|
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited.
Leipzig, 12. Januar 1866: Meine liebe Tante, ich habe nicht nöthig in den Familienkalender zu sehn, um daran erinnert zu werden, daß der 13 Januar2 einen Brief von mir verlangt. Es ist heute heller blauer Himmel, und das neue Jahr läßt sich an, als ob es die Frühlingstage den Wintermonaten voraus nehmen wollte. Wie ganz anders, wenn die feuchten lastenden Nebel uns den Athem und die Aussicht nehmen; da kriecht man leicht mit hypochondrischen Stimmungen in seine Stube und gedenkt des Kommenden mit beklemmtem Herzen. Heute also, liebe Tante, wo der Himmel rein und blau ist, schreibe ich Dir meine besten Geburtstagswünsche. Es macht sich unwillkürlich, daß ich frohe Hoffnungen und heitere Aussichten aus dem Wetter prophezeie; ist es doch als ob das neue Jahr Dich gleichsam mit einem herzlichen Handdruck seiner Huld und Gewogenheit versichern wolle. Möge es auch in allen Deinen Verhältnissen Dir freundlich entgegenkommen und Dich glücklich durch alle Arbeit, Mühe und böse Tage hindurchführen. Mir, meine liebe Tante, ist es bis jetzt wohl ergangen. Ich zehre noch immer an der erquicklichen Erinnerung der Weihnachtstage,3 die diesmal mir besonders behagt haben. Hier nahm mich sogleich volle Arbeit in Beschlag; nach allen Seiten hin drängt es. Das bringt nun einmal die ungemeine Breite und Ausdehnung unsres Studiums mit sich. Unser philologischer Verein4 hat gestern Abend seine erste offizielle Sitzung5 gehalten, die zu allgemeiner Zufriedenheit ausgefallen ist. Nächsten Donnerstag werde ich meinen Vortrag halten.6 Wir haben ein hübsches Zimmer und zählen jetzt 10 Mann.7 Von einer andern Nachricht, die uns hier interessirte, wirst Du in den Zeitungen gelesen haben. Es war von einem Besuch des Königs8 die Rede, die Kniehosen der Professoren waren gerüstet und hatten Schrecken und Beängstigung unter den Facultäten hervorgerufen, es war unter anderem angekündigt, daß der König auch ein Colleg bei Ritschl hören wolle. Das ist nun freilich durch die Reise des Königs nach München9 unterbrochen worden. Vielleicht wird es Dir auch nicht mehr neu sein, auf welche Weise die philologische Facultät in Bonn ergänzt worden ist. Usener aus Greifswald und Bernais in Breslau10 sind die auserwählten, sehr tüchtige, höchst renommirte Leute aber — Wunder über Wunder! so ziemlich die extremsten Ritschelianer, die es jetzt giebt. Sie treiben den Meister fort,11 suchen ihn nachher zu halten und rufen endlich zwei seiner Schüler an seine Stelle. Ich überlege mir jetzt vielfach, auf welcher preußischen Universität ich mein Examen mache. Die Frage ist schwerer als Du glaubst, und ich bin noch sehr unentschieden. Sicher bleibt einstweilen, daß ich noch bis Michaeli12 in Leipzig bleibe, wo es mir ganz besonders wohl geht. Weiteres habe ich Dir nicht mitzutheilen, liebe Tante; ich bitte noch mich bestens an Tante Riekchen13 zu empfehlen. Indem ich nochmals meine besten Wünsche Dir ausspreche und Dich auch um fernere Liebe und Theilnahme an meinem Leben und meinen Studien ersuche, verbleibe ich Dein Friedrich Nietzsche. 1. Rosalie Nietzsche (1811-1867), his paternal aunt, died on 01-03-1867. Nietzsche describes his vigil at her deathbed in two letters. Naumburg, January 4, 1867: Letter to Hermann Mushacke in Berlin. In German; in English. "Schließlich habe ich keinen Grund, Dir zu verhehlen, daß ich heute sehr traurig gestimmt bin. Gestern um diese Zeit nämlich stand ich am Sterbebette meiner Tante Rosalie, die, um es kurz zu sagen, nächst meiner Mutter und Schwester die bei weitem intimste und nächste Verwandte von mir war, und mit der ein großes Stück meiner Vergangenheit, besonders meiner Kindheit von mir gegangen ist, ja, in der unsre ganze Familiengeschichte, unsre Verwandtschaftlichen Beziehungen so lebendig und gegenwärtig waren, so daß nach dieser Seite hin der Verlust unersetzlich ist." (Finally, I have no reason to hide from you the fact that I am very sad today. For at about this time yesterday I was standing at the deathbed of my Aunt Rosalie, who, to put it briefly, was by far, besides my mother and sister, the most intimate and closest relative of mine and with whom a large part of my past, especially my childhood, has left me, indeed, one in which our entire family history, and our family relationships were so alive and present that in this regard the loss is irreplaceable.) Leipzig, January 16, 1867: Letter to Carl von Gersdorff in Spandau. In German; in English. "[E]s war ebenfalls in den ersten Tagen des Januars, wo auch ich in Naumburg an einem Sterbebette stand, an dem einer nahen Verwandten, die nächst Mutter und Schwester die nächsten Anrechte auf meine Liebe und Verehrung hatte, die treulich an meinem Lebenswege Antheil genommen hatte, und mit der ein ganzes Stück meiner Vergangenheit und vornehmlich meiner Kindheit von uns gewichen ist." (It was also in the first days of January in Naumburg when I too stood at the deathbed of a close relative who, next to my mother and sister, had the most right to my love and esteem, who had faithfully taken an interest in my life's journey, and with whom a great part of my past and especially my childhood has departed from us.)
Leipzig, 31. Januar 1866: Liebe Mama, obwohl Du mich Sonntag1 sehn wirst und also meine persönlichen Glückwünsche entgegennehmen kannst, so würde es mir doch leid thun, wenn Dein Geburtstagstisch2 am Freitag kein Lebenszeichen von mir aufwiese. Darum kommt heute meine musikalische Gabe,3 die Dir meine herzlichen Empfindungen und Wünsche in einer hörbaren Form vorführen soll. Ich halte es nun einmal für würdiger, ja für Dich sicher auch Angenehmer, wenn Du etwas von meinen geistigen Erzeugnissen bekommst. Dafür ist dieses heutige Kyrie4 auch eine seltne Erscheinung, da ich nun bereits über ein Jahr nicht mehr componiert habe und nur in Hinblick auf Deinen Geburtstag mich wieder in die fast aufgegebne Thätigkeit hineinversetzte. Nimm es deshalb einstweilen freundlich hin. Sonntag werde ich es Dir genau erklären und vorspielen. Wie es zu vermuthen ist, wird an Deinem Geburtstag das Wetter so schön und frühlingsartig sein, daß Du mit einer fröhlichen und heiteren Vorbedeutung in das neue Jahr eintreten kannst. Einen großen Theil desselben werden wir also noch in dieser Nähe zusammenverleben, aber am Schluß desselben können wir wieder räumlich sehr getrennt von einander sein. Und so werden die nächsten Jahre fortfahren, unser Zusammenkommen immer seltner zu machen. Woraus denn nur folgt, daß wir die jetzige Zeit noch benutzen müssen. Und so hoffe ich denn, daß wir miteinander einen recht vergnügten Sonntag verleben; ist niemand eingeladen, so ist es mir am liebsten. Denn wir brauchen keine Gäste, um uns unter einander wohlzufühlen. Mir geht es ganz wohl, ich habe Freude an unserm philologischen Verein,5 der uns alle Donnerstag zusammenführt; es sind sehr liebenswürdige Menschen darunter.6 Meinen Vortrag über die Theognideische Redaktion7 habe ich gehalten, und er hat viel Interesse erregt. Nächsten Donnerstag werden wir den Dr. Kinkel über die Anfänge griechischer Kunst hören;8 wir haben uns etwas näher kennen gelernt. In den letzten Tagen war der König9 in Leipzig und besuchte von früh bis Abend in Begleitung eines Minister und eines Generals die Vorlesungen, natürlich auch Ritschl. Er gefällt mir ganz ausnehmend, es ist ein feiner gelehrter Kopf, der etwas Herzliches und Mildes in seinem Wesen hat, gar nichts Unteroffizierartiges, wie andere Könige. Es ist das Gerücht verbreitet, daß die Verlobung von Ritschls Tochter Ida in diesen Tagen publizirt sei, angeblich, mit Doktor Löning, der in dem Jahn-Ritschlstreite10 sich hervorgethan hat. Mit Gersdorff habe ich jetzt allwöchentlich einen Abend verabredet, wo wir zusammen griechisch lesen; mit ihm und Mushacke11 alle vierzehn Tage einmal, wo geschopenhauert wird. Dieser Philosoph nimmt eine sehr bedeutende Stellung in meinen Gedanken und meinen Studien ein, und mein Respekt vor ihm nimmt unvergleichlich zu.12 Ich mache auch Propaganda für ihn und weise einzelne Menschen, wie z. B. den Vetter13 geradezu mit der Nase auf ihn hin. Was aber noch wenig genutzt hat. Denn bei dem echten Sachsen heißt es immer "primum vivere, deinde philosophari"14 "zuerst leben, dann philosophiren." Damit will ich schließen und auf den Sonntag versparen, was sonst noch zu sagen wäre. Alles Gute und Erquickliche möge Dir im neuen Jahre nahe sein! Dein Fritz. 1. February 4. Nietzsche got sick and did not go to Naumburg.
