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Nietzsches Briefe

1861

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Gustav Krug and Wilhelm Pinder.1
From tinted photos taken by:
Ferdinand Henning, Naumburg, ca. 1863.2
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Pforta 14. Januar 1861:
Brief an Gustav Krug und Wilhelm Pinder.

Liebe Freunde.

Nun sind die schönen Tage schon wieder vorüber, wo wir uns länger und häufiger sprechen konnten, vorüber die Zeiten, die in der Erwartung so hoffnungsvoll, in der Erinnerung so trostreich sind.3 Um nun sowohl meinem gegebnen Versprechen zu genügen, als auch um wieder einmal mich gemüthlich mit euch wenn auch nicht persönlich so doch im Geiste zu unterhalten, schicke ich mich jetzt an einige Worte an euch zu richten, weniger über das, was ich erlebt, genossen, gehört, gesehen, als über einige Ideen, deren wir ja schon in den jüngst verfloss’nen Stunden so viel gegenseitig austauschten. Denn was sollte ich von meinem jetzigen Leben berichten? Daß wir viel zu thun haben? Daß die Arbeit noch durch Feriengedanken gestört wird? Daß die Zeit für Lieblingsbeschäftigungen gering, ach leider! zu gering ist? Das habt ihr ja alles schon selbst erfahren und erfahrt es noch. Weßhalb sollte ich da noch euren Mißmuth vergrößern? Fürwahr, es ist doch viel angenehmer aus dem tyrannischen Reich, des Zwangs, in die Gebiete des freien Willens zu flüchten. Ohne weitere Umschweife will ich deßhalb mich zu den Stoff wenden, der jetzt eure Aufmerksamkeit kurze Zeit fesseln möge. Und dieser Stoff betrifft die Umgestaltung des Oratorium.4 Wenn man bis jetzt immer geglaubt hat, das Oratorium nehme in der geistlichen Musik dieselbe Stelle ein, die die Oper in der weltlichen, so scheint mir dies unrichtig, ja eine Herabsetzung zu sein. An und für sich ist schon das Oratorium großartig einfacher, ja so muß es als erhebende und zwar streng religiös erhebende Musik sein. So verschmäht das Oratorium alle andern Mittel, deren sich die Oper zur Wirkung bedient; es kann von niemand für etwas Begleitendes wie die Opernmusik doch für die Menge noch ist, gehalten werden. Kein andrer Sinn wird hier erregt außer dem Gehör. Auch ist der Stoff unendlich einfacher und erhabener, ja großenteils ist er bekannt und allen, auch dem Ungebildeten ohne Mühe verständlich. Deßhalb, glaube ich, steht das Oratorium in seiner Musikgattung höher, als die Oper, indem es also in den Mitteln einfacher, in den Wirkungen unmittelbarer ist und seiner Verbreitung nach wenigstens allgemeiner sein sollte. Wenn letzteres nicht so ist, so muß man die Ursachen nicht in der Musikgattung selbst, sondern theils in der Behandlung theils in dem geringen Ernst unsrer Zeit suchen. Was die Behandlung nun anbetrifft, so ist diese erstens zu compliziert und läßt noch den Mangel an Einheit empfinden. Wie kann ein Tonwerk, in eine Menge kleiner unzusammenhängende Theile zerspalten einen einigen und vorzüglich einen heiligen Eindruck machen! Deßhalb halte ich dafür, daß das Ganze nur in wenige aber größere Theile zerfallen, die sich dem Gang der Ereignisse anschließen und einen durchgängig einigen Charakter tragen. Zweitens liegt ein Nachtheil in der viel zu künstlichen, altvaterischen Behandlungsweise, die mehr in die Studirstube paßt, als in unsre Kirchen und Säle und die dem Ungebildeten in der Musik das Verständniß erschwert, ja unmöglich macht. Nun ist zwar richtig: Ein solches Werk kann und soll nicht bei einmaliger Anhörung durchdacht und auserkannt, sondern empfunden werden. Und daß eine Fuge auch von Ungebildeten empfunden werden kann, wird Niemand leugnen, besonders wenn sie knapp und kräftig ist und nicht durch unzählige Takte, mißlautend und langweilig durchgeführt wird. Der Hauptgrund aber, daß das Oratorium zu wenig populär, ist wohl darin zu suchen, daß die Musik oft zu unheilig mit Weltlichen gemischt ist. Und das ist das Haupterforderniß, daß sie in allen Theilen das Heilige, Göttliche auf der Stirn trägt. Also muß ein jedes Oratorium diesen drei Forderungen genügen, nämlich überall einen einigen zusammenhängenden Charakter zeigen, dann tief zu Gemüth dringen und endlich stets streng religiös und erhebend sein. Dazu tritt nun noch ein Erforderniß, das aber wirklich nothwendig und unumgänglich ist. Ich meine nämlich die Ausstoßung des Recitativ und einen entsprechenden Ersatz. Es läßt sich nun einmal eine rein unpoetische Erzählung schlechterdings nicht absingen, ohne einen störenden und trennenden Eindruck hervorzubringen. Als entsprechender Ersatz läßt sich auch so eigentlich kein andres Musikstück erdenken. Wenn die Erzählung aber unumgänglich nothwendig ist, so müßten nach meiner Meinung die Worte zu der begleitenden Musik gesprochen werden. So träte dann ein neues Element nämlich das melodramatische zu dem Oratorium. Sonst muß aber so viel nur irgend möglich ist alles Unsingbare vermieden werden und lieber die etwa fehlenden Zwischenglieder, die sich bei bekannten Erzählungen der Zuhörer so leicht ergänzen kann, durch musikalische Zwischensätze von ähnlichen Charakter als die Erzählung ausgefüllt werden. —

Da ich hoffe, in den nächsten Briefen5 meine weitern Gedanken darüber gegen euch auszusprechen, und mich meine Zeit drängt, muß ich jetzt wohl schließen. Sind denn die Noten angekommen? Ich bin sehr gespannt darauf. Nächstens werden wir ja uns auch gegenseitig unsre Januarsendungen6 schicken, von Wilhelm empfange ich vielleicht auch noch eine verspätete Dezemberlieferung. Schreibt mir doch recht bald einmal: ich sehne mich so nach einem Brief, da ich so abgeschlossen und getrennt von euch bin. Sonst wünsche ich, daß es euch immer recht wohl geht und ihr auch mitunter an euren Freund in Pforta denkt.

