dem das Herz eines Freundes nie gleichgültig bleiben kann. Ich bitte, daß Du auch Deinem verehrten Vater,4 Deiner lieben Frau Mutter und Großmutter meine Gratulationen aussprichst. Zweitens schicke ich Dir endlich die Programme5 wieder und habe leider nichts anderes als [Greek: antidotes] zu senden als den schon erwähnten schriftlichen Aufsatz von Lachmann,6 der für einen Lachmannomanen allerdings mehr Werth hat als für Dich; er ist nämlich, bei Seite gesagt, nicht viel werth, wenn Du den subjektiven und (allenfalls) den culturhistorischen Werth abrechnest. Wie er in meine Hände gekommen ist "auf mannigfach verschlungenen Wegen," wie er aus Rußlands Innerem und aus dem Nachlasse eines Selbstmörders stammt, erzähle ich Dir ein anderes Mal. Drittens hätte ich Dir etwas Angenehmes mitzutheilen, falls Du jetzt in Leipzig studirtest. Ritschl hat mir nämlich 2 Themata7 höchst gefälliger Weise zu Gebote gestellt, um ein paar Freunde für deren Bearbeitung ausfindig zu machen; leider nur unter der schon angegebnen Bedingung. Natürlich dachte ich zuerst an Dich, aber sah zugleich ein, daß es vergeblich sei. Also möglicherweise hätte ich Dir einen kleinen Dienst erweisen können, "doch das Schicksal will es nicht."8 Jedes dieser Themata ist hinreichend für eine Doktordissertation, und veranlaßt darauf eine Herausgabe. Es nützt nichts, Dir die Themata zu nennen. Viertens bin ich Dir noch Näheres schuldig über einen Stoff, für den Du Interesse hast, über eine systematische Behandlung der Interpolationen, mit denen die griechischen Tragiker versetzt sind. Es war ursprünglich meine Absicht, darüber meinen nächsten Vortrag im Verein9 zu halten. Doch habe ich mich in diesen Ferien anders besonnen und einen Aufsatz über die der aristotelischen Schriften ausgearbeitet,10 der z. Th. einen Nachtrag zu meinem letzten Vortrag über die biographischen Quellen des Suidas11 bildet. Wenn es Dir aber recht ist, so schreibe ich hier flüchtig das Gerippe jener Interpol.theorie nieder, was Dir übrigens sehr alltäglich und ruppig vorkommen wird. Einleitung. Drei Zeiten und drei Arten der Interpolation: 1. Hauptstück. 3
Tendenzen der schauspielerischen interpolatio. 2. Tendenz der
gelehrten Interpolation 3. Tendenz der
Abschreiberinterpolation. Methode, die verschiednen Interpolationen zu erkennen. zu 1. a und b) Es müssen [Greek: anachronisms] nachgewiesen werden. zu 1. c.) Alles Überflüssige muß (zB. bei Euripides) zusammengestellt werden nach verschiednen generibus. Der Schluß ist hier immer ziemlich unsicher. zu 2.) und 3) ist Heimsoeth12 lehrreich, aber übertrieben. Hülfsmittel zur Erkenntniß von
Interpolationen Sei mir über diesen langweiligen Abriß, den jeder besser machen kann, nicht böse. In diesen Ferien habe ich auch die Grundzüge meiner Laert. Diog.arbeit15 niedergeschrieben, die noch sehr der doctrina, stellenweise der ratio ermangeln. Doch ist es sehr nützlich, sich auf diese Art die Lücken klar zu machen, und deshalb bin ich damit zufrieden. Auch habe ich das leidige Vergnügen gehabt, die letzte Revision der Druckbogen16 vorzunehmen. Es sind 40 Seiten, also herzlich wenig. Daß jemand recht gründlich und geringschätzig widerspräche, wäre mir nicht zu erwünscht, aber doch noch erträglich. Es giebt noch schlimmere Möglichkeiten, aber auch noch bessere. Von meinen anderen Freunden höre ich nichts mehr. Gersdorff ist auf das eifrigste beschäftigt und wird oder hat sein Offizierexamen gemacht. Sicherlich hat er genügende Gründe, warum er nicht schreibt. Deussen hüllt sich seit meinem letzten Briefe17 im September oder August in tiefes Schweigen, ja in Nacht und Finsterniß, so daß mir sein Aufenthaltsort, sein Studium, selbst seine Existenz fraglich geworden ist. Doch will ich in diesen Tagen einmal an seine Eltern schreiben.18 Schließlich habe ich keinen Grund, Dir zu verhehlen, daß ich heute sehr traurig gestimmt bin. Gestern um diese Zeit nämlich stand ich am Sterbebette meiner Tante Rosalie,19 die, um es kurz zu sagen, nächst meiner Mutter und Schwester die bei weitem intimste und nächste Verwandte von mir war, und mit der ein großes Stück meiner Vergangenheit, besonders meiner Kindheit von mir gegangen ist, ja, in der unsre ganze Familiengeschichte, unsre Verwandtschaftlichen Beziehungen so lebendig und gegenwärtig waren, so daß nach dieser Seite hin der Verlust unersetzlich ist. Dazu ein überaus schmerzliches Krankenlager, einige Stunden vor ihrem Tode noch ein Blutsturz. Es war in der Dämmerung, draußen wirbelten die Flocken, sie saß im Bette ganz aufgerichtet, und allmählich kam der Tod mit all den traurigen Anzeichen: was einmal mit vollem Bewußtsein mit angesehn zu haben, eine eigenthümliche Erfahrung ist, die sich nicht so schnell aus dem Kopf verliert. Wenn darum mein heutiger Brief etwas morose und traurig ist, so verzeih es den Umständen, unter denen er geschrieben ward. Dein Freund 1. Hermann Mushacke (1845-1906): friend and classmate at the University of Bonn. Nietzsche and Mushacke visited Naumburg together on October 26, 1865, and visited Berlin and Mushacke's family in the autumn of 1866. For their exploits in Leipzig, see Nietzsche's autobiographical "Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre" (Retrospect on My Two Years at Leipzig). English translation in: Nietzsche's Writings as a Student. The Nietzsche Channel, 2012, 119-43 (121-29).
Oberdreis, 6. Januar 1867: Mein lieber Fritz, Länger kann ich es nun wirklich nicht mehr anstehn lassen, ein Lebenszeichen von mir zu Dir gelangen zu lassen, denn alle Tage und selbst durch nächtliche Träume hindurch verfolgt mich Dein liebes Bild unwillig über den nun schon wieder in seine Bummelei versunkenen Freund. Indessen hoffe ich, daß ich Dir allerlei mitzutheilen habe, was Deinen Unwillen zu besänftigen geeignet ist. Zunächst erhältst Du, der Natur der Sache gemäß, ein Exemplar der von mir fabricirten Übersetzung,1 mit der freundlichen Bitte, dasselbe auch zu lesen. Vielleicht, daß Du das Buch auch zur Lectüre in Deinem kleinen Familienkreise geeignet findest, denn an Büchern, die wie dieses Wahn und Aberglauben zerstören, ohne doch der uns nun einmal eingeborenen und gewiß berechtigten religiösen Empfindung Abbruch zu thun, ist gewiß kein Mangel. Sehr bald wirst Du auch gewisse Halbheiten, an denen jeder derartige Vermittlungsversuch leidet, erkennen und Dich daran erinnern, daß wir auf diesem Gebiete in einem Zeitalter des Übergangs leben. — Eben erinnere ich mich, daß noch Schenkels Leb. Jesu2 und eine Charakteristik Alexanders v. Humb.3 von Dir in meinen Händen sind. Leider habe ich sie mitzubringen vergessen, werde sie Dir aber gewiß das nächste Mal mitschicken. Meine Traumfahrt in das Morgenland ist denn nun auch glücklich beendigt. Vorigen Herbst habe ich nach langem und aufreibendem innern Kampfe mich glücklich durchgerungen zu dem einzig richtigen und bin nun wieder als Philolog in Bonn.4 Ich kann Dir kaum sagen, wie wohl ich mich dabei fühle, wie stärkend für mich das Bewußtsein ist, wieder Boden unter den Füßen zu haben. — Natürlich habe ich dem nun einmal lieb gewonnenen Semitismus nicht den Abschied gegeben, vielmehr denke ich ihn sobald als möglich wieder kräftig aufzunehmen, natürlich aber nicht als Theolog. Zunächst freilich habe ich mich der lichtvollern, klareren indogermanischen Welt wieder zugewendet, und die Zeit vom Herbst bis jetzt ist damit hingebracht, daß ich die einzelnen Fäden wieder anzuknüpfen5 mich bemühte, die mein thörichtes Schwanken zerrissen hatte. Oh, wäre ich damals nach Leipzig6 gegangen! Schmerzvoller hat sich selten etwas gerächt. Denn dann wäre ich jetzt im Schwunge und nun wird es mir gar so schwer hineinzukommen. Das vergangene Jahr ist nun wieder unter dilettantischen Vergnügungen entflohn, mit diesem soll es wahrlich nicht eben so gehn. Das eigentlich wahre Heilmittel liegt nun in nichts anderm, als in produktiver, ernster Forschung, und ich bin fest entschlossen, mich von nun an dazu zu zwingen. So habe ich denn bis zum Sommer noch zwei Arbeiten zu vollbringen mir vorgenommen, um dann, nach Ostern, mit der Dissertation zu beginnen. — Die erste Arbeit ist eine Arbeit für das historische Seminar, dessen Mitglied ich bin. Hierzu habe ich mir die höchst anziehende Persönlichkeit des cyprischen Königes 7 ausersehen, bei dem nun noch das philologische Interesse ist, daß mit Hilfe der wenigen übrigen Notizen aus dem Alterthum (bei Diod.8 Phot.9 etc.) die bekannte Lobrede10 des Isocrates über Euagoras kritisch auszubeuten ist. Und dieses Geschäft ist eben so schwierig wie interessant, freilich etwas problematischer Natur bei einem Panegyriker, der selbst in einem Privatschreiben (zu Anfang der Busirisrede11) unumwunden bekennt, daß der Lobredner vergrößern und verkleinern müsse. Ich hoffe daß diese Arbeit, der meine Zeit, sobald ich nach Bonn zurückkehre, möglichst ausschließlich gewidmet sein soll, ordentlich werden wird; und dann gedenke ich noch vor dem Sommersemester eine textkritische Arbeit für das Seminar anzufertigen, wozu schon Sammlungen vorhanden sind. Dir wird ein solcher Zweck kleinlich dünken, indeß bedarf meine Natur solcher pädagogischer Institute. — So gern ich neuerlich einmal nach Berlin gehen würde, so sehr ich darnach verlange, wieder einmal mit Dir zusammen zu sein — und das ist wahrlich kein Compliment, sondern tiefes Bedürfniß so werde ich doch den Verhältnißen Rechnung tragen und in Bonn bleiben müssen, wo mir sehr gut bezahlte Engländerprivatstunden12 die Möglichkeit in die Hand geben, meinen Eltern13 einen Theil der Last meiner Unterhaltung abzunehmen. Doch davon recht bald ein Mehreres. Ich will diesen mitten im Trubel der Familie und der Besuchenden geschriebenen Brief zu Ende bringen. Deine Theognisarbeit ist mir noch nicht zu Gesichte gekommen, obwohl ich darnach ziemlich herumgesucht habe. Bitte, bezeichne mir doch die Nummern des Rh. M. in denen sie sich findet, ich will sie gern lesen.14 Über Deine Aeschylosstudien,15 von denen Du das vorige Mal schriebst,16 hoffe ich bald ein Näheres zu hören, wie ich überhaupt sehr verlange, einen Brief von Dir zu erhalten. Michael,17 Töpelmann18 stehn im Dr. Examen. Mich[ael] hat eine ausgezeichnete Untersuch[un]g über die Quellen der dritten Dekade des Liv[ius] geliefert.19 Jahn und Schäfer wollen ihren Verlag bei Weidmann befürworten.20 — Wie Töpelm[ann] das Examen besteht, darüber bin ich — unter uns — neugierig genug. Seine Dissert.21 freilich soll recht gut sein, was ich wohl glauben mag. Verzeihe diesen flüchtigen Brief, jedenfalls ist er besser als keiner. Um so reicher soll der nächste werden. Behalte lieb und laß nicht zu lange auf einen Br[ief] von Dir warten Deinen Deine Mutter und Schwester bitte ich aufs Freundlichste zu grüßen. Auch in Pforte könntest Du meinen guten Ruf wieder auf die Beine bringen, der wohl durch die theolog. Spazierfahrt etwas geschwunden sein mag. Ich wohne 1. Albert Réville (1826-1906), Paul Deussen (Übers.), Theodor Parker, sein Leben und Wirken. Ein Kapitel aus der Geschichte der Aufhebung der Sclaverei in den Vereinigten Staaten. Paris: Reinwald, 1867. See Deussen's entry in Nietzsche's Library.
