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Bonn, 2. Februar 1865: Meine liebe Mamma, ich möchte vor allen Dingen eine gute Feder haben, um Dir einen recht hübschen Brief schreiben zu können. Denn diese hier kritzelt mir viel zu sehr. Sodann möchte ich Dir eine frische blühende Hyacinthe schicken, denn keine Blume erinnert mich so lebhaft an Deinen lieben Geburtstag2 als diese. Endlich möchte ich so viel Vermögen haben, um Dir einen kleinen Morgenbesuch zu machen und meine besten, herzlichsten Wünsche in persona auszusprechen. "Da's aber nicht kann sein, Das ist traurig, nicht wahr? Aber in zwei Monaten ist auch diese Zeit der Trennung überwunden. Heute aber werden wir recht, recht lebhaft an einander denken, und wenn Ihr zu Mittag Karpfen eßt, so werde ich einen Wohlgeschmack davon auf der Zunge haben. Wie sehr habe ich mich über Deinen letzten recht ausführlichen Brief4 gefreut. Hatte ich doch seit Neujahr noch keinen Brief bekommen. Vor ein paar Tagen habe ich nun freilich vom Onkel Edmund5 vielerlei über sein Befinden und über Familienverhältnisse gehört. Dagegen vermisse ich immer noch Nachricht von Gustav und Wilhelm,6 denen ich vor und nach Weihnachten geschrieben habe.7 Hat Euch Gersdorff und Kuttig8 einmal wieder besucht?9 Beide sind an der Reihe mir wieder zu schreiben, aber Gersd[orff] wird wenig Zeit des bevorstehenden Examens wegen haben.10 Von meinem Leben kann ich Dir mancherlei erzählen. Viele, ungewöhnlich viele Kunstgenüsse. Donnerstag ein Gesangvereinsconzert11 von einer Vortrefflichkeit, wie ich noch keines gehört. Freitag die Friederike Goßmann in meheren reizenden kleinen Lustspielen.12 Von ihr muß ich Euch noch viel erzählen, Du liebe Lisbeth würdest fabelhaft "enchantirt" sein, wenn Du sie gesehn.13 Sie trat auf in der Grille,14 in der Widerspenstgen Zähmung,15 in "Feuer in der Mädchenschule"16 und "Sie schreibt an sich selbst,"17 zuletzt "Sie hat ihr Herz entdeckt."18 Wir waren natürlich sammt und sonders in sie verliebt, heulten auf dem Kneipabend die Lieder, die sie gesungen und rieben auf ihr Wohl einen Salamander.19 In Köln habe ich Sonntag die Bürde-Ney gehört als Valentine in Meierbers Hugenotten.20 Nicht wahr, das ist sehr viel hintereinander? Was meine Ferien betrifft, so kann ich noch nichts Bestimmteres schreiben, als daß ich Anfangs April kommen werde. Das ist nun sicher, daß wir für die Zeit unsres Zusammenseins ein Festprogramm entwerfen müssen. Länger als ein Jahr kann ich übrigens bestimmt nicht in Bonn bleiben, das ist mir deutlich. Daß ich den nöthigen Nutzen von Bonn ziehe, das hoffe ich. Daß der Aufenthalt viel Geld kostet, das weiß ich. Ich lebe durchaus in keiner Beziehung verschwenderisch, aber die Hausrechnungen sind immer sehr hoch. Ich will Dir nur schreiben, was ich augenblicklich alles bezahlen muß — alles das, was noch tüchtig warten kann, ungerechnet — noch 30 Thl. an meinen Wirth, 10 Th. an einen Freund,21 anfangs Januar entliehen, und mindestens 15 Thl. an Handwerker, Kneipwirthe usw. Das ist doch recht böse. Ich erzürne mich oft darüber, daß Geld und Metall so wenig Stand hält. Spätere Semester werden gewiß viel billiger werden. Aber, Maman, wenn Du glaubst, daß ich mit 30 Thl. pr. Mon. auskommen kann, so ist das leider sehr unrichtig. Das ist indessen alles weniger angenehm als abstoßend. Deshalb gehe ich darüber hinweg und spreche bloß den Wunsch aus, möglichst viel Geld möglichst bald zu bekommen, da es eine unangenehme Empfindung ist, alle Morgen einige Philister an die Thür klopfen zu hören, ohne Geld zu haben. Daß Euch die Lieder22 im Allgemeinen gefallen, freut mich recht sehr. Ich habe über dieselben mit dem hiesigen Direktor Brambach ausführlich gesprochen. Nun habe ich mir zwar fest vorgenommen, in diesem Jahre nichts zu componieren. Er rieth mir sehr an, Unterricht im Contrapunkt zu nehmen. Aber ich habe kein Vermögen dazu. Meine Gründe, nichts zu componieren, will ich Euch mündlich mittheilen. Weißt Du nicht ein hübsches Geschenk, das ich dem Manne machen könnte? Ich nehme nicht gern Gefälligkeiten an, wenn ich nicht wieder welche erweisen kann. Noch dies: ich bin für den hiesigen Gustav-Adolfsverein thätig. Nächstens werde ich darin einen Vortrag halten.23 Noch dies: meine Wendung zur Philologie ist entschieden. Beides zu studieren ist etwas Halbes.24 Und zum Schluß, liebe Mama, wende ich mich wieder zu Dir, um Dir noch einmal das Beste und Schönste zu wünschen, was ich nur kann. Wir wollen alle drei recht angelegentlich wünschen, daß Dir das folgende Jahr ohne Störungen und Betrübnisse vorübergehe, und wir, meine liebe Lisbeth und ich, wollen mit besten Kräften dazu beitragen. Daß Du mich auf allen meinen Wegen mit den herzlichsten Gedanken begleitest, weiß ich, liebe Mama. Und daß selbst das Leben auf der Universität reich an unangenehmen Erfahrungen und inneren Mißstimmungen ist, das ist leider wahr. Drum wollen wir mit liebevollem Thun und Denken unsre Lebensbahnen uns gegenseitig ausschmücken. Lebe recht, recht wohl, liebe Mama. Grüße an die lieben Tanten!25 Dein Fritz. 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
Naumburg, 18. Februar 1865: immer näher kommt nun die angenehme Zeit der Ferien; und ich muß gestehn, daß auch von Tag zu Tage meine Sehnsucht wächst, Euch endlich einmal wieder zu sehn. Ihr könnt doch nun nächstens die Vorbereitungen zu meiner Ankunft machen, denn nach der Mitte nächsten Monates1 werde ich kommen. Je unfreundlicher jetzt die Witterung ist, um so lieber denke ich an die schönen Ostertage,2 und billigerweise habe ich mich noch nie so auf die Ferien gefreut als es gegenwärtig der Fall ist. Wie wohlthuend wird mir das Leben in eurer freundlichen Mitte sein im Gegensatze zu meinem alles Familienlebens baren Dasein. Dazu kommt die Nähe so vieler bekannter und lieber Menschen, die Nähe der alten guten Pforte, an der wir Pförtner hier in einer lächerlichen Weise hängen. Dieser ganze Passus wird Euch, wie ich vermuthe, mit einer stillen Wehmut erfüllen, ich muß diese aber leider vernichten, indem ich daran den unvermeidlichen leidigen Geldpunkt anknüpfe. Ich mache jetzt mitunter ganz verzweifelte Ansätze, um das Soll und Haben auszugleichen, und wie im Ministerium berechne ich mein Budget für dies Jahr und finde recht trostlose Resultate. Zu meinen großen finanziellen Coups gehört auch der Vorsatz, im neuen Semester auszuziehen, kein Klavier mehr zu miethen, alles um auf gut Deutsch Geld zu schinden. Man lernt in einem Semester recht viel, auch in diesen materiellen Beziehungen; schade, daß man diese Studien recht theuer bezahlen muß. Jetzt aber kommt der Schluß zu diesen schmerzhaft scherzhaften Auseinandersetzungen: ich ersuche Dich nämlich liebe Mama mir für nächste beide Monate das Geld zusammen zu schicken und zwar nicht unter 80 Thl.3 das Reisegeld mit eingerechnet. Ueberhaupt bin ich kein Freund der monatlichen Geldsendungen; es verleitet unvermeidlich zum Schuldenmachen, ich habe bis jetzt mit der Monatssendung immer nur die nothwendigsten Schulden des vergangnen Monates decken können, und fast nie baares Geld gehabt. Ueberhaupt ist kein Gedanke daran, daß ich mit weniger als 400 Thl von Bonn wegkomme, denn soviel hat mir der Vormund4 zu Anfang meines Universitätsleben versprochen. Wenn Du genau wüßtest, wie man hier lebt, so würdest Du das auch billigen. Es ist das Mindeste für diese Verhältnisse. — So, nun habe ich mich darüber ausgesprochen, ob ich gleich weiß, daß es Euch keine Freude machen wird. Mir auch nicht. Warum kann ich das nicht alles mit dem Vormund abmachen, es verdirbt meine schönen Briefe. Uebrigens bitte ich Dich nochmals, mich nicht durch Nichterfüllung meines Wunsches in unglückliche Umstände zu stürzen, aus denen ich mich dann nur dadurch retten könnte und müßte, daß ich auf irgend eine Weise die gleiche Summe pumpte. — Nun wollen wir unsre Stirnen wieder in freundliche Falten glätten und uns anmuthig unterhalten. Mein Stoff, Euch allerlei zu erzählen wächst natürlich von Tag zu Tag. Ich freue mich ungemein auf den Moment, wo ich mein altes Naumburg wiedersehe. Ich glaube, ich werde mich sehr wenig verändert haben. Ein klein wenig dicker bin ich geworden, wie das vorauszusetzen war. Es thut mir sehr leid, daß ich Gersdorff jetzt nicht sehen werde. Er geht nach Leipzig und will nicht in ein Corps einspringen.5 Könnte er nicht ein paar Tage in den Osterferien bei uns logieren? Wilhelm und Gustav6 laden mich auf das freundlichste ein, sie in Heidelberg zu besuchen. Sie haben mir endlich geschrieben.7 Ich bekomme sehr wenig Briefe. Das ist recht böse. Meine Erlebnisse beschränken sich in der letzten Zeit auf Kunstgenüsse.8 So viel und so bedeutendes habe ich in kurzer Zeit gehört, daß ich es selbst kaum glauben mag. Innerhalb weniger Wochen besuchten die bedeutendsten Künstlerinnen Köln und Bonn. Dein Wunsch, liebe Lisbeth, daß ich die Patti9 hören möchte, ist erfüllt. Was kann ich Euch alles von dem prachtvollen Patticonzert10 erzählen. Die geniale Niemann-Seebach11 habe ich kürzlich in den Nibelungen von Fr. Hebbel als Kriemhild gesehn.12 Die allerliebste Friederike Gossmann13 Liebling des Bonner Publikums und unser aller insbesondre habe ich dreimal gesehn in allerliebsten Backfischrollen.14 Die Bürde Ney,15 die Du ja kennst, liebe Lisbeth, habe ich in den Hugenotten16 und im Fidelio17 gehört. Gar nicht zu reden von den schönen Conzerten, die der Bonner Gesangverein18 giebt. Ich gelte hier in studentischen Kreisen etwas als musikalische Autorität und außerdem als sonderbarer Kauz, wie übrigens alle Pförtner, die der Franconia19 angehören. Ich bin durchaus nicht unbeliebt, ob ich gleich etwas moquant bin und für satyrisch gelte. Diese Selbstcharakteristik aus dem Urtheile andrer Leute wird Euch nicht uninteressant sein. Als eignes Urtheil kann ich hinzufügen, daß ich das erste nicht gelten lasse, daß ich oft nicht glücklich bin, zu viel Launen habe und gern ein wenig Quälgeist bin, nicht nur für mich selbst, sondern auch für andre. Nun lebt recht wohl, schickt mir das Geld um alles in der Welt zur genauen Zeit, grüßt die lieben Verwandten, habt recht freundlichen Dank für Eure liebenswürdigen Briefe und behaltet mich lieb trotz dieses Briefes. 1. Nietzsche was in Naumburg from 03-21-1865 to 04-23-1865.