Semper nostra mane[t amicitia!]7

[+]

1. Gustav Krug (1844-1902) and Wilhelm Pinder (1844-1928): Nietzsche's friends in Naumburg since childhood.
2. See GSA 101/275 and GSA 101/376 (both unavailable). Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and also reproduced two photos: a photo taken at the 1871 Leipzig Trade Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche; and a photo taken in Basel in 1871 by Friedrich Hermann Hartmann. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
3. Nietzsche had spent Christmas with his family in Naumburg.
4. From August 1860 to March 1861, Nietzsche worked on a "Weihnachtsoratorium" (Christmas Oratorio) — but then gave up on the composition. It seems that it was inspired by oratorios by the German composer Felix Mendelssohn (1809-1847) that were performed at Schulpforta. See "1854-1860." In: The Nietzsche Channel, Friedrich Nietzsche in Words and Pictures. Appendix 2. Chronology of Nietzsche's Music, 2012, 1-4 (3-4).
5. Unknown reference.
6. Submissions written for "Germania," the literary club founded by Nietzsche, Wilhelm Pinder, and Gustav Krug on July 25, 1860.
7. Our friendship ever endures! Nietzsche, Pinder and Krug used this Latin phrase as the motto of their literary club, "Germania," which they founded on 07-25-1860.

 


Franziska Nietzsche at 25.
From tinted photo, ca. 1850.1
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Pforta 2. Februar 1861:
Brief an Franziska Nietzsche.

Liebe Mamma!

Einige Worte, liebe Mamma, muß ich dir doch heut schreiben; entschuldige aber im Voraus, wenn mein Brief sehr kurz und meine Schrift schlecht ist.

Zuerst also meine innigsten Wünsche zu Deinem lieben Geburtstag.2 Möge der liebe Gott im ganzen Jahre mit dir sein und dich mit Segnungen überschütten. Möge er dir stete Gesundheit verleihn, daß du das neue Jahr im vollen Wohlbefinden verleben mögest. Wir aber wollen uns immer auch in dem neuen Jahre bemühn, uns in Wort und That dankbar zu bezeigen und dir deine große Liebe gegen uns zu lohnen. —

Daß ich heute nicht in Naumburg sein kann, thut mir herzlich leid, aber ich liege noch immer im Bette3 und soll noch nicht aufstehn. Es geht aber viel besser; die Kopfschmerzen haben sehr nachgelassen; auch der Appetit ist besser, kurz, es ist doch sicher auf dem Weg der Besserung. die Bratäpfel haben mir ganz gut geschmeckt. Ich danke vielemal dafür; auch die Wäsche habe ich richtig bekommen. Hattest Du mir denn geschrieben? Ich habe den Brief nicht gefunden.

Grüße Lisbeth viele mal von mir und verlebt den Tag in rechter Freude! Grüßt den Onkel Theobald4 viele mal! Nun lebe recht, recht wohl!

Dein dich innig liebender
FWN.

Mein Geburtstagsgedicht und eine kleine Composition5 sind noch nicht ganz vollendet; das thut mir sehr leid. Ich werde aber alles später vollenden. —

1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
2. February 2. This is the first birthday letter to his mother that Nietzsche dutifully wrote to her every year from 1861-1887 (forgetting but later correcting his mistake in 1888).
3. From January 19-27, 1861, Nietzsche was in the Schulpforta infirmary with a cold. From January 30 to February 17, he was recovering at home.
4. Theobald Oehler (1828-1881): his maternal uncle.
5. Unknown reference.

 


Friedrich Nietzsche as a confirmand.
By: Gustav Schultze.1
Based on a tinted photograph, March 1861.2
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Naumburg, Mitte März 1861:
Brief von Franziska Nietzsche.

Mein lieber Sohn, gestern wollte ich Dir schon Bilder3 und Brausepulver schicken, aber Hr. Schulze [sic]4 war noch nicht fertig und hat Dir nun, ohne daß wir die Dir nun, ohne daß wir die Bilder gesehen haben, dieselben geschickt, ist es Dir möglich, so schicke uns doch heute eins. Wir sind fortan im Geiste bei Dir und morgen erwarten wir, Dich persönlich zu sehen, sobald das Wetter gut ist. Weiße Hemden und Westen bekommts Du morgen. Lebe wohl mein theures liebes Kind. Elisabeth trägt mir besondere herzliche Grüße auf, ebenso grüßt Dich5

Deine
Mutter.

1. Gustav Schultze (1825-1897): German portraitist and photographer with a studio at Lindenstrasse 4, Naumburg. Schultze took seven photographs of Nietzsche from 1861-1882. His son, Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), became an infamous Nazi architect responsible for the design and building of a Nietzsche Memorial Hall in 1938.
2. In the early 1900s, possibly c. 1912, Schultze's original 1861 photo (GSA 101/01) was reproduced by Louis Held (1851-1927) in Weimar. The colorized photo here is in: The Nietzsche Channel, Nietzsche in the Arts: 1890-Present (forthcoming).
3. Nietzsche's confirmation photo. It's not certain how many were ordered. It seems that Nietzsche usually purchased three photos with his student discount.
4. See Note 1.
5. Not certain where she was staying.