Spandau, 12. Januar 1867: "Wie sie so sanft ruh'n die Toten."1 Mein lieber Freund, Arbeit und Trauer sind die beiden Entschuldigungen, die ich Dir entgegenhalte, um Deine Verzeihung für mein dreimonatliches Stillschweigen zu erlangen. Erstere ist mit dem bestandenen Offiziersexamen abgeschlossen; die Trauer um meinen am 5ten Januar entschlafenen lieben ältesten Bruder Ernst wird sobald nicht verschwinden; äußerlich wohl, aber im Herzen nie; denn wenn sich auch der heftige Schmerz mit der Zeit verliert, so bleibt die durch sein Hinscheiden entstandene Lücke stets unausgefüllt und seine letzten, fast sterbend gesprochenen Abschiedsworte werden mir durchs Leben nachklingen, mag es lang oder kurz dauern, denn sie enthalten ein theures Vermächtniß, wodurch mir eine heilige Pflicht auferlegt wird, die ich nur zu gern nach Kräften erfüllen werde.3 Mein Bruder war von seiner schweren Wunde vollständig geheilt im October des verflossenen Jahres nach Berlin gekommen, um dort, in ein vom Frauenverein errichtetes vortreffliches Lazareth aufgenommen, Hülfe zu suchen, um seinen vollständig steifen, ganz unbrauchbaren Arm der Kunst der Aerzte anzuvertrauen. Eine von Langenbeck4 versuchte gewaltsame Biegung des durch den Hieb ganz verknöcherten Gelenkes hatte fast keinen Erfolg, da sich nicht einmal die Möglichkeit zu schreiben ergab. Es blieb hier nur der dornenvolle Weg einer von Langenbeck erfundenen schweren Operation, deren Statistik allerdings ganz überraschend günstige Resultate zeigt. Diese, die Resection des Ellbogengelenks, ist in 24 Fällen 21 Mal vollständig so geglückt, daß der Operierte, die ganze Kraft und Gelenkigkeit des resecierten Armes wiedererhalten hat. Diese Hoffnung, an sich selbst Gleiches zu erleben, begründet in der Ueberzeugung, eine ungewöhnliche Lebenskraft und Gesundheit der Säfte zu besitzen, der Wunsch, bei einem neuen Kriege, nochmals den Säbel zu führen, und die Nothwendigkeit, sich schnell der Operation zu unterziehen, ehe die Muskeln des steifen Armes atrophisch würden, bestimmten meinen stets entschlossenen Bruder, den entscheidenden Schritt zu thun, zu dem auch ich nicht umhin konnte ein zustimmendes Votum zu geben. Die Sache selbst lief gut ab. Langenbecks erster Assistenzarzt, ein höchst bedeutender Chirurg vollzog die Resection natürlich mit Hülfe von Chloroform meisterhaft geschickt. Meine täglichen Besuche zeigten mir einen nur durch eine über die Wunde laufende Rose gestörten regelmäßigen Verlauf einer Heilung, wie sie nur unter Begünstigung solcher ungewöhnlichen Lebenskraft möglich ist. Nach 10 Tagen hatte sich bereits so viel neuer Knochen in dem durch die von der zurückgebliebenen Knochenhaut gebildeten Bett angesetzt, daß Gelenkwasser aus so der noch offenen Wunde floß und der Patient fühlte sich so wohl, daß ihm das Aufstehen gestattet werden konnte. Aber nur dieses, nicht das Ausgehen. Unbegreiflicherweise ließ sich mein Bruder im Gefühl der Kraft und vom schönen Wetter und Bedürfniß nach frischer Luft angezogen, trotz aller Warnungen nicht abhalten, das Haus zu verlassen und spazieren zu gehen. So machte er einen Weg von drei Stunden. Die sehr empfindliche Wundfläche wurde hierbei von der Luft berührt, so daß sich mein Bruder gleich Tags darauf wieder niederlegen mußte, klagend zwar über Schmerz, aber doch munter und frisch. Meine Eltern5 kamen um diese Zeit nach Berlin und waren hocherfreut, ihn nach dieser gefährlichen Operation, wenn auch noch liegend, doch so lebensfrisch und heiter zu finden. Erst am letzten Tage vor der Abreise meiner Mutter zeigte sich eine unangenehme Verschlimmerung, indem sich der Eiter ungünstig färbte und Fieber eintrat, ohne daß jedoch Anlaß zu ernster Besorgniß vorhanden zu sein schien. Am Tage meiner Abreise nach Görlitz, wo ich mich freute, nach überstandener Examenangst, ein angenehmes Weihnachtsfest feiern zu können, war ich mehrere Stunden am Bette meines Bruders, dessen Aussehen mir gar nicht gefallen wollte; hohes Fieber und Mattigkeit, besonders der sonst so kräftig tönenden Stimme, schlecht aussehender Eiter und der Widerwille gegen jede kräftige Nahrung waren bedenkliche Erscheinung. Wenn auch eine ohne Chloroform ausgeführte sehr schmerzhafte Erweiterung der Wunde, ihm Linderung dadurch gewährte, daß sie dem Eiter Gelegenheit gab, abzufließen, so daß eine sichtliche Besserung eintrat, so konnte doch auch der Arzt mir nicht verhehlen, daß er es mit einem ernstlich Kranken zu tun hätte. Mit dieser wenig erfreulichen Nachricht mußte ich meinen Eltern die Freude des Weihnachtsfestes trüben, die aber bald durch eingelaufene bessere Nachrichten, wieder Raum finden konnte; da plötzlich am 29ten December bekam ich einen inhaltsschweren Brief von einem Leidensgefährten meines Bruders mit der erschreckenden Nachricht, daß er zweimal Schüttelfrost gehabt habe, ein unter allen Umständen sehr bedenkliches Symptom bei Wunden. Erfahrene Aerzte nennen dieß den Todesboten, der seinem Herrn um drei bis 10 Tage vorausgeht. Sofort reiste ich mit meinen Eltern ab. Mein armer Bruder sah schrecklich aus, blaßgelb seine Gesichtsfarbe, der Hals durch die Diphtheritis dick angeschwollen, nur flüssiger Nahrung Eingang gewährend, die Augen hohl, die Wangen eingefallen, die Zunge unheimlich belegt, die Stimme schwach. Ich konnte bei diesem Anblick die heißen Tränen nicht aufhalten, ich sah den Tod auf seinem theuren Antlitz. Langenbeck erschien, untersuchte die Wunde und sah sich genöthigt, dem schwer Leidenden noch einen tiefen Schnitt zu machen, um einen neuen Eitercanal zu bilden. Ohne Klage hielt Ernst heldenmüthig die furchtbar schmerzhafte Operation aus, die sich in den nächsten Tagen noch zweimal an benachbarten Stellen des Armes wiederholte. Ich werde nie den flehentlich bittenden Blick seiner treuen, im Leben so feurigen, jetzt so matten Augen vergessen, mit dem er die Aerzte ansah, wenn sie ihm in wohlgemeinter Absicht, zu helfen, unsägliche Qualen bereiteten. Am 31ten December in der Nacht zum neuen Jahr wurde der Zustand so besorgnißerregend, daß meine Eltern sich auf das Schlimmste gefaßt machten. Nach Spandau zu meinem Regiment zurückgekehrt, brachte ich jene Nacht auf Wache zu, theils in Gesellschaft vergnügter Offiziere, theils umgeben von schlafenden Verbrechern, die im Untersuchungsarrest dem Urtheil entgegenharrend meiner Beaufsichtigung anvertraut waren. Selten in meinem kurzen Leben sind meine Gedanken in so schneidenden Gegensätzen umhergewandert wie in dieser Nacht; immer kehrten sie von der Beobachtung des Kartenspiels beim Punsch, von den pfiffigen Gesprächen, und dem gesund schnarchenden Schlaf der Verbrecher an das Bett meines leidenden Bruders zurück wo sie in banger Furcht und matter Hoffnung hafteten, bis die Müdigkeit mir die Augen schloß. Am Neujahrstage bereitete mich mein Schwager6 darauf vor, daß wir ein theures Leben würden von uns scheiden sehen. Ich reiste sofort nach Berlin, und erfuhr, daß eine leise Spur von Besserung sich zeigte. Noch am Abend desselben Tages bis 12 Uhr blieb ich im Lazareth, sah den Kranken nach einer Morphiumeinspritzung ziemlich ruhig schlafen und kehrte mit einiger Hoffnung in's Hotel zu meinem Vater zurück. Aber früh am folgenden Tage rief meine Schwester,7 welche die Nacht gewacht hatte uns ängstlich ab, da sie glaubte es werde schnell zu Ende gehen; und wieder erholte sich mein Bruder für einige Stunden. Am 2ten Januar vorbereitet auf sein Ende verlangte er das Abendmahl. Müllensiefen8 kam und gab es ihm und uns. Hierauf nahmen wir alle mit schwerem Herzen Abschied. Als ich an sein Bett trat, schlang er seinen gesunden Arm um meinen Hals und hielt mich lange fest und sagte halb laut: "Carl wenn ich sterben soll, so sei Du immer gut gegen meinen lieben alten Papa." Ich werde das nie vergessen. In seiner ganzen schweren Krankheit hat er immer nur an Andere, selten an sich gedacht und nur wenn es seine Schmerzen und körperlichen Bedürfnisse erforderten. Diese Bescheidenheit verbunden mit heldenmüthiger Geduld, die Dankbarkeit für jeden kleinen Liebesdienst mit Worten oder unaussprechlichen Blicken ausgedrückt sind für uns alle bleibende liebe Erinnerungen, die sein edles Bild herrlich schmücken. Auch am 3ten Januar zeigten sich Symptome der Besserung; aber die immer mehr schwindenden und durch keine Nahrung zu ersetzenden Kräfte raubten mehr und mehr alle Hoffnung, die selbst den Aerzten schwand. Die Nacht vom 3ten zum 4ten stand ich meiner Mutter im Wachen bei, da sich im Gesicht des Kranken bedeutende Veränderungen, Vorboten des Todes zeigten; es war die vollständige facies Hippocratica,9 dazu eine auffallende Mattigkeit, ein Erkalten der linken Hand und zunehmender Geruch, alles aber bei vollständigem klarem Bewußtsein. Ein verdächtiges Brodeln und Kochen in der Lunge, worauf ich vom Arzt aufmerksam gemacht war bestimmte mich, meinen Vater und älteren Bruder10 rufen zu lassen. Sie kamen um 1 Uhr Nachts und glaubten eine Leiche zu finden, aber wieder überwand diese Titanennatur den Tod und es traten regelmäßigere Athemzüge ein, und das Kochen in der Lunge verstummte. Noch ein banger langer Tag; nochmaliges schmerzhaftes Reinigen der 4 Wunden und Verbinden derselben; auch ärztliche Versicherung der Besserung des Eiters und des Halsleidens; aber Langenbecks ernstes theilnehmendes Gesicht drückte eine Hoffnungslosigkeit aus, die nicht mißverstanden werden konnte. Der Tag verstrich; von 5 bis 7 Uhr Abends saß ich noch am Bette meines lieben Bruders und hielt seine kalte Hand fest in der meinigen, noch hatte er Bewußtsein, sprach Einiges und verlangte Dieß und Jenes; aber er wurde immer schwächer. Ich schlief neben ihm ein und vergaß so alles Betrübende, daß ich beim Erwachen es gar nicht fassen konnte, meines sterbenden Bruders Hand in der meinigen zu halten. Und doch war es schreckliche Wahrheit; von meinem Bruder abgelöst, legte ich mich mit meinem Vater zu Bett, während meine Mutter beim Schmerzenslager ihres Sohnes blieb. Wieder schlief ich fest ein, ermüdet von körperlicher Anstrengung und Tage langer Gemüthsbewegung. Da plötzlich am 5. h. m. früh ½6 Uhr trat meine Mutter in unser Schlafzimmer und sagte mit ihrer vom Schmerz erfüllten Stimme: Wir haben ein Kind im Himmel. Um halb vier Uhr war Ernst gestorben, nachdem er von 12 Uhr an bei verlorenem Bewußtsein mit dem Tode gerungen hatte. Man hatte uns nicht herbeirufen lassen, weil es der Arzt nicht wollte. Ein Sterbender muß ungestört bleiben, man darf ihm den Uebergang nicht erschweren. Der Kampf soll fürchterlich gewesen sein; sein Gesicht unkenntlich, rollende Augen, Verzerrungen aller Muskeln, dann ein Schrei, das Austreten der Luft aus der Lunge, dann noch einer, dann alles still. Das Gesicht war wieder wie vorher, der Ausdruck edel und feierlich wie im Leben, bis zur Stunde der Agonie. Noch eine halbe Stunde zuvor nannte er den Namen seiner jüngsten nicht anwesenden Schwester,11 hierauf ließ er das Gas in die Höhe drehen, um seine Mutter und seinen Bruder noch einmal zu sehen, und dadurch bat er beide fort zu gehen; denn er fühlte das Herannahende. Ich habe am Nachmittag des Todestages die Leiche gesehen und fand den Ausdruck so schön, daß ich Stunden hätte dabei sitzen können; mir war immer, als müßten sich die Augen wieder öffnen und doch konnte es nicht sein; und noch heute nach acht Tagen habe ich diesen thörichten Gedanken, noch immer will es mir nicht faßlich werden, daß ich diesen Bruder für immer verloren habe. Im noch nicht vollendeten 27ten Lebensjahre, in der Blüthe der Kraft des Körpers und Geistes, ein felsenfester Charakter, ein Held in jeder Bedeutung des Wortes, in Kämpfen gegen die Feinde des Vaterlandes, im Streite gegen alles Unwahre, Unlautere, Unrechte, im Dulden der größten Schmerzen; ein ungefärbt liebender Bruder, ein trefflicher, treuer Sohn und ebenso treuer Freund. Er hat nie nach dem Urtheil der Welt gefragt, hat nie ihr Lob gesucht, noch ihren Tadel geachtet, sein Wille war sein Himmelreich und seine Pflicht war sein Wille. Strenger gegen sich selbst wie gegen Andere hat er doch eine wohlverdiente Anerkennung in weiten Kreisen gefunden, ja selbst an höchster Stelle die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Seine Königin12 hat ihn besucht, sie hat an seinem Krankenlager gesessen und an seinem Sarge gekniet und ihn mit Lorbeer geschmückt, sein König13 hat ihm einen Lorbeerkranz ins Grab geschickt mit der Königsgrätzer Medaille, und der treue liebenswürdige Kronprinz14 drückte ihm noch am Tage vor dem Tode theilnehmend die Hand. Und nach allen den vielen Grüßen und Erkundigungen, von denen er hörte, sagte er zu seiner Mutter: "Mama, das macht mich nicht stolz, daß die Leute so nach mir fragen; ich habe es ja gar nicht verdient." Aber mich macht es stolz, einen solchen Bruder gehabt [zu] haben ein solches edles Original von einem Bruder. Ich stehe hier wahrlich nicht als sein Lobredner, sondern ich sage nur die reine Wahrheit, wie ich sie bei seinen Lebzeiten gesagt habe, ohne das alberne de mortuis nil nisi bene.15 Alle fernerstehenden Bekannten werden mir dasselbe Urtheil sagen, ohne durch die Brille brüderlicher inniger Liebe und hoher Achtung sehen zu müssen. In Görlitz, wohin ich die Leiche gebracht habe war eine sehr hübsche Andacht für seine dortigen zahlreichen Freunde Bekannten und Verehrer, zu denen namentlich seine juristischen Vorgesetzten gehören; hierauf zogen ihn vier Pferde nach Seidenberg, wo er feierlich von Freundeshand und Freundesmund (Mende)16 in's kühle Grab geleitet wurde. Eine stille Ecke im schön gelegenen Kirchhof, von wo aus man unsere beiden Güter sehen kann, umschließt das Gebein dieses edlen ritterlichen Jünglings. Mein Antonio, an den ich mich wie an einen Felsen17 klammern konnte, sein verklärtes Bild ein Leuchtthurm im Meere des Lebens. Doch Du wirst sagen quo usque tandem abutere patientiam nostram.18 Verzeih diese Details; aber weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über,19 und wem kann ich das volle Herz sonst ausschütten; ist dieß doch der beste Trost. Ach hättest Du ihn gekannt! — Indem ich Dir nun viel zu spät herzlich für Deinen lieben Brief20 danke, den ich vor 3 Monaten erhielt, nachdem ich bereits zur Vorbereitung auf das Offiziersexamen einen längeren Urlaub nach Berlin angetreten hatte, theile ich Dir kurz mit, daß ich das Examen bestanden habe, aber erst in einigen Wochen Offizier werden kann, was ich hier in Spandau abwarte. Für Dein begonnenes Werk21 wünsche ich Kraft und Ausdauer und Glück. Ein anderes Mal von etwas Anderem. Dieß war meines Bruders Ecce quomodo moritur justus!22 Lebe wohl. Dein treuer Freund 1. Cf. August Cornelius Stockmann (1751-1821), "Der Gottesacker" (God's Acre). In: Ludwig Erk (Hrsg.), Neue Sammlung deutscher Volkslieder mit ihren eigenthümlichen Melodien. Berlin: Logier, 1844, 95-97. Stockmann's song was based on one by Friedrich Burchard Beneken (1760-1818), a German Protestant clergyman and composer. Gersdorff changed the end of the opening verse from "die Seligen" (the blessed) to "die Toten" (the dead).