Naumburg, Ende Februar 1865: die Wirkung Eurer letzten Briefe und der Geldsendung2 war unleugbar eine bittersüße. Einestheils muß ich natürlich froh sein, meine Geldangelegenheiten jetzt ordnen zu können und mit freierem Blick das nächste Semester herankommen zu sehn. Dann aber war durch Deinen so wohlmeinenden Brief, liebe Mama, in diese Freude so viel Wermuth gemischt, daß ich erschrocken und entrüstet, ohne recht zu wissen worüber, Geld und Brief von mir schob und in Gedanken versank. Die Resultate dieser Gedanken will ich durchaus nicht verhehlen. Ich muß mir allerdings Schuld geben, nicht ganz meinen Verhältnissen nach gelebt zu haben. Sondern ich habe in dem Style und der Gewöhnung fortgelebt, in der ich mich vordem befand dh. ohne viel Aufwand, aber auch nicht beschränkt und kärglich. Das ist richtig, daß ich wohl nie den Eindruck eines armen Menschen gemacht haben werde. Dies ist vielleicht eine Verkennung unseres Standpunktes. Es wird mir recht schmerzlich vorkommen, anders leben zu müssen. Dazu kommt, daß ich vielleicht nicht in allen Fällen möglichst praktisch gehandelt habe. Aber ich habe viel gelernt, wie man sich einrichten kann. Endlich sind meine Neigungen für Musik und Theater etwas kostspielig, während ich bedeutend weniger als andre durch Kneipen und Essen verbraucht. Aus diesen drei Gesichtspunkten betrachte jetzt meinen Aufwand. Als weiter Endlich bedenke, daß das Leben in Bonn nachweisbar viel theurer ist als auf andern Universitäten. Länger als bis Michaeli4 kann ich es hier nicht aushalten. Dann gehe ich, wenn es Euch gefällt, eben so wie Deussen, nach Berlin, um dort zu dienen.5 Ich habe darüber die genausten Erkundigungen eingezogen, und es ist die größte Eile nöthig. Ich werde in den nächsten Tagen an das Commando des 2 t. Garderegiments schreiben. Es ist aber zu befürchten, daß dies Regiment schon voll ist. Bei diesem Regiment ist nämlich der Dienst am leichtesten. Was den Geldpunkt betrifft, so dient man in Berlin entschieden billiger als in Halle,6 wo überdies die Behandlung der Freiwilligen seitens der Unteroffiziere viel unnobler ist. Es wird mir allgemein gerathen ja nicht zu zögern. Vielleicht war es doch unschlau daß ich nicht gleich das erste Jahr gedient habe. Aber erst Pforte — und dann Unteroffiziere! Nein, "Freiheit liebt das Thier der Wüste!"7 Dazu bin ich hier ordentlich in philologisches Fahrwasser8 gekommen. D[iesen] Sommer kommt übrigens die Großfürstin von Rußland9 nach Goslar auf längere Zeit. Ich hätte Lust mich ihr bei Gelegenheit vorzustellen. — Das waren alles geschäftliche Notizen, ich beginne jetzt ein neues Blatt und beschließe die Debatte über das Budget und die Militärnovelle. gez[eichnet] N. B. Sendet mir ja noch vor meiner Abreise eine vom Gericht bestätigte Abschrift des Paupertätszeugnisses.10 Ich muß das Zeugniß noch einreichen wegen der Stundung der Collegien.11 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
Bonn, 10. Mai 1865: Liebe Mama, Du wirst Dich wundern, daß ich so bald schon wieder schreibe. Es ist aber eine dringende Angelegenheit. Die Sache ist einfach folgende. Du weißt, daß ich nach unsrer Uebereinkunft um Stundung der Collegiengelder1 eingekommen bin. Erst gestern erfuhr ich die Antwort, nämlich, daß es zurückgewiesen worden ist. Gründe wurden mir gar nicht mitgetheilt. Wahrscheinlich fanden die Herren die Stundung nicht nöthig. Nun aber bin ich dadurch in die äußerste Verlegenheit gekommen. Natürlich kann ich nicht eher Collegien annehmen, bevor ich Geld habe. Der Termin aber, wo es überhaupt noch möglich ist, Collegien anzunehmen, ist in ein paar Tagen abgelaufen. Geld habe ich nicht. Nicht einmal das von Pforte,2 weil ich das nicht eher bekommen kann, als bis ich ein Zeugniß als actu studens mir geholt habe. Dies Zeugniß kann ich nicht bekommen, bevor ich Collegien nicht angenommen habe. Ich denke, daß ich alles möglichst deutlich dargestellt habe. Ich brauche also auf der Stelle 25 Thl.3 wodurch das Semester allerdings um 25 Thl. theurer wird. Ich bin ärgerlich mich in diese Stundungsgeschichte überhaupt eingelassen zu haben. Wozu sich Vergünstigungen erbitten, die eigentlich keine Vergünstigungen sind, und die etwas Beschämendes haben, wenn man sie nicht einmal erlangt! Entschuldige also, liebe Mama, wenn ich Dich um die möglichste Eile bitte; die Sache ist mir unangenehm genug. Alles, was mich mit dem leidigen Geld beschäftigt, ist mir ein Greuel. Wozu giebt es überhaupt dies Gewächs! Ich suche in eine mildere Stimmung zu gerathen. Das Leben fließt hier ziemlich gleichmäßig dahin. Die Collegien sind sehr interessant,4 die Hitze sehr bedeutend, die Gegenden wunderschön. Mein Appetit ist möglichst gering. Die Nächte werden mir häufig durch Straßenunruhen gestört. Mittags esse ich allein auf meiner Stube. Mein Kaffe, den ich mir selbst bereite, ist meistens gut. Meine Absicht, Michaeli5 in Berlin als Militär einzutreten,6 habe ich ganz aufgegeben. Ebenso bestimmt habe ich mir aber vorgenommen, Bonn, Michaeli zu verlassen, weil ich länger als ein Jahr doch nicht in der Verbindung7 sein kann und mag. Zeit und Geld rathen dazu. Ich muß gestehn, daß ich über die nächste Universität schwankend8 bin. Zweierlei soll mich bestimmen, abgesehn von der Güte der Fakultät. Ich möchte das Süddeutsche Leben kennen lernen oder auch eine ausländische Universität besuchen. Sodann würde ich mir den Ort wählen, wo ich nicht zu viel Bekannte hätte, durch die man gleich in bestimmte Kreise gezogen wird. Berlin zu besuchen habe ich, wenn ich nicht dort dienen will, durchaus keine Lust. Du siehst, daß ich noch unentschlossen bin. Ich bitte Dich aber, nicht mit anderen Menschen über diesen Punkt zu sprechen. Es würde mir sehr lieb sein, freie Wahl darin zu haben. Was den Geldpunkt betrifft, so gehe ich von der Ansicht aus, daß an Orten, wo ich nicht durch Verbindungen und Freunde zu einer Art von Conventionellen Luxus genöthigt bin, ich wenig brauche, um anständig auszukommen. Ich meine also, daß dieser Punkt bei der Wahl der Universität nur wenig in Betracht kommen kann. Immerhin spreche ich meine große Freude darüber aus, daß ich gerade mein erstes Jahr in Bonn zugebracht habe. Es kommt ja wesentlich darauf an, als Philologe Methode zu lernen; und wo besser als hier? Gerade der Anfang des Studium, die Gewöhnung an eine bestimmte Richtung ist das Wesentliche. Und ich hoffe, mit dem Gefühl von Bonn fortgehen zu können, das, was es darbietet, reichlich genossen zu haben. Mein Plan ist es, hier auch mein Examen zu machen. Nun, meine liebe Lisbeth, Du hast heute von mir noch kein freundliches Wort gehört. Du wirst Dich wundern über das verdrießlich ernste Wesen Deines Bruders. Ich werde Dir nächstens einmal lauter schöne Dinge schreiben. Heute grüße ich Dich herzlich, wie auch die lieben Tanten.9 Lebe recht, recht wohl, liebe Mama. Dein Fritz. 1. Cf. Bonn, End of February, 1865: Letter to Franziska and Elisabeth Nietzsche in Naumburg.