 


Franziska Nietzsche at 25.
From tinted photo, ca. 1850.1
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Pforta, Mitte März 1861:
Brief an Franziska Nietzsche.

Liebe Mamma!

Es hat mir sehr leid gethan, daß ich in diesen Tagen dir wegen vieler Arbeiten nicht, habe schreiben können. Diese Zeit ist so mit Repetition angefüllt und außerdem muß ich noch so vieles nachholen.

Wie schön war es doch, daß ihr mit mir den heiligen und wichtigen Confirmationstag2 feiertet! Ich habe mit großer Rührung die schönen Briefe gelesen; ich gedenke auch, wenn ich wieder Zeit habe, hoffentlich noch vor den Ferien darauf zu antworten.3 — Der Brief an Prof. Buddensieg ist richtig besorgt.4 — Die Photographie5 gefällt mir ganz gut, wenn auch die Stellung etwas bucklig, die Füße etwas krumm sind, und die Hand eine Art Kloß ist. An wen willst du sie alle verschenken? — Das Geld habe ich richtig empfangen; ich danke dir vielemal dafür. Schreib mir doch recht bald, da ich so gern eure Briefe lese, und wir uns Sonntag6 doch nicht sehen können. Viele Grüße an Lisbeth. Lebe recht wohl!

Dein FWN.

1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
2. For Paul Deussen's description of their mutual confirmation, see Paul Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Leipzig: Brockhaus, 1901: 4: "Ein neues Band zwischen uns knüpfte am Sonntag Lätare des Jahres 1861 die gemeinsame Konfirmation. Als die Konfirmanten paarweise zum Altar traten, um kniend die Weihe zu empfangen, da knieten Nietzsche und ich als nächste Freunde neben einander. Sehr wohl erinnere ich mich noch an die heilige, weltentrückte Stimmung, die uns während der Wochen vor und nach der Konfirmation erfüllte. Wir wären ganz bereit gewesen, sogleich abzuscheiden, um bei Christo zu sein, und all unser Denken, Fühlen und Treiben war von einer überirdischen Heiterkeit überstrahlt, welche freilich als ein künstlich gezüchtetes Pflänzlein nicht von Dauer sein konnte und sehr bald unter den alltäglichen Eindrücken des Lernens und Lebens ebenso schnell verflog, wie sie gekommen war. Indessen hielt eine gewisse Gläubigkeit noch bis über das Abiturientenexamen hinaus stand. Untergraben wurde dieselbe unmerklich durch die vorzügliche historisch-kritische Methode, mit welcher in Pforta die Alten traktiert wurden, und die sich dann ganz von selbst auf das biblische Gebiet übertrug, wie denn z. B. Steinhart im Hebräischen in Prima den 45. Psalm durchaus als ein weltliches Hochzeitslied erklärte." (A new bond was formed between us on Laetare Sunday in the year 1861. As the confirmands came in pairs to the altar to receive the consecration kneeling, there Nietzsche and I knelt next to each other as closest friends. I still remember very well the holy, otherworldly mood that filled us during the weeks before and after the confirmation. We would be quite ready to depart immediately in order to be with Christ, and all our thoughts, feelings, and activities were overshadowed by an unearthly serenity, which of course as an artificially bred little plant could not last, and very soon under the everyday impressions of learning and living, fled just as quickly as it came, but a certain faith endured well after the final exams. This was imperceptibly undermined by the excellent historical-critical method with which the senior students were treated to at Pforta, and which then was entirely carried over into the biblical field, when e.g., Steinhart in the Hebrew Prima class thoroughly explained the 45th Psalm as a temporal wedding song.) Reprinted with a few minor changes in Paul Deussen, Mein Leben. Leipzig: Brockhaus, 1922, 70.
3. He received congratulatory letters from his great aunt Christliebe Friederike Balster (born Krause, 1782-after 1861), his uncle Bernhard Daechsel (1823-1888), and his uncle Edmund Oehler (1832-1891). There is only evidence of a reply to the latter (Pforta, early April 1861).
4. Robert Buddensieg (1817-1861): Nietzsche's tutor and advisor at Schulpforta from September 1858 until his death in August 1861.
5. Nietzsche's confirmation photo (see Naumburg, mid-March 1861: Letter from Franziska Nietzsche. Gustav Schultze's original tinted photo, and the reproduction by Louis Held are in GSA 101/01.
6. 03-17-1861.

 


Commemorative plaque at Schulpforta for Nietzsche.
Enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Pforta, 20. August 1861:
Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche.

Liebe Mamma!

Hr. Prof. Buddensieg ist todt! Diese Nacht um zwei Uhr ist er gestorben.1

Ach du glaubst nicht, wie mir traurig zu Muthe ist! Wir haben ihn alle so sehr geliebt; wir alle sind außerordentlich ergriffen; überall ist es todtenstill.

Wir wußten es gestern genau, daß er die Nacht nicht mehr überleben würde. Der Doktor2 hatte es vorausgesagt. Näheres über sein Ende weiß ich gar nicht; man kann auch nicht fragen. Ach, es ist zu schmerzlich! Doch — was Gott thut, das ist wohlgethan! —

— Ihr kommt doch wohl zu seinem Begräbniß heraus; ich muß nun einen neuen Tutor haben und werde H. D. Heinse [sic]3 heute oder morgen darum ansprechen. Wenn du damit einverstanden bist oder etwas dagegen hast, so schreib mir nur auf das eiligste. Denn sonst kommen wir zu spät; Heinse wird viele neue Empfohlne bekommen. Willst Du ihm nicht auch schreiben? — Lebt recht wohl und weinet mit mir, liebe Mamma und Lisbeth!