Leipzig, 16. Januar 1867: Mein lieber Freund, es war ebenfalls in den ersten Tagen des Januars, wo auch ich in Naumburg an einem Sterbebette1 stand, an dem einer nahen Verwandten, die nächst Mutter und Schwester die nächsten Anrechte auf meine Liebe und Verehrung hatte, die treulich an meinem Lebenswege Antheil genommen hatte, und mit der ein ganzes Stück meiner Vergangenheit und vornehmlich meiner Kindheit von uns gewichen ist. Und doch, als ich Deinen Brief empfieng, mein lieber, armer, schwergetroffner Freund, ergriff mich ein viel heftigerer Schmerz: war doch auch der Unterschied der beiden Sterbefälle so groß. Dort war ein Leben vollbracht, mit guten Handlungen ausgenützt, mit schwachem Körper bis zum Alter getragen: wir hatten alle die Empfindung, daß die Kräfte des Körpers und Geistes verzehrt waren und daß der Tod nur für unsre Liebe zu früh komme. Aber was schied mit Deinem auch von mir stets bewunderten und verehrten Bruder. Es schied von uns eine jener seltnen, edlen Römernaturen, auf die Rom in seiner besten Zeit stolz gewesen wäre, auf die Du als Bruder noch viel mehr Anrecht hast stolz zu sein. Denn wie selten bringt unsre erbärmliche Zeit solche Heldengestalten hervor. Aber Du weißt es ja, wie die Alten darüber denken: "der Götter Lieblinge sterben früh."2 Was hätte eine solche Kraft noch thun können. Wie hätte sie als Vorbild eines selbsteignen, rühmlichen Strebens, als Beispiel eines entschiedenen, in sich klaren, um Welt und Weltmeinung unbekümmerten Charakters Tausenden in des Lebens Wirren Stärkung und Trost sein können. Wohl weiß ich, daß dieser vir bonus3 im schönsten Sinne Dir noch mehr war, daß er Dein anzustrebendes Ideal, wie Du mir oft früher sagtest, Dein sicherer Leitstern für die wechselvollen und durchaus nicht bequemen Bahnen des Lebens war. Vielleicht war dieser Tod der größte Schmerz, der Dich überhaupt treffen konnte. Nun, lieber Freund, Du hast jetzt — das merke ich an dem Tone Deines Briefes — jetzt selbst an Dir erfahren, warum unser Schopenhauer das Leiden und die Trübsale als ein herrliches Geschick, als den 4 zur Verneinung des Willens preist.5 Du hast auch die läuternde, innerlich beruhigende und festigende Kraft des Schmerzes erfahren und empfunden. Es ist eine Zeit, in der Du selbst erproben kannst, was wahr ist an der Lehre Schopenhauers. Wenn das vierte Buch seines Hauptwerkes jetzt auf Dich einen häßlichen, trüben, lästigen Eindruck macht, wenn es nicht die Kraft hat, Dich zu erheben und Dich aus dem äußeren heftigen Schmerze hindurchzuführen zu jener wehmüthigen, aber glücklichen Stimmung, die uns auch beim Anhören edler Musik ergreift, zu jener Stimmung, in der man die irdischen Hüllen von sich abfallen sieht: dann mag auch ich nichts mehr mit dieser Philosophie zu thun haben. Der Schmerzerfüllte kann und darf allein über solche Dinge ein entscheidendes Wort sagen: wir anderen mitten im Strome der Dinge und des Lebens stehend, jene Verneinung des Willens nur ersehnend als ein glückseliges Eiland, wir können es nicht beurtheilen, ob der Trost solcher Philosophie auch für die Zeiten tiefer Trauer ausreicht. Es wird mir schwer, auf etwas Anderes überzugehen: denn ich weiß nicht, ob Dich nicht Erzählungen über mein Geschick und Ergehen in dieser Stimmung verdrießen. Doch wird Dir lieb sein zu hören, daß Einsiedel6 und ich in Folge gemeinsamen Schmerzes jetzt öfter zusammengekommen sind und auf Mittel und Wege sinnen, wie wir Dir eine kleine Freude und Erholung verschaffen können. Überhaupt hast Du an Einsiedel einen sehr theilnehmenden und mitfühlenden Freund; so eben habe ich ihm Deinen schönen, ausführlichen und mit herzlichster Liebe geschriebenen Brief vorgelesen. Wir wünschen Beide nichts sehnlicher als Dich einmal sehen und sprechen zu können. Mir geht es wohl. Die Arbeit ist groß, aber fruchtbringend, darum erfreuend. Ich schätze ein stetiges und concent[r]irtes Arbeiten von Tag zu Tage mehr. Augenblicklich versuche ich meine Kräfte an einer Preisaufgabe der hiesigen Universität "de fontibus Diogenis Laertii";7 ich habe dabei die wohlthuende Empfindung, nicht erst durch Anlockung von Ehre und Geld auf dies Thema gekommen zu sein, sondern es mir selbst gestellt zu haben. Das wußte Ritschl und war so gefällig, nachher dies Thema als Preisaufgabe vorzuschlagen. Ich habe einige Mitstreiter, wenn ich recht berichtet bin: doch habe ich in diesem Falle nicht geringes Selbstvertrauen, da ich bis jetzt lauter sehr schöne Resultate gefunden habe. Schließlich kommt es allein auf Förderung der Wissenschaft an: sollte ein Anderer noch mehr gefunden haben, so soll mich dies nicht sehr kränken. Von Deussen habe ich im neuen Jahre Nachricht:8 er ist wieder Philolog, bravo: und empfindet, wie er selbst schreibt, wieder festen Boden unter sich. Er studirt in Bonn und scheint allmählich in das Fahrwasser zu kommen. Er schickte mir seine Übersetzung eines französ. Buches "Theodor Parkers Biographie"9 mit, mit der er sich Geld verdient hat. Zum Schluß, lieber Freund, bitte ich Dich um eins: belästige Dich nicht mit Briefschreiben. In kurzer Zeit bekommst Du von mir wieder Nachricht in einem recht ausführlichen Briefe, den heute zu schreiben mir nicht möglich ist. Dasselbe läßt Dir auch Einsiedel sagen. Ich schließe mit einem warmen Lebewohl und einem Spruch des Aristoteles: Dein treuer, gleichfalls 1. Rosalie Nietzsche (1811-1867) died on 01-03-1867. For Nietzsche's deathbed vigil, see Naumburg, 01-04-1867 letter to Hermann Mushacke in Berlin. Gersdorff's brother, Ernst (1840-1867) also died in early January.
Leipzig, 20. Februar 1867: Mein lieber Freund, wenn Du nicht in der Stimmung bist, eine Anzahl von seltsamen Dingen anhören zu können, so lege den Brief bei Seite und verspare ihn Dir für eine andere Stunde. Heute war nämlich die große Leipziger Wahlschlacht,1 die Entscheidung eines mit allen Mitteln geführten Parteienkampfes, heute ist das Schlußwort in der Sache Stephani gegen v. Wächter2 gesprochen worden. Wie es ausfiel, will ich noch nicht verrathen. Du kennst das Ergebniß der ersten Wahl:3 unser Vertreter, der vortreffliche, makellose vir strenuus4 Stephani (neuerdings St. Stephan in den Inseraten des Tageblattes5 genannt) siegte mit 1000 Stimmen über den Hort des sächsischen Particularismus Herrn v. Wächter:6 jedoch war dieser Sieg nicht ausreichend, es fehlte an c. 200 Stimmen an einer absoluten Majorität. Also mußte eine engere Wahl vorgenommen werden, bei der die Kämpen einer dritten und einer vierten Partei Würkert und Wuttke7 gar nicht mehr in Betracht kamen. Diese beiden sind also recht jämmerlich durchgefallen, am meisten Wuttke, genannt "das Reichswiesel," der von einer sogenannten Volkspartei, im Grunde von den tollsten Preußenfressern8 auf den Schild gehoben war und mit c. 300 Stimmzetteln von demselben wieder herunterfiel. Das Organ dieser schwarzgelben Färbung9 ist die "Sächsische Zeitung," ehedem "Abendpost." Würkert, groß, wie das Tageblatt sagt, als Bierwirth, Mensch, Gefangener, Dichter, Redner,10 wurde von den Las[s]alleanern11 in der 12ten Stunde aufgestellt und mit einer solchen Fluth von Reklame aufgeschwemmt, daß er selbst an seiner Wahl nicht zweifelte. Ihm zu Ehren wurde eines Sonntags12 um 11 Uhr eine Volksversammlung unter freiem Himmel veranstaltet, die nach mäßiger Berechnung von 12000-15000 Menschen besucht wurde. Er hielt mit vortrefflichem weit tönenden Organ, mit antiker Schwenkung seines Kutschermantels eine Wahlrede, mit kräftigen Worten über höchst unkräftige und unreale Dinge zB. über einen europäischen Arbeiterstaat, ließ sodann über seine Wahl abstimmen und erklärte, daß er gegen 4 Stimmen von der ganzen Versammlung gewählt sei. Dies war eine optische Täuschung: denn am Tage der Wahl hatte er c. 900 Stimmen für sich. Jetzt kam alles auf die durchgefallnen Parteien und ihre neue Stellung an. Die Agitation wurde wirklich großartig, wo man gieng oder stand, drückte einem ein Dienstmann ein Programm, ein Pamphlet, eine Ermahnung in die Hand, selbst in das Haus wurden die Zettel getragen: das Tageblatt und die Nachrichten13 strotzten von Annoncen. Ich glaube nicht, daß ein Gesichtspunkt noch übrig ist, aus dem Agitationsblei noch zu schmelzen wäre. An Übertreibungen fehlte es nicht z.B. wurde Wächter ein alter Mann genannt, dessen Gehirn nach Bock14 einen Stoffwechsel durchgemacht habe und der deshalb nicht mehr politisch fähig sei. Oder man benutzte eine Rede Stephanis, worin er versprach, als Vicebürgermeister seinen Verpflichtungen nachzukommen, aber eine Wahl, wenn sie auf ihn ohne sein Zuthun fallen würde, annehmen zu wollen, und ließ den 2ten Satz weg, so daß es scheinen mochte als ob Stephani eine Wahl ablehne. Kurz moralische und unmoralische Mittel, Stempel, Dienstmänner, Verleumdungen, riesige Maueranschläge, Fahnen mit den betreffenden Namen, alles war in Bewegung gesetzt — für den heutigen Tag. Dieser war trübe und nebelig. An den Wahlstätten lagerten müssige Volksschichten, flatterten die Fahnen, knarrten die Stempelpressen, strahlten in bunten Farben die Plakate. Nachmittags giengen wir zu drei in das Rosenthal15 und kamen auf den Einfall, das Orakel über den Ausgang zu befragen. Nach allen nur denkbaren Versuchen gab es immer ein Resultat: wenn ein Rabe krächzend flog, wenn wir fragten, ob Mann oder Weib zuerst uns begegnen würden, ob eine aufrecht geworfne Münze die Bildseite zeige u.s.w. immer antwortete uns der "Zufall" .. "Wächter"; was uns in heitre Stimmung brachte, so daß wir einen jungen Philologen, der uns begegnete, mit unsrer Orakelweisheit zu bethören suchten und ihm sagten, daß Wächter gewählt sei. "Weiß schon, sagte das Unglückskind, mit 1000 Stimmen Majorität." Und so ist es. Inzwischen hat sich die Wächtersche Partei um 2000 Stimmen vermehrt. Wir sind unterlegen. Der Vetter16 triumphirt, der Particularismus schwingt die Fahne des Siegs. Nun einiges Persönliche. Denn politische Dinge möchte ich nicht berühren — aus begreiflichen Gründen. Einstweilen also bleibe ich noch hier und zwar denke ich dabei sowohl an das nächste als das nächstfolgende Semester. Im Grunde bin ich sehr wenig genirt, (wenn mich nur der Kriegsstand17 nicht noch genirt!) lebe ein behagliches Dasein, so weit dies in einer solchen Welt möglich ist, habe gute Freunde und getreue Nachbarn und gute Lehrer, sitze täglich bei Kintschy18 mit Kohl19 und Rohde zusammen, die jetzt meinen nächsten Umgang bilden, bin für unsern philologischen Verein20 nach Kräften thätig, kaufe mir sehr viel philologische Bücher, finde ab und zu einen leidlichen Gedanken und arbeite etwas unruhig. Thematen, die mich beschäftigen, sind
im Hintergrunde schwebt ein Plan zu einer kritischen Geschichte der griech[ischen] Litteratur.23 Wenn ich Dir eine Lektüre empfehlen darf, die Dich zugleich an das Alterthum fesselt und an Schopenhauer erinnert, so nimm einmal die epistulae morales des Seneca24 vor. Schließlich kommt das, was den Anfang meines Briefes hätte machen sollen, mein Dank für Deinen lieben Brief,25 den ich aus meheren Gründen ganz besonders schätze. Erstens weil weder ich, noch irgend Jemand von Dir jetzt Briefe erwartet, da wir vielmehr erfreut und dankbar sind, wenn Du nur Lust und Stimmung hast, unsere Briefe zu lesen. Zweitens aber war mir besonders Dein Bekenntniß zu unserm Philosophen lieb und werth,26 da es in einer Zeit ernster und schwerer Erfahrungen, entscheidender Schicksalsschläge gesprochen worden ist. Fromme Menschen glauben, daß alle Leiden und Unfälle, die sie treffen, mit genauester Absichtlichkeit auf sie berechnet sind, so daß der und jener Gedanke, dieser gute Vorsatz, diese Erkenntniß in ihnen geweckt werden sollte. Uns fehlen zu einem solchen Glauben die Voraussetzungen. Wohl aber steht es in unsrer Gewalt, jedes Ereigniß, kleine und große Unfälle für unsre Besserung und Tüchtigung zu benutzen und gleichsam auszusaugen. Die Absichtlichkeit des Schicksals des Einzelnen27 ist keine Fabel, wenn wir sie also verstehen. Wir haben das Schicksal absichtlich auszunützen: denn an und für sich sind Ereignisse leere Hülsen. Auf unsre Verfassung kommt es dabei an: den Werth, den wir einem Ereigniß beilegen, hat es für uns. Gedankenlose und unmoralische Menschen wissen nichts von einer solchen Absichtlichkeit des Schicksals. An ihnen haften eben Ereignisse nicht. Wir aber wollen aus ihnen lernen: und jemehr sich unser Wissen in sittlichen Dingen mehrt und vervollständigt, um so mehr werden auch die Ereignisse, die uns getroffen haben, einen festgeschlossnen Kreis bilden oder vielmehr zu bilden scheinen. Du weißt, lieber Freund, was diese Reflexion soll. Heute nehme ich von Dir Abschied, indem ich noch Einsiedels,28 meines Vetters,29 sowie auch meiner Mutter theilnehmende Grüße verzeichne. Dein treuer Freund Friedrich N. 1. The 1867 Leipzig election was for a member of the constituent Reichstag of the North German Confederation.