Bonn, 25. Mai 1865: Lieber Freund, ich muß es Dir im Voraus gestehn, daß ich Deinen ersten Brief aus Göttingen mit einer ganz besonderen Sehnsucht erwartet habe; denn ich hatte dabei außer dem freundschaftlichen noch ein psychologisches Interesse. Ich hoffte, daß er den Eindruck wiederspiegeln werde, den gerade auf Dein Gemüth das Corpsleben1 mache und ich war versichert, daß Du Dich offen darüber aussprechen würdest. Das hast Du denn auch gethan, und ich sage Dir meinen herzlichsten Dank dafür. Wenn Du also jetzt in Bezug auf das Corpsleben die Ansicht Deines verehrten Bruders2 theilst, so kann ich nur die sittliche Kraft bewundern, mit der Du, um im Strome des Lebens schwimmen zu lernen, Dich sogar in ein beinahe schlammiges, trübes Wasser stürzt und darin Deine Uebungen machst. Verzeihe die Härte des Bildes, aber ich glaube, es ist treffend. Indessen kommt noch etwas Wichtiges hinzu. Wer als Studirender seine Zeit und sein Volk kennen lernen will, muß Farbenstudent werden; die Verbindungen und ihre Richtungen stellen meist den Typus der nächsten Generation von Männern möglichst scharf dar. Zudem sind die Fragen über eine Neuorganisation studentischer Verhältnisse brennend genug, um nicht den Einzelnen zu veranlassen, die Zustände aus eigner Anschauung kennen zu lernen und zu beurtheilen. Freilich müssen wir uns hüten, daß wir dabei nicht selbst zu sehr beeinflußt werden. Die Gewöhnung ist eine ungeheure Macht. Man hat schon sehr viel verloren, wenn man die sittliche Entrüstung über etwas Schlechtes verliert, das in unserm Kreise täglich geschieht. Das gilt z. B. in Betreff des Trinkens und der Trunkenheit, aber auch in der Mißachtung und Verhöhnung andrer Menschen, andrer Meinungen. Ich gestehe Dir sehr gern, daß ähnliche Erfahrungen wie Du sie gemacht hast, bis zu einem gewissen Grade sich auch mir aufdrängten, daß mir der Ausdruck der Geselligkeit auf den Kneipabenden oft im hohen Maße mißbehagte, daß ich einzelne Individuen ihres Biermaterialismus wegen kaum ausstehn konnte; ebenfalls daß mit unerhörter Anmaßung über Menschen und Meinungen en masse zu meinem größten Aerger abgeurtheilt wurde. Trotzdem hielt ich gern in der Verbindung3 aus, da ich viel dadurch lernte und im Allgemeinen auch das geistige Leben darin anerkennen mußte. Allerdings ist mir engerer Umgang mit einem oder zwei Freunden eine Notwendigkeit; hat man diese, so nimmt man die übrigen als eine Art Zukost mit, die einen als Pfeffer und Salz, die andern als Zucker, die andern als nichts. Nochmals versichere ich, daß alles, was Du mir über Deine Kämpfe und Unruhen geschrieben hast, meine Achtung und Liebe zu Dir nur steigern kann. Deine Gedanken über Deinen Beruf4 habe ich mit dem größten Behagen gelesen. Es war mir, als ob wir uns noch einen Schritt näher hiedurch treten müßten. Ueber das jus habe ich keine Ansicht. Von Dir aber weiß und glaube ich, daß Du, um deutsche Sprache und Literatur zu studieren, Neigung und Fähigkeit hast, ja daß Du, was das Wichtigste ist, auch den Willen haben wirst, die bedeutenden und nicht immer interessanten Arbeitsmassen auf diesem Gebiet zu bewältigen. Wir haben im Allgemeinen eine gute Vorbereitung in Pforta dazu genossen, wir haben ein ausgezeichnetes Vorbild in Koberstein,5 den hier unser geistvoller Prof. Springer6 für den bei weitem bedeutendsten Literarhistoriker unsrer Zeit erklärt hat. Du wirst in Leipzig Curtius,7 wichtig für Sprachvergleichung, finden, sodann Zarnke [sic], dessen Nibelungenausgabe8 ich kenne und schätze, dann den eitlen Minkwitz [sic],9 den Aesthetiker Flathe,10 den Nationaloekonomiker Röscher [sic],11 den Du natürlich hören wirst. Du wirst sodann mit aller größter Wahrscheinlichkeit dort finden: unsern großen Ritschl, wie Du in den Zeitungen gelesen haben wirst. Damit ist die philosoph. Fakultät Leipzigs die bedeutendste Deutschlands. Und nun kommt noch etwas Angenehmes. Sobald Du mir schriebst, daß Du nach Leipzig gehen wolltest, habe ich es auch fest beschlossen. So werden wir uns wiederfinden. Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, hörte ich auch von Ritschl's Abgang, und das bestärkte mich darin.12 Ich will in Leipzig womöglich gleich in das philologische Seminar kommen und muß tüchtig arbeiten. Musik und Theater können wir reichlich genießen. Natürlich bleibe ich Kameel.13 Hier in Bonn herrscht immer noch die größte Aufregung, die größte Gehässigkeit wegen des Jahn-Ritschlstreites.14 Ich gebe Jahn unbedingt Recht. Es thut mir sehr leid, ihn Michaeli15 verlassen zu müssen. Er ist ungemein liebenswürdig. Meine Danaëarbeit16 ist längst abgegeben und ich bin außerordentl. Mitglied des Seminars17 geworden. Denke Dir, daß drei Pförtner jetzt ordentl. Mitglieder geworden sind, während bloß vier Stellen offen waren. Haushalter,18 Michael,19 Stedtefeld.20 Das ist ein besondrer Triumph für die alte Pforta. Zum Schulfest21 haben die hiesigen sämmtlichen Pförtner dem Lehrercollegium ein Telegramm zugeschickt und eine sehr freundliche Antwort erhalten. Gräfe,22 Bodenstein23 und Lauer24 sind in die Frankonia eingesprungen, das wirst Du wohl schon gehört haben. Für dies Semester habe ich zunächst eine archäologische Arbeit25 für das Seminar zu machen. Sodann für den wissenschaftlichen Abend unsrer Burschenschaft eine größere Arbeit über die politischen Dichter Deutschlands,26 bei der ich viel zu lernen hoffe, aber auch gewaltig viel lesen und Material sammeln muß. Vor allem aber muß ich an einer größern philol. Arbeit, über deren Thema ich noch nicht klar bin, arbeiten, um durch sie in das Leipziger Seminar zu kommen. Als Nebensache treibe ich jetzt Beethovens Leben nach dem Werk von Marx.27 Vielleicht componiere ich auch wieder einmal, was ich bis jetzt in diesem Jahre ängstlich vermieden habe. Ebenso wird nicht mehr gedichtet. Pfingsten ist in Köln das rheinische Musikfest,28 bitte komm herüber von Göttingen. Zur Aufführung kommen vornehmlich Israel in Aegypten von Händel,29 Faustmusik von Schumann,30 Jahreszeiten von Haydn31 und vieles andre. Ich bin ausübendes Mitglied. Gleich darauf beginnt die internationale Ausstellung in Köln.32 Alles Nähere findest Du in den Zeitungen. Zum Schluß freue ich mich sehr, daß Du die problematischen Naturen33 gelesen hast. Es ist bedauerlich, daß Spielhagen in seinem neusten Roman "die von Hohenstein"34 keine Fortschritte zeigt. Es ist ein wüstes Parteigemälde. Seine adelfeindliche Richtung in den Probl. Nat. ist hier zum ausgesprochnen Hasse geworden. — Ich bin außer mir über Feder und Tinte, schon seit vier Seiten hat mich alle Gemüthlichkeit verlassen, ich referire bloß noch auf das trockenste einige Fakta. — Einige Kapitel in den Probl. Nat. habe ich bewundert. Sie haben wirklich Goethesche Kraft und Anschaulichkeit. So sind gleich die ersten Kapitel Meisterstücke. Du hast doch auch die Fortsetzung "durch Nacht zum Licht"35 gelesen? Die schwächste Partie ist die Romantik im Hineinspielen der Zigeuner. Du kennst doch Freitags "verlorne Handschrift?"36 — Ich hoffe Spielhagen diesen Sommer kennen zu lernen. So, lieber Freund, lebe recht wohl und denke meiner freundlichst. Ich freue mich auf unser Wiedersehn. Ich wünsche Dir Heiterkeit und Frohsinn, vor allem einen Menschen, dem Du Dich näher stellen kannst. Verzeihe mir meine unausstehliche Schrift und meinen Mißmuth darüber, Du weißt, wie sehr ich mich darüber ärgere, und wie meine Gedanken dabei aufhören. Dein treuer Freund Fr. Nietzsche. 1. Carl von Gersdorff, who was studying law at Göttingen, joined the Corps Saxonia fraternity.