Naumburg, 7. April 1866: Lieber Freund, gelegentlich kommen Stunden jeder ruhigen Betrachtung, wo man in Freude und Trauer gemischt über seinem Leben steht, ähnlich jenen schönen Sommertagen, die sich breit und behaglich über die Hügel hinlagern, wie Emerson sie so vortrefflich beschreibt:1 dann wird die Natur vollkommen, wie er sagt, und wir: dann sind frei wir vom Banne des immer wachenden Willens, dann sind wir reines, anschauendes, interesseloses Auge.2 In dieser vor allem anderen zu ersehnenden Stimmung nehme ich die Feder zur Hand, um Dir auf Deinen freundlichen und gedankenreichen Brief zu antworten. Unsre gemeinsamen Besorgnisse3 sind bis zu einem kleinen Reste zusammengeschmolzen: wir haben wieder gesehen, wie von ein paar Federstrichen, schließlich vielleicht sogar von zufälligen Launen Einzelner die Geschicke unzähliger bestimmt werden und überlassen es gern den Frommen, für diese zufälligen Launen ihrem Gotte Dank zu wissen. Es mag sein, daß uns diese Reflexion zum Lachen stimmt, wenn wir uns in Leipzig wiedersehen. Von dem individuellsten Gesichtspunkte aus hatte ich mich bereits mit dem militärischen Gedanken vertraut gemacht. Ich wünsche mich öfter herausgerissen aus meinen gleichförmigen Arbeiten, ich war nach den Gegensätzen der Aufregung, des stürmischen Lebensdranges, der Begeisterung begierig. Denn so sehr ich mich auch angestrengt habe, so ist es mir doch täglich deutlicher geworden, daß man eine solche Arbeit4 nicht aus den Aermeln schüttelt. Ich habe die Ferien sehr viel relativ gelernt, und mein Theognis findet mich nach den Ferien mindestens um ein Semester fortgeschrittner. Dabei habe ich manche einleuchtende Dinge gefunden, die eine Bereicherung meiner quaestiones Theogn[ideae]. werden sollen. Eingemauert bin ich in Bücher durch Corssens ungemeine Gefälligkeit.5 Ebenso muß ich mich über Volckmann äußern, der mich redlich unterstützt hat, besonders mit der ganzen Suidaslitteratur, deren Hauptkenner er ist.6 Ich habe mich so gut in dies Gebiet hineingelebt, daß ich es auch selbstständig angebaut habe, indem ich kürzlich den Nachweis fand, warum das Violarium der Eudocia nicht auf Suidas, sondern auf die Hauptquelle des Suidas, eine epitome des Hesychius Milesius (natürlich verloren) zurückgeht: dies giebt für meinen Theognis ein überraschendes Resultat, das ich Dir später einmal darlegen will.7 Ich erwarte übrigens täglich einen Brief von Dr. Dilthey8 aus Berlin, einem Schüler Ritschl[s],9 der in Theognisfragen mehr wie ein andrer bewandert ist. Ich habe mich ihm ganz geöffnet und ihm weder meine Ergebnisse noch meinen Studentenstand verschwiegen. Ich hoffe, daß ich in Leipzig angelangt rüstig an das Niederschreiben gehen kann; ich habe mein Material ziemlich zusammen. Zu leugnen ist es übrigens nicht, daß ich mitunter kaum diese mir selbst aufgelegte Sorge verstehe, die mich von mir selbst abzieht, (dazu von Schopenhauer was oftmals eins ist) mich in ihren Folgen dem Urtheile der Leute aussetzt und womöglich gar mich zur Maske einer Gelehrsamkeit zwingt, die ich nicht habe. Man verliert jedenfalls etwas dadurch, daß man gedruckt wird. Manche Aufhaltungen und Verdrießlichkeiten sind nicht ausgeblieben. Die Berliner Bibliothek wollte die Theognisausgaben des 16 u[nd] 17 Jh. nicht herausrücken. Eine Anzahl sehr nöthiger Bücher hatte ich mir von der Leipziger Bibliothek ausgebeten durch Roschers10 Vermittlung. Roscher aber schrieb mir, daß seine Gewissenhaftigkeit nicht zuließe, Bücher, die auf seinen Namen geschrieben wären, aus der Hand zu geben. Welche Gewissenhaftigkeit zu tadeln mir nicht einfällt, nur kam sie mir unbequem genug. Drei Dinge sind meine Erholungen, aber seltne Erholungen, mein Schopenhauer, Schumannsche Musik,11 endlich einsame Spaziergänge. Gestern stand ein stattliches Gewitter am Himmel, ich eilte auf einen benachbarten Berg, "Leusch" genannt (vielleicht kannst Du mir dies Wort deuten)12 fand oben eine Hütte, einen Mann, der zwei Zicklein schlachtete, und seinen Jungen. Das Gewitter entlud sich höchst gewaltig mit Sturm und Hagel, ich empfand einen unvergleichlichen Aufschwung und ich erkannte recht, wie wir erst dann die Natur recht verstehen, wenn wir zu ihr aus unsern Sorgen und Bedrängnissen heraus flüchten müssen. Was war mir der Mensch und sein unruhiges Wollen! Was war mir das ewige "Du sollst" "Du sollst nicht"! Wie anders der Blitz, der Sturm, der Hagel, freie Mächte, ohne Ethik! Wie glücklich, wie kräftig sind sie, reiner Wille, ohne Trübungen durch den Intellekt! Dagegen habe ich Beispiele genug erfahren, wie trübe oftmals der Intellekt bei den Menschen ist. Neulich sprach ich einen, der als Missionair in Kürze ausgehen wollte nach Indien. Ich fragte ihn etwas aus; er hatte kein indisches Buch gelesen, kannte den Oupnekhat nicht dem Namen nach und hatte sich vorgenommen, mit den Bramanen sich nicht einzulassen weil sie philosophisch durchgebildet wären. Heiliger Ganges!13 Heute hörte ich eine geistreiche Predigt Wenkels14 über das Christenthum "der Glaube, der die Welt überwunden hat" unerträglich hochmüthig gegen alle Völker, die nicht Christen sind, und doch wieder sehr schlau. Alle Augenblicke nämlich substituirte er dem Worte Christenthum etwas anderes, was immer einen richtigen Sinn gab, auch für unsre Auffassung. Wenn der Satz "das Christenthum hat die Welt überwunden" mit dem Satz "das Gefühl der Sünde, kurz, ein metaphysisches Bedürfniß hat die Welt überwunden" vertauscht wird, so hat das für uns nichts anstößiges, man muß nur consequent sein und sagen, "die wahren Inder sind Christen" und auch: "die wahren Christen sind Inder." Im Grunde aber ist die Vertauschung solcher Worte und Begriffe, die einmal fixirt sind, nicht recht ehrlich; es werden nämlich die Schwachen im Geiste vollends verwirrt. Heißt Christenthum "Glaube an ein geschichtliches Ereigniß oder an eine geschichtliche Person" so habe ich mit diesem Christenthum nichts zu thun. Heißt es aber kurz Erlösungsbedürftigkeit, so kann ich es höchst schätzen und nehme ihm selbst das nicht übel, daß es die Philosophen zu discipliniren sucht: als welche zu wenige sind gegen die ungeheure Masse der Erlösungsbedürftigen, zudem aus gleichem Stoffe gemacht. Ja und wären alle, die Philosophie treiben, Anhänger Schopenhauers! Aber nur zu oft steckt hinter der Maske des Philosophen die hohe Majestät des "Willens," der seine Selbstverherrlichung ins Werk zu setzen sucht. Herrschen die Philosophen, so wäre to plhJoV15 verloren, herrscht diese Masse, wie jetzt, so steht es dem Philosophen, raro in gurgite vasto,16 immer noch zu, Jica allwn wie Aeschylus, froneein17. Dabei ist es für uns allerdings höchst lästig, unsre noch jungen und kräftigen Schopenhauergedanken so halbausgesprochen zurück zu halten und im Ganzen diese unglückliche Differenz zwischen Theorie und Praxis immer auf dem Herzen lasten zu haben. Wofür ich gar keinen Trost weiß, im Gegentheil Trostes bedürftig bin. Mir ist es so, als müßten wir den Kern milder beurtheilen. Er steckt auch in dieser Collission. Damit lebe wohl, lieber Freund, empfiehl mich Deinen Angehörigen, wie die meinen Dich bestens grüßen lassen; und es bleibt dabei, wenn wir uns wiedersehen, so lächeln wir mit Recht.18 Dein Freund 1. Cf. Ralph Waldo Emerson, "Nature." In: Essays: Second Series. Boston: Munroe, 1845, 183-185. Nietzsche's copy: Ralph Waldo Emerson, Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover: Carl Meyer, 1858, 391-392.
2. An allusion to Arthur Schopenhauer. Cf. Die Welt als Wille und Vorstellung, 1, §34; 2, §30. (The World as Will and Representation, 1, §34; 2, §30.)
Leipzig, 29. Mai 1866: Liebe Mama und Lisbeth, Ihr habt fabelhaft lange keine Nachricht bekommen. Wäre etwas Wichtiges passirt, so hättet Ihr sie. Soldat1 bin ich noch nicht. Es hat Aussicht als ob wir überhaupt verschont bleiben sollten. Die Pfingsttage2 bin ich in Leipzig geblieben, wie ich Euch gesagt hatte. Mit Eilenburg3 haben wir es vortrefflich getroffen. Dies war mir eine Freude. Ich habe Zeit zum Arbeiten gefunden und kann auch im Allgemeinen mit den Resultaten zufrieden sein. Nachrichten aus Italien4 sind noch nicht da. Die Sache schiebt sich auf die lange Bank hinaus, was mir auch ganz recht ist. Nächsten Freitag habe ich in unserem Verein wieder ein[en] Vortrag zu halten.5 Ich habe die Ferientage sehr einfach verlebt, bin frühmorgens öfter zu einem Frühconzert im Rosenthal6 gewesen und habe mich Abends an Wachtel als Troubadour und Tell7 ergötzt. Gersdorff ist auch die Ferien dageblieben. Der Vetter8 war in Colditz und ist Sonnabend9 wieder gekommen. Er zieht mit nächstem Monat in die Stube neben der meinigen. Werdet Ihr denn nicht einmal nach Leipzig kommen? So doch jedenfalls nach Merseburg zu dem Orgelconzert,10 wo der Riedelsche Verein singt. Es ist auf die erste Hälfte des Juni verschoben worden. Ich fange den Brief noch einmal von neuem an: denn er ist wieder ein Paar Tage liegen geblieben. Dazwischen ist denn Dein Brief11 mit Geld, liebe Mamma, eingelaufen, für beides sage ich Dir besten Dank. Ich bedaure nur, daß letzteres viel zu wenig ist, und daß ich deshalb in Kürze genöthigt sein werde Geldbriefe zu schreiben: was immer eine Verschwendung von Tinte und Zeit und sehr langweilig ist. Ihr habt mich in Naumburg erwartet. Aber so hatten wir es nicht ausgemacht. Heute schicke ich denn nun eine scheußliche Menge von Schmutz und Wäsche. Ich bitte aber um eine rapide Beschleunigung des Wäschprozesses. Denn in Leipzig ist es ebenso staubig wie heiß: und es scheint mir als ob aus Schweiß und Staub die Wäsche ihre dunkle Färbung und ihren schlechten Geruch erhielte. Im Grunde kann ich keinen Grund ergründen, weshalb ich noch länger schreiben sollte. Denn Neuigkeiten weiß ich nicht, meine philologischen Ergebnisse interessiren Euch nicht, philosophische Erörterungen liebt Ihr nicht, Brief, Geld und Wäsche sind schon abgehandelt und es fehlt nur noch ein Gruß und ein Schluß. Die Afrikanerin12 (à propos Wäsche) habe ich auch gesehen, die Musik ist bedauerlich schlecht, die Personen sehen abscheulich aus, und man glaubt nach Beendigung des Stückes lebhaft an die Abstammung des Menschen vom Affen. Für diesen Kunstgenuß sagt der Tante Rosalie13 meinen Dank: wenn man mir Freibillete schenkt, ich gehe nicht wieder hinein. Devrient habe ich als Hamlet und Graf v. Strahl14 bewundert. Nächstens kommt auch Fräul. Gallmeyer15 aus Wien, die tollste Persönlichkeit der deutschen Bühne. Damit hat es zum zehnten Male geschnappt. Alle unsre Hoffnung steht bei einem deutschen Parlament. Dem Kongreß in Paris16 wünsche ich einen gesegneten Stuhlgang. Damit lebt heute und immerdar bestens wohl. Vielleicht komme ich einmal Sonnabends. Aber wenn Ihr mich erwarten wollt, so werdet Ihr häufig genug durch mein Nichtkommen überrascht werden. Die Kiste packt mit Vorsicht aus. Es ist nicht alles Wäsche, was stinkt. Damit empfehle ich mich mit Neigung und Krümmung des Rückenwirbels als Euer Fritz. Elisenstr. 7 wohne ich jetzt. 1. The Austro-Prussian War (June 14, 1866-August 23, 1866) was imminent.
Leipzig, Juni 1866: Mein erster Wunsch ist, daß Sie die unbedeutende Widmung unbedeutender Lieder2 mir nicht übeldeuten. Es liegt mir nichts ferner als Sie etwa durch diese Widmung auf meine Persönlichkeit aufmerksam machen zu wollen. Wenn andre Leute durch Hand und Mund im Theater ihr Entzücken kundgeben, thue ich es durch ein paar Lieder; andre mögen in Gedichten noch besser sich verständigen. Alle aber haben nur ein Gefühl: Ihnen anzudeuten, wie glücklich sie auf eine kurze Strecke ihres Daseins gewesen sind, wie herzlich sie die Erinnerung an solche sonnige Blicke eines vollkommnen Lebens in sich hegen. Sie dürfen nicht meinen, als ob diese Huldigungen Ihrer sicher höchst edlen und liebenswürdigen Natur dargebracht würden. Im Grunde verehre ich und sicherlich alle mit mir Ihre Darstellungen: mit der Süßigkeit und dem Schmerz, mit dem meine eigne Kindheit mir vor die Seele tritt als ein Verlorenes aber doch einmal Dagewesenes, denke ich auch an Ihre ursprünglichen und immer lebenswahren herzensguten Gestalten: Mögen diese Gestalten mir auf meinem Lebensweg auch noch so selten begegnen — und noch vor kurzem glaubte ich gar nicht mehr an ihre Wirklichkeit — so ist mein Glaube an sie jetzt wieder festgewurzelt. Dies verdanke ich wirklich Ihnen allein; nach diesem Bekenntniß werden Sie mir auch die Freiheit dieses Briefes nicht übelnehmen. Was kann Ihnen an augenblicklichen Erfolgen, an dem stürmischen Beifall einer aufgeregten Menge liegen. Aber zu wissen, daß viele aus dieser Menge eine heilbringende Erinnerung mit sich forttragen, daß viele, die das Leben und die Menschen trübe genug anblickten, jetzt mit hellerem Gesicht und freundlicher Hoffnung weitergehen — dies muß ein überaus beglückendes Gefühl sein. Es ist schließlich mein Wunsch, daß Sie auch aus den Tönen der beiliegenden Lieder diese warmen und dankbaren Empfindungen heraushören mögen. 1. Hedwig Raabe (1844-1905): a popular actress whom Nietzsche adored. In 1871, she married the German tenor Albert Niemann (1831-1917), who, in 1858, was recruited by Richard Wagner to sing in his operas.