Naumburg, 4. April 1867: Mein lieber Freund, als ich Deinen vorletzten Brief1 von Naumburg aus geschickt bekam, hatte ich sehr angenehme Empfindungen. An demselben Morgen hatte ich schon andre Briefe bekommen und sonst Dinge erlebt, ich weiß nicht mehr was, die mich sehr glücklich stimmten. Ich hatte einen glücklichen Tag, aber das Hauptereigniß war für mich Dein Brief oder vielmehr die Nachrichten, der Ton, die Hoffnungen, die Entschlüsse Deines Briefes. Allerdings lachte ich mich im Stillen aus, daß ich noch vor wenig Tagen an eben denselben Menschen, der so zuversichtlich, sicher und auf festen Boden gestellt an mich schreibt, eine lange Epistel2 voller Wünsche und Aufforderungen geschickt hatte. Dieser Brief war an ein Phantom gerichtet: mein heutiger gilt endlich wieder dem Menschen, dem lieben Freunde und Philologen, der sich selbst und sein Studium wiedergefunden hat, der aus dem Irrgarten theologischer Scrupel zurückgekehrt ist, um seine Hochzeit mit der Philologia zu feiern.3 Jener liebe Freund hat mir auch schon in seinem letzten Briefe4 die glückliche Entbindung seiner Frau mitgetheilt, so daß über das Glück jener Ehe gar kein Zweifel sein kann. Wirklich, lieber Paul, selbst wenn Deine Briefe nicht so viel Verführungen und Lockungen meiner Eitelkeit enthielten, wenn ihr ganzer Inhalt in den Satz zusammengefaßt wäre "ich bin Philologe, arbeite das und das und bin zufriedner als je" so würden sie für mich auch dann die liebsten Genüsse und erhebendsten Freuden sein, die ich kenne. Der Gedanke ist mir all zu wohlthuend, nicht mehr zwischen uns hebräische Nebel5 zu haben, die uns verhindern, in rechter Gedankengemeinsamkeit mit einander durch das Leben zu gehen. Heute nun erfülle ich zunächst Deinen Wunsch und schreibe ein philologisches Billet. Das Lexicon von W. Bötticher6 ist für Dich unentbehrlich, weil es 1 Artikel besitzt über den Ablativus mit sehr schätzbaren und reichen Zusammenstellungen; wenn man auch die Citate immer erst prüfen muß, da die Collationen, denen Böttiger folgte, nichts taugten. Aber es muß auch noch Spezialarbeiten über den Taciteischen Ablativ geben, Gott weiß aber wo. Ich habe leider keine bibliographischen Handbücher. Über den Genetiv hat gut gehandelt ein gewisser Zernial.7 Sehr nützlich soll eine Arbeit von Dräger8 sein "die taciteische Syntax." Auch vom Dr. Schmidt9 in Jena, dem Schildknappen Lucian Müllers,10 ist ganz kürzlich eine Schrift über syntaktische Eigenheiten des Tacitus erschienen,11 die sehr gerühmt wird. Autorität in solchen Fragen scheint übrigens E. Wölflin12 in Winterthur zu sein, der vor Kurzem im Philologus einen Jahresbericht über derartige Fragen gab.13 Darin hat mir besonders der Nachweis gefallen, daß derartige Sammlungen streng nach der chronologischen Folge der Taciteischen Schriften angelegt werden müssen, weil der usus des Tacitus sich in vielen kleinen Dingen verändert hat. Jedenfalls stehst Du, lieber Freund, mit solchen Untersuchungen auf einem gefährlichen Terrain, weil Du nach sehr viel Anstrengung plötzlich die Entdeckung machen kannst, daß Deine Mühe unnütz, wenigstens für die Wissenschaft, war. Wenn ich Dir aber einen Schriftsteller nennen darf, wo derartige schätzenswerthe Einzeluntersuchungen noch nicht einmal begonnen sind, so meine ich Ammian Marcellin.14 Ebenso ergebnißreich, denke ich, werden Ablativstudien im Apuleius15 sein. Welche Erweiterungen des Ablativgebrauchs verschaffte sich doch die afrikanische Latinität? Ich weiß nichts davon und kenne auch niemanden, der dieses Gebiet irgendwie innehat. Da Du zu Deinen andern Studien auch den Photius16 benutzt hast, so wird bei Dir wohl etwas Interesse für dessen 17 hängen geblieben sein. Hier haben wir wirklich eine vernachlässigte Provinz. Ich weiß nicht ob die Textkritik hier noch viel zu thun hat, aber ich glaube es (vielleicht ist in eben jenem cod. 176 statt scil. zu schreiben 18 Es ist wohl ein 19 von 4 Büchern verloren gegangen[.]) Doch das meine ich nicht. Es läßt sich aber sehr viel aus den bibliographischen Angaben des Photius schließen und lernen. Die Gelehrsamkeit, die er mitunter zeigt, wird entweder aus den Prologen der Bücher selbst stammen oder sie ist nachweisbar aus einem früher beschriebenen Buche entnommen. So mache ich Dich auf eine Stelle aus der Beschreibung der 20 Sopaters aufmerksam cod. 161 p. 177 H.21 Hier scheint die Quelle zu sein für seine Kenntnisse über Lebensumstände der Redner die zumeist wörtlich mit der pseudoplutarch.22 Schrift de decem orat. vit. stimmen. Daraus ist nur zu lernen, daß schon Sopater nicht mehr den Verfasser jener Schrift kannte, die Schäfer23 mit Sicherheit dem Plutarch abspricht. Doch wir haben Wichtigeres zu thun als über Photios zu sprechen. Zunächst vernimm, daß ich nicht von Leipzig fortgehe, daß also ein gemeinsamer Berliner Aufenthalt einstweilen zu den Unwahrscheinlichkeiten gehört. Du glaubst nicht, wie persönlich ich an Ritschl gekettet bin, so daß ich mich nicht losreißen kann und mag. Dazu habe ich immer die traurige Empfindung, daß allzu lange sein Leben nicht mehr hingesponnen wird; ich fürchte es geht einmal schnell zu Ende. Du kannst nicht ahnen, wie dieser Mann für jeden Einzelnen, den er lieb hat, denkt, sorgt und arbeitet, wie er meine Wünsche, die ich oft kaum auszusprechen wage, zu erfüllen weiß und wie wiederum sein Umgang so frei von jenem zopfigen Hochmuth und jener vorsichtigen Zurückhaltung ist, die so vielen Gelehrten eigen ist. Ja, er giebt sich sehr frei und unbefangen, und ich weiß, daß solche Naturen sehr oft anstoßen müssen. Es ist der einzige Mensch, dessen Tadel ich gern höre, weil alle seine Urtheile so gesund und kräftig, von solchem Takte für die Wahrheit sind, daß er eine Art wissenschaftliches Gewissen für mich ist. Also: ich bleibe noch etwas in seiner Nähe. Meine Aussichten in die Zukunft sind unbestimmt, somit ziemlich günstig. Denn nur die Gewißheit ist schrecklich. Mein Bestreben geht dahin mir jährlich auf eine ehrenhafte und wenig Zeit raubende Weise ein paar hundert Th. zu erwerben, damit mir aber für eine Reihe von Jahren die Freiheit meiner Existenz zu wahren. Z. B. will ich gern etwa im Anfang nächsten Jahres nach Paris24 gehen und dort ein Jahr an der Bibliothek arbeiten. Doch das wird Dich nicht interessiren, mehr vielleicht, was und wie ich jetzt arbeite. Denn daß man in Briefen an Freunde von sich und seinen Erfahrungen spricht, ist nicht nur zulässig, sondern auch wünschenswerth. Briefe sind eben subjektive Stimmungsbilder. Meine Laertiusarbeit25 wird in diesen Wochen niedergeschrieben. Mein Bestreben ist diesmal, das logische Grundgerippe nicht so sichtbar durchblicken zu lassen, wie dies in meiner mitfolgenden Theognisstudie26 der Fall ist. Dies ist übrigens sehr schwer. Wenigstens für mich. Ich möchte derartigen Dingen ein etwas künstlerisches Kleid geben. Du wirst meinen Eifer lächerlich finden, mit dem ich Farben reibe, überhaupt mich anstrenge, einen leidlichen Stil27 zu schreiben. Aber es ist nöthig, nach dem ich mich so lange vernachlässigt habe. Sodann vermeide ich möglichst streng die Gelehrsamkeit, die nicht nöthig ist. Das kostet auch manche Selbstüberwindung. Denn manches superfluum28 muß hinweggeschnitten werden, das uns gerade sehr gefällt. Eine strenge Exposition der Beweise, in leichter und gefälliger Darstellung, womöglich ohne jeden morosen Ernst und jene citatenreiche Gelehrsamkeit, die so billig ist: das sind meine Wünsche. Das Schwerste ist immer, den Gesammtconnex von Gründen, kurz den Riß des Gebäudes zu finden. Dies ist eine Arbeit, die im Bett und auf Spaziergängen sich oft besser macht als am Studirtisch. Das grobe Material zusammen zu schaffen ist eine freundliche Arbeit, ob sie gleich oft etwas Handwerkmäßiges hat. Aber die Erwartung des endlich sich enthüllenden Zauberbildes hält uns munter. Am peinlichsten ist mir die Ausarbeitung, und hier reißt mir sehr oft die Geduld. Jede größere Arbeit, das wirst Du auch empfunden haben, hat einen ethischen Einfluß. Das Bemühen, einen Stoff zu concentriren und harmonisch zu gestalten, ist ein Stein, der in unser Seelenleben fällt: aus dem engen Kreise werden viele weitere. Kannst Du mir nicht einmal ganz offen schreiben, lieber Freund, wie viel Du zu Deiner jährlichen Existenz brauchst? Willst Du wirklich so schnell wie möglich und mit beiden Füßen zugleich in das Schulamt hineinspringen? Ich habe den entgegengesetzten Wunsch: möglichst lange von solchen äußeren Fesseln frei zu sein. Überhaupt bin ich sehr abgeneigt, mich wie eine Maschine mit Kenntnissen zu überladen. Vielleicht studirst Du auch etwas zu viel. Das Liebste ist mir einen neuen Gesichtspunkt zu finden und mehere und für diese Stoff zu sammeln. Mein Gehirnsmagen ist ärgerlich über jede Überfüllung. Vieles Lesen stumpft den Kopf entsetzlich ab. Die meisten unsrer Gelehrten würden auch als Gelehrte mehr werth sein, wenn sie nicht zu gelehrt wären. Speise nicht zu starke Mahlzeiten. Das Berliner Seminar taugt wenig. Ich habe über dasselbe genaue Mittheilungen von einem unsrer ehemaligen Vereinsmitglieder,29 der diesem Seminar jetzt angehört. Die Behandlung der Studenten ist sehr grob. Lieber Freund, überlege Dir einmal folgendes. Du willst nach Berlin gehen und kommst also über Naumburg. Hier besuchst Du mich und theilst mir Deine Gedanken über folgenden Vorschlag mit. Ich kann Dir eine Arbeit, die nebenbei, täglich etwa 2 Stunden gethan werden kann, zuweisen, die Dir einige Hunderte Thl. erwirbt. Bedingung ist, daß sie in Leipzig gemacht wird. Sie beschäftigt Dich ein halbes Jahr. Du lernst mancherlei dabei. Was Dich sonst in Leipzig erwartet, weißt Du. Ein Jahr in Berlin30 des Examens wegen zuzubringen ist ganz unnöthig. Wenn Du darauf eingehst, Du wirst mir's einmal noch danken. Denke nur an Ritschl. Sage niemandem, selbst Deinen verehrten Eltern und Geschwistern31 nichts von diesem Vorschlag. Laß nur alle in dem Glauben, daß Du nach Berlin gehest. In Naumburg besprechen wir alles Nähere. Ich reise von hier am 31. dieses Mon Deinen treuen Freund Meine Mutter hat sich sehr über Deinen lieben und heiteren Brief32 gefreut und sagt Dir ihren besten Dank. Gersdorff, der mir immer sehr nahe steht, ist jetzt Offizier in Spandau. Vom Tode seines ältesten, auch von Dir besungenen Bruders33 weißt Du. Von Mushacke34 habe ich immer nur gute Nachrichten. Unser philol. Verein in Leipzig blüht.35 1. Oberdreis, 01-06-1867: Letter from Paul Deussen to Nietzsche in Naumburg.