Naumburg, 26. Mai 1865: Inniggeliebter Fritz! Du wirst jetzt immer sehr sehnsüchtig nach einem Brief ausgeschaut haben, und wirst Dich wundern, daß wir ganz und gar in Trubel und Vergnügen unterzugehen scheinen, und es ist allerdings in der letzten Zeit schlimm gewesen. Erst hatten wir den Maurer und als wir den eben expediert hatten kam Abend ½10 Uhr Tante Ida1 höchst vergnügt an; Sonnabend2 große Vorbereitung zum Familienfest, Sonntag große Familientafel 15 Personen, Mamachen wird Dir Näheres schreiben: Montag mit Tante Ida und Fr. P[astor] Leer in Kösen, Dienstag großes Wasch- und Plattfest zu Mittwoch, wo eine große Gesangvereinspartie mit Conzert, Fanfar und Tanz nach Kösen war Donnerstag Bergtag,3 Freitag kam Rudolph4 und blieb Sonnabend und Sonntag da. Montag waren wir nun eigentlich zum Schulfest5 eingeladen, aber wir waren todtmüde und blieben zu Hause. Auf dem Bergtage war es wirklich wunderhübsch und haben außerdem eine reizende Bekanntschaft gemacht. Frl. Hirt, welcher Du Dir vielleicht von Leers aus her erinnerst, ist jetzt in Kösen im Bade und war auch auf dem Bergtag mit einer Frau Bankdirektor Schneider nebst Töchterlein von beinah 16 Jahren und kleinem Sohn, aus Köthen. Eine höchst nette allerliebste Familie, und da Mamachen merkte, daß das Töchterchen gern tanzen würde, stellte sie ihr Kuttig vor welcher alsbald ihr noch Andre vorstellte, so amüsierte sie sich sehr wohl, und wir waren höchst vergnügt zusammen. Sonnabend Nachmittag kommt nun ein Kästchen mit dem wunderbarsten Spargel an und einem allerliebsten Gedichtchen vom Töchterlein. Ein freundliches Entgegenkommen Montag habe ich nun meine Antwort geschickt, welche etwas lang ausgefallen ist, die ich Dir auch mitschicken würde, wenn sie nur nicht den Brief zu schwer macht. Nun vielleicht geht es doch. Du siehst nun liebes Fritzchen wie vergnügt wir jetzt gelebt haben, und noch dazu reise ich morgen oder übermorgen so über 8 Tage nach Colditz zur lieben Tante Ida und Rudolph dazu. Mit der lieben Mama ist's noch unbestimmt. Ich freue mich unendlich darauf, und von dem Onkel Schenkel6 werde ich mich über Verschiedenes belehren und bekehren lassen, denn Du hast an mir mit Deinen eigentlich sehr traurigen Ansichten eine zu gelehrige Schülerin gefunden;7 daß ich, wie Mama sagt: auch eine Überkluge geworden bin, da ich jedoch meine Lama-Natur8 nicht vergessen kann, so bin ich voll von Verwirrung, und denke lieber gar nicht daran, weil nur Unsinn heraus kommt. Wenn ich aber zum Onkel komme, werde ich mich recht streiten, daß ich von dem Richtigen überzeugt werde, und zuletzt gehe ich noch zum Onkel Edmund,9 das wird gewiß helfen. So viel ist aber gewiß: Es ist viel leichter Vieles nicht zu glauben, als umgekehrt, und da das Schwere wohl auch das Richtige ist, so will ich mir dazu Mühe geben. Manchmal möchte ich Du wärst da, und ich könnte einmal einen Zank zwischen Onkel Edmund und Dir hören, aber es ist viel besser so, denn es wäre doch nur traurig. Am allermeisten thut es mir aber leid, daß Du den unglücklichen Strauß10 mit in die Ferien gebracht hast, und daß ich so viel davon gehört habe durch Dich, denn das ist die erste Stufe zum neuen Glauben oder Unglauben, daß man hört, wie es überhaupt möglich ist, die heiligsten (wenigsten den Gläubigen) Sachen zu bezweifeln und zu bekritteln und wenn man einmal das thut, so ist es mir als ob die feste Schutzmauer gefallen ist, und man nun vor einer weiten planlosen, verwirrten, nebelhaften Wüste steht, wo es nichts Bestimmtes giebt, und unser armer, elender so oft irrender Geist der einzige Führer ist. — Nun höre ich davon auf. — Nun möchte ich eigentlich was Amüsantes erzählen; und so will ich Dir nur mittheilen, daß Fr. v. Büsch11 jetzt bei Fr. Laubscher12 englische Stunden nimmt und ich bin auch mit dabei, wobei ich mich freilich amüsiere, es ist wirklich wunderhübsch. Natürlich ist die Stunde: "Ohne Buch" nur Conversation. Da ich noch so viel Platz habe, so will ich Dir nur noch meine Antwort nach Kösen schreiben, es macht Dir vielleicht Spaß. Ich lag im süßen Traume Und nun lieber, guter Fritz thun mir die Finger ganz weh so vom Schreiben oder vielmehr Schmieren. Bitte bitte schreibe mir einmal ganz apart von Bonn aus nach Colditz per addr. Hr. Dr. Diaconus Schenkel.13 Du machtest überglücklich Dein Dich zärtlich liebendes 1. Franziska Nietzsche's sister Ida Schenkel (1833-?); her husband Moritz (1834-1909), pastor at Cainsdorf, near Dresden; his brother Rudolf Schenkel (1844-1889), a lawyer. Franziska Nietzsche was also the aunt of Emma Patz, Ida's daughter, who lived in Oelsnitz with her husband Robert.
Bonn, 11. Juni 1865: Dear Lisbeth, nach einem so anmuthigen, mit mädchenhaften Dichtungen durchflochtenen Brief,1 wie ich ihn zuletzt von Dir empfieng, würde es Unrecht und Undank sein, Dich noch länger auf Antwort warten zu lassen, besonders da ich diesmal über ein reiches Material zu verfügen habe und ich nur mit großen Behagen die genossenen Freuden im Geiste "wiederkäue." Zuvor muß ich jedoch eine Stelle Deines Briefes berühren, die mit eben so pastoraler Färbung als lamaartiger2 Herzlichkeit geschrieben ist. Mache Dir keine Sorgen, liebe Lisbeth. Wenn der Wille so gut und entschieden ist, wie Du schreibst, werden die lieben Onkels3 nicht zu viel Mühe haben. Was Deinen Grundsatz betrifft, daß das Wahre immer auf der Seite des Schwereren ist, so gebe ich Dir dies zum Theil zu. Indessen, es ist schwer zu begreifen, daß 2 X 2 nicht 4 ist; ist es deshalb wahrer? Andrerseits, ist es wirklich so schwer, das alles, worin man erzogen ist, was allmählich sich tief eingewurzelt hat, was in den Kreisen der Verwandten und vieler guten Menschen als Wahrheit gilt, was außerdem auch wirklich den Menschen tröstet und erhebt, das alles einfach anzunehmen, ist das schwerer, als im Kampf mit Gewöhnung, in der Unsicherheit des selbständigen Gehens, unter häufigen Schwankungen des Gemüths, ja des Gewissens, oft trostlos, aber immer mit dem ewigen Ziel des Wahren, des Schönen, des Guten neue Bahnen zu gehn? Kommt es denn darauf an, die Anschauung über Gott, Welt und Versöhnung zu bekommen, bei der man sich am bequemsten befindet, ist nicht viel mehr für den wahren Forscher das Resultat seiner Forschung geradezu etwas Gleichgültiges? Suchen wir denn bei unserem Forschen Ruhe, Friede, Glück? Nein, nur die Wahrheit, und wäre sie höchst abschreckend und häßlich. Noch eine letzte Frage: Wenn wir von Jugend an geglaubt hätten, daß alles Seelenheil von einem Anderen als Jesus ist, ausfließe, etwa von Muhamed, ist es nicht sicher, daß wir derselben Segnungen theilhaftig geworden wären? Gewiß, der Glaube allein segnet, nicht das Objektive, was hinter dem Glauben steht. Dies schreibe ich Dir nur, liebe Lisbeth, um dem gewöhnlichsten Beweismittel gläubiger Menschen damit zu begegnen, die sich auf ihre inneren Erfahrungen berufen und daraus die Untrüglichkeit ihres Glaubens herleiten. Jeder wahre Glaube ist auch untrüglich, er leistet das, was die betreffende gläubige Person darin zu finden hofft, er bietet aber nicht den geringsten Anhalt zur Begründung einer objektiven Wahrheit. Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche. Dazwischen giebt es eine Menge halber Standpunkte. Es kommt aber auf das Hauptziel an.4 Verzeihe mir diese langweilige und nicht gerade gedankenreiche Auseinandersetzung. Du wirst Dir dies Alles schon oftmals und immer besser und schöner gesagt haben. Auf diesen ernsten Grundstock will ich aber nun ein um so lustigeres Gebäude aufführen. Ich kann Dir diesmal von wunderschönen Tagen erzählen. Am Freitag den 2t. Juni reiste ich nach Köln herüber zum niederrheinischen Musikfest.5 An demselben Tage wurde dort die internationale Ausstellung eröffnet. Köln machte in diesen Tagen einen weltstädtischen Eindruck. Ein unendliches Sprachen- und Trachtengewirr—ungeheuer viel Taschendiebe und andre Schwindler—alle Hotels bis in die entlegensten Räume gefüllt—die Stadt auf das Anmuthigste mit Fahnen geschmückt—das war der äußere Eindruck. Als Sänger bekam ich meine weißrothe seidne Schleife auf die Brust und begab mich in die Probe. Du kennst leider den Gürzenichsaal nicht, ich habe Dir aber in den letzten Ferien eine fabelhafte Vorstellung erweckt durch den Vergleich mit dem Naumburger Börsensaal. Unser Chor bestand aus 182 Sopranen, 154 Alten, 113 Tenören und 172 Bässen. Dazu ein Orchester aus Künstlern bestehend von etwa 160 Mann, darunter 52 Violinen, 20 Violen, 21 Cellis und 14 Contrebässe. Sieben der besten Solosänger und Sängerinnen waren herangezogen worden. Das Ganze wurde von Hiller dirigirt.6 Von den Damen zeichneten sich viele durch Jugend und Schönheit aus. Bei den 3 Hauptconzerten erschienen sie alle in Weiß, mit blauen Achselschleifen und natürlichen oder gemachten Blumen im Haar. Eine Jede hielt ein schönes Bouquet in der Hand. Wir Herren alle in Frack und weißer Weste. Am ersten Abend saßen wir noch bis tief in die Nacht hinein zusammen und ich schlief endlich bei einem alten Frankonen7 auf dem Lehnstuhl und war den Morgen ganz taschenmesserartig zusammengeknickt. Dazu leide ich, beiläufig bemerkt, seit den letzten Ferien an starkem Rheumatismus in dem linken Arm. Die nächste Nacht schlief ich wieder in Bonn. Den Sonntag war das erste große Conzert. "Israel in Aegypten von Händel." Wir singen mit unnachahmlicher Begeisterung bei 50 Grad Reaumur. Der Gürzenich war für alle drei Tage ausgekauft. Das Billet für das Einzelconzert kostete 2-3 Thaler. Die Ausführung war nach aller Urtheil eine vollkommene. Es kam zu Scenen, die ich nie vergessen werde. Als Staegemann und Julius Stockhausen "der König aller Bässe" ihr berühmtes Heldenduett sangen, brach ein unerhörter Sturm des Jubels aus, achtfache Bravos, Tusche der Trompeten, Dacapogeheul, sämmtliche 300 Damen schleuderten ihre 300 Bouquets den Sängern ins Gesicht, sie waren im eigentlichsten Sinne von einer Blumenwolke umhüllt. Die Scene wiederholte sich, als das Duett da capo gesungen war. Am Abend begannen wir Bonner Herren alle zusammen zu kneipen, wurden aber von dem Kölner Männergesangverein in die Gürzenichrestauration eingeladen und blieben hier unter carnevalistischen Toasten und Liedern, worin der Kölner blüht, unter vierstimmigem Gesange und steigender Begeisterung beisammen. Um 3 Uhr Morgens machte ich mich mit 2 Bekannten fort; und wir durchzogen die Stadt, klingelten an den Häusern, fanden nirgends ein Unterkommen, auch die Post nahm uns nicht auf—wir wollten in den Postwägen schlafen—bis endlich nach anderthalb Stunde ein Nachtwächter uns das Hotel du Dome aufschloß. Wir sanken auf die Bänke des Speisesaals hin und waren in 2 Sek. entschlafen. Draußen graute der Morgen. Nach 1½ Stunde kam der Hausknecht und weckte uns, da der Saal gereinigt werden mußte. Wir brachen in humoristisch verzweifelter Stimmung auf, giengen über den Bahnhof nach Deutz herüber, genossen ein Frühstück und begaben uns mit höchst gedämpfter Stimme in die Probe. Wo ich mit großem Enthusiasmus einschlief (mit obligaten Posaunen und Pauken). Um so aufgeweckter war ich in der Aufführung am Nachmittag von 6-11 Uhr. Kamen darin doch meine liebsten Sachen vor, die Faustmusik von Schumann und die a dur Symph. v. Beethov. Am Abend sehnte ich mich sehr nach einer Ruhestätte und irrte etwa in 13 Hotels herum, wo alles voll und übervoll war. Endlich im 14ten, nachdem auch hier der Wirth mir versicherte, daß alle Zimmer besetzt sein, erklärte ich ihm kaltblütig, daß ich hier bleiben würde, er möchte für ein Bett sorgen. Das geschah denn auch, in einem Restaurationszimmer wurden Feldbetten aufgeschlagen, für eine Nacht mit 20 Gr. zu bezahlen. Am dritten Tage endlich fand das letzte Conzert statt, worin eine größere Anzahl von kleineren Sachen zur Aufführung kam. Der schönste Moment daraus war die Aufführung der Sinfonie von Hiller mit dem Motto "es muß doch Frühling werden," die Musiker waren in seltner Begeisterung, denn wir alle verehrten Hiller höchlichst, nach jedem Theile ungeheurer Jubel und nach dem letzten eine ähnliche Scene nur noch gesteigert. Sein Thron wurde bedeckt mit Kränzen und Bouquet einer der Künstler setzte ihm den Lorberkranz auf, das Orchester stimmte einen 3fachen Tusch an, und der alte Mann bedeckte sein Gesicht und weinte. Was die Damen unendlich rührte. Noch besonders will ich Dir eine Dame nennen, Frau Szarvadi aus Paris, die Klaviervirtuosin. Denke Dir eine kleine noch junge Persönlichkeit, ganz Feuer, unschön, interessant, schwarze Locken. Die letzte Nacht habe ich aus gänzlichem Mangel an dem nervus rerum wieder bei dem alten Frankonen verbracht und zwar auf der Erde. Was nicht sehr schön war. Morgens fuhr ich wieder nach Bonn zurück. "Es war eine rein künstlerische Existenz," wie eine Dame zu mir sagte. Man kehrt mit förmlicher Ironie zu seinen Büchern, zu Textcritik u[nd] and[erem] Zeug zurück. Daß ich nach Leipzig gehe, ist sicher. Der Jahn Ritschl Streit wüthet fort. Beide Parteien drohen sich mit vernichtenden Publikationen. Deussen wird wahrscheinlich auch nach Leipzig gehn.8 Zum Schulfest (21 Mai)9 sandten wir Bonner Pförtner ein Telegramm an das Lehrercollegium und bekamen eine sehr freundliche Antwort. Heute machen wir eine Pförtnerspritze nach Königswinter.— Unsere rothen Stürmer mit goldner Litze sehen vorzüglich aus.10 Ich werde nächstens an den lieben Rudolf schreiben, der mir einen so liebenswürdigen Brief geschickt hat. Sage der lieben Tante u[nd] dem lieben Onkel meine herzlichsten Empfehlungen[.]11 Fritz. 1. 05-26-1865 letter from Elisabeth Nietzsche.