Leipzig, Anfang Juli 1866: Liebe Mama und Lisbeth, ich hoffe, daß Ihr Euch eine Zeitung haltet, so daß Ihr mit Eifer verfolgt habt, was die letzten Wochen für entscheidende Ereignisse2 gebracht haben. Die Gefahr, in der Preußen steckt, ist ungeheuer groß: daß es gar durch einen vollkommnen Sieg im Stande wäre, sein Programm durchzusetzen, ist ganz unmöglich. Auf diese revolutionaire Weise den deutschen Einheitsstaat zu gründen, ist ein starkes Stück Bismarks:3 Muth und rücksichtslose Consequenz besitzt er, aber er unterschätzt die moralischen Kräfte im Volke. Immerhin sind aber die letzten Schachzüge vorzüglich: vor allem hat er es verstanden, auf Östreich einen gewaltigen, wenn nicht den größten Theil der Schuld zu wälzen. Unsre Lage ist sehr einfach. Wenn ein Haus brennt, fragt man nicht zuerst, wer den Brand verschuldet hat, sondern löscht. Preußen steht in Brand. Jetzt gilt es zu retten. Das ist das allgemeine Gefühl. Mit dem Moment, wo der Krieg begann, traten alle nebensächlichen Rücksichten zurück. Ich bin ein ebenso enragirter Preuße, wie z. B. der Vetter4 ein Sachse ist. Für alle Sachsen ist es aber eine besonders schwere Zeit. Ihr Land vollkommen in Feindeshand. Ihre Armee ruhig und unthätig. Ihr König fern von den Seinen.5 Einem andern König und einem Kurfürsten hat man einfach das Garaus gemacht.6 Das ist die neuste Erklärung des Fürstenthums "von Gottes Gnaden." Da begreift man es, wenn der alte Gerlach mit einigen westphälischen Borneos gegen den Bund mit der gekrönten (Victor Eman[uel]) und nicht gekrönten Demokratie schimpft.7 Am Ende ist diese preußische Art, die Fürsten loszuwerden, die bequemste von der Welt. Es ist geradezu ein Glück, daß sich Hannover und Kurhessen nicht an Preußen anschlossen: sonst wären wir in Ewigkeit nicht von diesen Herren losgekommen. Wir leben also in der preußischen Stadt Leipzig. Heute ist der Kriegsstand für ganz Sachsen erklärt worden.8 Allmählich lebt man wie auf einer Insel, weil die telegraph. Nachrichten und die Postverbindung und die Eisenbahnen in fortwährender Störung sind. Nach Naumburg natürlich wie überhaupt nach Preußen geht alles wie sonst. Aber z. B. einen Brief an Deussen nach Tübingen zu befördern ist kaum eine Möglichkeit. Dabei dauern die Vorlesungen ungestört fort. Wie ich neulich von Naumburg zurückkam, fand ich einen Brief9 von Ritschl vor, worin er mir die Ankunft der römischen Collation anzeigt. Die Pariser kommt Ende dieser Woche.10 Trotzdem bin ich mir immer bewußt daß der Tag sehr nahe ist, wo ich einberufen werde. Dazu ist es nachgerade unehrenhaft zu Hause zu sitzen, wo das Vaterland einen Kampf um Leben oder Tod beginnt. Erkundigt Euch einmal ganz genau auf dem Landamte, wann die Einberufung der Einjährigen-Freiwilligen stattfindet und gebt mir in Kürze Nachricht. Das Erfreulichste, was noch Leipzig bietet, ist die Hedwig Raabe,11 als welche fortfährt vor ausverkauften Häusern zu spielen, in einer Zeit, wo das Dresdner Theater z.B. eines Tages 6 Thaler einnahm. Lebt heute recht wohl und laßt mir bald wieder Wäsche und Nachrichten zutheil werden. Ich grüße Euch herzlich. F W N. Fortsetzung. Da der Brief liegen geblieben ist, so wird es Euch schwerlich wüthend stimmen, wenn Ihr noch einen Nachtrag bekommt. Ich bin 3 Tage krank gewesen, aber heute geht es wieder. Die Hitze muß mir geschadet haben. Das ist aber gleichgültig. Wichtig ist aber, daß unsre Soldaten ihren ersten größern Sieg12 erfochten haben. Vorgestern Abend wurde es durch unsern Stadtkommandanten13 bekannt gemacht, der sogleich eine immense schwarzweiße Flagge an seinem Hotel aufhissen ließ. Die Stimmung der Bevölkerung ist sehr getheilt. Man glaubt den armseligen Wiener Lügen, nach denen alle diese letzten Treffen eben so viele Verluste für die Preußen sind, man erzählt sich von einer Gefangennahme von 15 000 Mann Preußen. Das glaube der Teufel. In Wien werden ja zur Ermuthigung der Massen alle Depeschen gefälscht und umgedreht. Ich bin beiläufig äußerst ergötzt über den glänzenden Durchfall ()14 der Naumburg-Zeitzer Conservativen bei den letzten Wahlen.15 Wir wünschen keine Egoisten in der Kammer, die um sich zu fördern, schön thun, nach dem Mund reden, sclavisch wedeln und vor lauter Ergebenheit platzen wie die Boviste. Und es gab einen großen Gestank. Euren Brief mit dem Gersdorffs16 bekam ich und kann Euch der Angst entledigen. Als ob Ihr so viel sicherer wäret als ich in Leipzig. Jetzt bleibe ich hier und möchte in diesen Zeiten wirklich nicht gern in einem etwas schläfrigen, zeitungslosen und kreuzzeitungsdunstaushauchenden Neste stecken. Ich habe für Gersdorffs ersten Bruder17 rechte Besorgnisse. Die Ziethenschen Husaren waren die ersten im Feuer und sollen stark gelitten haben. Unser Gersdorff hofft in frühstens 3 Monaten Offizier zu werden, wenn nicht etwa alberne Kadetten ihm vorgezogen werden. Hiemit gehabt Euch wohl; wenn das Lama Geburtstag18 feiert, dürfte ich nach Naumburg kommen. Ich bitte aber vorher um einen Brief wegen der Aushebungsgeschichte. F W N. 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
Leipzig, 05. 07. 1866: Lieber Wilhelm, wenn ich genau berichtet bin, so wirst Du Deinen Geburtstag3 nicht im Feldlager oder in der Garnison, sondern bescheidentlich in Deiner Berliner Studirstube feiern. Einstweilen scheint es mir als ob unsre beiderseitigen Kräfte noch wenig vermißt würden; denn bis jetzt schlagen sich unsre Soldaten eben so tapfer als glücklich;4 sollte aber das Kriegsglück eine Schwenkung machen, so sind wir beide schwerlich im Stande, es in seinem Willen aufzuhalten. Sodann dienen wir ja auch in unsern Studien dem Vaterlande, das von den Seinen bald dies, bald jenes verlangt, körperliche oder geistige Leistungen. Jeder aber gebe sein Bestes: "denn liebend" wie Hölderlin sagt, "giebt der Sterbliche vom Besten."5 Ergo: ärgern wir uns nicht darüber, daß wir zu Hause hocken, während die waffenfähigen jungen Leute blutbespritzte Ehrenzeichen einhandeln. Im Ganzen ist das Zuschaun zu solchem Spektakel interessant genug: besonders nachdem die erste Zeit drückender Besorgnisse vorbei ist, nachdem der Krieg Zugwasser bekommen hat und sich mit "affenartiger Schnelligkeit" wie die Wiener Presse sagt, vorwärtsbewegt.6 Mein Leben in der preußischen Stadt Leipzig bietet Stoff zu vielen psychologischen Bemerkungen. Die gebildeten Sachsen sind fast unerträglicher als die Masse. Jene nämlich sind im Grunde zu feige, um Partei zu ergreifen mit ihren Sympathien. Sie stellen sich gern auf preußischen Standpunkt, zeigen gern eine gewisse Aufklärung darin, daß sie die Preußen als die unvermeidlichen einstigen Besitzer Sachsens darstellen: denn diese Nothwendigkeit begreifen sie alle. Um so mehr aber reizt sie ihr kleinlicher Geist zu fortwährenden mißgünstigen Blicken auf unsre Erfolge, zu kleinen Verdächtigungen und Detrektationen. Dies Benehmen habe ich schon sehr satt bekommen. Dagegen haben wir in Leipzig lebenden Preußen alle mit herzlicher Freude empfunden, daß die Schritte unsrer Regierung seit etwa den letzten 6 Wochen unsren unbedingten Beifall haben. Wie ist es zu beklagen, daß dieser so begabte und thatkräftige Minister7 seiner Vergangenheit viel zu sehr obligirt ist; diese Vergangenheit aber ist eine unmoralische. Daran zweifelt jetzt auch kein Mensch mehr. Man kann nicht das Beste mit schlechten Mitteln erreichen. Das Richtige haben die französischen Zeitungen erkannt, die ihn einen Revolutionär nennen. Man kann sehr viel in solchen Zeiten lernen. Der Boden, der fest und unerschütterlich schien, wankt; die Masken fallen von den Gesichtern ab. Die selbstsüchtigen Neigungen zeigen unverhüllt ihr häßliches Antlitz. Vor allem aber bemerkt man, wie gering die Macht des Gedankens ist. Schließlich willst Du vielleicht wissen, was meine Studien machen. Die Collation des römischen codex ist in meinen Händen. Die Pariser wird jeden Tag erwartet. Ich nehme mir sehr viel Zeit. Denn vor Erledigung des Kriegs ist an keine Herausgabe zu denken.8 Viel Freude erlebe ich an unserem philolog. Verein.9 Nun noch eine Anfrage, lieber Wilhelm. Ich habe für meinen Theognis10 noch manches auf der Berliner Bibliothek zu thun. Dazu wäre es mein Wunsch etwa die letzte Woche des Semesters in Berlin zuzubringen. Könntest Du mich vielleicht logiren? Schreibe mir doch einmal ganz offen Deine Meinung. Ich würde mich sehr darauf freuen mit Dir zusammen einmal eine Woche lang leben zu können: ein Vergnügen, was mir lange nicht mehr zu Theil geworden ist. Unser Gustav11 also ist auch Krieger. Gersdorff steht in Spandau als Avantageur.12 Deussen ist horribile dictu:13 Theolog in Tübingen. Bewahre mir auch fernerhin Deine Liebe Dein treuer Freund F W. N. 1. See GSA 101/376 (unavailable). Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and also reproduced two photos: a photo taken at the 1871 Leipzig Trade Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche; and a photo taken in Basel in 1871 by Friedrich Hermann Hartmann. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
Leipzig, 12. Juli 1866: Lieber Freund, Du hast wohl eine schleunigere Beantwortung Deines Briefes1 und auch mit Recht erwartet. Aber ich war ein paar Tage verreist2 und komme also erst heute dazu, Dir meinen Dank und meine Freude über Deinen Brief auszusprechen. Wie schnell laufen jetzt die Ereignisse. Was liegt zwischen dem Tage Deines Schreibens und dem heutigen für eine Fülle von Erlebnissen,3 von großen freudigen Erlebnissen. Ich kann nicht abstreiten, daß ich in den Wochen der böhmischen Aktion mit der lebhaftesten Besorgniß Deiner Brüder4 gedachte; nun habe ich jetzt von Deinem ältesten Bruder Nachricht. Er ist verwundet, am Kopf, aber nicht schwer.5 Dagegen ist mir von einem Soldaten, der hier im Lazareth liegt, über seine massive Tapferkeit berichtet worden, daß ich mich auch in Deine Seele hinein sehr gefreut habe. Der Soldat sagte, sie hätten seinem Ungestüm gar nicht nachkommen können; er sei immer vorweg gewesen und sei im Kampfe mit Dreien durch einen Säbelhieb verwundet worden. Das wird für Dich eine schwere Zeit der Aufregung gewesen sein. Aber stolz müssen wir sein, eine solche Armee zu haben, ja sogar — horribile dictu6 — eine solche Regierung zu besitzen, die das nationale Programm nicht bloß auf dem Papiere hat, sondern mit der größten Energie, mit ungeheurem Aufwand an Geld und Blut, sogar gegenüber dem französischen großen Versucher Louis le diable,7 aufrecht erhält. Im Grunde ist jede Partei, die diese Ziele der Politik gutheißt, eine liberale, und so vermag ich auch in der bedeutenden conservativen Masse des Abgeordnetenhauses nur eine neue Schattirung des Liberalismus zu sehen. Denn ich vermag nicht zu glauben, daß diese Männer sämmtlich nur Regierungsmänner sind, Leute, die blindlings jeder regierenden Gewalt sich anschmiegen und etwa 6 Monate vorher in Östreich den Hort der conservativen Interessen erblicken, 6 Monate später aber einem nationalen Krieg gegen dasselbe die Mittel bewilligen. Es schadet aber gar nichts, wenn der Name "conservativ" für unsre Regierungsform beibehalten wird. Für die Einsichtigen ist es ein Name, für die Vorsichtigen ein Versteck, endlich für unsern vortrefflichen König8 eine Art Tarnkappe, die ihm selbst seine Augen verhüllt und ihn auf seinen freisinnigen und erstaunlich kühnen Pfaden ruhig weiter gehen läßt. Immerhin kommt jetzt erst, wo das Ausland sich auf das bedenklichste einzumischen9 beginnt, die große Prüfezeit, die Feuerprobe für den Ernst des nationalen Programms. Jetzt muß man erkennen, wie viel unter dieser Firma sich an rein dynastischen Interessen verbirgt. Ein Krieg gegen Frankreich muß ja eine Gesinnungseinheit in Deutschland hervorrufen; und wenn die Bevölkerungen eins sind, dann mag sich Hr. v. Beust sammt allen mittelstaatlichen Fürsten10 einbalsamiren lassen. Denn ihre Zeit ist vorbei. Niemals seit 50 Jahren sind wir der Erfüllung unsrer deutschen Hoffnungen