Naumburg, 6. April 1867: Mein lieber Freund, mein langes Stillschweigen hat Gott weiß worin seine Ursache. Denn nie bin ich dankbarer und freudiger gestimmt, als wenn Deine Briefe ankommen und mir von Deinen Erlebnissen und Stimmungen treue Kunde geben. Sehr oft kommt die Gelegenheit, von Dir zu sprechen; als welche ich nie vorübergehen lasse. Noch häufiger läuft mein Gedanke zu Dir, wenn ich gerade mitten drin in Büchern stecke und an alle möglichen gelehrten Dinge denken sollte, die Dir mit Recht etwas abschmeckend sind. Und trotzdem schreibe ich nicht. Mitunter wundere ich mich selbst darüber. Jetzt eben fällt mir ein, was der Grund sein wird. Die Hand, die den ganzen Tag schreibt, das Auge, das von früh bis Abend weißes Papier schwarz werden sieht, verlangt nach Abwechslung oder Ruhe. Heute aber am ganzen Nachmittag mußten Suidas und Laertius warten,1 weil ich Besuch hatte: darum werden sie auch heute Abend warten müssen. Warum geben sie ihr Regiment aus den Händen? Mögen sie nun den Nachtheil haben, ich habe wenigstens einen Vortheil dabei, ich kann mich mit meinem lieben Freunde brieflich unterhalten und brauche nicht die beiden alten Knaben zu beaufsichtigen, deren Thorheiten mich für gewöhnlich beschäftigen. In diesen Ferien nämlich will ich meine Arbeit über die Quellen des Laertius2 zu Papier bringen und stehe jetzt noch ziemlich in den Anfängen. Ich will zu Deiner Belustigung gestehen, was mir die meiste Mühe und Sorge macht: mein deutscher Stil (vom lateinischen nicht zu reden: habe ich mich mit der Muttersprache auseinandergesetzt, so sollen auch fremde Sprache[n] daran kommen) Mir fallen die Schuppen von den Augen: ich lebte allzulange in einer stilistischen Unschuld. Der kategorische Imperativ "Du sollst und mußt schreiben" hat mich aufgeweckt. Ich suchte nämlich, was ich nie gesucht hatte außer auf dem Gymnasium: gut zu schreiben, und plötzlich erlahmte die Feder in der Hand. Ich konnte es nicht und ärgerte mich. Dazu dröhnten mir die Ohren von Lessingschen, Lichtenbergschen, Schopenhauerschen Stilvorschriften.3 Ein Trost war mir immer, daß diese drei Auktoritäten einstimmig behaupten es sei schwer gut zu schreiben, von Natur habe kein Mensch einen guten Stil, man müsse arbeiten und hartes Holz bohren, ihn zu erwerben. Ich möchte wahrhaftig nicht wieder so hölzern und trocken, nach der logischen Schnürbrust schreiben, wie ich es z. B. in meinem Theognisaufsatz4 gethan habe: an dessen Wiege keine Grazien gesessen haben (vielmehr brummte es aus der Ferne wie von Königsgrätz5 her). Es wäre sehr unglücklich nicht besser schreiben zu können und es doch warm zu wünschen. Vor allem müssen wieder einige munteren Geister in meinem Stile entfesselt werden, ich muß darauf wie auf einer Klaviatur spielen lernen, aber nicht nur eingelernte Stücke, sondern freie Phantasieen, so frei wie möglich, aber doch immer logisch und schön. Zweitens beunruhigt mich ein andrer Wunsch. Einer meiner ältesten Freunde Wilhelm Pinder6 aus Naumburg steht jetzt dicht vor seinem ersten juristischen Examen; die wohlbekannten Ängste in solchen Zeitläuften kennen wir auch. Aber was mir gefällt, ja mich zur Nachahmung anstachelt, liegt nicht im Examen, sondern in der Vorbereitung dazu. Wie nützlich, ja wie erhebend muß es sein etwa in einem Semester alle Disciplinen seiner Wissenschaft an sich vorüber marschiren zu lassen und somit wirklich einmal eine Gesammtanschauung über dieselbe zu bekommen. Ist es nicht ebenso, als ob ein Offizier, stets nur gewöhnt seine Compagnie einzuexercieren, plötzlich in einer Schlacht zum Begriffe dessen kommt, was seine kleinen Bemühungen für große Früchte zeitigen können. Denn wir wollen es nicht leugnen, jene erhebende Gesammtanschauung des Alterthums fehlt den meisten Philologen, weil sie sich zu nahe vor das Bild stellen und einen Oelfleck untersuchen anstatt die großen und kühnen Züge des ganzen Gemäldes zu bewundern und was mehr ist zu genießen. Wann, frage ich, haben wir doch einmal jenen reinen Genuß unsrer Alterthumsstudien, von dem wir leider oft genug reden. Drittens ist überhaupt unsre ganze Art zu arbeiten entsetzlich. Die 100 Bücher vor mir auf dem Tische sind eben so viele Zangen, die den Nerv des selbständigen Denkens ausglühen. Ich glaube, lieber Freund, Du hast mit kühnem Griff das allerbeste Loos erwählt.7 Nämlich einen wirksamen Contrast, eine umgedrehte Anschauungsweise, eine entgegengesetze Stellung zum Leben, zum Menschen, zur Arbeit, zur Pflicht. Ich lobe wahrhaftig damit nicht Deinen jetzigen Beruf als solchen, sondern nur, soweit er Negation Deines vorigen Lebens, Strebens, Denkens war. Unter solchen Contrasten bleibt Seele und Leib gesund und bringt nicht jene nothwendigen Krankheitsformen hervor, die sowohl das Übergewicht gelehrter Thätigkeit, als das übermäßige Vorherrschen der körperlichen erzeugen, die der Gelehrte so gut als der Bauerntölpel hat. Nur daß bei diesem diese Krankheiten anders sich zeigen als bei jenem. Die Griechen waren keine Gelehrten, sie waren aber auch nicht geistlose Turner. Müssen wir denn so nothwendig eine Wahl zwischen der einen oder andern Seite treffen, ist vielleicht hier auch durch das "Christenthum" ein Riß in die Menschennatur gekommen, den das Volk der Harmonie nicht kannte? Sollte nicht das Bild eines Sophokles jeden "Gelehrten" beschämen, der so elegant zu tanzen und Ball zu schlagen verstand und dabei doch auch einige Geistesfertigkeiten aufzeigte. Doch es geht uns in diesen Dingen, wie es uns im ganzen Leben geht: wir bringen es schon zur Erkennung eines Uebelstandes, aber damit ist auch noch kein Finger gerührt ihn zu beseitigen. Und hier könnte ich wirklich ein viertes Lamento beginnen: als welches ich vor meinem militärischen Freunde zurückhalte. Denn einem Krieger müssen solche Klagen viel mehr zuwider sein als einem Stubenhocker als ich jetzt bin. Da fällt mir eine jüngst erlebte Geschichte ein, die zwar eine Illustration der gelehrten Krankheitsformen ist und als solche verschwiegen werden dürfte, die Dich aber amüsiren wird, weil sie nur die Übersetzung des Schopenhauerschen Aufsatzes "über die Philosophieprofessoren"8 in die Wirklichkeit zu sein scheint. Es giebt eine Stadt,9 in der ein junger Mann,10 mit besonderen Denkfähigkeiten ausgerüstet und besonders zu philosophischer Spekulation befähigt, den Plan faßt, sich die Doktorwürde zu erwerben. Zu diesem Zwecke stellt er sein in einigen Jahren mühsam zusammengedachtes System "über die Grundschemen der Vorstellung" zusammen und ist glücklich und stolz es gethan zu haben. Mit solchen Gefühlen überreicht er es der philosophischen Fakultät jenes Ortes, an dem sich zufällig eine Universität befindet. Zwei Philosophieprofessoren haben ihr Gutachten abzugeben und geben es dahin ab, daß der eine äußert, die Arbeit zeige Geist, aber vertrete Anschauungen, die hier gar nicht gelehrt würden, der andre aber erklärt, die Ansichten entsprächen nicht dem gemeinen Menschenverstand und wären paradox. Somit wurde die Arbeit zurückgewiesen, und dem Betreffenden der Doktorhut nicht aufgesetzt. Glücklicherweise ist der Betroffene nicht demüthig genug, in diesem Urtheil die Stimme der Weisheit zu hören, ja ist so übermüthig zu behaupten, daß eine gewisse philosophische Fakultät die philosophische facultas vermissen lasse. Kurzum, lieber Freund, man kann nicht selbständig genug seine Bahnen gehn. Die Wahrheit wohnt selten dort, wo man ihr Tempel gebaut und Priester ordinirt hat. Was wir gut oder dumm machen, das haben wir auszubaden, nicht diejenigen, die uns den guten oder dummen Rath ertheilen. Man lasse uns doch wenigstens das Vergnügen eine Dummheit aus freien Stücken zu begehen. Ein allgemeines Recept, wie jedem Menschen zu helfen ist, giebt es nicht. Man muß an sich selbst sein Arzt sein, zugleich aber auch an sich die ärztlichen Erfahrungen sammeln. Wir denken wirklich an unser Wohl zu wenig, unser Egoismus ist nicht klug genug, unsre Vernunft nicht egoistisch genug. Damit, lieber Freund, sei es heute genug. Leider habe ich Dir gar nichts "Solides" "Reelles" oder wie sonst die Schlagwörter der jungen Kaufleute heißen, zu berichten, aber Du wirst auch nicht darnach verlangen. Daß ich mich mit Dir freue, wenn Du einen unsrer Gesinnungsgenossen entdeckst und dazu noch so einen tüchtigen und liebenswerthen, wie Krüger11 das versteht sich. Unsre Freimaurerei mehrt sich und breitet sich aus, obschon ohne Abzeichen, Mysterien und Bekenntnißformeln. Es ist späte Nacht, und draußen heult der Wind. Du weißt, daß ich in Leipzig auch im nächsten Semester bleiben werde. Meine Wünsche tragen mich, den Philologen nach Paris12 in die kaiserliche Bibliothek, wohin ich vielleicht im nächsten Jahre abgehe, wenn bis dahin der Vulkan nicht ausgebrochen ist. Mich, den Menschen, aber tragen meine Gedanken oft genug und so auch heute Nacht zu Dir, dem ich hiermit von Herzen "Gute Nacht" sage. Friedrich Nietzsche. Naumburg den 6t. April: 1. The "Suda" refers to a Greek lexicon from the tenth century, which Nietzsche researched in connection with his work on Theognis. Laertius refers to Nietzsche's work, "On the Sources of Diogenes Laertius," eventually published in 1868 and 1869.
Naumburg, 20. April 1867: Mein lieber Freund, ich habe immer gemeint, daß eine Freundschaft auch ohne einen regelmäßigen Briefwechsel bestehen kann: vorausgesetzt daß es eine wahre und echte ist. Denn so lange man fest empfindet, daß man seinen Freund nicht vergessen hat und nicht vergessen wird, ist es eigentlich unnöthig ihm dies zu schreiben. Somit schreiben Freunde unter einander sich nicht deshalb Briefe, um das Gewächs ihrer Herzensverbindung mit frischem Wasser zu begießen, sondern zunächst zu einem viel äußerlicheren Zwecke: sie erzählen von ihren Schicksalen, ihren Arbeiten, ihren Aussichten, sie verändern also nur die Coulissen, während sie wissen, daß auch im Wechsel der äußeren Umgebung ihre Freundschaft fortdauert. Wer nun zufällig ohne wichtige Veränderungen eine Strecke Lebenszeit dahinlebt, hat auch keinen Zwang und keine Aufforderung an seine Freunde darüber zu schreiben. Es thut mir herzlich leid, daß Du Dir einen Augenblick eine so ungünstige Meinung von meiner Freundschaft gebildet hast, als ob ohne einen Brief von Deiner Seite im Zeitraum von zwei, drei Monaten dieselbe erloschen wäre.2 Ich habe mir eine Nachlässigkeit ganz andrer Art zu Schulden kommen lassen: ich hatte Dir von Brief zu Brief die Lachmannsche Abhandlung3 versprochen und durch eine mir unbegreifliche Zerstreutheit beim Abschicken des Briefes immer vergessen, was ich versprochen hatte, so daß ich mir ernstliche Vorwürfe machte und mir wiederholt sagte, "das Nichtschreiben Deines Freundes Mushacke ist eine gerechte und gesunde Strafe für diese Zerstreutheit." Wenn also einer von uns beiden eine Veranlassung hat, sich zu entschuldigen, so bin ich es: als was ich auch hiermit aus vollem Herzen thue. So hoffe ich denn, daß hiermit, lieber Freund, jede Spur einer unbequemen Empfindung gegen mich in Dir getilgt ist und wende mich zur Aufzählung meiner "Schicksale, Arbeiten und Aussichten," mit denen ich Dich, vielleicht über Gebühr, in so manchem Briefe in Ermangelung besseren und edleren Stoffes abgespeist habe. Ich sitze hier im behaglichen Neste Naumburg und bin nicht unbeschäftigt. Aber mein Wunsch zu arbeiten ist in diesen Wochen größer gewesen als mein Vermögen, kurz ich bin bis jetzt unzufrieden mit den Ergebnissen der letzten Wochen. Was ich beabsichtige meine Arbeit de fontibus Laertii4 niederzuschreiben, liegt noch im weiten Felde; alles was fertig ist umfaßt noch nicht drei Druckbogen. Ich stolpere nämlich am allermeisten über ein kaum früher beachtetes Hinderniß; ich habe nämlich im Deutschen schlechterdings keinen Stil,5 obgleich den lebhaften Wunsch einen zu bekommen. Da ich mir nun vorgenommen habe meine Laert.studien mit aller Sorgfalt erst deutsch auszuarbeiten, bevor ich den lateinischen Auszug daraus mache, bin ich auch genöthigt auf diese Stilfragen einzugehen. Als Gymnasiast schreibt man bekanntlich keinen Stil; als Student hat man nirgends Übung; was man schreibt, sind Briefe, somit subjektive Ergüsse, die keinen Anspruch auf künstlerische Form machen. Also kommt einmal eine Zeit, wo uns die tabula rasa unsrer stilistischen Künste ins Gewissen steigt. So ergeht mirs jetzt und daher kommt es, daß ich sehr langsam arbeiten muß. Den nächsten Sommer werde ich wieder in Leipzig zubringen, da ich mich jetzt kaum noch von Ritschl losreißen kann. Das wirst Du einigermaßen nachfühlen können. Dazu quält mich immer der Gedanke, daß es in Kurzem einmal zu Ende sein kann; er ist in letzterer Zeit öfter und schwerer krank gewesen. Ich kann Dir nicht ausdrücken, was ich an ihm verlieren würde. Im Herbst möchte ich mir den Titel eines Doktors6 aneignen; ich denke mit einer Abhandlung de Homero Hesiodoque coaetaneis.7 Wenn Du bei dieser Überschrift lächelst, so hast Du ein Recht dazu.8 Über alle meine persönlichen Verhältnisse bitte ich Dich vor meinen etwaigen Bekannten, mit denen Du zusammentriffst, Stillschweigen zu bewahren; es ist nichts lästiger als Hoffnungen zu erregen und schließlich Lügen zu strafen. Wer aber bürgt für seine nächste Zukunft? Ich habe noch so viel abenteuerliche Pläne, daß ein ganzer Theil derselben ins Wasser fallen muß. Jetzt kommt etwas worüber Du Dich freuen wirst. Ich habe die besten Nachrichten von Freund Deussen,9 der in Bonn seit vorigem Herbst seinen philologischen Studien mit gutem Erfolge obliegt und der sich dabei auf festem Boden fühlt. Alles was er über seine Arbeiten schreibt macht einen gesunden und frischen Eindruck: wie weit er anders geworden ist, wirst Du am besten beurtheilen können, wenn er in einigen Wochen Dich in Berlin10 heimsucht. Dort nämlich gedenkt er ein Jahr lang zuzubringen. Wenn Du einmal an mich nach Leipzig einen Brief schreibst, wohin ich am 30 dieses Monats wieder abgehe, so bemerke als Addresse "Weststraße" Nr. 59, 2 Treppe. Du hast ja in demselben Hause, nur etwas höher gewohnt. Du kannst Dir also recht lebhaft vorstellen, wo ich diesen Sommer zubringen werde. Ich wohne in der Stube, die früher der "Baron"11 Gott weiß welches Namens inne hatte. Sonst geht alles in Leipzig vortrefflich. Vor allem gefällt mir unser philologischer Verein,12 der übrigens von Semester zu Semester einige Mitglieder verliert, die dann nach Berlin gehen. Unsre Zuhörerzahl ist immer größer geworden, unsre Debatten haben einen strengeren Charakter erhalten, unsre Ansprüche an die Aufzunehmenden sind immer gewachsen. Wir haben jetzt auch zwei Sprachvergleicher13 und sind froh, von dieser species zwei gute Exemplare für unsre Menagerie bekommen zu haben. Wenn Du Bekannte hast, die es riskieren einmal auf ein Semester als Philologen nach Leipzig zu kommen, so gieb ihnen meine Addresse; denn ich bin allmählich genug in Leipzig eingebürgert, um Neuankommenden gute Auskunft geben zu können. Soviel ich weiß, willst Du in der nächsten Zeit Dein Staatsexamen machen. Kannst Du mir nicht einmal die Anforderungen, die Du zu diesem Zwecke an Dich selber stellst, kurz notieren, damit ich daran einen Maßstab habe, wenn ich auf den Gedanken käme mir irgendwann ein ähnliches "Vergnügen" zu gestatten? Heute lebe recht wohl und sei sammt Deinen verehrten Angehörigen auf das herzlichste gegrüßt von Deinem alten Freunde
1. Hermann Mushacke (1845-1906): friend and classmate at the University of Bonn. Nietzsche and Mushacke visited Naumburg together on October 26, 1865, and visited Berlin and Mushacke's family in the autumn of 1866. For their exploits in Leipzig, see Nietzsche's autobiographical "Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre" (Retrospect on My Two Years at Leipzig). English translation in: Nietzsche's Writings as a Student. The Nietzsche Channel, 2012, 119-43 (121-29).