Bonn, zweite Junihälfte 1865: Liebe Mama, Du hast mir durch Deinen letzten Brief eine ganz besondere Freude gemacht. Er erweckte in mir Sehnsucht nach Dir und nach Naumburg, ich fühlte mich so heimisch beim Lesen aller dieser kleinen liebenswürdigen Erlebnisse, und zugleich überkam mich dieselbe Stimmung, aus der heraus jener Brief geschrieben worden ist, jene stille ruhige freudige Stimmung, die im lebhaften Gegensatze zu der Vielgeschäftigkeit und Ueberfülle meiner gegenwärtigen Interessen steht. Und trotzdem bekommst Du so spät darauf Antwort! Ohne mich aber weiter zu entschuldigen will ich sogleich anfangen, Dir einiges zu erzählen. An Lisbeth habe ich auf ihren Wunsch nach Colditz geschrieben,1 vielleicht ist sie wieder zurückgekehrt. In diesem Briefe habe ich einige meiner Musikfesterlebnisse mitgetheilt. Mündlich will ich Dir noch manches davon weiter ausführen. Sicherlich war es das Schönste, was ich in diesem Jahr erlebt habe. Wir haben hier ein höchst vortreffliches Wetter und benutzen es auch. Bonn ist aber, wie ich Dir schon geklagt habe, eine durchaus ungesellige Stadt. Man ist auf den Umgang mit Studenten angewiesen, die Familienkreise sind streng exclusiv gegen alles, was nicht auf das förmlichste eingeführt ist. Selbst unter den Studirenden herrscht ein kalter, vornehmer Ton. Ich freue mich sehr auf die total andre Lebensweise in Leipzig,2 wo ich mich, umgeben von lieben Freunden, in der Nähe von Naumburg und mitten in einer Fülle von Musikanregungen, überhaupt recht wohl fühlen werde. Dazu kommt, daß ich dort sicherlich einige Familien kennen lernen werde. Sehr stößt mich hier ab die bigotte katholische Bevölkerung. Ich wundre mich oftmals, daß ich wirklich im 19t. Jahrhundert lebe. Neulich war das Frohnleichnamfest.3 Prozessionen nach der Art der Kirschfestaufzüge,4 alles sehr geputzt und daher eitel, und trotzdem krampfhaft fromm thuend, quäkende und krächzende alte Weiber, sehr große Verschwendung mit Weihrauch, Wachskerzen und Blumenguirlanden. Am Nachmittag desselben Tages gab eine echte Tyrolergesellschaft5 ein Conzert, mit der gewöhnlichen gemachten Natürlichkeit, mit der Stereotypen Rührung beim Andreas-Hoferlied.6 Ihr werdet in den Zeitungen von dem Feste7 in den Rheinlanden gelesen haben. Bekanntlich wurden vor 50 Jahren die Rheinlande mit Preußen vereinigt. Zur Feier war der König8 mit dem Generalstab und etzlichen Ministern erschienen. Die Zeitungen sprechen von dem Jubel und der Begeisterung des Volks. Ich bin selbst in Köln gewesen und kann diesen Jubel beurtheilen. Ich war beinahe erstaunt über eine derartige Kälte der Massen. Ich begreife aber auch wirklich nicht, woher jetzt gerade der Enthusiasmus für König und Minister kommen soll. Trotzdem war die Feier äußerlich höchst imposant. Der Rhein und die Rheinbrücke, die unzähligen Hotels am Rhein, die Thürme und der mächtige Dom buntfarbig erleuchtet, fortwährendes betäubendes Schießen mit Kanonen und Flinten, unendliche Massen von Feuerwerk an allen Punkten zugleich angezündet — alles das, vom gegenüberliegenden Ufer aus gesehen, gab einen Eindruck, der an das Zauberische grenzte; man kann sich keinen schönern Operneffekt ersinnen. Der König fuhr auf einem Dampfschiff dazwischen auf und nieder, die kölnische Jugend machte Enthusiasmus, indem sie den Düppelmarsch9 sang, und die Menge jauchzte beim Anblick so schöner Dinge — und der Monarch freute sich. Schöne Uniformen, liebe Lisbeth, habe ich da gesehn. Aber die alten Herren Generale, die so schöne Uniformen trugen, führten sich gutmüthig lachend durch die Straßen Köln[s]; denn sie hatten das große Düppelgefecht10 eines Diners glücklich überstanden und waren alle sehr siegestrunken. Neulich haben wir, dh. die Frankonen mit den zwei andern Burschenschaften Helvetia und Marchia einen gemeinschaftlichen Commers11 gefeiert. Hei! Welche Beseligung! Hei! Was hat nicht alles die Burschenschaft gethan! Hei! Sind wir nicht die Zukunft Deutschlands, die Pflanzstätte deutscher Parlamente! — Es ist mitunter schwer, sagt Juvenal, keine Satyre zu schreiben.12 — Daß wir unsre Mützenfarben13 gewechselt haben, habe ich Dir schon geschrieben. Wir tragen jetzt schöne rothe Stürmer mit goldner Litze und schwarzem breiten Sturmband. Ich werde in den nächsten Tagen mich brieflich an den Onkel Schenk14 in Jena wenden und ihn um Quartier für mich bitten. Die große Feier15 scheint sehr weitgreifend und großartig zu werden. Für die Ferien mache ich mir allerlei hübsche Pläne. Nach Plauen16 möchte ich sehr gern. Von dort nach Klingenthal. Vielleicht mit Lisbeth zusammen. Nun will ich schließen. Denn ich habe Colleg bei Springer.17 Schicke mir ja recht pünktlich die 40 Thl. für den Juli. Mit Geldsachen will ich den Brief nicht verderben. Denke recht freundlich an mich, liebe Mama, und schreib mir bald einmal einen so angenehmen Brief. Grüße die liebe Lisbeth und alle Verwandte und Bekannte herzlich von Deinem Fritz. 1. Cf. Naumburg, 06-11-1865: Letter to Elisabeth Nietzsche in Colditz.