so nahe gewesen. Ich beginne allmählich zu begreifen, daß es doch wohl keinen andern, milderen Weg gab, als den entsetzlichen eines Vernichtungskrieges. Die Zeit ist noch nicht fern, wo die Ansicht von Corssen "daß nur auf Oestreichs Trümmern sich die deutsche Zukunft erbaue" für entsetzlich roth galt. Nun zertrümmert sich aber so ein altes Gebäude nicht so leicht. Mag es noch so baufällig sein, so wird es doch immer "gute und getreue" Nachbarn11 geben, welche es stützen; es könnten ja ihre eignen Häuser bei seinem Sturz einen Schaden erleiden. Dies angewandt auf unsre europäischen Zustände ist die napoleonische Lehre vom Gleichgewicht, einem Gleichgewicht, wo das Centrum in Paris liegen soll. An dieses Centrum appelirt das bedrängte Östreich. Und so lange in Paris das Centrum ist, wird es in Europa im Ganzen beim Alten bleiben. Es wird also unsern nationalen Bestrebungen nicht erspart bleiben, europäische Zustände umzuwälzen, jedenfalls ihre Umwälzung zu versuchen. Mißlingt es, so haben wir beide hoffentlich die Ehre, von einer französischen Kugel getroffen auf dem Kampfplatz zu fallen. Nach diesen allgemeinen Betrachtungen, die jetzt übrigens ein Jeder anstellt, komme ich auf die Leipziger und schließlich auf meine Zustände. Du hast hoffentlich im Daheim die zwei ausgezeichneten Bilder gesehen "preußische Kriegsknechte mit den Töchtern des Landes verkehrend," Scenen aus dem Pleißenburghofe, wie sie die Wirklichkeit jeden Abend bietet.12 Das ist eine Illustration unsrer Leipziger Verhältnisse. Man ist nun einmal hier eines lebhaften Hasses wie einer lebhaften Zuneigung nicht recht fähig. Aber gemüthlich ist man unter allen Umständen und man fügt sich. Ich habe mich bei einem Soldaten Deines Regiments nach Deinem Herrn Schwager13 erkundigt und mir von Spandau erzählen lassen. Eine Erholung seltner Art haben wir hier inmitten der aufregendsten Ereignisse gehabt, das ungewöhnlich lange Gastspiel der Hedwig Raabe,14 die vom Leipziger Publikum als "blonder Engel" förmlich angebetet wird. Ihren Gipfelpunkt erreichte die Freude, als sie mit Devrient15 zusammen in der Waise von Lowood16 auftrat. Sie lebt übrigens seit einiger Zeit bei einer ihr befreundeten Familie in Gohlis und zwar bei niemand anderem als meinem Onkel.17 Ich ärgere mich gewaltig, daß ich im vorigen Winter diese Familie so vernachlässigt habe. Ich ertrage es jetzt als eine Strafe meiner ungeselligen Gesinnung. Nun wirst Du auch wissen wollen, was mein Theognis18 macht. Vor 2 Wochen bekam ich die römische Collation, vorgestern kam ich Nachts von einer Reise zurück und fand einen Brief von Ritschl vor mit der Notiz: "Theognidea Parisina praesto sunt teque expectant."19 Ich holte sie mir denn am folgenden Mittag ab und erfuhr dabei Wichtiges. Zwei Gelehrte nämlich beabsichtigen eine neue Ausgabe des Theognis, dessen gesammte codd. sie neu verglichen haben. Also periculum in mora.20 Ritschl empfahl mir also einstweilen von einer Ausgabe abzustehn und meine Ergebnisse möglichst schnell in Form eines Aufsatzes drucken zu lassen.21 Er bot mir dazu das rheinische Museum für Phil[ologie] an. Ich bin über diese Wendung sehr glücklich. Denn ich hatte schon den ganzen Plan aufgegeben und wußte doch nicht recht, wie ich mich meiner Verpflichtungen gegen Ritschl entledigen sollte. So ist es vortrefflich. In 3 Wochen muß der Aufsatz fertig sein. Dann wird er, wie Ritschl versprochen hat, sehr schnell gedruckt. Dann habe ich die Hand für nächstes Semester frei und brauche nicht in Leipzig zu bleiben. Uebrigens ist Ritschl jetzt liebenswürdiger als je und hat mir auch z.B. im Vertrauen mitgetheilt, daß meine Aufstellung der codicesgruppen auch nach den neuesten Untersuchungen sich durchaus bestätige. Jetzt will ich Dir noch von Papa Deussen einiges mittheilen, der Dir seine Grüße sendet.22 Woher? aus Tübingen. Als was? Als theologus und zwar als unwiderruflicher. Ich schrieb ihm einen Brief23 mit den triftigsten Gründen. Aber es scheint bei ihm Sache des Willens zu sein, da wirken die Gründe nicht mehr. Er schrieb mir z. B. "ich sollte ihm folgende Möglichkeiten widerlegen: es könnte ja doch einen Gott geben, dieser Gott könnte sich doch offenbart haben, diese Offenbarung könnte ja in der Bibel enthalten sein."24 Heiliger Brama! Wenn man seinen Lebenslauf bestimmen soll auf drei solche Möglichkeiten hin! Und die soll ich noch widerlegen! Nun lebe recht wohl. Niemals habe ich so viel Deiner gedacht wie jetzt — schon weil ich trotz meiner vielen Bekanntschaften etwas vereinsamt bin — aber ich fürchte, daß ich die nächste Zeit fortwährende Besorgnisse für Dich haben muß. Mich will man nicht zum Soldat haben. Theile mir doch, wenn Du zur Armee abgehst, es ganz kurz mit. Meine Adresse ist, wie immer, Elisenstr. 7. Ich soll Dir auch noch von Brockhaus25 viele herzliche Grüße sagen, ebenso vom Vetter.26 Zum Schluß unser beiderseitiges Motto: Dein Freund F W. N. 1. Spandau, 06-26-1866: Letter from Carl von Gersdorff to Nietzsche in Leipzig.
Leipzig, 15. August 1866: Lieber Freund, da ich schlechterdings nichts Bestimmtes weiß, ob Du noch in Spandau weilst oder glücklich mit dem größten Theile Deines Regiments in Nürnberg1 angelangt bist: so will ich annehmen, was ich Dir wünsche, nämlich das Letztere und meinen Brief ruhig nach Nürnberg transportiren lassen. Findet er Dich dort nicht auf, so mag er eine Rückreise nach Leipzig und von hier nach Spandau antreten. Der Brief wird eben so wenig wie Du selbst darüber unglücklich sein, daß er das liebenswürdige Nürnberg gesehen und kennen gelernt hat. Im Grunde muß Deine Lage jetzt beneidenswerth sein; Du hast es vortrefflich erreicht, zwar nicht Heldenthaten zu verüben — soweit die Zeitungen darüber richtig melden — aber doch eine kräftige militärische Spritzfahrt in ein feindliches, außerordentlich angenehmes Land mit zu machen. Zudem sollt Ihr Euch in Nürnberg sehr wohl fühlen, die Bevölkerung soll zuvorkommend sein, die Zeitungen berichten von Conzerten, die Euer Regiment giebt, mit abscheulichen, aber wenigstens recht preußischen Programmen, wie ich deren eins im Schützenhause gehört habe;2 als bei welchem ich Dich zu treffen hoffte. Gleich zu Anfang meines Briefes will ich Dich nun einladen, nächstes Semester doch ja wieder in Leipzig zu verleben. Du kannst ja als preußischer Soldat "zum Staunen der Bürger und Bürgerfrauen" auch hier fortdienen;3 ich hoffe wenigstens, daß das in Deiner Hand stehen wird. Daß es sich in Leipzig behaglich leben läßt, hast Du auch erfahren; für ein besseres, von gewissen Schrecknissen freies Logis würden wir zusammen sorgen. Ich für meinen Theil bleibe noch hier aus allen möglichen Gründen, die Dir am Schlusse des Briefes ganz deutlich sein werden. Die reinen Sachsen beginnen schon wieder recht üppig zu werden; man weiß leider Gottes, daß die Integrität der Landesgrenzen gewahrt wird und beginnt mit voller Lunge auf Preußen zu schimpfen. Unerträglich ist mir besonders das leise Verdächtigen, das ironische Bezweifeln preußischer Bestrebungen. Die Menschen können eben so wenig hassen wie lieben; aber "Beust ist ein großer Mann!"4 Was man von preußischen Sympathien in Sachsen spricht, gilt doch sehr ausschließlich nur von einer politischen Partei, die Biedermann5 mit seiner deutschen Allgemeinen und Freitag6 mit den Grenzboten vertreten. Die Landescommission hat wirklich das Land hinter sich; was ich zuerst nicht glauben wollte. Sie hat jetzt die Treitzschkesche [sic] Schrift7 verboten trotz des entschiedenen Widerstandes von Seiten des preußischen Civilcommissars. Ein Buchhändler brüstet sich damit, daß eines Tages Hr. von Glycinsky, der Stadtcommandant, in Civilkleidung bei ihm erscheint, die Schrift verlangt und recht gründlich abfällt.8 Bei Kintschy9 ist jetzt ein förmliches preußisches Heerlager alle Nachmittage; der alte Kintschy immer voran. Aber anderswo z. B. bei Mahn10 hört man die abscheulichste sächsische Kannegießerei, besonders von solchen, die unpartheiisch erscheinen wollen und doch mit wahrer Gier alles irgendwie Preußen Nachtheilige zusammenscharren. Deshalb komme nur her als preußischer Leutnant; dann sind wir doch wenigstens in unserem Dunstkreis vor solchen Gesprächen sicher. Zum Besten für die Verwundeten usw. hat der Riedelsche Verein ein großartiges Conzert in der Nikolaikirche gegeben, das über 1000 Thl. eingebracht hat. Frau Flinsch, Frau Krebs-Michalesi, Hr. Auer aus Düsseldorf, usw. waren die Solisten.11 In den Todtenlisten habe ich auch einen mir sehr lieben Namen wahrgenommen. Ich habe Dir wohl öfter von meinem ersten Obergesellen,12 dem ich sehr viel verdanke, erzählt, Krämer, der zuletzt Sek.leutnant und Adjutant im 72 Reg. war; er fiel bei Sadowa.13 Solche Verluste von so edelherzigen und intellegenten Menschen wiegen nicht 10 Oestreicher auf. Die napoleonischen Befürchtungen14 der letzten Tage haben überall eine, wie ich hoffe, unverdiente Aufregung hervorgerufen. Immerhin bleiben noch genug Nüsse übrig, die unser Minister15 mit seinem kräftigen Gebiß knacken mag. Befürchtungen von jener Seite könnten am Ende das begonnene Einigungswerk am schnellsten zu Stande bringen. Unsre Thronrede,16 die gerade in der Stunde vor dem Riedelschen Conzert erschien hat auf mich wie auf viele einen sehr wohlthuenden Eindruck gemacht. Ich war ganz entzückt, sang in der Kirche noch einmal so schön und dachte sehr optimistisch über Preußens und Deutschlands nächste Zukunft. Aber diese fürchterliche Kreuzzeitung hat mir den Magen verdorben, und dazu die Rede von Senfft-Pilsach. Jetzt soll gar das Wort "Indemnität"17 so viel bedeuten wie "Erklärung der Continuität"; da sträuben sich meine moralischen so wie philologischen Haare. Lieber Freund, es ist zwar rein egoistisch, aber Du wirst es begreifen, wenn ich ganz besonders Dich bitte nach Leipzig wieder zu kommen. Mit wem in aller Welt soll ich mich jetzt aussprechen? Die Masse der Bekannten thuts wahrlich nicht; es sind viele liebenswürdige und verständige Menschen darunter, aus denen ich besonders Kleinpaul18 heraushebe. Aber die Zeit, wo man schnell Freundschaften — was doch viel mehr sagen will — schließt, ist für mich vorüber. Lieber lebe ich da etwas einsam und schreibe Briefe an meine wirklichen Freunde, in denen ich sie bitte nach Leipzig zu kommen. Auch auf Deussen will ich noch versuchen brieflich einzuwirken.19 Nach dem wir uns zweimal geschrieben20 hatten, brachte sein letztes Schreiben21 das Bekenntniß, "er habe einen dummen Streich gemacht." Kant und Schopenhauer haben ihm zu dieser Einsicht verholfen. Wie vielen haben sie nicht schon geholfen! Trotzdem will er sein Joch bescheiden zu Ende tragen; was ich gar nicht verstehe. Er will nämlich nach seinem ersten theologischen Examen zur Philologie zurückkehren. Nein, nein. Er muß nächstes Semester nach Leipzig kommen und in unsern philologischen Verein eintreten. Dieser Verein22 nämlich gedeiht vortrefflich. Ich halte streng an dem Grundsatz, bei der Aufnahme neuer Mitglieder möglichst hart zu sein und auf keine äußeren Vorzüge, etwa Liebenswürdigkeit und dergl. Rücksicht zu nehmen. Die Leute sollen etwas wissen und besonders wissensbegierig sein. Zu unsern neuen Mitgliedern gehören Rohde, Heinemann, Cron, alle drei der Ritschlschen Societät23 angehörig. In dieser existirt jetzt mancher Schund, wie mir erzählt wird, unter anderen ein unverbesserlich dummer Namensvetter,24 mit dem verwechselt zu werden ich hier und da das Unglück habe. Unser Verein ist jetzt öffentlich anerkannt; neulich haben wir Ritschl, dem geistigen Erzeuger des Vereins, unser Gesammtbild25 zum Geschenk gemacht. Nun wirst Du wissen wollen, wie es mit meinem Theognis geht. Gut. Ich danke schön. Zwei Drittel der Arbeit26 sind fertig in Ritschls Händen, am letzten arbeite ich und denke in wenig Tagen fertig zu sein.Ritschl war sehr zufrieden mit dem, was ich ihm brachte, es hätte alles Hand und Fuß. Nach ihm will es auch W. Dindorf27 