Leipzig, Ende Juni 1867: Liebe Mama und Lisbeth, daß es mir nicht gut möglich war Halle1 zu besuchen und daß auch meine Lust darnach sehr gering war, könnt Ihr Euch denken. Auch wüßte ich keinen meiner Bekannten, der nach diesem Feste eine Sehnsucht getragen hätte. Um so besser ist es, daß Ihr Euch dabei ergötzt habt, Ihr, die noch der romantische Schimmer, der um Studenten und Professorenkomödien liegt, anziehen kann, weil Ihr nicht hinter die Coulissen dieser Welt zu sehen braucht. Daß Sonntags der Vetter2 nicht kam, hatte seinen Grund in einer Schrulle des Vetters, die mir nicht deutlich geworden ist. Kurz, er wollte nicht allein nach Naumburg und gab meinen dringenden Vorstellungen nicht nach. Ob ihm das Vergnügen, mit mir zusammen nach Naumburg zu reisen, so unentbehrlich ist, weiß ich nicht. Später will er schon einmal kommen, aber mit mir. Kleiner Sachse, immer Anschluß an Norddeutschen Bund!3 Das war doch sonst Deine Leidenschaft nicht. Unsre Reiter sind sämmtlich abgefallen, das heißt, bevor sie auf dem Pferde saßen. Nur Rohde hat ausgehalten. Wir beide also tummeln Nachmittags von 4-5 kräftiglich unsre Rosse und fühlen uns dabei und darnach sehr wohl. Die Erschütterung ist für den Unterleib sehr wohlthätig. Man hat Durst und Hunger und tiefen Schlaf in höherem Grade als andere Menschen. Meine dicke Hose bei einer Hitze von 30 Grad zu tragen, ist mir nicht schwer geworden. Was nun nächstes Semester betrifft, so gedenke ich es in Berlin4 zuzubringen: als wohin ein Brief5 an Mushacke6 abgeht, der mir ein Logis besorgen wird. Und zwar werde ich gleich Ende August dahin absegeln. Mein ganzes Gepäck schicke ich als Frachtgut von hier aus hin. Für den Fall, daß ich Militärdienste thun will, habe ich dies doch in Berlin am Besten. Bevor ich dorthin abreise, komme ich noch einmal eine Woche nach Naumburg. Ich werde Euch auch das Bild unsres philologischen Vereins mitbringen, das besser geworden ist als das letzte und auch Ritschl sehr gefallen hat.7 Bei meinen Wirthsleuten werde ich heute oder morgen kündigen. Die Rechnungen sind mir unbequem.8 Ich komme dabei und bei meinen sonstigen Ausgaben ins Trockne. In Berlin muß ich einmal einen bescheidenen Versuch machen Geld zu erwerben. Heute habe ich nichts weiter zu schreiben als daß ich für weiße Wäsche und Briefe bestens danke, insgleichen mich mit Behagen der Pfingstferien erinnre. Somit lebt recht wohl! Euer Fritz. 1. On 06-21-1867, the fiftieth anniversary of the unification of the universities of Halle and Wittenberg was celebrated. The letter from his mother to which Nietzsche was replying is lost.
Hamburg, 10. September 1867: Mein lieber Freund, wenn ich mir auch denken kann, daß Du die Gefahren einer Reise von Eisenach nach Naumburg,1 als geübter Tourist und Schlangenbändiger, ohne besondre Schädigung überwunden haben wirst, so treibt es mich doch, bevor Du in den Abgrund der Doctormachungscommission2 stürzest, noch ein Lebenszeichen von Dir zu erhalten. Die Kiste, die Du nebenbei bekommst, soll Dir zugleich ein Andenken "vermitteln" wie 3 singt an die fröhlichen und erquicklichen Stunden und Tage, die wir im guten alten Lyptzck zusammen verlebt haben:4 es ist ein Bild des genialen Mannes,5 dessen Lehren wir es doch vorzüglich verdanken, daß wir in allen Hauptsachen so ausnehmend harmonisch gestimmt waren: ich kann nicht sagen wie viele gute und gehobene Momente mir diese Übereinstimmung gemacht hat, und ich denke, old boy,6 daß auch Du mit Vergnügen an so manche Augenblicke innigster Harmonie in den Grundstimmungen des Denkens und Seins zurückdenkst. Man lernt eine so völlige Gleichtemperirung erst recht schätzen, wenn man aus dem Contrast gelernt hat, wie man doch mit der Mehrheit der Andern in so vielen, und den fundamentalen Puncten innerlichst nicht harmonirt und wie ein absurder Sonderling seine eigentlichen Meinungen lieber ganz zurückhält, weil sie auf dem Hintergrund der herkömmlichen Lebensstimmung sich ausnehmen würden, wie eine Melodie auf dem Grundbaß eines rhythmisch und harmonisch andern Liedes. So hänge den Alten7 also auf wie ein Schiboleth der kleinen Ketzergemeinde,8 und denke dabei auch, wie ich Dir dadurch ein Zeichen meiner Dankbarkeit geben wollte für die herzliche Theilnahme, die Du mir querköpfigen und abstoßenden Kerl erwiesen hast, und die ich um so tiefer und wärmer empfinde, weil ich nur zu genau weiß, wie wenig meine Art zu näherer Theilnahme auffordert. Das letzte halbe Jahr, wo wir eigentlich wie auf einer Art Isolirschemel9 mit einander fast allein verkehrten, war für mich das glücklichste und förderndste meiner bisherigen Universitätszeit, mit seinen Schüßenhausnächten und den Reitübungen10 und den Theatergenüssen, und so vielen behaglichen Gesprächen über alle Dinge, die einen anständigen Menschen interessiren: und vor Allem denke ich mit Freude zurück an die Abende, wenn Du mir im Finstern auf dem Clavier vorspieltest: ich fühlte den Abstand zwischen einer productiven Natur und mir ohnmächtig wollenden Halbheren, aber die Seele schloß sich doch auf unter den Tönen und ging einen somewhat11 elastischeren Schritt. Damit wäre ich denn auch, wo ich hin wollte: meine Kiste kommt nur mit dem egoistischen Wunsche einer — ,12 für mich wenigstens: wenn Du mir eine rechte Freude machen willst, so schenke mir — zum Geburtstag,13 der nächstens einfällt Deine Composition von Rückerts Lied "Aus der Jugendzeit,"14 für eine Baryton stimme gesezt: dann singe ich dies carmen,15 das mir immer so sehr gefiel, wenn kein menschliches Ohr als meine Mutter und Schwester es hört, vor denen ich zuweilen losschnarre. Nun noch einen geschäftlichen Auftrag: wie steht's, um's Himmels Willen, mit meiner Exmatrikel?16 Du mußt die Deine ja auch noch besorgen:17 dann krieg' doch Monsieur Gelbke auch meinetwegen dran. Roscher18 hat die Gelder für die Tilgung und das Porto. Vor Kiel19 habe ich zunächst einige Manschetten: nach den angenehmen Leipziger Verhältnissen wird mir dort meine Existenz recht öde vorkommen. Ich will mich ein wenig auf Entwicklung meiner gesellschaftlichen Talente legen. — Kommst du nach Leipzig zurück, so grüße alle Freunde und Bekannte: zunächst siehst Du viele wol in Halle zur Philol[ogen]-Vers[ammlung].20 Dir selbst wünsche ich zu Deinen pinakographischen Künsten21 und dann zur Promotion alle möglichen günstigen Omina und Auspicien. Halte Dich munter und schreibe bald Deinem Freunde Erwin Rohde. Adr: H[am]b[ur]g, St. Georg, Lohmühlenstraße N.1. Meine besten Empfehlungen Deiner Mutter und Schwester. E. R. 1. At the end of their trip together into the Bavarian Forest from August 8th to August 25th 1867, they parted company in Eisenbach.
Naumburg, 26. September 1867: Hochverehrter Herr Geheimerath, Ihre ausgezeichneten Bemühungen haben wiederum alles durchgesetzt, was meinen Arbeiten1 irgendwie nützlich sein kann. Direktor Förtsch2 ist sogleich mit großer Gefälligkeit bereit gewesen, mir das fast vollständige Exemplar des rheinischen Museum einzuhändigen: und aus Ihrem letzten verehrten Schreiben entnehme ich, daß auch Sauerländer3 auf den für mich so günstigen Vorschlag eingegangen ist. Falls es für Sie mit keinen Mühen verbunden ist, so wäre ich erfreut jenes Exemplar in Naumburg zu sehen. Doch steht dies schlechterdings in Ihrer Hand, da ich ja augenblicklich auf das Beste versorgt bin und recht gut bis Ende Oktober warten kann; wo ich mir dann erlauben würde, in Leipzig persönlich bei Ihnen vorzufragen. Übrigens kann ich nicht gerade sagen, daß ich in der Indexanfertigung schon weiter vorgerückt wäre, da mich gegenwärtig lebhaft eine andre Untersuchung ("über die unechten Schriften Demokrits")4 gefangen hält. Doch wüßte ich keinen Grund, der mich bei jener Arbeit besonders zur Eile anspornte. Schließlich freut es mich, den Ursprung jener räthselhaften Adresse "Lindenstr. 57"5 endlich errathen zu haben. Als ich im vorigen Herbste in Kosen6 wohnte, erkundigten Sie sich nach meiner Wohnung, um mir die Theognispapiere7 schicken zu können. Darauf schrieb ich Ihnen jene bezeichnete Adresse. Im Übrigen ist auch eine falsche Adresse für die Naumburger Briefträger ein .8 Somit habe ich nur noch den Wunsch auszusprechen, daß diese schönen Herbstestage Ihrer Gesundheit recht ersprießlich sein mögen, und die Versicherung hinzuzufügen, daß ich mich am Ende des Oktober persönlich nach Ihrem Befinden erkundigen werde. Ihr getreuer Schüler 1. Nietzsche's preparation of the index (assisted by his sister) to the new series of Rheinisches Museum für Philologie. Registerheft zu Band I-XXIV. Frankfurt am Main: Sauerländer, 1871. Nietzsche did not receive any credit for the work (which was published in 1871). See the reproduction in Nietzsche's Library.
Naumburg, 4. Oktober 1867: Mein lieber Freund, wir sind selten des Schicksals Herren, aber glauben es zu sein, wenn es lange Zeit uns günstig war. Dies soll keine Einleitung zu einer Tragödie, sondern nur die Vorbemerkung zu einer Zwischenaktsmusik sein, die ich in diesem Leben nicht mehr zu hören hoffte. Trommeln und Pfeifen, kriegerischer Klang!2 Das Schwert schwebt nicht über meinem Haupte, sondern an meiner Seite, diese Feder in meiner Hand wird in Kürze ein Mordgewehr sein, diese mit Notizen und Entwürfen bedeckten Papiere werden wahrscheinlich etwas Modergeruch annehmen. Der Kriegsgott hat mein begehrt. d. h. man hat mich für tauglich zum Freiwilligendienst befunden, während ich noch bei meiner Abreise nach Halle zur Philologenversammlung3 im Glauben stand, daß dieser Kelch an mir vorüber gegangen sei. Mit großer Mühe habe ich durchgesetzt, daß ich wenigstens einen Versuch machen darf, ob man mich in einem andern Orte als Naumburg ist und bei einer andren Truppengattung als Artillerie annehmen will. Mißlingt der Versuch, so beginne ich am nächsten Mittwoch4 die hiesigen Kanonen zu umarmen — mit mehr Ingrimm als Zärtlichkeit. Inzwischen aber gilt es einen Versuch. Vielleicht kann ich in Berlin bei dem 2ten Gardeinfant.regiment ankommen. Zu diesem Behufe werde ich also morgen d. h. Sonnabend ¾12 Uhr von Naumburg abreisen und Abends in Berlin eintreffen.5 Daß ich bei dieser Gelegenheit Dir sehr dankbar wäre, wenn ich Dich auf dem Bahnhofe träfe, wage ich hier anzudeuten. Denn Du kennst meine Ungeschicktheit in einer fremden und großen Stadt.6 Auf diese unerwartete Weise ist unser Zusammentreffen viel näher gerückt als es mir noch gestern denkbar war; und es ist dies so ziemlich das Einzig Angenehme, das mir der plötzliche Eingriff des Mavors7 in meine Absichten verschafft. Dagegen sind meine Wünsche für die nächste Zukunft völlig durchkreuzt. In wiefern, werde ich Dir persönlich erzählen. Somit, lieber Freund, habe ich meine Ankunft in Berlin angemeldet und Dich um eine große Gefälligkeit ersucht. Wenn Du nicht kommen kannst, so werde ich mir trotzdem gestatten, bei Dir einmal vorzufragen. Einstweilen sage Deinen verehrten Angehörigen meine herzlichsten Grüße! — Und wie viel Schönes brachten nicht gerade die letzten Wochen! Welche Genüsse bei dieser Philologenversammlung, bei der ich eine Unzahl alte Bekannte traf. Als am ersten Abende in den weiten Sälen des Schießgrabens die angekommnen Gäste — c. 500 — durcheinanderflutheten, da stand ich da, wie Elisabeth im Tannhäuser,8 als die Pilger aus Rom zurückkommen und sie in jedem Gesichte die bekannten Züge Heinrichs zu finden hofft. Sie täuscht sich, und ich täuschte mich auch. Freund Mushacke war nicht unter den philologischen Pilgern. Addio a rivederla 1. Hermann Mushacke (1845-1906): friend and classmate at the University of Bonn. Nietzsche and Mushacke visited Naumburg together on October 26, 1865, and visited Berlin and Mushacke's family in the autumn of 1866. For their exploits in Leipzig, see Nietzsche's autobiographical "Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre" (Retrospect on My Two Years at Leipzig). English translation in: Nietzsche's Writings as a Student. The Nietzsche Channel, 2012, 119-43 (121-29).