Bonn, 4. August 1865: Mein lieber Freund, Wie spät bekommst Du Nachricht von mir. Ich will mich auch mit keinem Wort entschuldigen, sondern einfach mein Vergehen eingestehen. So bekommst Du denn den Nachklang meines ganzen Bonner Lebens, das ich wirklich schon als abgeschlossen betrachte. In einer Woche werde ich nicht mehr hier sein.1 Ich habe die Hoffnung, daß wir uns sicher in Leipzig treffen.2 Ritschl hat mir gestern erzählt, daß er sein Wort den Leipzigern gegeben3 habe und daß er sehr gern dahin gienge. Er freut sich nach den Wirren einer vielseitigen amtlichen Thätigkeit4 wieder einfacher simpler Professor zu werden. Er wird als Privatum die Geschichte der griech. Tragoedie und die Sieben gegen Theben5 lesen, als Publikum lateinische Epigraphik6 und zwar als Interpretationscolleg; er läßt zu diesem Behufe von jedem epigr. Monument 50 Platten abnehmen. Es wird eine kleine Bonner Colonie nach Leipzig übersiedeln.7 Ich gehe nun zwar nicht nach Leipzig, um dort nur Philologie zu treiben, sondern ich will mich wesentlich in der Musik ausbilden. Dazu habe ich in Bonn schlechterdings keine Gelegenheit. Vielleicht schrieb ich Dir um Neujahr, daß ich in diesem Jahre weder dichten noch componieren wollte. Das Erstere habe ich bisjetzt durchgesetzt — genug Grund, um zu glauben, daß diese Ader erschöpft ist — gegen das Zweite habe ich erst ganz kürzlich verstoßen, indem ich wieder ein Lied gemacht habe.8 Ich werde ein wenig zu kritisch, um mich noch länger über etwaige Begabung täuschen zu können. Darum suche ich mein kritisches Vermögen überhaupt zu entwickeln. Mein lieber Freund, wie schaal und langweilig sind alle diese Notizen. Ebenso nüchtern zähle ich einige Feste auf, an denen ich schöne und glückliche Augenblicke — und das Glück zählt nach Augenblicken — genossen habe. So nenne ich in erster Reihe das Kölner Musikfest.9 Sodann das Arndtfest,10 über das Du das Genauere aus den Zeitungen wissen wirst. Das Beste daran war die Rede von Sybel11 am 2t. Tage. Einige recht ruhige schöne Tage habe ich in letzter Zeit in Bad Ems12 erlebt. Ich bin die letzten Wochn immer krank gewesen und habe viel zu Bett gelegen, sogar in jenen glühenden Tagen; mein Leiden ist ein heftiger Rheumatismus der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne und gegenwärtig mir täglich die stechendsten Kopfschmerzen verursacht. Ich bin durch diese fortwährenden Schmerzen sehr abgemattet, und meistens ganz apathisch gegen Außendinge. An einigen Tagen, wo ich mich besser fühlte, war ich in Ems. Du kannst Dir vorstellen, wie wohlthuend dies stille rücksichtsvolle, diäte Leben, diese immer frische und erhebende Natur, diese frohen geputzten Menschen auf mich wirkten. Für die letzte Zeit meines Aufenthalts in Bonn habe ich fabelhaft zu thun besonders für den studentischen Gustav-Adolfverein, dessen Schriftführer ich bin.13 Dann harren eine große Menge Briefe der Beantwortung. Eben denke ich daran, daß heute die Pförtner wieder in ihre Mauern einziehen.14 O über die Armen, die mit kaltschauerlichen Empfindungen zum ersten Male wieder in den neuangestrichnen ungemüthlichen Betsaal hinuntersteigen! Kuttig15 und Schmidtborn16, so wie auch Ammon17 haben uns öfter in der letzten Zeit besucht. Was den Leipziger Aufenthalt betrifft, so habe ich die freudige Aussicht, daß meine Mutter und Schwester mit mir ein Jahr nach Leipzig übersiedeln werden.18 Verzeihe lieber Freund mir auch diesen ungemüthlichen Brief. Aber das heftige Stechen im Kopf hindert jeden Zusammenhang. Auf ein fröhliches Wiedersehn in Leipzig! Dein Dich herzlich liebender 1. Nietzsche left Bonn on 08-09-1865 to study philology at Leipzig.
Naumburg, 30. August 1865: Mein lieber Freund, so sehr ich mich über alles und jedes Deines ausnehmend lieben Briefes gefreut habe, so ärgerlich ist es für mich, daß ich Deinen gerechten und billigen Wunsch2 nicht erfüllen kann. Stelle Dir meine Lage vor: ich habe mehr Geld gebraucht als ich sollte, viel mehr; ich muß die leiseste Andeutung vermeiden, daß ich noch Schulden habe, um nicht meine Stellung unhaltbar zu machen. Und so bin ich denn in der verzweifelten Lage, Dir — wahrhaftig, fast mit Beschämung — schreiben zu müssen: "ich kann nicht." Und welche erbärmliche Summe!3 Und trotzdem kann ich nicht mit dem Gedanken fertig werden, daß ich hier unfreundschaftlich handele. Ich kann Dir keine Vorwürfe machen, wenn Du mir deshalb böse bist. Damit springe ich von diesem Thema ab. Du kannst es Dir vielleicht erklären, daß ich mit einem etwas unangenehmen Gefühl an Bonn zurückdenke. Den dort verlebten Dingen und Stimmungen stehe ich noch zu nahe, das ist richtig. Die bittre Schale der Gegenwart, der Wirklichkeit läßt mich noch nicht zum Genuß des Kerns kommen. Denn ich hoffe, daß ich auch dieses Jahr einstmals vom Standpunkte der Erinnerung aus freudig als ein nothwendiges Glied meiner Entwicklung einregistrieren kann. Augenblicklich ist es mir nicht möglich. Noch scheint es mir, als ob ich das Jahr in mancher Beziehung fehlerhaft vergeudet hätte. Mein Verweilen in der Burschenschaft4 erscheint mir — offen gesagt — als ein faux pas, nämlich für das letzte Sommersemester. Damit gieng ich über mein Princip hinaus, mich den Dingen und Menschen nicht länger hinzugeben, als bis ich sie kennen gelernt habe. So etwas straft sich selbst. Ich ärgere mich über mich. Diese Empfindung hat mir den Sommer etwas verdorben und sogar mein objektives Urtheil über die Burschenschaft getrübt. Ich bin keiner der unbedingten Parteigänger der Frankonia. Ich kann mir recht wohl eine liebenswürdigere Gesellschaft denken. Ich halte ihre politische Urtheilsfähigkeit für sehr gering, nur im Kopfe einiger Weniger beruhend. Ich finde ihr Auftreten nach außen plebejisch und abstoßend. Da ich mit meinen mißgünstigen Urtheilen nicht zu sehr zurückhaltend war, habe ich meine Stellung den Mitgliedern derselben gegenüber unbequem gemacht. Hier, lieber Freund, muß ich immer dankbar Deiner gedenken; wie oft habe ich bei Dir, nur bei Dir die verdrießliche Stimmung verloren, die mich für gewöhnlich beherrschte. Und deshalb sind die angenehmen Bilder von Bonner Vergnügungen für mich immer mit Deinem Bild verknüpft. Mit meinen Studien muß ich, im Grunde genommen, auch unzufrieden sein, wenn ich auch viel Schuld auf die Rechnung der Verbindung schreibe, die meine schönen Pläne durchkreuzt hat. Gerade in diesen Tagen merke ich, was für eine wohlthuende Beruhigung und Erhebung des Menschen in einer fortgesetzten eindringlichen Arbeit liegt. Diese Befriedigung habe ich in Bonn so selten gehabt. Ich muß höhnisch auf meine vollendeten Arbeiten aus der Bonner Zeit sehen, da ist ein Aufsatz für den Gustav-Adolfverein,5 einer für den burschenschaftlichen Abend6 und einer für das Seminar.7 Abscheulich! ich schäme mich, wenn ich an dies Zeug denke. Jede meiner Pennalarbeiten war besser. Aus den Collegien habe ich vereinzelte Dinge abgerechnet nichts gelernt.8 Ich bin Springer9 für Genüsse dankbar, ich könnte Ritschl dankbar sein, wenn ich ihn fleißig benutzt hätte. Im Allgemeinen bin ich darüber gar nicht unglücklich. Ich gebe viel auf eine Selbstentwicklung — und wie leicht kann man nicht von Männern wie Ritschl bestimmt werden, fortgerissen werden vielleicht gerade auf Bahnen, die der eignen Natur fern liegen. Daß ich für das Verständniß meines Selbst viel gelernt habe, rechne ich als den größten Gewinn dieses Jahres. Und daß ich einen herzlich theilnehmenden Freund gewonnen habe, für keinen geringeren. Das gehört nämlich für mich nothwendig zusammen. Daß ich mit meiner vielfachen Zerrissenheit, mit meinem wegwerfenden oft frivolen Urtheile noch einen solchen lieben Menschen an mich ziehen konnte, befremdet mich einestheils, doch hoffe ich aus demselben Grunde; und nur in Momenten, wo der Geist alles negirt, frage ich mich, ob nicht mein lieber Freund Mushacke mich nur zu wenig kennt[.] — Hier will ich wieder einmal Athem schöpfen und von etwas Neuen beginnen. Ich arbeite jetzt tüchtig, wie schon gesagt. Theognis wird fürchterlich maltraitirt.10 Mit einer kritischen Schere, an einem langen methodischen Faden hängend, schneide ich ihm täglich einige aufgeflickten Flitter ab. Mitunter, wenn jeder Weg verschlossen scheint, möchte ich an der ganzen Untersuchung verzweifeln. Kommen Resultate heraus, — was ich kaum übersehen kann — werden sie in eine Arbeit für das Leipziger Seminar11 verwandelt. Für selbiges haben wir jetzt, falls Ritschl Direktor wird, Prioritätsaktien. Die Leipz. Philologen werden mir von Prof. Steinhart sehr ungünstig geschildert.12 Es fehlt das Leben für die Wissenschaft, die Leute wünschen baldiges Amt und Brod. Darum darf sich Ritschl keine Bonner Zustände mehr in Aussicht stellen. Die Tradition von G. Hermann13 soll spurlos in Leipzig verschwunden sein. Es fehlt alle Philosophie und alle Geschichte. Immer noch weiß ich nicht gewiß, ob Mutter und Schwester mit nach Leipzig ziehn.14 Sicher ist aber eins — daß ich Dich vom 1.ten Oktober an besuchen darf und es mit der größten Freude thun werde.15 Ich schreibe Dir noch einmal das Genauere, mit welchem Zuge ich ankommen werde usw. Meine Gesundheit ist augenblicklich eine bessere als in Bonn.16 Man fand, daß ich etwas elend aussah, darum werde ich jetzt quasi aufgefüttert. Vor Gesellschaften halte ich mich zurück. Die Reizbarkeit der Nerven ist noch nicht beschwichtigt. Ich spiele natürlich viel Klavier, genieße schon früh um 5 Uhr die klaren blauen Spätsommertage und sage mir oft im Stillen, daß ich recht glücklich sein könnte. Dazu lese ich schöne Bücher, wie Laube's Reisenovellen17 und schöne Briefe, wie einer von meinem Freunde Mushacke aus Bonn kam und eine höchst humoristische Darstellung der dortigen Zustände enthielt. Doch es wird dunkel. Ich schicke Dir einen herzenswarmen Gruß ins schöne Rheinland und wünsche Dir frohe und zufriedne Tage und Nächte. Dein Fritz Nietzsche. 1. Hermann Mushacke (1845-1906). Nietzsche and Mushacke visited Naumburg on October 26, 1865. For their exploits in Leipzig, see Nietzsche's autobiographical "Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre" (Retrospect on My Two Years at Leipzig). English translation in: Nietzsche's Writings as a Student, The Nietzsche Channel, 2012, 119-43 (121-29).