durchlesen, mit dem ich jetzt in Geschäftsverbindung trete. Jetzt kommt eine neue Geschichte, lieber Freund, die aber ganz geheim gehalten werden muß. Ritschl fragte mich neulich, ob ich wohl gewillt wäre auch einmal etwas für Honorar zu arbeiten. Ich antwortete: warum nicht, wenn es was ordentliches dabei zu lernen giebt. Es handelt sich also um ein Lexicon zum Aeschylos28 von dem Standpunkte der jetzigen Philologie aus. Lexica schreiben ist keine Wollust; aber denke, was man bei Aeschylos gerade lernen kann, wie man genöthigt ist den ungeheuren und höchst gediegenen Apparat durchzuarbeiten. Gestern Abend war ich also bei W. Dindorf, der die Sache arrangirt. Zunächst also soll ich eine Anzahl Probeseiten machen, wie Dindorf sagte, um zu sehn, wie groß ungefähr das Buch wird, in Wirklichkeit, um zu sehn, was ich kann, besonders ob ich methodisch verfahre. Das ist nun eine hübsche Probe, vor der ich mich nicht zu sehr fürchte. Vielleicht weil ich die Schwierigkeiten noch nicht kenne. Nach den Ferien bringe ich ihm die Paar Seiten, die ich recht mit Muße ausarbeite, und dann stellt er mir sein ganzes Material zu Gebote, damit ich dann aus vollem Zeuge arbeiten kann. Darunter sind, worüber ich ganz glücklich bin, auch die einzigen vollständigen Collationen des cod. Mediceus, um den sich die ganze Aeschyloskritik dreht. Was die Größe des Buches anbetrifft, so schätzte es W. Dindorf ungefähr auf 60 Bogen. Das würden also 2 Bände jeder zu c. 500 Seiten. Verleger ist Teubner. Ritschl meinte, daß die Arbeit sehr gut bezahlt würde. Doch das verstehe ich nicht, bevor ich nicht weiß, wie viel Zeit und Mühe dazu nöthig ist. Nicht wahr, das sind neue Aussichten? Im Grunde habe ich hier und da einmal Glück. Ritschl sorgt doch sehr liebenswürdig dafür, daß ich etwas lerne, und in einer Art, wie es mir wohl behagt. Die Bekanntschaft mit Dindorf ist ebenfalls sehr zu schätzen: er hat mir schon von codd. erzählt, die er besitzt und die er mir später zeigen will. Er ist ein großer Börsenspekulant und überhaupt ein schlauer Mann. In Geldgeschäften werde ich mich hüten selbständig zu verhandeln; das muß alles Ritschl besorgen. — Die theatralischen Genüsse Leipzigs dauern fort. Jetzt ist Frau Niemann-Seebach29 da. Ich habe sie schon als Gretchen30 gesehn und bin erschüttert worden, wie wohl nie; dann als Julie31 in Romeo usw., heute hoffe ich sie als Maria Stuart32 zu bewundern. Schließlich habe ich Dir zu sagen, was füglicher am Anfang gesagt sein würde. Ich sage Dir meinen herzlichsten Dank für Deinen letzten so inhaltsreichen und freundschaftlichen Brief.33 Mag alles was Du wünscht in Erfüllung gegangen sein! Wenn Du einmal etwas Zeit hast, so schreibe mir doch, aber sende den Brief nach Naumburg, wohin ich nach Beendigung meiner Theognisarbeit abreisen will[.] Lebe recht wohl und gedenke 1. For details about Carl von Gersdorff's service in the Austro-Prussian War, see his letters to Nietzsche dated mid-July 1866 and 08-17-1866.
Naumburg, Ende August 1866: Lieber Freund, "die Post hat keinen Brief für mich?"1 wirst Du oft in Verwunderung gefragt haben. Aber sie hat einen von mir, die abscheuliche Post und hat ihn Dir nicht herausgerückt. "Sei still, mein Herz!"2 Je länger der Zeitraum ist, in dem Du von mir nichts erfahren hast, je größer Dir mein Undank erscheinen muß, als welcher auf Deinen vorletzten ebenso herzlichen wie gedankenreichen Brief keine Zeile der Antwort zurückerstattete — weil nämlich die Nürnberger Feldpost meinen Brief verschlungen hat, ohne ihn wieder von sich zu geben — um so mehr fühle ich das Bedürfniß, das, was die Post verschuldet hat, wieder gut zu machen und mich also von dem scheinbar sehr gerechten Vorwurfe des Undankes zu entlasten. Es ist sehr bitter, Dich im Felde zu wissen,3 verstimmt durch fehlgeschlagne Pläne, durch wenig behagliche Umgebung, durch geisttödtende Bewegungen und endlich gar durch die Nachlässigkeit eines Freundes. Denn nicht anders mußte es Dir erscheinen. Genug ich erröthe, wie man öfters erröthet, ohne sich schuldbewußt zu fühlen, in dem Gedanken, man könne irgendwodurch in der Meinung andrer, vorzüglich lieber Menschen sinken. Deine Briefe waren meinem subjektiven Gefühle nach mit das angenehmste, was der Sommerfeldzug erzeugt hat. Wie ganz anders nimmt sich ein von Freundeshand geschildertes Ereigniß, selbst kleiner Art, aus, als irgend welche Großthaten, über denen der häßliche Dunst des Zeitungspapiers sich lagert. Leider kann ich von meinen Erlebnissen nur weniges und dazu kleinliches mittheilen. Meine Arbeit4 ist fertig in Ritschls5 Händen: ich habe sie in drei Theilen zu Stande gebracht und bin so lange in Leipzig geblieben, bis ich den letzten Strich (meine Namensunterschrift) gemacht hatte. Nie habe ich mit solcher Unlust geschrieben; ich habe schließlich den Stoff in der einförmigsten Weise abgehaspelt: doch war Ritschl mit einem Theile, den er gelesen hatte, recht zufrieden. Im Oktober wird es wohl erscheinen. Ritschl will die Arbeit aufmerksam durchlesen, auch Wilhelm Dindorf6 hat sich die Erlaubniß ausgebeten. Mit letzterem trete ich wahrscheinlich in Geschäftsverbindung. Er hat mir durch Ritschl den Antrag machen lassen, ob ich ein Aeschyloslexicon nach dem neuesten Standpunkte der Aeschyloskritik ausarbeiten wolle. Natürlich für gutes Honorar. Ich habe mir überlegt, daß ich dabei viel lernen kann, daß ich mit Aeschylos recht intim vertraut werde, daß ich die Dindorfsche (unter Deutschen Gelehrten einzig vollständige) Collation des cod. Mediceus in die Hände bekomme, daß ich bequeme Gelegenheit, ja Nöthigung habe, mir ein Stück, etwa die Choephoren, zu einer zukünftigen Vorlesung vorzubereiten und bin nach allen diesen Ueberlegungen darauf eingegangen. Nur muß ich erst meine Befähigung dazu nachweisen, indem ich einen Probebogen in diesen Ferien auszuarbeiten habe. Uebrigens ist eine solche Arbeit bei Aeschylos gerade nicht uninteressant; man ist genöthigt fortwährend strengste Kritik zu üben gegen die Unzahl von Conjekturen. Dindorf veranschlagte das Buch mindestens auf 60 Bogen. Nach den Ferien trete ich mit [der Verlag] Teubner — falls ich angenommen werde — in Geldunterhandlungen. Ritschl ist immer freundlicher gegen mich. Folglich bleibe ich auch nächstes Semester in Leipzig, wo es mir, alles gerechnet, vortrefflich behagt. Sollte es Dir nicht möglich sein, in Leipzig fortzudienen? Ich wäre darüber sehr glücklich, denn Du fehlst mir ganz besonders. Zwar habe ich jetzt viel Bekannte, aber keinen, mit dem ich so viel gemeinsame Vergangenheit und Gegenwart habe als mit Dir. Vielleicht kann ich auch den alten Deussen noch bewegen, nach Leipzig zu kommen; er schrieb mir neulich, er sehe jetzt vollkommen ein, daß er einen dummen Streich gemacht habe. "Spät kommst Du, doch Du kommst" nämlich die Erkenntniß über das theologische Studium. Er will Tübingen verlassen die Wahl einer Universität ist ihm gleichgültig, weil er für seine Theologie, deren Joch er bis zu Ende (nicht dem aller Dinge, sondern bis zum ersten Examen) tragen will, nirgends viel zu finden hofft. Vielleicht ist er auch jetzt noch einmal zu einer "Umkehr" zu bestimmen. Die Philologie wird sich immer freuen, wenn der lange verlorne Sohn, der sich mit den Träbern der Theologen gemästet hat, zurückkehrt, und die Sprachvergleichung besonders darf schon zu Deussens Ehren ein Kalb schlachten.
Unser philologischer Verein blüht: neulich hat er sich photographieren lassen und Ritschl ein Bild verehrt zu dessen großer Freude. Rohde ist jetzt auch ordentliches Mitglied, ein sehr gescheuter, aber trotziger und eigensinniger Kopf. Bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern wirke ich dafür, daß mit möglichster Strenge und Sichtung verfahren wird. Hr. v. Voigt7 hat nicht die Ehre gehabt, aufgenommen zu werden. Die letzten Wochen waren in Leipzig sehr interessant. Der Riedelsche Verein gab in der Nikolaikirche ein Conzert zum Besten der Verwundeten. Das Gedränge war an allen Kirchenthüren, wie am Theater, wenn die Hedwig Raabe8 spielte. Wir haben eine Einnahme von mehr als 1000 Thl. gehabt. Eine halbe Stunde vor Beginn des Conzertes kam das Telegramm der Thronrede nach Leipzig: ich bin nie über eine That unseres Königs so glücklich gewesen, wie über diese versöhnliche, unzweideutige Rede. Die alten Parteilager sind jetzt gänzlich verwüstet dh. die extremen Standpunkte. Männer wie Treitzschke [sic] und Roggenbach9 sind plötzlich die Vertreter der allgemeinen Meinung geworden. Ein großer Theil der sogenannten Conservativen z. B. der Rath Pinder in Naumburg10 schwimmt lustig in dem neuen Fahrwasser. Es ist auch für mich — offen gestanden — ein seltner und ganz neuer Genuß, sich ganz einmal im Einklang mit der zeitweiligen Regierung zu fühlen. Zwar muß man verschiedne Todte ruhen lassen, außerdem sich deutlich machen, daß das Bismarksche11 Spiel ein überaus kühnes war, daß eine Politik, welche va banque zu rufen wagt, je nach dem Erfolg ebenso verflucht wie angebetet werden kann. Aber der Erfolg ist diesmal da: was erreicht ist, ist groß. Minutenlang suche ich mich einmal von dem Zeitbewußtsein, von den subjektiv natürlichen Sympathien für Preußen loszumachen und dann habe ich das Schauspiel einer großen Haupt- und Staatsaktion,12 aus solchem Stoff, wie nun einmal die Geschichte gemacht ist, beileibe nicht moralisch, aber für den Beschauer ziemlich schön und erbaulich. Du wirst wohl die Schrift über die Zukunft der Mittelstaaten von Treitzschke [sic] gelesen haben.13 Mit großer Mühe habe ich sie mir in Leipzig verschafft, wo sie wie überhaupt in Sachsen — proh pudor — verboten war. Dagegen haben unsre Gesinnungsgenossen, die Freitage, die Biedermänner usw.14 ein Votum der sächsischen liberalnationalen Partei erzielt, das sich für unbedingte Annexion ausspricht. Dies würde auch meinen persönlichen Interessen das dienlichste sein. Hoffentlich ist König Johann15 starrköpfig genug, Preußen zur Annexion zu zwingen. Schließlich soll auch Schopenhauer noch erwähnt werden, an dem ich noch mit vollster Sympathie hänge. Was wir an ihm haben, hat mir kürzlich erst eine andere Schrift recht deutlich gemacht, die in ihrer Art vortrefflich und sehr belehrend ist: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung für die Gegenwart von Fr. A. Lange. 1866.16 Wir haben hier einen höchst aufgeklärten Kantianer und Naturforscher vor uns. Sein Resultat ist in folgenden drei Sätzen zusammengefaßt:
Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe.18 Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen? —19 Du siehst, selbst bei diesem strengsten kritischen Standpunkte bleibt uns unser Schopenhauer, ja er wird uns fast noch mehr. Wenn die Philosophie Kunst ist, dann mag auch Haym20 sich vor Schopenhauer verkriechen; wenn die Philosophie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens keinen Philosophen, der mehr erbaut als unser Schopenhauer. Damit lebe heute wohl, lieber Freund. Ueberlege Dirs, ob Du nicht nach Leipzig kommen kannst. Jedenfalls aber theile mir mit, wann und wo wir uns treffen können. Denn allzugern möchte ich Dich einmal sehen, was in Leipzig mir nicht zu theil wurde, da Ihr Euch so schnell wieder aus der Umgebung von Leipzig verzoget. Doch habe ich die Musik Deines Regiments gehört, etwas unklassisch, und besonders viel Afrikanerin.21 In Pforte bin ich noch nicht gewesen. Volkmann ist glücklich verheirathet.22 Deine Grüße werde ich treulich ausrichten. Meine Angehörigen lassen sich Dir bestens empfehlen und versichern Dich Ihrer Theilnahme. Adieu, lieber Freund, Dein F W. Nietzsche. 1. Cf. Wilhelm Müller, "Die Winterreise." "Die Post." In: Lieder des Lebens und der Liebe. Herausgegeben von Wilhelm Müller. Deßau, Ackermann 1824: 85. Set to music for voice and piano by Franz Schubert (1797-1828) in 1827, and published posthumously in 1828 (Op. 89). Piano transcription by Franz Liszt in 1839, and published in 1840.