Dein sehr betrübter Fritz.

(Sendet mir ja weiße Wäsche zum Begräbniß.4)

Soeben erfahre ich auch, daß der alte Commissionsrath Teichmann5 gestern in Kosen gestorben ist. Das thut mir auch von Herzen leid; er war auch mit Prof. Buddensieg so befreundet.

Der liebe Hr. Prof. soll übrigens ein sehr schweres Ende gehabt und in einem zweistündlichen Todeskampf gelegen haben. —

Heute schreiben die Abiturienten[.]

1. Robert Buddensieg (1817-1861): Nietzsche's tutor and advisor at Schulpforta from September 1858 until his death on 08-20-1861.
2. August Zimmermann (1810-1908): Doctor at Schulpforta.
3. Max Heinze (1835-1909): Nietzsche's tutor and teacher at Schulpforta, who in 1875 became professor of philosophy at Leipzig.
4. Held on 08-22-1861.
5. Christian Gotthelf Teichmann (1776-1861): Bursar at Pforta until 1859.

 


Wilhelm Pinder
Detail from tinted photo taken by:
Ferdinand Henning, Naumburg, ca. 1863.1
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Pforta, 21. August 1861:
Brief an Wilhelm Pinder.2

Lieber Wilhelm!

Meinen innigsten Dank für deinen lieben, ausführlichen und interessanten Brief3 aus Tegernsee; führwahr, du hast eine wunderschöne Reise gemacht und werdet nun, indem ich dies schreibe, glücklich wieder heimgekehrt sein. Vielleicht hast du auch schon meinen Brief4 vom 3 August gelesen, vielleicht auch sind deine Stimmungen ähnliche, wie ich damals am Ende der Ferien hatte. Sei recht herzlich wieder willkommen, ich habe mich sehr nach dir gesehnt. —

Wie aber wirst du erschrocken sein, als du von den unendlichen Verlust gehört hast, den wir in diesen Tagen erlitten haben, daß unser lieber Prof. Buddensieg5 nach schmerzlichen Leiden gestorben ist. Du kannst mir nachfühlen, wie schmerzlich, wie tief mich das getroffen hat; denn du kanntest und liebtest ihn ja auch, den lieben, ausgezeichneten Mann. Ist es nicht möglich, daß Du, lieber Wilhelm mit Deinem lieben Vater6 und Gustav7 zum Begräbniß herauskämt? Es ist Donnerstag8 früh um 8 Uhr.

Ich habe nun meinen Tutor verloren und mich deshalb an Heinse [sic]9 empfehlen lassen. Der arme Mann ist auch so sehr betrübt, da er mit Pr. Buddensieg so befreundet war.

Mündlich will ich dir mehr über das Ende und die Krankheit des Hr. Prof., die man zuletzt als Typhus bezeichnete, erzählen. Lebe jetzt recht wohl, schreibe mir bald! Ich hoffe, wir sehen uns Donnerstag früh!

Dein Fritz[.]

Grüße Gustav10 recht schön von mir!

S.N.M.A.!11

1. See GSA 101/376 (unavailable). Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and reproduced a photo taken at the 1871 Leipzig Book Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
2. Wilhelm Pinder (1844-1928): Nietzsche's friend in Naumburg since childhood.
3. Tegernsee, 08-09-1861: Letter from Wilhelm Pinder to Nietzsche in Pforta.
4. The letter is lost.
5. Robert Buddensieg (1817-1861): Nietzsche's tutor and advisor at Schulpforta from September 1858 until his death on 08-20-1861.
6. Eduard Pinder (1810-1875).
7. Gustav Krug (1844-1902): Nietzsche's friend in Naumburg since childhood.
8. 08-22-1861.
9. Max Heinze (1835-1909): Nietzsche's tutor and teacher at Schulpforta, who in 1875 became professor of philosophy at Leipzig.
10. See Note 6.
11. Abbreviation of the Latin phrase: Semper nostra manet amicitia! (Our friendship ever endures!) Nietzsche, Pinder and Krug used this as the motto of their literary club, "Germania," which they founded on 07-25-1860.

 


Franziska Nietzsche at 25.
From tinted photo, ca. 1850.1
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Pforta, Ende September—Anfang Oktober 1861:
Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche.

Liebe Mutter!

Ich habe mich gestern ungemein über Deine Sendung, liebe Mamma, gefreut wo ich alles fand was ich erwartete und mehr fand, als ich erwartete. Herzlichen Dank für das schöne Gebäck und die Menge Pflaumen, die wirklich sehr schön sind. Ich gedenke euch für alles nächsten Mittwoch2 mündlich zu danken, wo von nach Tisch bis 3 großer Spaziergang ist. Wir müssen uns aber zu Hause sehn, da ich eine Anzahl Bücher mitnehmen muß.

Der kleine Italiäner3 scheint mir sehr praktisch eingerichtet zu sein. Hat Lisbeth nicht Lust bekommen, auch italienisch zu treiben?

Ich will euch nur auch gleich meine Wünsche4 schreiben; sie sind wahrlich nicht groß, und streng genommen ist es ja blos ein Hauptwunsch; das ist nemlich

R. Schumann op. 98[b] Requiem für Mignon
im Klavierauszug bei Breitkopf und Härtel
Preis 1 Thl. 5 Srg. ohne Rabbatt.
(also etwa 25 Srg.)