Grünberg, 13. September 1865: Mein lieber Nietzsche, "Wessen Hand mag das sein?" wirst Du Dich wohl beim Anblick der Adresse gefragt haben, und erst wenn Du die Unterschrift liesest, wird Dir vielleicht eine Erinnerung aus ferner alter, in manchen Dingen so schöner Zeit wieder auftauchen;2 Du wirst Dich eines Menschen erinnern, der eines Tages plötzlich erkannt hatte, daß er der Dümmste der Sterblichen war, während er sich bis dahin für höchst schlau gehalten, der nachher wieder mal glaubte, er würde geliebt, während er doch nur ausgelacht wurde. Gott nein! Davon weißt Du wohl auch nichts mehr, wie alle Andern? Ja so ist die Welt; sie vergißt uns, sobald nur eine Thür zwischen ihr liegt und uns. Hab ichs doch nicht anders gemacht! Oder doch nein! Ich habe gar manchmal Deiner und der andern gemüthlichen und manchmal auch an etwas Andres als an Bier und Karten denkenden Kerls aus unsrer alten lieben Pforte denken müssen! Hast Du eine Diogeneslaterne?3 Ich suche nun schon ein ganzes Jahr und kann keinen Menschen finden! Diese Species hat entweder niemals wo anders, als in meinem Gehirn existirt, oder sie ist plötzlich ausgestorben, da wir Pforte verließen. Oder ist sie blos für mich so schwer zu finden? Bist Du glücklicher gewesen? Ach ich glaube wirklich nächstens nicht blos wie Kölliker,4 daß wir von den Affen stammen, sondern die Affen von uns. Wie gefällt Dir Dein Studium? Ach Natur, Natur! an Deinen Brüsten habe ich saugen wollen, allnährende Mutter! Aber wo sind sie? Ich kann sie nicht finden! Zu groß, zu fern, zu erhaben bist du Natur, als daß man dich fassen könnte! Wer löst uns deine Räthsel? Ich muß immer über diese Professoren lachen, wenn sie sich brüsten mit ihrer Weisheit, wie weit sie schon die Natur erkannt hätten. Ach ja! "Sie habens schon so herrlich weit gebracht!"5 Nichts wissen die armen Schlucker trotz alles Mühns! Auf das Was haben sie einige Antworten gefunden, auch einige geringe auf das Wie. Aber wo bleiben die Antworten auf Warum und Wozu? Da kann man lange fragen! Keiner giebt Dir Antwort! Und das wäre doch das Einzige Wissenswerthe! Hätten sie darauf einige Antwort, dann könnte man noch hoffen, auch die Räthsel des eigenen Daseins, wenn nicht jetzt, so doch in Jahrtausenden gelöst zu sehn! Aber nun? Ach der Fleiß muß erlahmen, wenn er gar so hoffnungslos ist! Wäre es nicht wirklich besser, wenn man sich beschiede und mit Resignation Thier bliebe, da man doch verzweifeln muß, über diesen Standpunkt hinaus zu kommen? Ach warum ist es mir nicht gegeben ruhig in der Tretmühle weiter zu kreisen, wie so vielen Andern. Sie lernen geduldig ihr Pensum auswendig das sie zum Examen nöthig haben, bestehen es leidlich, nehmen ein Weib, zeugen Kinder und sterben. Ist das nicht schön? Zuletzt sagt man noch von ihnen "Er ist ein stiller ruhiger Mann gewesen, that keinem was zu Leide, war ein fleißiger Arbeiter." Was will man mehr? Ich habe's auch schon versucht, mehrfach! Aber es will mir nicht gelingen. Immer muß ich wieder fragen "Warum, wozu?" und niemand giebt mir Antwort, nirgends find ich sie! Weißt Du keine? O thu sie mir kund! Wie ist Dir's das Jahr über gegangen? Hast Du Dich in Bonn amüsirt mit Vater Deußen?6 Bist Du auch im Sommer mit ihm dagewesen? Ach ich hätte gern mal von Euch und den andern Ordnungsgenossen etwas gehört, aber Alles blieb stumm, keiner dachte wohl mehr an mich. Wenn Du irgend etwas von ihnen erfahren hast, schreib es mir doch! Ich selbst habe in Würzburg keinen anziehenden Umgang gefunden, werde also nicht mehr zurückkehren. Ich gehe nach Berlin, vielleicht findet man da Menschen; ich kann ohne solche nicht existiren und doch sind sie so selten. Wie schön wäre es, wenn Du auch hinkämest! Schreib mir doch ja mal während der Ferien. Ich bleibe bis Ende Oktober hier. Ich bin übrigens auf der Heimreise den Rhein von Mainz bis Köln hinunter gefahren. Wie habe ich in Bonn ausgeschaut, ein bekanntes Gesicht am Ufer zu sehn! Ich sah keins. Im Kölner Dom traf ich ganz zufällig Portius I.,7 der mit der Bauakademie, auf der er jetzt ist, eine Kunstreise machte . Er sagte mir, sein Bruder8 wäre jetzt auch in Berlin und diente sein Jahr ab.9 Wie willst Du's denn machen? Ich selbst werde erst als Arzt dienen. Man hat dann am wenigsten Schererei. Vielleicht diene ich dann als Marinearzt und sehe auf diese Weise etwas von der Welt. Schreib mir doch, was Du von Pforte, besonders vom Examen erfahren hast.10 Daß Bercht11 zu Ostern durchgefallen, Oertzen1 bestanden hat, habe ich zufällig erfahren, auch Bormanns13 Tod; der arme Junge! Ich konnte ihn gut leiden! Sanitätsrath Zimmermann14 mit Frau war nämlich mal in Würzburg. Lebe wohl alter lieber Kerl und schreib recht bald Deinem wie immer verdrehten, aber treuen Freund Grüße Krebel.15 1. Raimund Granier (1843-1909): Nietzsche's classmate at Schulpforta. He studied medicine at the University of Würzburg, writing an 1868 dissertation on "Die lymphatischen Neubildungen der Leber" (The Lymphatic Neoplasms of the Liver). Granier became a doctor and the health minister of Berlin. On July 28, 1862, Nietzsche sent prose, poetry, and his photograph along with a letter to Granier. The 1862 photograph now owned by The Nietzsche Channel and poem were published together in "Jugendporträt und Jugendgedicht Friedrich Nietzsches." Der Welt-Spiegel. No. 94, November 23, 1902, 1. An explanation of the photograph and poem was published the following day in Der Zeitgeist, another supplement to the Berliner Tageblatt. See Friedrich Dernburg, "Neues aus Nietzsches Jugend. Unbekannte Verse und Entwürfe Friedrich Nietzsches." Der Zeitgeist. No. 47, November 24, 1902, 1f. The other items Nietzsche sent to Granier included "Euphorion" fragments of a novel written while on vacation in Gorenzen. See "Euphorion. Chap. I." In: Nietzsche's Writings as a Student. The Nietzsche Channel, 2012, 75-78.
Naumburg, 20. September 1865: Mein lieber Freund, ich schreibe in der Voraussetzung, daß Du jetzt in Berlin3 weilst und die Bonner Ascese überstanden hast. Meine Zeilen sollen Dir Zeit und Stunde verkündigen, wann ich in Berlin eintreffen werde: am 1st Oktober Sonntag Nachmittag c. 6 Uhr.4 Um nicht gleich zuerst den Gefahren einer Irrfahrt in einem ganz unbekannten Terrain mich auszusetzen, ersuche ich Dich auf dem Bahnhof meine Ankunft zu erwarten, und ich hoffe daß Lokomotive und Lokomotivführer ihre Pflicht thun, damit Du nicht zu lange zu warten hast. Zudem kann ich mich in Addreßbüchern nur sehr schwer zurecht finden, besonders im Berliner, wo vielleicht auch die species Mushacke in wer weiß wie vielen Exemplaren vertreten ist. Mein jetziges Leben ist eine Vorbereitungszeit auf Berlin, wie unser irdisches Dasein auf zukünftige Himmel, ohne übrigens Berlin so ohne weiteres mit einem Himmel in Analogie zu setzen. Ich genieße die Stille und die Ausgeflogenheit einer Provincialstadt und schaue fleißig in die blaue reine Luft und in meinen höchst geistlosen Theognis.5 Zum Kaffe esse ich etwas Hegelsche Philosophie,6 und habe ich schlechten Appetit, so nehme ich Straußische Pillen ein, etwa "die Ganzen und die Halben."7 Mitunter habe ich Lust zu simpeln, dann gehe ich nach Pforte und hole mir Corssen8 nach Almrich, wo dann Bier und Ritschl geknippen wird, letzterer natürlich mit geistigen Fingern. Im Allgemeinen wird die Seele bei diesem ereignißlosen Vegetiren so innerlich, daß Berlin sehr kräftig auf mich wirken muß. Vorgestern war ich in einem Naumburger Liebhabertheater,9 ein ungeheures Ereigniß. Die Hauptrolle spielte eine Buchbindersfrau, sodann ein Schusterjunge als Landrath und ein alter Naumburger Domschüler als Pair von Frankreich oder vielmehr nach Thüringer Aussprache als "Bär." Ich komme mir oft selbst so vor, wie so ein Herbstnachmittag, gleichmäßig still, aber auch beim Zeus! langweilig, indessen mit vollstem Behagen. An Berlin glaube ich; und der Glaube soll ja selig machen! Von Zeit zu Zeit stirbt jemand im Ort oder ein behagliches Gerücht zieht wie alter Weibersommer von Haus zu Haus. Ich habe übrigens eine Romanfigur entdeckt, in Gestalt eines Kön. Preuß. Appellationsraths. Die Katzen spinnen in der warmen Sonne und im röthlichen Laube spielt der Wind Verstecken. Die Pflaumen sind schön und groß, aber theuer, ebenso die Butter. Das macht, der König und das Manoevre10 haben Appetit, dafür bezahlt ersterer mit kleinen Sternchen und Vögelchen. Er hat auch nach Pforte kommen [wollen] und 15 Primaner haben sich Fracks machen lassen und siehe! die Fracks kamen, aber der König nicht. Naumburg hat ihm nach Merseburg Naumburger Wein geschickt, im Lande wird man sagen, aus Ironie, um saure Gesinnungen anzudeuten: au contraire der Naumburger ist stolz auf seinen Wein, wie der Philister auf seine Pfeife, oder wie ich auf meinen Theognis. Trotz dem bleiben Naumburger Wein, philiströse Pfeifen und der gute Theognis, was sie waren; es ist ein Glück, wenn man ersteren nicht kennt, es ist ein Glück, wenn man am zweiten nicht erkannt wird, es ist ein Glück, daß man den letzten nicht kennt. Kürzlich ist ein Conditor gestorben, der einzige, zu dem ich gern gieng, nun ist der Mann so unanständig gewesen zu sterben, und hat mir den Appetit verdorben. Glückliches Naumburg mit Deinem Conditor, mit Deinen Räthen, mit Deinen Katzen und Jungfrauen, Dich soll ich verlassen? — Allerdings, am 1ten Oktober, an dem ich meinen Freund H. Mushacke im Kreis seiner höchst werthen Angehörigen wiederfinden werde. Theognis Ich bitte Deine werthen Angehörigen auf das freundlichste zu grüßen. 1. See GSA 101/7. Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and also reproduced two photos: a photo taken at the 1871 Leipzig Trade Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche; and a photo taken in Basel in 1871 by Friedrich Hermann Hartmann. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