Kösen, 11. Oktober 1866: Lieber Freund, Du bekommst heute Nachricht über mein einförmiges, zwar für mich durchaus nicht langweiliges, aber doch für das Auge des objektiven Beschauers herzlich trocknes und interesseloses Leben. Im Grunde ist nur der Mangel an mittheilbaren Stoff die Veranlassung, daß Dein letzter Brief,1 wie alle Deine Briefe für mich ein freudiges Ereigniß, so lange unbeantwortet blieb. Ich bin diese Ferien nicht verreist, sondern sitze in arbeitsamer Einsamkeit in Kösen, das meine Mutter und ich, um der Naumburger Cholera zu entgehen, seit vier Wochen bewohnen:2 während meine Schwester sächsischen Verwandten ihre Besuche macht.3 Zwar sind die letzten Tage schwer kalt; ich schreibe Dir im Überrock, mit einer Decke über meine Füße, da unser Zimmer keinen Ofen hat; doch hat dieser Zustand schon Sonnabend4 sein Ende, wo wir wieder nach Naumburg zurückkehren. Abgesehen von diesen letzten, kalten, nebeldichten Herbsttagen haben wir uns nur über liebenswürdig helles und warmes Wetter zu freuen. Einige Nachmittage waren so mild und sonnig, daß ich unaufhörlich jener einzigen und unwiederbringlichen Zeit gedenken mußte, wo ich, zum ersten Male vom Schulzwange frei, ohne die Fessel des nicht verbindenden Verbindungslebens, den Rhein mit dem freien stolzen Gefühl einer unerschöpflich reichen Zukunft sah.5 Wie schade, daß ich mich um diese wirkliche Poesie durch jene selbsteignen Qualen brachte, die dem unmündigen Studenten so leicht als Quellen der Freude erscheinen. Bei diesem Rückblick auf vergangne Zeiten bin ich übrigens nicht undankbar gegen die Gegenwart. Meine Wünsche sind im letzten Jahre durch die Wirklichkeit in meheren Punkten überholt worden. Wenn alsbald ein Umschlag eintritt, so darf ich nicht murren, sondern Unglück gegen Glück compensieren. Gerade durch den Gegensatz gegen das Bonnerleben6 ist mir das letzte Studienjahr in Leipzig so lieb. Während ich mich dort unverständigen Gesetzen und Formen fügen mußte, während mir Vergnügungen oktroyirt wurden, die mir widerstanden, während ein arbeitsloses Leben unter leidlich rohen Menschen mich mit tiefer Verstimmung7 erfüllte, hat sich in Leipzig unvermuteter Weise alles umgekehrt. Angenehme, liebe, freundschaftliche Beziehungen, unverdiente Bevorzugung von Seiten Ritschls, eine Anzahl mitstrebender Studiengenossen, gute Wirthsleute, gute Conzerte usw., wahrhaftig, hinreichend, um mir Leipzig zu einer sehr lieben Stadt zu machen! Daher kannst Du Dir mein Vergnügen vergegenwärtigen, als ich kürzlich im muthigen Ritter8 das Leipziger Tageblatt fand. Dies studiere ich täglich und eifrig, überlese die Speiselisten, die Conzertanzeigen, die Recensionen von Dr. E[mil] Kn[eschke],9 die Choleralisten,10 all' die kleinen Zänkereien und Streitigkeiten, deren Organ jenes Blatt ist. Beiläufig erwähne ich, daß der Philosoph Leipzigs, Weiße,11 sowie der Aesthetiker, Flathe,12 auch jener Seuche zum Opfer gefallen sind, ebenso der Weinhändler Dähne.13 Vom alten Rohn bekam ich neulich einen längeren Brief,14 worin er mittheilte, daß er nicht zur Keilschen Auktion15 kommen könnte, weil er sein Geschäft in den Meßtagen "sauber pflegen müßte," außerdem "Vermehrung in nächsten Tagen!" Womit er auf die zu erwartende Bereicherung seiner Familie in nächster Zeit hindeuten wollte. Die besagte Auktion ist auch glücklich ohne ihn vom Stapel gelaufen: die Preise waren sehr hoch, was den Bestrebungen der Calvaryschen Antiquariatshandlung und der Pförtner Lehrer zu danken ist. Letztere nämlich zahlten mitunter höher als der Ladenpreis war, indem sie in den Büchern des ehemaligen Collegen Keil16 sich selbst ehrten. Besonders kaufte Corssen17 für die Pförtner Bibliothek theuer genug. Der Coetus18 kaufte mit Begeisterung die Revolutionslitteratur des alten Keil auf und bot durchweg auf die unnützlichsten Bücher. Ich habe gegen 24 Thl. dabei ausgegeben, unter andern ist der Bernhardysche Suidas19 für 9 Thl. in meinen Besitz gekommen. Wichtiger ist mir diese Auktion dadurch geworden, daß ich einen Dr. Simon, den Socius der Calvaryschen Handlung kennen lernte und mit ihm wahrscheinlich ein großes Geschäft20 machen werde. Ich suche mir für mehere Hundert Thaler nach den umfassenden Catalogen Calvarys aus, und bezahle diese Summe in jährlichen Raten von 60 Thl. Auf diese Art komme ich in den Besitz einer hübschen Bibliothek. Du kannst es würdigen, wenn meine täglichen Gedanken sich längere Zeit auf den Erwerb einer Bibliothek gerichtet haben. Ohne eine solche ist nun einmal all unser philologisches Arbeiten Stückwerk. Mein Theognismanuscript21 habe ich noch einer letzten Revision unterworfen; seit zwei Wochen wird es in der Druckerei sein. Dindorf hat es auch durchgelesen.22 Der Titel ist: "Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung."23 Von Ritschl habe ich in diesen Ferien auch einen sehr freundlichen Brief24 bekommen. Meine lexikalischen Arbeiten25 habe ich mit sehr mangelhaftem Apparat begonnen; die Pförtner Bibliothek und Corssen haben mich unterstützt. Wenn ich nach Leipzig komme und Dindorf meinen Probebogen annimmt, so wird die Arbeit aus vollem Zeug begonnen. Doch lasse ich mich möglichst wenig in anderen Studien stören. Ich will mir vor allem noch die Hauptresultate der Sprachforschung aneignen, um mein Lexicon wirklich vom Standpunkte der modernen Philologie aus schreiben zu können. Es ist so, wie ich Dir neulich schrieb:26 Ritschl findet immer einen hübschen Weg, mich zum Arbeiten zu veranlassen. Du kennst den Dr. Richter;27 er gefällt mir sehr gut, und ich besuche ihn gern. Der arme Mann hat litterarische Gegner, und darunter den höchst groben Lucian Müller.28 In Kürze erscheint eine Ausgabe der Tragödien Senekas29 von ihm, in denen er das bekannte eurhythmische Princip entdeckt zu haben glaubt. Die Urtheile Richters über Pförtner Zustände sind sehr richtig; lange haben wir uns neulich über das Pförtner Lügensystem unterhalten, das ihm die Pforte sehr verleidet und seinem aufrichtigen Wesen sehr zuwider sein muß. Wir können uns aber glücklich schätzen, daß wir noch in den Strahlen der untergehenden Sonne in Pforte gelebt haben. Die große Zeit dieser Anstalt ist völlig vorüber, die bestimmte Richtung einiger Regierungsbeamten,30 die Pforte zu dem Niveau andrer Gymnasien hinunterzudrücken, siegt vollkommen. Auch Peter31 wird es nicht mehr lange aushalten, nachdem jetzt nun auch der beste Lehrer der Anstalt, Corssen, seinen Abschied verlangt und erhalten hat. Vielleicht ist Dir dies eine Neuigkeit, jedenfalls eine schmerzliche. Denn das schöne Bild der Pforte lebt nur noch in unsrer Erinnrung. Was ist Pforte ohne Steinhart und Corssen. Letzterer geht nach Berlin, um dort seine großen Studien im Kreise von gelehrten Freunden fortsetzen zu können. Ich bitte Dich Jedem, der Corssen kennt, zu sagen, daß er nicht fortgeschickt32 worden ist, sondern daß man ihn sehr ungern fortgelassen hat, wenigstens von Seiten des Pförtner Collegiums. Schließlich hat man ihm noch die Herausgabe der Pförtner Alterthümer33 übertragen und ihm dazu 1500 Thl. bewilligt. Auch hat er die Absicht, einige Zeit nach Italien zu gehen.34 Ich freue mich, daß er sehr freudig in die Zukunft blickt. Wenn Du in Berlin sein solltest, so besuche ihn sicherlich. Seine Mutter wohnt Commandant.str. 40. Ueber Politik habe ich heute keine Lust zu sprechen, doch sage ich Dir meinen Dank für Deine Ergießungen im letzten Briefe,35 in denen Du genau meine Ansicht theilst. Übrigens sieht man Zeichen und Wunder allenthalben. Musik habe ich wenig getrieben, da ich in Kösen kein Klavier zur Verfügung habe. Dagegen hat mich der Klavierauszug der Walküre36 von Rich[ard]. Wagner begleitet, über die meine Empfindungen sehr gemischt sind, so daß ich kein Urtheil auszusprechen wage. Die großen Schönheiten und virtutes werden durch eben so große Häßlichkeiten und Mängel aufgewogen. +a+ (—a) giebt aber nach Riese und Buchbinder 0. Jetzt arbeitet derselbe Componist den Zeitungen nach an einer Hohenstaufenoper37 und läßt sich ab und zu vom König,38 "dem holden Schirmherr seines Lebens," wie es in der Widmung39 heißt, besuchen. Es schadete übrigens nichts, wenn der "König mit dem Wagner gienge,"40 (gehen in des Wortes verwegenster Bedeutung), natürlich aber mit anständiger Leibrente.41 Von Deussen höre ich nichts. Er schreibt nicht, deshalb hoffe ich, daß er noch nicht definitiv über nächstes Semester entschieden hat, folglich noch correktionsfähig ist.42 Der Kampf wider die Vorurtheile seiner Mutter43 mag nicht leicht sein. Ich werde mich sehr freuen, wenn er nach Leipzig kommt und ich ihm nach irgend einer Seite hin gefällig sein kann. Nächstes Semester höre ich griech. Grammatik bei Curtius,44 lateinische bei Ritschl,45 dann Paläographie bei Tischendorfs46 Gnaden (codd. lesen versteht er gründlich, und das ist abscheulich schwer). Im Theater ist der junge Wachtel47 als Tenor engagirt, also der Sohn des von uns bewunderten. Die Euterpedirektion ladet zum Abonnement ein und verspricht lauter bekannte Sachen.48 Die Universität hat den Anfang der Collegien drei Wochen lang hinausgeschoben.49 Was die Herren faul sind: Wie freudig sie sich hinter das Banner der Cholera stecken! Mich wird es nicht hindern, am 17 Oktober wieder in Leipzig einzuziehen. Am 13 verlasse ich Kösen und siedle nach Naumburg über. Damit ist heute meine karge Fülle an unbedeutenden Nachrichten bis zur Neige ausgeschöpft, und es bleibt mir nichts übrig als die Grüße zu referieren, die mir aufgetragen sind, die Grüße meiner Mutter, sowie der Pförtner Lehrer, Volckmann50 Corssen, Peter, Koberstein51 usw. Über Deine glückliche Beförderung52 bin ich sehr erstaunt. Ich würde mich nicht wundern, wenn Du auch noch einen Orden erhalten hättest; denn ich kann mir denken, wie gern man Dich als Kriegsmann im Heere zurückhalten möchte. Zu Schluß ein solonisches Distichon,53 was sich zum Motto für Bismar[c]k54 eignet: "Hab einen mächtigen Schild vor beide Parteien gestellt: Steh ich und lass' in Gewalt keiner von beiden den Sieg."55 Dein Freund 1. 09-04-1866: Letter from Carl von Gersdorff in Leipzig.