Naumburg, Oktober/November 1867: Mein lieber Freund, eine Fluth von Gründen bestimmt mich Dir zu schreiben, Pflichten der Dankbarkeit für gastfreundliche Aufnahme2 und für einen warm empfundenen und inhaltsreichen Brief, vor allem aber der eigne Wunsch, Dich nicht länger im Unklaren zu lassen über mein Befinden in einem Stande, der meinem sonstigen Denken und Treiben fremdartig genug ist. Du wirst ja durch Mushackes Freundlichkeit gehört haben, daß ich nach einem kraftlosen Versuche3 an den Wänden des Schicksals hinan und drüber weg zu klettern mich ergab und fortan Kanonier4 war. Insgleichen wird Dir deutlich sein, daß der Dienst bei der reitenden Artillerie als der schwerste Soldatendienst gilt und daß dem wirklich so ist. Wir müssen zu Fuß, zu Pferde und am Geschütz ausgebildet werden; und um Dir recht einfach vor die Seele zu führen, was dies für Zeit verlangt, so wisse, daß ich jeden Tag durchschnittlich von 7 Uhr morgens bis c. 6 Abends dienstlich beschäftigt bin, eine halbe Stunde des Mittags abgerechnet. Die andre Zeit dh. den Morgen von ¾5 bis 7 und Abends verwende ich zur Aneignung der militärischen Kenntnisse, die ein Offizierexamen in so reichem Maaße beansprucht und zum Weitertreiben derjenigen philologischen Arbeit,5 deren Vollendung ich bis zu einem naheliegenden Termine versprochen habe. Also Arbeiten mit vollen Segeln, körperlich und geistig, in der Reitbahn und im Turnier der Gedanken, am Geschütz und mit den Geschossen der Logik, auf dem Exercierplatz und in der Denkschule der Alten. Mein lieber Freund, um eine Apologie Schopenhauers zu schreiben, die Du durch Deinen Brief herausforderst, habe ich nur das Faktum mitzutheilen, daß ich diesem Leben frei und muthvoll ins Antlitz schaue, nachdem meine Füße einen Grund gefunden haben. "Die Wasser der Trübsal"6 um in Bildern zu Reden, bringen mich nicht von meinem Pfade ab, denn sie gehen mir nicht mehr über den Kopf. Das ist natürlich nichts als eine ganz individuelle Apologie. Aber so stehen wir nun einmal. Wer mir Schopenhauer durch Gründe widerlegen will, dem raune ich ins Ohr: "Aber, lieber Mann, Weltanschauungen werden weder durch Logik geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich heimisch in jenem Dunstkreis, Du in jenem. Laß mir doch meine eigne Nase, wie ich Dir die Deinige nicht nehmen werde." Mitunter zwar werde ich ärgerlich, wenn ich zeitgenössische Philosophen höre oder lese und ihren Ruf bemerke und frage eindringlich wie jener bekannte Hamlet seine Mutter fragte "Habt ihr Augen? Habt ihr Augen?"7 Ich meine, sie haben keine, aber ich kann mich irren und die meinigen sind vielleicht zu kurzsichtig, daß ich einen Esel und ein Pferd verwechsle. Aber sei es so: wenn ein Sklave im Gefängniß träumt, er sei frei und entbunden seiner Knechtschaft, wer wird so hartherzig sein, ihn zu wecken und ihm zu sagen, daß es ein Traum sei. Wer wird es sein? Nur ein Büttel, und weder ich, noch Du werden Lust haben, dessen Rolle zu spielen. Das Beste, was wir haben, sich eins zu fühlen mit einem großen Geiste, sympathisch auf seine Ideengänge eingehen zu können, eine Heimat des Gedankens, eine Zufluchtsstätte für trübe Stunden gefunden zu haben — wir werden dies andern nicht rauben wollen, wir werden es uns selbst nicht rauben lassen. Sei es ein Irrthum, sei es eine Lüge [— — —]8 1. Nietzsche was replying to an unknown letter from Paul Deussen.
Naumburg, 3. November 1867: Mein lieber Freund, gestern bekam ich einen Brief von unserm Wilhelm Roscher1 aus Leipzig, mit Nachrichten, welche mit Deiner Erlaubniß den Eingang dieses Briefes bilden sollen. Voran die erfreuliche Kunde, daß es mit Vater Ritschls Gesundheit und Heiterkeit bestens steht; was ich mit Verwunderung höre, da das Benehmen der Berliner ihm sicherlich manche wunde Stelle aufgerissen hat.2 Sodann scheint der Verein,3 der sich auch einen feierlichen Stempel zugelegt hat, einer schönen Zukunft entgegenzugehn. Der Lesecirkel4 zählt 28 Mitglieder bis jetzt: das Café von Zaspel5 soll nach Roschers Intentionen eine Art Philologenbörse bilden. Auch ist ein Schrank gekauft worden, in dem die Zeitschriften aufbewahrt werden. Freitagszusammenkünfte6 haben wahrscheinlich noch nicht stattgefunden; wenigstens schreibt Wilhelm nichts davon. Zudem sind verschiedene Mitglieder noch nicht eingetroffen zB. Koch,7 der leider durch eine schwere Krankheit verhindert ist. Ebenso wenig der vortreffliche Kohl,8 der sich seltsamer Weise mehere Wochen bei einem Freunde auf dem Lande aufhalten will und somit die bedenklichen Scenen des Examens etwas hinaus geschoben hat. Schließlich will ich nicht verschweigen, daß Roschers Brief mir die angenehme Nachricht brachte, daß meine Laertiusarbeit9 am 31 Okt. in der Aula den Sieg im Wettkampf gegen Herrn 10 gewonnen hat; was ich vor allem deshalb erzähle, weil ich dabei Deiner freundschaftlichen Bemühungen eingedenk bin, unter denen das besagte opusculum vom Stapel lief. Es kann lange dauern, ehe von diesen Angelegenheiten etwas gedruckt wird:11 alle früheren Pläne habe ich zurückgezogen und nur den einen festgehalten, in einem größeren Zusammenhange dies Gebiet, vereint mit Freund Volkmann, zu behandeln.12 Da wir aber beide stark anderweitig beschäftigt sind, so mögen die hübschen Fabeln von der Gelehrsamkeit des Laertius und Suidas sich noch eine Zeit lang ihres Daseins freuen. Der einzige Mensch, der ein wenig schneller über die wahrscheinliche Sachlage unterrichtet werden muß, ist Curt Wachsmuth:13 als welcher persönlich und mündlich davon hören will und wird, nachdem ich ihn in Halle bei der Philologenversammlung kennen gelernt habe.14 Er hat wirklich einen künstlerischen Anstrich, vor allem eine kräftige banditeske Häßlichkeit, die er mit Schwung und Stolz trägt. Jene Tage in Halle sind für mich einstweilen das lustige Finale, oder sagen wir die Coda, meiner philologischen Ouvertüre. Solche Lehrerbanden präsentieren sich doch besser als ich je erwartet hatte. Mag es sein, daß die alten Spinnen in ihren Netzen geblieben waren: kurz, die Kleidung war recht anständig und neumodisch, und die Schnurrbärte sind sehr beliebt. Greis Bernhardy15 zwar präsidirte so schlecht als möglich und Bergk16 langweilte durch einen unverständlichen dreistündigen Vortrag. Das Meiste war aber gut gelungen, vor allem das Diner (bei dem man dem alten Steinhart17 die goldne Uhr stahl: berechne darnach, welche Stimmung durchherrschte) und eine abendliche Zusammenkunft im Schützengraben. Hier lernte ich auch den klugblickenden Magister Sauppe18 aus Göttingen kennen, der mir als Protagonist der Naumburger Philologen von Interesse ist. Sein Vortrag über einige neue attische Inschriften war das pikanteste, was wir gehört haben; wenn ich nämlich Tischendorfs Rede über Paläographie ausnehme,19 der mit vollem Zeuge losfuhr dh. mit der Homerjungfrau, den Simonidesfälschungen,20 den Menander- und Euripidesfragmenten usw.; auch vermittelte er wiederum in reichster Fülle und kündigte schließlich sein paläogr. Werk21 an, mit naiver Preisangabe, nämlich im Werthe von ungefähr 5000 Thalern. Der Besuch war außerordentlich zahlreich, und Bekannte gab es in reicher Fülle. Beim Diner22 hatten wir eine Leipziger Ecke gebildet, bestehend aus Windisch,23 Angermann,24 Clemm,25 Fleischer,26 usw. Sehr habe ich mich gefreut, in Clemm einen ganz besonders liebenswürdigen Menschen gefunden zu haben: während ich ihn in Leipzig kaum kennen gelernt habe, ja so gar in Folge der verteufelten Bonner Angewohnheit eine Art Abneigung gegen ihn empfand und ihn mit jenen schiefen Blicken zu betrachten pflegte, mit denen Burschenschafter die "Herren Chöre"27 zu messen lieben. Natürlich erklärte er sich mit vollem Herzen bereit, an den Leipziger symbolis28 theilzunehmen. Doch fand er den Termin zu zeitig abgesteckt: und ich bin nahe daran sein Urtheil zu unterschreiben. Täglich, ja stündlich haben wir in Halle auf die Ankunft von Vater Ritschl gewartet,29 der sich angekündigt hatte und leider dem schlechten Wetter sich fügen mußte. Wir haben nach seiner Anwesenheit gelechzt, ich insbesondere, der ihm nach allen Seiten hin Dank wissen muß. Seiner Vermittelung habe ich zuzuschreiben, daß ich jetzt im Besitz des vollständigen rhein. Museums30 bin, und zwar ohne bisher etwas dafür gethan zu haben, ja in der sichern Aussicht, eine längere Zeit für jenen index31 nichts thun zu können. Die nächsten Paar Wochen nach unsrer Reise32 habe ich nicht in dieser Frohnarbeit verschwendet, sondern auf die lustigste Weise meine Democritea zusammengestellt; als welche in honorem Ritscheli bestimmt sind.33 So ist doch wenigstens der Hauptwurf gethan: obschon für eine sorgsame Begründung meiner Tollheiten und eine stämmige Combinatorik nur zu viel noch zu thun übrig ist, viel zu viel für einen Menschen, der "anderweitig stark beschäftigt ist." Nun, wirst Du fragen, wenn er nicht raucht und spielt, wenn er nicht indicem fabrizirt, noch Democritea combinirt, Laertium et Suidam despektirt, was macht er denn? Er exercirt.34 Ja, mein lieber Freund, wenn Dich ein Dämon einmal in einer frühen Morgenstunde, sagen wir, zwischen fünf und sechs, nach Naumburg geleiten und gefälliger Weise die Absicht haben sollte, Deine Schritte in meine Nähe zu lenken: so erstarre nicht über das Schauspiel, das sich Deinen Sinnen darbietet. Plötzlich athmest Du die Athmosphaere eines Stalles. Im halben Laternenlichte erscheinen Gestalte[n]. Es scharrt, wiehert, bürstet, klopft um Dich herum. Und mitten drin, im Gewande eines Pferdeknechtes, heftig bemüht, mit den Händen Unaussprechliches, Unansehnliches weg zu tragen oder den Gaul mit der Striegel zu bearbeiten — mir graut es, wenn ich sein Antlitz sehe — es ist beim Hund meine eigne Gestalt.35 Ein paar Stunden später siehst Du zwei Rosse auf der Reitbahn herumstürmen, nicht ohne Reiter, von denen der eine Deinem Freunde sehr ähnlich ist. Er reitet seinen feurigen schwungvollen Balduin36 und hofft einmal gut reiten zu lernen, obschon oder vielmehr weil er jetzt immer noch auf der Decke reitet, mit Sporen und Schenkeln, aber ohne Reitgerte. Auch mußte er sich beeilen, alles zu verlernen, was er in der Leipziger Reitbahn37 gehört hatte und vor allem sich mit großer Anstrengung einen sicheren und reglementmäßigen Sitz aneignen. Zu andern Tageszeiten steht er, emsig und aufmerksam, am gezognen Geschütz und holt Granaten aus der Protze oder reinigt das Rohr mit dem Wischer oder richtet nach Zoll und Graden etc. Vor allem aber hat er sehr viel zu lernen. Ich versichere Dich bei dem schon erwähnten Hund, meine Philosophie hat jetzt Gelegenheit, mir praktisch zu nützen. Ich habe in keinem Augenblicke bis jetzt eine Erniedrigung verspürt, aber sehr oft wie über etwas Mährchenhaftes gelächelt. Mitunter auch raune ich unter dem Bauch des Pferdes versteckt „Schopenhauer hilf“; und wenn ich erschöpft und mit Schweiß bedeckt nach Hause komme, so beruhigt mich ein Blick auf das Bild38 an meinem Schreibtisch: oder ich schlage die Parerga39 auf, die mir jetzt, sammt Byron,40 sympathischer als je sind. Jetzt ist endlich der Punkt erreicht, wo ich das aussprechen kann, womit nach Deiner Erwartung der Brief hätte beginnen sollen. Mein lieber Freund, Du weißt jetzt den Grund, warum mein Brief so ungebührlich lange sich verspätet hat.41 Ich habe im strengsten Sinne keine Zeit gehabt. Aber auch oftmals keine Stimmung. Man schreibt eben Briefe an Freunde, die man so liebt, wie ich Dich liebe, nicht in jeder beliebigen Stimmung. Ebensowenig schreibt man in einem erhaschten Moment heute eine Zeile und morgen eine, sondern man sehnt sich nach einer vollen und breiten Stunde und Stimmung. Heute blickt der freundlichste Herbsttag zum Fenster herein. Heute habe ich den Nachmittag frei, wenigstens bis ½ 7 Uhr; als welche Stunde mich zur Abendfütterung und Tränkung in den Stall ruft. Heute feiere ich den Sonntag auf meine Weise, indem ich meines fernen Freundes und unsrer gemeinsamen Vergangenheit in Leipzig42 und im Böhmerwald43 und in Nirwana44 gedenke. Das Schicksal hat mit einem plötzlichen Ruck das Leipziger Blatt meines Lebens abgerissen, und das nächste, das ich jetzt in diesem sibyllinischen Buche sehe, ist mit einem Tintenklecks von oben bis unten bedeckt. Damals ein Leben in freister Selbstbestimmung, im epikureischen Genuß der Wissenschaft und der Künste, im Kreise von Mitstrebenden, in der Nähe eines liebenswerthen Lehrers45 und — was mir das Höchste bleibt, was ich von jenen Leipziger Tagen sagen kann — im steten Umgang mit einem Freunde, der nicht nur Studienkamerad ist oder etwa durch gemeinsame Erlebnisse mit mir verbunden ist, sondern dessen Lebensernst wirklich denselben Grad zeigt, wie mein eigner Sinn, dessen Werthschätzung der Dinge und der Menschen ungefähr denselben Gesetzen wie die meinige folgt, dessen ganzes Wesen schließlich auf mich eine kräftigende und stählende Wirkung hat. So vermisse ich auch jetzt nichts mehr als eben jenen Umgang; und ich wage selbst zu glauben, daß wenn wir zusammen verurtheilt wären unter diesem Joche zu ziehen, wir unsre Bürde heiter und würdevoll tragen würden: während ich augenblicklich nur auf den Trost der Erinnerung hingewiesen bin. In der ersten Zeit war ich fast verwundert, Dich als meinen Schicksalsgefährten nicht zu finden: und mitunter wenn ich reitend den Kopf umdrehe nach dem andern Freiwilligen, so meine ich Dich auf dem Pferde sitzen zu sehen. Ich bin in Naumburg ziemlich einsam; ich habe weder einen Philologen, noch einen Schopenhauerfreund im Kreise meiner Bekannten; und selbst diese kommen selten mit mir zusammen, weil der Dienst meine Zeit sehr beansprucht. Somit habe ich oft das Bedürfniß die Vergangenheit wiederzukäuen und die Gegenwart durch Beimischung jener Würze verdaulich zu machen. Als ich heute morgen im Regenmantel durch die schwarze kalte feuchte Nacht gieng, und der Wind unruhig um die dunklen Häusermassen blies, sang ich vor mich hin "ein Biedermann muß lustig, guter Dinge sein"46 und dachte an unsere närrische Abschiedsfeier,47 an den hüpfenden Kleinpaul48 — dessen Existenz augenblicklich in Naumburg und Leipzig unbekannt, aber deshalb nicht fraglich ist — an Kochs dionysisches Gesicht, an unser Gedenkmal49 am Ufer jenes Leipziger Stromes, das wir Nirwana tauften und das meinerseits die festlichen Worte, die sich siegreich erwiesen haben, trägt 50 Wenn ich zum Schluß diese Worte auch auf Dich anwende, theurer Freund, so sollen sie das Beste umschließen, was ich für Dich im Herzen trage. Wer weiß, wann das wechselnde Geschick unsre Bahnen wieder zusammenführen wird: möge es recht bald geschehn; wann es aber immer auch geschehe, ich werde mit Freude und Stolz auf eine Zeit zurückblicken, wo ich einen Freund gewann 51 Friedrich Nietzsche. NB. Der Brief hat sich wieder einige Tage verzögert, weil ich gern ein Kistchen mit Weintrauben demselben folgen lassen wollte: schließlich erklärt die unselige Post, selbiges nicht annehmen zu wollen, weil die Weintrauben nur als Most ankommen würden. Ignoscas.52 1. The letter is lost. Wilhelm Heinrich Roscher (1845-1923): fellow philology student at Leipzig.