Außerdem wünsche ich, daß zwei Notenhefte eingebunden werden, die ich euch nächsten Mittwoch bezeichnen werde. Bei der Bestellung des ersten Wunsches ist aber nicht zu zaudern, da Domrich5 sehr langweilig ist. Ich lege euch diese beiden Wünsche zu Füßen und erwarte oder hoffe vielmehr, daß du sie nicht verwerfen wirst. Nicht wahr, liebe Mutter, es ist nicht zu viel gewünscht? Meinen ersten Wunsch, den ich dir neulich auf den Saalhäußern6 sagte, habe ich auf[ge]geben da er zu kostspielig ist. Aber diese beiden — nun, ich hoffe.

Beiläufig gesagt bin ich jetzt also Obersecundaner;7 ich theile dir meine Censur8 hier mit; sie ist erstaunlich schön[:]

Relig.
2 a
Lat.
1
Griech.
2 a
Math.
2 b
Hebr.
2 b
Geschichte
2 a
Franz.
2 a
Deutsch
2 a
Fleiß
1 a
Betragen
1

Damit kannst du wirklich zufrieden sein.

Nun lebe schön wohl, liebe Mamma, noch vielen Dank

von Deinem
Fritz.

Lisbeth viele Grüße!

Einen Brief habe ich nicht in den Kästchen gefunden. War einer darin? Ich glaube nicht. Doch, ich habe ihn soeben erst gefunden. Ich danke dir recht vielemal dafür.

1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
2. 10-02-1861.
3. Presumably a language textbook.
4. For Nietzsche's upcoming birthday on October 15.
5. Julius Domrich: a bookseller in Naumburg.
6. Saalhäuser: a winery belonging to Schulpforta on the opposite bank of the Saale river.
7. Obersecundaner: Upper-second-form student.
8. Cf. Pforta, Late Sept.—Early Oct. 1861. Letter from Max Heinze to Franziska Nietzsche in Naumburg. See GSA 100/568. "Hochgeehrte Frau Pastor[.] Aus der beifolgenden Zensur Ihres Sohnes erfahren Sie, daß seine Lehrer mit seinem Betragen und mit seinem Fleiß in dem halben Jahr recht wohl zufrieden sind und daß auch seine Leistungen in den meisten Fächern das Prädikat 'gut,' in einem und zwar einem Hauptfache sogar das Prädikat 'sehr gut' verdienen. Es sind dies Resultate, wie sie nicht gar zu häufig hier erzielt werden und ich freue mich, daß ich Ihnen eine derartige Zensur zuschicken kann indem ich zugleich den Wunsch ausspreche, künftighin immer in der selben Lage zu sein. — Daß es mir eine große Freude ist, der Tutor eines solchen Schülers zu sein, brauche ich Ihnen, hochgeehrte Frau Pastor wohl kaum noch besonders zu versichern. Genehmigen Sie bei dieser Gelegenheit den Ausdruck meiner ganz besonderen Hochachtung, mit der ich mich zeichne Ihr ganz ergebenster Heinze[.]" (Dear Frau Pastor. From the enclosed report card of your son you will learn that his teachers are quite satisfied with his behavior and with his diligence in the six months and that his achievements in most subjects deserve the grade 'good,' in one main subject even the grade 'very good.' These are such results that are not achieved here too often and I am pleased that I can send you such a report card and at the same time express my wish to always be in the same position in the future. — I hardly need to assure you, dear Frau Pastor, that it is a great pleasure for me to be the tutor of such a student. Allow me to take this opportunity to express my very special esteem, your most devoted Heinze[.])

 



Portrait of Friedrich Hölderlin.
Colorized and enhanced image © The Nietzsche Channel.

Pforta, 12. Oktober 1861:
Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche.

Liebe Mutter.

Ich danke dir für den allerdings ein wenig kurzen Brief; es ist doch keine hübsche Einrichtung mit dem Sonnabendkistenschicken; denn dadurch werden die Briefe sehr kurz. Ich bedarf der Hefte sehr nothwendig, bis zum Dienstag1 sende sie mir ja, die Kiste brauchst du dazu doch nicht. Wie steht es denn mit dem Taschengeld? Du hast mir gar nicht geantwortet. — Ich schreibe jetzt übrigens wieder mit Gänsefedern; es ist das aller bequemste und ich habe mich jetzt völlig daran gewöhnt; du könntest mir ein paar mitsenden. —

Morgen gehe ich, wie du weißt zum heiligen Abendmahl und kann euch also nicht sehen, so sehr ich es wünschte. Nun aber der schöne, langersehnte Freitag2 wird schon herankommen. die Kiste brauche ich dir vor Donnerstag doch nicht zu senden du wirst sie doch wahrscheinlich erst heute über 8 Tage brauchen. Ich freue mich übrigens ungemein auf den Freitag; wir sehen uns doch in unsrer Wohnung oder wollt ihr zu den Tanten3 kommen? Am liebsten wäre mir doch zu Hause. — Wenn ich den Onkel Oscar4 gesehen hätte, würde ich mich sehr gefreut haben; seine Ferien sind nun auch in ein paar Wochen zu Ende. Da du übrigens nach Maßnitz reist,5 so grüße und glückwünsche in meinem Namen recht schön; es thut mir doch sehr leid, daß ich nicht mit hinkommen kann. Auch alle sonstigen lieben Anverwandte grüße recht herzlich von mir; es wäre doch so schön, wenn auch ich und Lisbeth mit hinreisen könnten. — Vielleicht kannst du mir meinen Don Juan6 mitbringen, wenn es dir möglich ist. — Hast du übrigens an Max Heinse [sic]7 geschrieben? Es wäre doch vielleicht wünschenswerth gewesen. Nun noch ein spezieller Auftrag für Lisbeth, der aber die höchste Eile hat. Ich bedarf zu einer deutschen Arbeit über Hölderlin8 nothwendig seine Biographie,9 sie liegt in meinem Bücherkasten. die Kamera obscura10 habt ihr mir auch nicht gesendet. Alles erwarte ich spätestens Dienstag, wo ich übrigens durchaus keine Gratulation11 haben will, aber auch mit keiner Sylbe. Denn mein Geburtstag ist erst Freitag. Es wird übrigens Zeit sein, aufzuhören; es geht mir ganz wohl, mag es euch immer auch so gehn. Also immer noch keine Besserung? Das ist schlimm. Grüß den Onkel12 recht schön von mir, Lisbeth gleichfalls, die mir vielleicht Dienstag das Betreffende besorgt.