Leipzig, 31. October 1866: Liebe Mama und Lisbeth, endlich kommt mein Brief und zwar ziemlich inhaltsarm; wenigstens giebt er Euch Gewißheit über mein Leben, wenn ich gleich hoffe, daß Ihr Euch darüber keine Zweifel gemacht habt. Sonst enthält er nichts als was meine Arbeiten betrifft, dergleichen Dinge Ihr zwar nebenbei mit in den Kauf nehmt, aber ungern genug. Unser Kösener Leben,1 sowie überhaupt dieses letzte in Eurer Nähe zugebrachte Vierteljahr,2 ist mir in seiner naiven Harmlosigkeit eine angenehme Erinnerung, vornehmlich deshalb, weil ich gemächlich arbeiten konnte und nicht zu oft mit den unvermeidlichen Vergnügungen der Städter belästigt wurde; als welche in zu engem oder gar gepumpten Fracke einherzugehen pflegen. Hier in Leipzig bin ich wieder in meine alte Ordnung eingetreten oder vielmehr in eine ordentlichere Ordnung als z.B. in diesem Sommersemester, das durch seine kriegerischen Aufregungen auch den Frieden der Studierstube recht unliebsam unterbrach und verwirrte. Besonders bin ich befriedigt darüber, eher hier eingetroffen3 zu sein als die ganze Schaar der "Musensöhne" und die alltäglichen Collegien sich wieder bei einander eingefunden haben. Einige meiner näheren Bekannte, wie Windisch, Roscher, Romundt sind auch schon hier, und so vermisse ich auch den Umgang mit Freunden nicht.4 Dindorf habe ich einen, Ritschl zwei Besuche gemacht und bin von beiden mit sehr viel Freundlichkeit aufgenommen worden. Ich hoffe, daß die Aeschylusangelegenheit5 einen guten Gang nimmt und zwar so, daß ich mir nichts Übermäßiges aufbürde und nicht zu viel Verantwortung trage, dabei aber anständig honorirt werde. Wenn Du Dich erinnerst, liebe M., was ich nach Dr. Simons Vorstellung6 und nach der allgemeinen Sitte von einem Verleger bei dem ersten Werk fordern kann — nämlich gar nichts —, so wird Dir die Summe von c. 500 Thl. ziemlich beträchtlich vorkommen; diese will mir Dindorf bei Teubner durch seinen Einfluß auswirken. Also ungefähr ist der Bogen mit 10 Thl. bezahlt. Dabei ist die Arbeit eine viel leichtere als ich mir vorgestellt hatte und, wie gesagt, auch die Verantwortung ist eine geringere. Einige andre kleinere Arbeiten, wo ich aber mehr mit dem Kopfe leisten muß, als in der Aeschylusarbeit mit der Hand, zeigen sich auch wieder — Dank Ritschl — in der Ferne. Durch die Empfehlung des genannten Mannes habe ich auch jetzt Zutritt zu der Rathsbibliothek Leipzigs7 und zu ihren zahlreichen Handschriftlichen Schätzen. Dort bin ich oft in den Nachmittagsstunden und vergleiche eben einen Codex des 11ten Jahrhunderts.8 Auch die Universitätsbibliothek muß mir täglich Bücher ausspeien, und doch fehlt mir immer so viel. Dindorf verlangt, daß ich eine leidliche Bibliothek besitze dh. er hält es ebenso für nothwendig wie ich selbst. Von Simon habe ich nun Nachricht aus Berlin,9 werde aber doch nicht auf seine Propositionen eingehen. Nämlich: außer den besagten 60 Thl. jährlich sind immer noch die Zinsen der übrigbleibenden Summe nachzuzahlen, so daß ich zwar 500 Thl. Bücher sogleich bekomme, diese aber in 12 Jahren mit 720 Thl. c. bezahle: was mir doch zu unpraktisch vorkommt, wie ihm übrigens selbst. Dagegen wirst Du, sowie der Vormund10 nichts dagegen haben, wenn ich mir in Hinblick auf die zu erwerbenden 500 Thl. etwa für 60 Thl. die nötigsten Bücher zulege. Worüber ich nächstens an ihn schreiben werde. Aus Pforte habe ich noch keine Nachricht:11 Du wirst mir einen Gefallen thun und einmal an Schenk12 schreiben: "er möge zu dem Hausverwalter gehen, ihm sagen, daß mir kein Schreiben aus Pforte zugekommen wäre, daß ich zu wissen wünschte, was ich ihm zu schicken hätte, wenn ich das betreffende Stipendium13 bekommen sollte." Zuletzt bitte ich Euch, in Betreff meiner Angelegenheiten gegen jedermann stumm zu sein; auch gegen solche, die zum Theil etwas davon wissen. Ich studiere in Leipzig, und es geht mir leidlich: dies beides ist kein Geheimniß, und Ihr dürft es sagen. Ebenso daß der grünweiße Patriotismus14 in Sachsen blüht, daß grünweiße und schwarzrothgoldne Fahnen15 an den Häusern flattern und neulich die ersten sächsischen Truppenzüge von vielen Tausenden auf dem Bahnhofe empfangen wurden.16 "Jetzt haben wir zwei Könige"17 sagt der gemeine, aber aufgeklärte Mann, während andre gemeine ungeklärte Männer schon wieder wedeln und kriechen und Hymnen auf ihren Johann den Seifensieder18 singen. Wegen letzterer Äußerung könnte ich übrigens der Majestätsbeleidigung beschuldigt werden. Es lebe der Rautenkranz mit den preußischen Raupen darin! Euer Friedrich Nietzsche, als Sohn 1. They stayed in Bad Kösen (about 4 miles east of Naumburg) from 09-15-1866 to 10-13-1866 due to the 1866 cholera pandemic.
Leipzig, November 1866: Lieber Freund, Dein vortrefflicher letzter Brief, mit dem Du meinen Geburtstagstisch2 schmücktest, war der einzige, der meine Freunde vertrat und erinnerte mich recht lebhaft an die vielen Stunden der Anregung, der Erhebung und der innerlichen Freude, die ich ihnen so reichlich schulde: und wenn er mir gerade Dein Bild am deutlichsten vor die Seele rief, so liegt die Ursache dazu sehr nahe. Zugleich empfieng ich durch Deine Güte die erbetenen Programme,3 aus denen ich immerhin einiges gebrauchen kann: im Allgemeinen muß man ja diese aeschyleischen Arbeiten solcher Art sehr vorsichtig aufnehmen, da sich unter hundert kaum zwei und 98 befinden.4 Heute habe ich Dir etwas andres vorzulegen. Es wäre mir nämlich sehr interessant, über folgende Stellen des Properz5 sowohl Deine als Haupts6 Ansichten zu hören, und zwar wenn es Dir paßt, recht bald. III 25, 17 (nach der Hauptischen Ausgabe7 citirt) Worauf es ankommt, wirst Du wissen und ich füge deshalb kein Wort hinzu. Ich bin also seit Mitte Oktobers in Leipzig und habe eine Reihe von ruhigen und arbeitsamen Tagen durchlebt. Seit dem 5 t. November10 haben auch die Collegien wieder ihren Anfang genommen, die mir recht ersprießlich zu sein scheinen. Sowohl Ritschls lat. Grammat.11 obwohl von mir schon gehört, als auch Curtius' griechische Grammat. und griech. Lyriker12 haben ihre anziehende Seite; wenn ich noch Tischendorfs Paläographie13 nenne, so weißt Du alles, was ich höre. Außerdem bin ich regelmäßig Montags Mittwochs und Sonnabends in den Nachmittagsstunden auf der Stadtbibliothek,14 wo ich durch Ritschls Verwendung Zutritt zu dem reichen Handschriftenschatze habe. Hier bin ich bis jetzt mit der Collation einer Orosiushdsch15 und eines Terenz aus dem 10t. Jh. beschäftigt gewesen. So beschränkt auch die guten Sachsen in politischer Beziehung sind, und so abscheulich auch die Anfeindungen unsrer Gesinnungsgenossen — der Biedermänner, Freitage16 — sich ausnehmen, freundliche und gefällige Bibliothekare bringt Sachsen hervor; der alte Naumann ist ein Muster von Zuvorkommenheit, wie ebenfalls auf der Universitätsbibliothek sich unser Pückert auszeichnet, den Du ja auch noch kennst. Der "Diskusschwinger"17 ist zu meiner Freude dort nicht mehr sichtbar. Immer mehr gewöhne ich mich an das gute Leipzig und ich fürchte, daß ich nicht so schnell wieder von hier weggehe. Mit welchem Rechte ich das sage, wird Dir am Schlusse des Briefes deutlich sein.
In diesem Winter soll alles Mögliche gethan werden. Insbesondere gedenken wir unserem Verein18 einen besonderen Schwung zu geben, so daß er, wie eine Kugel, noch über einige Semester hinaus fortläuft, die wir, die Gründer, vielleicht nicht mehr in ihm zubringen können. Ich denke viel über eine Erweiterung nach; unser Ziel soll sein "eine Vereinigung aller wirklich strebsamen Philologen in Leipzig." Zu diesem Zwecke haben wir auch 12 Stellen für außerordentliche Mitglieder festgesetzt, und ich habe für meinen Theil besonders eine Anzahl Pförtner dafür in Aussicht. Mein nächster Vortrag19 soll sich auf eine "Theorie der Interpolationen in den Tragikern"20 beziehen; es ist, wie ich meine, nützlich, sich über die einzelnen Species der Interpolation klar zu machen, über die Tragweite einer Jeden, besonders über einige Voraussetzungen, über die interpolatorische Thätigkeit der Schauspieler, über das vielbesprochne Staatsexemplar der Tragiker21 usw. Sodann habe ich mit Romundt22 und zwei Pförtner23 zusammen, die sich alle drei in dem bekannten philologischen Mauserzustande befinden, einen Abend verabredet, an dem wir gemeinsam die Choephor. des Aeschylus lesen und zwar möglichst .24 Wir wissen ja aus eigner Erfahrung, wie lästig jener Zustand ist, wo die Endlosigkeit des Studiums und die augenblickliche Erfolglosigkeit des eignen Arbeitens einem zum Bewußtsein kommt: vielleicht kann man da durch gegenseitige Unterstützung sich etwas nützen. Endlich bin ich auch Mitglied der Ritschlschen Societät25 und zwar zusammen mit beinahe den meisten ordentlichen Mitgliedern unsres Vereines, so daß diese Institute jetzt mit einander fast Hand in Hand gehen. Dort werden wir die Thesmophoriazusen26 lesen, auf die ich mich recht freue. Der alte Ritschl ist jetzt wieder bei Kräften, nach dem er längere Zeit am Halse gelitten hat und auch einmal von der Bibliotheksleiter gefallen ist. Er giebt gegenwärtig eine Sammlung seiner Opuscula27 heraus, von denen der griechische Theil in Kürze erscheinen wird. Man ordnet seine Papiere, wenn man am Ende seines Lebens steht. Zum Schluß muß ich Dir noch eine besondere Liebenswürdigkeit von ihm erzählen. Du weißt, daß ich mich mit Laertius Diogenes beschäftigt habe und beschäftige, auch mit Ritschl hier und da einmal darüber gesprochen habe. Vor einigen Wochen fragte er mich ganz mysteriös, ob ich wohl, wenn von einer andren Seite eine Aufforderung käme, einmal über die Quellen des Diog. La. schreiben möchte: was ich natürlich mit Freuden bejahte. Vor einigen Tagen erschienen die Preisthematen der Universität,28 und das erste, auf das mein Auge fällt, lautet "De fontibus Diogenis Laertii."29 Das ist also meine zweite größere Arbeit, die allerdings mehr Umfang hat und mehr Mühe macht als meine Theognisquisquiliae,30 die aber ungemein fruchtbar gemacht werden kann und alle möglichen Gebiete berührt. In dieser vortrefflichen Weise sorgt Ritschl für mich. Es ist jetzt dadurch wahrscheinlich geworden, daß ich etwa im nächsten Winter, also 1867 hier in Leipzig mein Doktorexamen31 mache und also erst nachher nach Deinem Berlin kommen kann, um dort auch Deine deliciae, Haupt vornehmlich, genießen zu können. Sehr dankbar muß ich auch Ritschl dafür sein, daß er mich mit W. Dindorf bekannt gemacht hat, der mich in der wohlwollendsten Weise, ja mit offenen Armen aufnimmt. Meine Aeschylusarbeit hat nach längerer Besprechung mit ihm und Ritschl und nach reiflicher Überlegung mit mir selbst diese Aussichten: die Arbeit erscheint auf Dindorfs consilium, also auch auf seine Verantwortung. Es gilt einen index zu machen, kein kritisches Wörterbuch, für das meine Kräfte schlechterdings nicht ausreichen. Teubner soll mir ungefähr 500-600 Thl. dafür zahlen, wovon c. 200 in Büchern. Das würden die Bedingungen sein; nicht wahr, sie sind sehr günstig? Die Arbeit ist eine mechanische, aber ich erwarte mir trotzdem Kenntnisse, Bücher und Geld dafür, und vor allem Dindorfs Bekanntschaft und Teubners Verlag. Über alle diese Dinge bitte ich Dich um altum silentium.32 So viel ich höre, ist jetzt unser Gersdorff in Berlin und bereitet sich auf sein Offizierexamen vor. Da ich gar nicht weiß, ob er meinen letzten Brief von Anfang Oktober33 erhalten hat, es auch durch seinen Bruder34 der wieder in Leipzig ist, nicht erfahren kann, so bist Du wohl so freundlich, ihm meine besten Grüße zu sagen. Er mag allerdings sehr beschäftigt sein. Auch Du wirst wohl dieses Semester erstaunlich viel zu thun haben: ist es nicht Dein letztes? Für diese überaus peinliche Zeit der Vorbereitung zum Examen wünsche ich Dir Heiterkeit und Gesundheit, vor allem aber eine gewisse Verachtung derartiger Examina, von denen auch Schopenhauer möglichst schlecht denken würde. Wenn ich Dir nur die geringste Gefälligkeit erweisen könnte! Brauchst Du nicht ein Buch oder eine Collation oder irgend etwas? Vielleicht macht Dir ein langer, sehr interessanter Aufsatz35 von Lachmann geschrieben und nicht gedruckt 'Euphrons Gedanken über das Institut der Philhellenen' einigen Spaß, und ich werde mir erlauben, ihn Dir mit den Programmen36 usw. in Bälde zuzuschicken. Zum Schluß bitte ich Dich nur noch um recht schnelle Beantwortung der Fragen auf Seite 2., über deren Bedeutung ich Dir später schreibe. Mit den verbindlichsten Empfehlungen an Deine verehrten Eltern und Frau Großmutter verbleibe ich Dein dankbarer Freund NB. Das bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, ist unzweifelhaft Lange, Geschichte des Materialismus, über das ich eine bogenlange Lobrede schreiben könnte. Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange — mehr brauche ich nicht.37 1. Hermann Mushacke (1845-1906): friend and classmate at the University of Bonn. Nietzsche and Mushacke visited Naumburg together on October 26, 1865, and visited Berlin and Mushacke's family in the autumn of 1866. For their exploits in Leipzig, see Nietzsche's autobiographical "Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre" (Retrospect on My Two Years at Leipzig). English translation in: Nietzsche's Writings as a Student. The Nietzsche Channel, 2012, 119-43 (121-29).