Leipzig, 5. Nov. 1865: allerdings hatte ich auf die Kiste gewartet,2 und ich freute mich recht, daß sie endlich gestern Sonnabend eintraf. Schließlich aber that es nichts, daß sie etwas spät kam. Es dürfte ja immer Fälle geben, wo das genaue und präzise Abschicken einer Kiste wesentlicher und notwendiger wäre als eben bei der vorliegenden Sendung. Ich hatte noch genug Wäsche und vermißte blos Gabel und Messer und Schüssel recht, aber letztere vermisse ich ja noch immer. Schließlich ist dies alles ganz gleichgültig. Es ist mir aber lieb von Euch Gutes über meinen Freund3 zu hören. Wir haben uns den Sonntag recht wohl in Naumburg gefühlt und danken für Eure höchst freundliche Aufnahme. Also jetzt würden wir uns auf eine längere Zeit nicht mehr sehen? Ich hoffe doch, daß Ihr bei Eurer Durchreise durch Leipzig mich besucht.4 Ich bin auf meiner Stube bis ¾11 Vormittags anzutreffen. Solltet Ihr Mittags ankommen und vielleicht mit der 5 Uhr-Post weiter fahren wollen, so schickt mir doch eine Karte durch einen Dienstmann in die "gute Quelle" auf dem Brühl.5 Vielleicht macht es sich doch, daß Ihr zur Aufführung der herrlichen Johannes-Passion von Bach herüber kommt: sie findet am Bußtage statt.6 Wir sind wieder in das Gleis der gewöhnlichen Arbeiten, Gedanken, Plackereien, Erholungen gerathen; wie wichtig ist mir jetzt der Tag, und wie vieles entscheidet sich oder muß sich entscheiden in den engen Hirnkammern? Tragt Ihr es nur wirklich so leicht, dieses ganze widerspruchsvolle Dasein, wo nichts klar ist als daß es unklar ist? Mir ist es immer, als ob Ihr im Scherze darüber hinwegkämt. Oder täusche ich mich? Wie glücklich müßt Ihr sein, wenn ich richtig sehe. Oder höre ich auch hierauf wieder Euren Witz: der Koffer ists, nur der Koffer ists, der ihn so verstimmt.7 Wie naiv! Unnachahmlich! Aber wie wenig verstünden wir uns! "Thue Deine Pflicht!" Gut, meine Verehrten, ich thue sie oder strebe darnach sie zu thun, aber wo endet sie? Woher weiß ich denn das alles, was mir zu erfüllen Pflicht ist? Und setzen wir den Fall, ich lebte nach der Pflicht zur Genüge, ist denn das Lastthier mehr als der Mensch, wenn es genauer als dieser das erfüllt, was man von ihm fordert? Hat man damit seiner Menschheit genug gethan, wenn man die Forderungen der Verhältnisse, in die hinein wir geboren sind, befriedigt? Wer heißt uns denn uns von den Verhältnissen bestimmen zu lassen? Aber wenn wir dies nun nicht wollten, wenn wir uns entschlössen, nur auf uns zu achten und die Menschen zu zwingen uns wie wir nun sind anzuerkennen, was dann? Was wollen wir denn dann? Gilt es, ein möglichst erträgliches Dasein sich zu zimmern? Zwei Wege, meine Lieben: man bemüht sich und gewöhnt sich daran so beschränkt wie möglich zu sein und hat man dann seinen Geistesdocht so niedrig wie möglich geschraubt, so sucht man sich Reichthümer und lebt mit den Vergnügungen der Welt. Oder: man weiß daß das Leben elend ist, man weiß, daß wir die Sklaven des Lebens sind, je mehr wir es genießen wollen, also man entäußert sich der Güter des Lebens, man übt sich in der Enthaltsamkeit, man ist karg gegen sich und liebevoll gegen alle Anderen — deshalb weil wir mitleidig gegen die Genossen des Elends sind — kurz, man lebt nach den strengen Forderungen des ursprünglichen Christenthums, nicht des jetzigen, süßlichen, verschwommenen. Das Christentum läßt sich nicht "mitmachen" so en passant oder weil es Mode ist. Und ist denn nun das Leben erträglich? Ja wohl, weil seine Last immer geringer wird und uns keine Bande an dasselbe mehr fesseln. Es ist erträglich, weil es dann ohne Schmerz abgeworfen werden kann.8 Lebt wohl, meine Lieben[,] Freund Mushacke empfiehlt sich Euch[.] Das Stipendium9 will ich nicht, meine Gründe kennt Ihr. Ich bekäme es auch nicht, da es nur für p[r]eußische Universitäten gültig ist. Macht Euch doch um solche Dinge keine Mühe. Komme ich nicht aus, so gebe ich Stunden. 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
Naumburg, 12. November 1865: Mein lieber Sohn! Eigentlich solltest du schon heute den Brief haben, doch ließ mich die Sonnabendsarbeit nicht dazu kommen und so dachte ich könnte ich mir Sonntags das Vergnügen des Briefschreibens an dich verschaffen und dir gleich einen hübschen Anfang und Freude zur neuen Woche bereiten. Dein lieber Brief1 ist mir wie immer auch diesmal eine besondre Freude gewesen, obwohl ich derartige Ansichten Entwikelungen weit weniger liebe, als ein richtiges Briefschwätzchen. Ich bin der Ueberzeugung daß ein Jeder Mensch und vor Allen Christ derartiges durchzumachen und durchzukämpfen hat und zwar täglich und stündlich, bis er dahin durchgedrungen ist, das Leben als eine Gabe Gottes zu betrachten und die Zeit die uns dazu verliehen ist, so würdig und christlich als es uns armen Menschen möglich ist, auszukaufen, bis wir nach dieser Vorbereitungszeit in die ewige Heimath durch unsers Herren Gnade eingehen werden, und dazu wolle uns Allen der treue liebe Gott durch seinen Sohn und den heiligen Geist helfen. Hoffentlich bist du ganz wohl mein lieber guter Fritz, denn schreibst du so wie das Letztemal, so habe ich immer meine Sorge um Dich, da es immer auf eine innerliche Zerrissenheit und Unzufriedenheit schließen läßt. Ergieb Dein Herz recht dem treuen lieben Gott und Herrn und alle Weltweißheit die Du vielleicht in dicken Bänden finden wirst, wird mit solchen Herzen und Augen angesehen, zu Schanden werden. Hast du doch vor Allen rechte Ursache zur Zufriedenheit, wie der gute Gott nach so schweren Verlust,2 noch Alles so gnädig mit dir und uns Allen geleitet und geführt hat und muß nicht vor Allen die Jugend dafür recht empfänglich und dankbar sein? Du bist gesund, Gott sei es gedankt, an Leib und an der Seele, bist mit mancherlei Gaben ausgerüstet und hast die Lebensaufgabe, später Deiner Mutter eine gute Stütze zu sein, vielleicht auch Deiner Schwester mein guter Fritz, also strebe darnach diese Deine Aufgaben fürs Leben recht treu zu lösen und du wirst ein glücklicher guter Mensch sein dem es hier und dort wohlgeht. Eben war Schenk3 zu unsrer Freude wieder da, hat Kaffee und Kuchen genossen und erzählte mir beiläufig, daß ihm sein Vater4 eben gestern geschrieben hätte: doch öfter in Familien, so zur Freundin Nietzsche und Born zu gehen und so freute es mich doppelt, daß er dem gleich nachgekommen war. Er scheint sich jetzt allemal ganz behaglich hier zu fühlen, was mir Freude macht. Prof. Steinhard [sic]5 soll jetzt ganz ernstlich damit umgehen, seine Entlassung einzureichen, Siegfried6 genösse viel Liebe und Achtung, an Nieses Stelle7 käme ein Seminardir. Hasse (geb. Weisenfelser) und am Martinstage hätten sie Gänsebraten gegessen (ganz neu). Er holte sich die Adresse mit von Dir und wollte nächstens schreiben, läßt aber einstweilen grüßen. Heute ist Almrichsche Kirmeß, wohin wir Dienstag mit Liebalds auch so wollen, sonst sitzen wir und warten und warten. Was aber, hast du uns für eine Reiseruthe gemacht, nach Gorenzen, über Leipzig zu kommen? "Das wird sich nun wohl nicht machen," sagt unten der kl[eine] Bruno, den Lieschen diesen Nachm[ittag] eine kl[eine] Winterlandschaft auf Pellepapier reitzend vervollständigt hat. Wer weiß, ob wir nicht ähnliche Bilder bald in der Wirklichkeit vor uns haben, wie gern machten wir trotzdem zu Eurem Bußtag, oder von Halle aus, einen solchen kl[einen] Ausflug zu Dir, denn unsre Herzen sind so viel bei Dir mein lieber guter Fritz, wenn wir nur erst wüßten wann das Kleine das Licht zu erblicken geneigt wäre, so reisten wir ein paar Tage früher weg und kämen zu dir. Hast Du denn Besuche bei Nietzschens8 und Auerbachs (Melanie) gemacht? Wie hübsch auch, wenn Du einmal an einem Sonnabend nach Eilenburg9 führest, die Post geht Mittag 12 Uhr, so viel ich weiß bist gegen 3 dort und fändest gewiß sehr freundliche Aufnahme, bitte suche doch Eingang in Familien zu gewinnen! Wegen des Stipendiums10 thue nicht so stolz mein Sohn, ich habe deßhalb an Caro geschrieben,11 ob es für L[eipzig] gegeben würde, habe aber noch keine Nachricht. Diese Stipendien kommen ja halb und halb Stift Merseburgischen Kindern von selbst zu. Deinen lieben Freund Herrn Mushacke12 grüße recht herzlich Hast du denn mit ihm oder allein den Kuchen verzehrt, Du hast kein Wort davon erwähnt, auch was H[err] M[ushacke] über uns gesagt u.s.w. Nun lebe recht wohl mein Fritz, wir wollen jetzt noch Kartoffeln mit gebratnen Hering essen und dann in die Abendandacht gehen. L[isbeth] will noch selbst vorher ein paar Worte an Dich schreiben und nehmen dann gleich den Brief mit zur Post. Gott befohlen! Deine Mutter. 1. Leipzig, 11-05-1865: Letter to Franziska and Elisabeth Nietzsche. |
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