So lebt recht wohl!

Euer Fritz.

Die Kiste ist etwas defeckt, du wirst es bemerken.

1. 10-15-1861.
2. The 10-18-1861 coronation of Wilhelm I of Prussia (1797-1888; King of Prussia from 01-02-1861 and German Emperor from 01-18-1871 to 03-09-1888).
3. Friederike Dächsel (1793-1873): the step-sister of Nietzsche's father, and the wife of Carl August Dächsel (1790-1858) in Naumburg; and her sister, Lina Nietzsche (1802-1862).
4. Oscar Oehler (1839-1901), the youngest brother of Franziska Nietzsche.
5. For the 10-14-1861 birthday party of Wilhelmine Oehler (born Hahn, 1794–1876), Nietzsche's maternal grandmother.
6. Lord Byron (1788-1824): English poet and author of the epic poem, "Don Juan," written from 1819 to 1824. See Nietzsche's December 1861 Germania essay, "Ueber die dramatischen Dichtungen Byrons." Translation (On the Dramatic Works of Byron) in: Nietzsche's Writings as a Student. The Nietzsche Channel, 2012, 49-59.
7. Max Heinze (1835-1909): Nietzsche's tutor and teacher at Schulpforta, who in 1875 became professor of philosophy at Leipzig.
8. A 10-19-1861 essay topic for a class taught by Karl August Koberstein (1797-1870), German literary historian and professor at Schulpforta. "Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle." (Letter to my friend, in which I recommend that he read my favorite poet.) Koberstein gave Nietzsche's essay a mediocre grade of "2-2a" (B-), and noted: "Ich muß dem Verf. doch den freundlichen Rath ertheilen, sich an einen gesundern, klareren, deutscheren Dichter zu halten." (I must nevertheless give the auth[or] the friendly advice, to restrict himself to a healthier, clearer, more German poet.) 140 years later, the preeminent Nietzsche scholar Thomas H. Brobjer showed that the essay was largely plagiarized from a biography (see Note 9) by William Neumann. See Thomas H. Brobjer, "A Discussion and Source of Hölderlin's Influence of Nietzsche. Nietzsche's Use of William Neumann's Hölderlin." In: Nietzsche-Studien (2001) 30:397-412 (410-12).
9. William Neumann, a pseudonym of Arthur Frey (?-1858), who also wrote under Arthur Friedrich Bussenius (he seems to have been from Budapest), Friedrich Hölderlin. Mit Portrait. Cassel: Balde, 1853. See the entry for Hölderlin in Nietzsche's Library.
10. Probably for his physics class at Schulpforta.
11. Tuesday 10-15-1865 (Nietzsche's birthday).
12. Nietzsche's maternal uncle Edmund Oehler (1832-1891).

 




Elisabeth Nietzsche as a confirmand.
From tinted photo by Gustav Schultze, Naumburg, ca. 1860.1
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.


Pforta, Ende November 1861:
Brief an Elisabeth Nietzsche.

von deinem Bruder

Liebe Liese.

Da ich dir lange schon einen Brief schuldig war, will ich dir jetzt einen recht feinen schreiben, wenn nicht meine globige Feder mich daran hindern sollte. Ich werde dich wahrscheinlich von weiter nichts als von — Weihnachten unterhalten können. Es ist ja auch jetzt unser Lieblingsgedanke und ist es alle Jahre um diese Zeit gewesen. Stelle dir nun recht gemüthlich einen meiner ersten Ferienabende vor, wie wir in warmer Stube, mit oder ohne Lampe dasitzen und uns gegenseitig unsre Wünsche vorzählen. Währenddem bereitet drüben Mamma und Tante Rosalie2 geheimnißvolle Werke und

— wir lauschen,
wenn sie heimlich Worte tauschen;
und ein ungewöhnlich Rauschen,
bald ein Flüstern, bald ein Knistern
macht uns nach den Wundern lüstern,
und das geisterhafte Weben,
Hin- und wieder 'nüber Schweben
macht uns beben
usw.