Naumburg, 24.11. und 1.12.1867: Mein lieber Freund, seltsam! Man besorgt Briefe über Geschäftsdinge und an gleichgültigere Personen weit pünktlicher als an seine vertrauten Freunde. Wie manche Zeile habe ich im Laufe dieses Sommers geschrieben, jede mit dem Bewußtsein, daß es jemanden giebt, der schon lange und suo iure einen ausführlichen Brief meinerseits erwartet. Wie viele Brieffragmente finde ich unter meinen Papieren, einige ganze Seiten, andre nur Überschriften enthaltend; nichts aber ist zu Ende gekommen, weil die Fülle von Arbeiten und Ereignissen das unfertige Blatt wieder durchstrich, und mir die Lust fehlte, Dir obsolete Dinge und Stimmungen zu schildern. Laß mich jetzt im raschen Überblick über jenen Sommer hinwegeilen, damit ich bei der Gegenwart verweilen kann, einer Gegenwart, in die Du Dich hineinfühlen wirst, da Du durchaus Ähnliches durchgelebt hast als ich jetzt erlebe. Dieser Sommer, der letzte, den ich in Leipzig verlebte — nämlich der zweite — nahm mich kräftig in Anspruch. Du weißt, daß ich mich um das gestellte Preisthema1 de fontibus Laerti[i] Diogenis bemühte. Dies ist mir auch nach Wunsch gelungen; eine Menge hübscher, zum Theil wichtiger — dh. nach unserm Maßstabe wichtiger — Ergebnisse ist herausgekommen, und zum Schluß kam auch das gehoffte Urtheil der Fakultät.2 Darf ich Dir einige Zeilen aus dem iudicium Ritschls3 darüber mittheilen; über die ich mich sehr freue, weil sie mich ermuthigen und auf einer Bahn forttreiben, von der ich mitunter aus Skepticismus4 abzuweichen in Versuchung bin. Also heißt es nach Angabe meines Namens und meines Mottos (5): 'ita rem egit ut Ordinis expectationi non tantum satis fecerit, verum eam superaverit. Tanta enim in hac commentatione cum doctrinae e fontibus haustae copia tum sani maturique iudicii subtilitas enitet, coniuncta ea cum probabili et disserendi perspicuitate et dicendi genuina simplicitate, ut non modo insigniore laude scriptoris indoles et industria dignae videantur, sed plurimum emolumenti in ipsas litteras, philosophorum potissimum Graecorum historiam et plenius et rectius cognoscendam, ex illius opera redundare existimandum sit —';6 als welches Urtheil vor dichtgedrängter Aula bekannt gemacht wurde.7 Leider konnte ich nicht anwesend sein; was mich um so mehr schmerzte als der philologische Verein8 mir, seinem Gründer und Expräsidenten, ein 9 bei Simmer10 veranstalten wollte, zu dem auch Vater Ritschl sein Kommen zugesagt hatte. — Jene Arbeit beschäftigte mich bis in den Anfang des August hinein; sobald ich los und ledig war, flog ich mit Freund Rohde in den böhmischen Wald,11 um in Natur, Berg und Wald die müde Seele zu baden. An dieser Stelle muß ich einiges über Rohde sagen,12 der ja auch Dir aus einer frühen Zeit her bekannt ist. Wir haben beide diesen Sommer fast immer zusammen gelebt und eine seltne Zusammengehörigkeit unter uns empfunden. Daß auch über diesem Freundschaftsbunde der Genius des Mannes schwebte, dessen Bild mir Rohde noch vor wenig Wochen aus Hamburg schickte,13 Schopenhauers, versteht sich von selbst. Du wirst, wie ich mir denke, darüber eine lebhafte Freude empfinden, daß gerade solche starke und gute Naturen, wie Rohde im besten Sinne ist, von jener Philosophie gepackt werden[.] Wieder ist eine Woche vergangen, wieder ist es Sonntag, jetzt der einzige Tag, der mir zur Erfüllung meiner Briefpflichten übrig bleibt. Um aber ungefähr in dem Gedankenkreis zu bleiben, in dem ich mich vor 8 Tagen befand, erzähle ich Dir von anderem Einflusse Schopenhauers. Da sind es zwei schriftstellerische Leistungen, eine wissenschaftliche und ein Roman, die unter diesem Gestirn geboren sind. Vielleicht hast Du schon von dem Buche gehört, das sich also betitelt "Bahnsen, Beiträge zur Charakterologie."14 Dies ist ein Versuch, die Charakterkunde zur Wissenschaft umzubilden; da dies auf Schopenhauerscher Basis und mit viel Liebe zum "Meister" geschieht, außerdem auch wirklich viel gute Gedanken und Beobachtungen in diesem zweibändigen Werke stecken: so empfehle ich es Dir sowie allen Eingeweihten jener offenbaren und doch verborgenen Weisheit. Am wenigsten bin ich mit der Form zufrieden: der Verfasser überhastet seine Gedanken und verdirbt dadurch die Linie der Schönheit. — Der Roman, von dem ich nun reden will, ist das erste Erzeugniß einer Dichtung in jenem tragischen, fast asketischen Sinne Schopenhauers, ein Buch, dessen Helden durch die rothe Flamme des Sansara15 hindurchgetrieben werden zu jenem Umschwung des Willens, dabei eine Dichtung voll des höchsten Kunstwerthes, einer großartigen Fülle von Gedanken und im schönsten liebenswürdigsten Stile geschrieben. Das ist der letzte Roman Spielhagens16 "in Reih und Glied"17 betitelt; von dem man wenig liest, weil sein Verfasser zu stolz ist, einer Clique sich anzuschließen, wie sie zB. Freitag18 besitzt. Mein Lehrer Ritschl urtheilt, daß dieser letzte Roman zehnmal so viel werth sei wie der ganze Freitag. Zu dritt erzähle ich Dir von einem Ereigniß, mit dem Schopenhauer auch im fernen Zusammenhange steht, wenn er auch nicht, wie gutbesoldete Schulräthe behaupten, Ursache desselben ist. Es ist der unglückliche Selbstmord Kretzschmers19 in Schulpforte. Die Gründe sind thatsächlich nicht bekannt oder werden gut verschwiegen. Etwas Räthselhaftes liegt darin, daß der vortreffliche gewissenhafte Mensch sich ein Vierteljahr vorher noch verlobt hat und auf diese Weise noch ein junges Mädchen unglücklich macht. Daß er Anhänger Schopenhauers war, weißt Du: und noch das letzte Mal, als wir beide zusammen in Almrich waren, sprachen wir miteinander über Schopenhauers Auffassung des Selbstmordes.20 Doch jetzt kehre ich zurück zur Erzählung meiner Erlebnisse: die Nachricht von jenem Tode ereilte mich in Meiningen, wo ich die letzten Tage meiner Böhmerwaldreise zubrachte. Dort war nämlich ein großes viertägiges Musikfest von den Zukünftlern veranstaltet, die hier ihre seltsamen musikalischen Orgien feierten.21 Abbate Liszt22 präsidirte. Diese Schule hat sich jetzt mit Leidenschaft auf Schopenhauer geworfen. Eine symphonische Dichtung von Hans von Bülow, "Nirwana"23 enthielt als Programm eine Zusammenstellung Schopenhauerscher Sätze; die Musik war aber fürchterlich. Dagegen hat Liszt selbst in einigen seiner Kirchencompositionen den Charakter jenes indischen Nirwana vortrefflich gefunden, vor allem in seinen "Seligkeiten" "beati sunt qui etc."24 Nach diesen Wochen der Erholung und des reinsten Naturgenusses trieb mich ein wohlmeinender Dämon dazu, mich in Naumburg mit Eifer über ein neues philologisches Thema herzumachen "über die unechten Schriften Demokrits."25 Diese Arbeit ist bestimmt für einen Cyklus von Aufsätzen,26 welche zusammen im nächsten Jahre Ritschl dedicirt werden sollen. Ich habe nämlich in Leipzig noch in den letzten Tagen meines Dortseins die Idee angeregt, daß seine speziellen Leipziger Schüler — natürlich mit genauer Auswahl — ihrem Lehrer auf diese Weise ihre Verehrung ausdrücken. Dazu sind gewonnen Rohde, Roscher, Windisch, Clemm und noch 4 andre,27 die Du nicht kennst. Darauf feierte ich in Halle jene Philologenversammlung28 mit — und das Verhängniß kam. Jetzt bin ich nämlich Kanonier und zwar in der 2t. reitenden Abtheilung des Feldartill.Reg N. 4.29 Wie überraschend dieser Umschwung war, wie gewaltsam ich meinem gewöhnlichen Treiben und bequemen Dahinleben entfremdet wurde, wirst Du leicht nachfühlen. Trotzdem ertrage ich diese Veränderung gefaßten Muthes und empfinde sogar an diesem Streiche des Schicksals ein gewisses Behagen. Jetzt bin ich erst unserm Schopenhauer recht dankbar geworden, jetzt wo ich Gelegenheit habe, etwas 30 zu treiben. In den ersten 5 Wochen hatte ich auch noch den Stalldienst durchzumachen: morgens um 5½ Uhr war ich im Pferdestall, um Mist hinaus zu schaffen und das Pferd mit Striegel und Kardätsche zu putzen. Jetzt ist mein Dienst durchschnittlich derart, daß ich von 7-½ 11 und von ½ 12-6 Abends beschäftigt bin und zwar den größten Theil dieser Zeit mit Fußexercieren. Vier mal in der Woche haben wir beiden Einjährigen Vortrag bei einem Leutnant als Vorbereitung zum Landwehroffizierexamen. Du wirst wissen, daß man als reitender Artillerist erstaunlich viel zu lernen hat. Das meiste Vergnügen machen mir die Reitstunden. Ich habe ein sehr hübsches Pferd und soll auch Talent zum Reiten besitzen. Wenn ich mit meinem Balduin31 auf dem großen Exercirplatz herumsause, so bin ich mit meinem Geschick sehr zufriedengestellt. Die Behandlung, die mir zu Theil wird, ist im Ganzen eine vortreffliche. Vor allem haben wir einen angenehmen Hauptmann. Ich habe Dir von meinem Soldatenleben erzählt: hier liegt der Grund, weshalb ich so außerordentlich spät dazu komme, Dir Nachricht und Antwort auf Deinen letzten Brief32 zu geben. Unterdessen wirst Du wahrscheinlich, wie ich mir denke, der militärischen Fesseln ledig geworden sein. Weshalb ich es für bedenklich halte, meinen Brief nach Spandau zu adressieren. Schon aber ist meine Zeit vorüber; ein geschäftlicher Brief an Volkmann,33 sowie ein andrer34 an Ritschl haben uns schon Zeit geraubt. Jetzt muß ich schließen, um zum Appell mit vollem Zeug mich fertig zu machen. Also, lieber Freund, verzeih mir meine lange Fahrlässigkeit und schiebe dem Kriegsgotte den besten Theil der Schuld zu. In treuer Gesinnung 1. Cf. Leipzig, 11-26-1867: Letter from Rudolf Schenkel to Nietzsche in Naumburg. "Wäre ich nicht Jurist, so würde ich heute über die vielen Förmlichkeiten, die jedes Gericht mehr oder minder bei den kleinsten Dingen verlangt, eine gewaltige Klage anheben. So erlaubst Du mir wohl zu schweigen; vielleicht wird's besser, wenn wir einmal in diesen Sachen mitzureden haben. Für jetzt muß ich Dich bitten, den Wünschen des Universitätsgerichts sobald wie möglich Folge zu leisten. Die Vollmacht, die Du mir ausgestellt hattest, ist verworfen worden. "Du hast Dich — dies die Worte des Dr. Böttcher — in einem Schreiben an den academischen Senat zunächst darüber zu erklären, ob Du die Preismedaille oder Geld vorziehst, und zugleich darin mich als den zur Entgegennahme des Geldes Bevollmächtigten zu benennen." Nach Eingang dieses Schreibens wird an das Ministerium berichtet, welches sodann das Universitätsrentamt zur Auszahlung des Geldes anweist. Darüber werden etwa 14 Tage vergehen, und darum bitte ich Dich, möglichst bald jenes Schreiben aufzusetzen und einzusenden." (If I were not a lawyer, I would be making a strong objection today about the many formalities that every court more or less requires for the most trivial things. So you will allow me to remain silent; maybe it will be better once we have a say in these matters. For now I must ask you to comply with the wishes of the university tribunal as soon as possible. The power of attorney you gave me has been revoked. "First you have — these are the words of Dr. Böttcher — to explain in a letter to the academic senate whether you prefer the prize medal or money, and at the same time to name me as the person authorized to receive the money." After receipt of this letter, a report is sent to the ministry, which then instructs the university accounting office to disburse the money. About 14 days will pass, and I therefore ask you to write and send in that letter as soon as possible.) |
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