Leipzig, Dezember 1866: Lieber Freund, Es ist doch die vortrefflichste Zeit des Jahres, in der wir jetzt stehen: je älter wir werden — und man wird bedauerlicher Weise sehr schnell alt — um so ferner stellen wir uns zwar zu der sogenannten "Bedeutung" dieser Zeit, aber die Erinnerung an die glücklichen Empfindungen der Kindheit sichert dieser Zeit auch in späteren Jahren ein herzliches Willkommen. Man sieht so viele hoffende, freundliche, kindlich erregte Gesichter, überall sieht man den geheimen Wunsch, jemanden zu erfreuen und glücklich zu machen, man giebt Geld aus für unnütze Dinge, man schenkt, während man sonst nur bezahlt — und nun verläumde einer noch die Zeit, in der ein ideales, willenverneinendes (speziell Geldbeutel-reinigendes) Moment waltet und wirkt und zwar mitten in den egoistischen Strömen des 19t. Jhds, und zwar durch den Einfluß — der Religion, wie mein orthodoxer Onkel2 dazuzusetzen sich nicht versagen würde. Doch meine Absicht ist keineswegs, diesen Päan noch länger fortzusetzen, dergleichen uns die Zeitungen täglich en masse darzubringen pflegen. Vielmehr wollte ich mich mit Dir etwas gemächlich unterhalten, und wenn da ein überflüssiges Wort von meiner Seite mit hinzufließt, so wirst Du es verzeihen, da Du an Ähnliches bei mir leider schon gewöhnt sein mußt. Außerdem weißt Du, daß "bejahrte Leute" (nach meiner ersten Briefseite) auch das Recht haben, etwas geschwätzig zu sein. In den letzten Wochen habe ich nichts so sehr in Leipzig vermißt als eben Dich selbst, und zwar aus folgendem Grunde. Nach den vielen Gefälligkeiten, die Du mir erwiesen hast, lechze ich darnach, Dir mit einer Entgegnung zu gefallen zu suchen, und das Schicksal resp. Ritschl hatte eine Gelegenheit dazu in mein Garn getrieben, für den Fall, daß Du in Leipzig seist. Er hatte mir nämlich ein hübsches Thema für eine Doktordissertation gegeben, um einen Freund von mir für dasselbe ausfindig zu machen. Mein erster Gedanke warst Du natürlich: so höre denn, ob es Dir behagt. Wir haben in der Ausgabe des Stobäus von Meinecke3 alles Gnomologische zusammen, mit einer Ausnahme. Die Spruchsammlungen des Maximus Confessor und Antonius Melissa sind zum letzten Male, soviel ich weiß, im 17t Jhd. herausgegeben4 und zwar untereinandergemischt. Nun hat Ritschl die editio princeps5 sich verschafft; es wird wohl auch möglich sein, einen codex selbst sich kommen zu lassen oder auch eine Collation zu verschaffen. Also Stoff zur Doktordissertation: 1. Die Geschichte des Textes, also codd. und edd. 2. was ganz interessant und sehr belehrend ist, die Quellen nachzuweisen, die die besagten Mönche für ihre Sammlungen benutzt haben, also die älteren Gnomologien, Stobaeus an der Spitze, für den sich vielleicht textlich etwas gewinnen läßt. Darauf würde dann eine Herausgabe der Sammlungen (natürlich nur der profanen Bestandtheile: sie enthalten auch viel Kirchliches) folgen, unabhängig von der Dissertation. Gefiele Dir dies Thema, so wäre es am Ende auch möglich, daß Du in Berlin daran arbeitest: Ritschl kann ja nichts dagegen haben. Solltest Du also auf den Vorschlag eingehen — was ich nicht rathen, aber wohl freundschaftlich wünschen darf — so gieb mir eine kurze Notiz. Ich gehe dann direkt zu Ritschl, der sehr gern darauf eingehen muß; ich schreibe Dir wieder, Du bekommst, was Ritschl an Material hat und bist vielleicht im neuen Jahre einmal im Stande, Ritschl zu besuchen: was der alte Mann sehr gern hat. Vorbildlich für eine derartige Arbeit ist etwa Ritschls Aufsatz über das Gnomologium Vindobonense, Bonner indices vom Jahr 1839 und 40 (auch im demnächst erscheinenden fasciculus II seiner opuscula).6 Die besten Hdschr. für Maximus Confessor etc. sind Laurent. VII. 15 (sec. XI) und XI. 14 (sec. XII) cf. Rose Aristot. pseudepigr. p. 607.7 Nützlich: O. Bernhardt "zur Gnomologienlitteratur."8 Sorau, aus den letzten Jahren. Dies empfehle ich somit Deiner Überlegung: gefällt Dir der Vorschlag, so machst Du niemandem eine größere Freude als mir. Wird es Dich nicht wundern, daß Deussen noch nicht — mein letzter Brief9 war aus Anfang September oder Ende August — es für gut hält, mir zu antworten? Ja daß ich selbst von Gersdorff seit Oktober keine Nachricht bekommen habe?10 Letztere[r] hat ebenso sicher dafür eine triftige Entschuldigung, wie ersterer keine hat. Ich würde längst an Deussen geschrieben haben, wenn ich nur wüßte, wo er lebte. 1. Hermann Mushacke (1845-1906): friend and classmate at the University of Bonn. Nietzsche and Mushacke visited Naumburg together on October 26, 1865, and visited Berlin and Mushacke's family in the autumn of 1866. For their exploits in Leipzig, see Nietzsche's autobiographical "Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre" (Retrospect on My Two Years at Leipzig). English translation in: Nietzsche's Writings as a Student. The Nietzsche Channel, 2012, 119-43 (121-29).
Leipzig, 18. Dezember 1866: ich bin sehr erfreut darüber, bis diesen Moment noch keinen Brief von Euch bekommen zu haben; was mir für das Befinden der Tante Rosalie1 neue Hoffnungen giebt. Wenn Ihr irgend eine Erquickung ausfindig machen könnt, so überreicht sie ihr in meinem Namen und auf meine Rechnung. Heute sollt Ihr Nachricht über mein Kommen empfangen: es wird nicht eher möglich sein, als nächsten Sonntag2 um 11 Uhr, also um die Zeit, in der ich Sonntag vor 8 Tagen3 bei Euch eintraf. Sehr große Bedenken habe ich wegen des Büchertransportes, zu dem es mir einstweilen an einer passenden Kiste fehlt. Auch wird es hübsch theuer werden. Da Ihr mir meiner eignen Weihnachtsgeschenke halber ziemlich freie Hand gelassen habt, so habe ich mir für eine bescheidne Summe (etwa 4-5 Thl), die ich, wenn es nöthig ist, auch selbst decken kann, einige nützliche Bücher4 gekauft und werde sie, falls mich der Buchbinder nicht im Stich läßt, selber mitbringen, damit Ihr sie mir bescheeren könnt. Paulys Realencyklopädie,5 nach der ich verlangte und verlange, ist unter 27 Thaler nicht zu beschaffen, so daß ich mich hier einstweilen resigniert habe. Sonst wünsche ich uns allen erquickende und ungetrübte Weihnachtstage, mir persönlich aber Zeit und Lust und Erfolg in meinen Arbeiten. Euer Fr[itz]. 1. Rosalie Nietzsche (1811-1867), his paternal aunt, died on 01-03-1867. Nietzsche describes his vigil at her deathbed in two letters. Naumburg, January 4, 1867: Letter to Hermann Mushacke in Berlin. In German; in English. "Schließlich habe ich keinen Grund, Dir zu verhehlen, daß ich heute sehr traurig gestimmt bin. Gestern um diese Zeit nämlich stand ich am Sterbebette meiner Tante Rosalie, die, um es kurz zu sagen, nächst meiner Mutter und Schwester die bei weitem intimste und nächste Verwandte von mir war, und mit der ein großes Stück meiner Vergangenheit, besonders meiner Kindheit von mir gegangen ist, ja, in der unsre ganze Familiengeschichte, unsre Verwandtschaftlichen Beziehungen so lebendig und gegenwärtig waren, so daß nach dieser Seite hin der Verlust unersetzlich ist." (Finally, I have no reason to hide from you the fact that I am very sad today. For at about this time yesterday I was standing at the deathbed of my Aunt Rosalie, who, to put it briefly, was by far, besides my mother and sister, the most intimate and closest relative of mine and with whom a large part of my past, especially my childhood, has left me, indeed, one in which our entire family history, and our family relationships were so alive and present that in this regard the loss is irreplaceable.) Leipzig, January 16, 1867: Letter to Carl von Gersdorff in Spandau. In German; in English. "[E]s war ebenfalls in den ersten Tagen des Januars, wo auch ich in Naumburg an einem Sterbebette stand, an dem einer nahen Verwandten, die nächst Mutter und Schwester die nächsten Anrechte auf meine Liebe und Verehrung hatte, die treulich an meinem Lebenswege Antheil genommen hatte, und mit der ein ganzes Stück meiner Vergangenheit und vornehmlich meiner Kindheit von uns gewichen ist." (It was also in the first days of January in Naumburg when I too stood at the deathbed of a close relative who, next to my mother and sister, had the most right to my love and esteem, who had faithfully taken an interest in my life's journey, and with whom a great part of my past and especially my childhood has departed from us.) [1866-1867]: Lieber Freund, an einem jener trüben, düstern, schneeigen Nachmittage, die den Engländer in die begeisterte Selbstmordmanie versetzen und uns je nach der Laune ebenso verstimmen als [+ + +] [+ + +] gemütlich anheimeln können [+ + +] 1. There are four fragmentary drafts with negligible contents from this inexact time period. |
Not to be reproduced without permission. All content © The Nietzsche Channel.