Ich hoffe, du wirst mit deinen Wünschen noch nicht so entschlossen sein, daß ich dir nicht wenigstens einige Vorschläge zur Güte machen könnte. Ich habe eine ziemliche Anzahl wünschenswerther Bücher und Musikalien aufgeschrieben und will dir so einiges mittheilen. Von letztern z. B. scheint mir sehr passend für dich ein Werk Schumanns, desselben, der die zerbrochne Fensterscheibe3 componirt hat. Und zwar sind es seine schönsten Lieder überhaupt; es ist "Frauenliebe und Leben" Gedichte von Chamisso4 und muß so ungefähr 20 Srg. kosten. Der Text ist gleichfalls wunderschön. Von Büchern kann ich dir zuerst zwei theologische Werke anempfehlen, die dich und mich sehr interessieren werden. Ich habe sie selbst aus dem Munde Wenkels loben gehört, für dich sicherlich bedeutungsvoll. Beide sind von Hase, dem berühmten in Jena lebenden Professor, den ich selbst beinahe einmal gehört hätte, der nämlich der geistvollste Verfechter des idealen Rationalismus. "Das Leben Jesu" (1,6) ist das eine und Kirchengeschichte (2 Th. 6) das andre. Beide oder vielmehr jedes einzeln ungefähr 1 , 15 Srg.5 — Schreib an mich, wenn du die spezielle Addresse haben willst. Oder willst du dir vielleicht ein englisches Buch wünschen? Ich an deiner Stelle würde ganz entschieden Byron englisch lesen, der 1 Th. 25 Srg. kostet.6 Ich könnte dir noch verschiedne Bücher aufschreiben, nun will ich meine Wünsche sagen. In Hinsicht auf Musik also wünsche ich mir Paradies und die Peri v. Schumann für Klavier solo arrangirt.7 Das ist etwas entzückendes für jedermann, also auch für dich. Dann Shelley's poetische Werke übersetzt v. Seybt.8 Das erste kostet etwa 2 Thaler, wenn es durch Gustav besorgt wird. Das letztere 1 Th. 10 Srg. Ich würde mich ganz ungemein freuen, wenn ich beides bekäme, denn es sind meine einzigen Wünsche. Da fällt mir übrigens etwas ein, daß ich dir doch erzählen muß. Ich war nämlich Sonntag Mittag zu Hr. Dr. Heinse [sic]9 zu Tisch eingeladen, wo sehr fein gegessen wurde und noch hübscher gesprochen. Dann ist Dr. Volkmann10 der neue Lehrer bereit, englische Privatstunden zu geben. Es haben sich eine Menge gemeldet, ich denke aber doch erst Ostern beizutreten. Augenblicklich studiere ich ja italienisch noch privatim. Lateinisch, Griechisch Hebraeisch, wo das erste Buch Mose gelesen, Deutsch, wo das Nibelungenlied in der Ursprache gelesen wird, Französisch, wo in der Klasse Karl XII11 gelesen, in einem Kränzchen mit dreien außer mir Athalie,12 Italiänisch wo im Kränzchen Dante13 gelesen wird. Wenn das nicht vorläufig genug ist, da weiß ich nicht, besonders da im Lateinischen zugleich Vergil, Livius, Cicero, Sallust14 gelesen, im Griechischen Uias, Lysias, Herodot15 gelesen wird. Nun leb wohl und freu dich über diesen bedenklich langen Brief.

Dein Fritz.

Sonntag auf Wiedersehn in Almrich[.]16

1. See GSA 101/158. Gustav Schultze (1825-1897): German portraitist and photographer with a studio at Lindenstrasse 4, Naumburg. Schultze took seven photographs of Friedrich Nietzsche from 1861-1882. His son, Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), became an infamous Nazi architect responsible for the design and building of a Nietzsche Memorial Hall in 1938.
2. Rosalie Nietzsche (1811-1867), their paternal aunt.
3. Cf. Robert Schumann, Die Fensterscheibe. In: Sechs Gesänge, Op. 107, Nr. 2. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1885, 4.
4. Cf. Robert Schumann, Frauenliebe und Leben von Adalbert von Chamisso. Acht Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Seinem freunde Oswald Lorenz zugeeignet von Robert Schumann. Op. 42. Leipzig: Whistling, 1843.
5. Karl Hase, Das Leben Jesu. Lehrbuch zunächst für akademische Vorlesungen. Von Dr. Karl Hase, Professor der Theol. an der Univ. Jena, H. S. A. Geheimen Kirchenrathe, Ritter des G. S. W. O. vom weißen Falken. Vierte verbesserte Auflage. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1854. Karl Hase, Kirchengeschichte. Lehrbuch zunächst für akademische Vorlesungen von Dr. Karl Hase, Professor der Theologie an der Universität Jena, H. S. A. Geheimen Kirchenrathe, Ritter des G. S. W. O. vom weißen Falken und des Ernestinischen Hausordens. Achte verbesserte Auflage. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1858.
6. Cf. Nietzsche's notes March 1861 — August 1862: "Byron Edinburgh / el. geb. gr. 12. / 1 Thl. 25[.]" In: BAW: Friedrich Nietzsche Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Werke. 1. Band. Jugendschriften. 1854-1861. Herausgegeben von Hans Joachim Mette. München: Beck, 245. Online at archive.org.
7. Robert Schumann, Das Paradies und die Peri: Dichtung aus "Lalla Rookh" von Thomas Moore. In Musik gesetzt von Robert Schumann. Erläutert und Frau Clara Schumann ehrfurchtsvoll gewidmet von Dr. F. P. Graf Laurencin. Leipzig: Matthes, 1859. Nietzsche's copy at HAAB.
8. Percy Bysshe Shelley (1792-1822), Poetische Werke in einem Bande. Aus dem Englischen übertragen von Julius Seybt. Leipzig: Engelmann, 1844.
9. Max Heinze (1835-1909): Nietzsche's tutor and teacher at Schulpforta, who in 1875 became professor of philosophy at Leipzig.
10. Diederich Volkmann (1838-1903): German philologist and teacher at Schulpforta.
11. Cf. Voltaire (1694-1778), Histoire de Charles XII par Voltaire. Nouvelle Édition. Précédée d'une introduction historique et littéraire et accompagnée de remarques historiques philologiques et littéraires, par M. J. Genouille Professeur au Collége Stanislas. Paris: Delalain, 1858.
12. See the entry for Jean Racine (1639-1699) in Nietzsche's Library.
13. See the entry for Dante (1265-1321) in Nietzsche's Library.
14. For the Latin authors taught by Karl Steinhart (1801-1872) in WS1861-62 at Schulpforta, see the entries for Cicero, Livy and Virgil in Nietzsche's Library. For the SS1861 class taught by Wilhelm Corssen (1820-1875) at Schulpforta, see the entry for Sallust in Nietzsche's Library.
15. According to the annual report for Schulpforta published in 1862, Julius Kretzschmer (1837-1867) taught Lysias' speech "Against Agoratus," and Homer's Iliad, Books 6-7 in WS1861-62.
16. Almrich is the town between Naumburg and Pforta where Nietzsche met his visiting relatives.

 


Elisabeth Nietzsche as a young girl.
From tinted photo by Ferdinand Henning, Naumburg, undated.1
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.

Pforta, Ende November 1861:
Brief an Elisabeth Nietzsche.

Menzel, Geschichte der letzten vierzig Jahre 1816-56.
  2 Bände
  Stuttgart 1859 / 1 Th. 28 Srg.2
Barrau, Geschichte der französischen Revolution 1789-99,
  2 Bände
  Brandenburg 1859. / 1 Th. 6 Srg.3
Beides Berlin, Gsellius.

Liebe Lisbeth.

Das sind meine Wünsche, die sich seit gestern in so weit geändert haben, daß ich mir überhaupt nichts musikalisches wünsche. Diese geschichtlichen Werke sind für mich aber außerordentlich wünschenswerth, Du mußt wissen, daß ich mich jetzt sehr für Geschichte interessire.4 Außerdem habe ich gar keine Wünsche; wenn du mir etwas schenken willst, so schenke mir ein Stück Streichpomade, die für meine Haare mir lieb wäre. Daß du dir Frauenliebe und Leben5 nicht schenken lassen wünscht, ist mir unlieb zu hören, erstens da die Opposition doch aus einem Munde herrührt, der mir überhaupt über solche Schönheiten kein Urtheil zu haben scheint, und zweitens, weil ich weniger an das Singen als an das Vorspielen gedacht habe. Zum Singen freilich möchte es jetzt für dich zu schwer sein, einzelnes wenigstens. Wenn du also nicht wünscht, da könnte ich dir andere Sachen von Schubert z.B. vorschlagen. Freust du dich nicht ganz entsetzlich auf Weihnachten? Es ist freilich schade, daß ich mir nichts musikalisches wünschen kann. Ich werde mir aber in den Ferien meheres abschreiben und es euch dann vorspielen. So ist es doch viel billiger. Wir wollen recht schöne Ferien verleben. Du kannst mir übrigens einen schleunigen Gefallen thun. Morgen brauche ich ganz unbedingt den Bettüberzug, sende ihn mir in der Kiste und außerdem den Band von Beckers Weltgeschichte, der die Reformation enthält, und den letzten Band der neusten Geschichte desselben Werkes.6 Bitte vergiß es ja nicht! Sonst habe ich nichts weiter zu schreiben. Mein erster Wunschzettel gilt also nicht mehr. Mache die Tanten7 aber mit dem neuen noch nicht vor Donnerstag bekannt. Bei der Bestellung achte ja auf dieselben Worte, wie ich aufgeschrieben habe. Lebe recht schön wohl! Grüße Mamma vielmahl wenn sie wieder kommt.

Dein Fritz.

Nochmals anders entschlossen, aber auch nun fest. Ich habe die obigen Wünsche verworfen und wünsche mir
Arnd, Geschichte der französischen Revolution 1789-99.
6 Bände. Braunschweig. 1851. gebunden. Berlin, Gsellius 3 Thl.8
weiter nichts. Sag es den Tanten.

1. See GSA 101/158, which is a reproduced detail from another photo (GSA 101/182). Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Friedrich Nietzsche from 1862-1868, and also reproduced two photos: a photo taken at the 1871 Leipzig Trade Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche; and a photo taken in Basel in 1871 by Friedrich Hermann Hartmann. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
2. Wolfgang Menzel (1798-1873), Geschichte der letzten vierzig Jahre 1816-56. In zwei Bänden. Stuttgart: Krabbe, 1857-1859.
3. Théodore Henri Barrau (1794-1865), Geschichte der französischen Revolution — 1789 bis 1799 —. Aus dem Französischen übersetzt von E. Doehler. Brandenburg: Müller, 1859. Bd. 1; Bd. 2.
4. At Schulpforta in WS1861-62, an Obersecunda class taught by Wilhelm Corssen (1820-1875) included "Recent history, from the beginning of the 18th century."
5. Robert Schumann, Frauenliebe und Leben von Adalbert von Chamisso. Acht Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Seinem freunde Oswald Lorenz zugeeignet von Robert Schumann. Op. 42. Leipzig: Whistling, 1843. Cf. Pforta, late-November 1861: Letter to Elisabeth Nietzsche in Naumburg.
6. Karl Friedrich Becker (1777-1806), Weltgeschichte. Fünfzehnter Band. Geschichte der letzten vierzig Jahre als Supplement zu allen Ausgaben. Herausgegeben von Eduard Arnd. Abtheilung. Berlin: Duncker und Humblot, 1854-1855.
7. Friederike Dächsel (1793-1873): the step-sister of Nietzsche's father, and the wife of Carl August Dächsel (1790-1858) in Naumburg; and her sister, Lina Nietzsche (1802-1862).
8. See the entry for Karl Eduard Arnd in Nietzsche's Library.

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