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Pforta 14. Januar 1861: Liebe Freunde. Nun sind die schönen Tage schon wieder vorüber, wo wir uns länger und häufiger sprechen konnten, vorüber die Zeiten, die in der Erwartung so hoffnungsvoll, in der Erinnerung so trostreich sind.3 Um nun sowohl meinem gegebnen Versprechen zu genügen, als auch um wieder einmal mich gemüthlich mit euch wenn auch nicht persönlich so doch im Geiste zu unterhalten, schicke ich mich jetzt an einige Worte an euch zu richten, weniger über das, was ich erlebt, genossen, gehört, gesehen, als über einige Ideen, deren wir ja schon in den jüngst verfloss’nen Stunden so viel gegenseitig austauschten. Denn was sollte ich von meinem jetzigen Leben berichten? Daß wir viel zu thun haben? Daß die Arbeit noch durch Feriengedanken gestört wird? Daß die Zeit für Lieblingsbeschäftigungen gering, ach leider! zu gering ist? Das habt ihr ja alles schon selbst erfahren und erfahrt es noch. Weßhalb sollte ich da noch euren Mißmuth vergrößern? Fürwahr, es ist doch viel angenehmer aus dem tyrannischen Reich, des Zwangs, in die Gebiete des freien Willens zu flüchten. Ohne weitere Umschweife will ich deßhalb mich zu den Stoff wenden, der jetzt eure Aufmerksamkeit kurze Zeit fesseln möge. Und dieser Stoff betrifft die Umgestaltung des Oratorium.4 Wenn man bis jetzt immer geglaubt hat, das Oratorium nehme in der geistlichen Musik dieselbe Stelle ein, die die Oper in der weltlichen, so scheint mir dies unrichtig, ja eine Herabsetzung zu sein. An und für sich ist schon das Oratorium großartig einfacher, ja so muß es als erhebende und zwar streng religiös erhebende Musik sein. So verschmäht das Oratorium alle andern Mittel, deren sich die Oper zur Wirkung bedient; es kann von niemand für etwas Begleitendes wie die Opernmusik doch für die Menge noch ist, gehalten werden. Kein andrer Sinn wird hier erregt außer dem Gehör. Auch ist der Stoff unendlich einfacher und erhabener, ja großenteils ist er bekannt und allen, auch dem Ungebildeten ohne Mühe verständlich. Deßhalb, glaube ich, steht das Oratorium in seiner Musikgattung höher, als die Oper, indem es also in den Mitteln einfacher, in den Wirkungen unmittelbarer ist und seiner Verbreitung nach wenigstens allgemeiner sein sollte. Wenn letzteres nicht so ist, so muß man die Ursachen nicht in der Musikgattung selbst, sondern theils in der Behandlung theils in dem geringen Ernst unsrer Zeit suchen. Was die Behandlung nun anbetrifft, so ist diese erstens zu compliziert und läßt noch den Mangel an Einheit empfinden. Wie kann ein Tonwerk, in eine Menge kleiner unzusammenhängende Theile zerspalten einen einigen und vorzüglich einen heiligen Eindruck machen! Deßhalb halte ich dafür, daß das Ganze nur in wenige aber größere Theile zerfallen, die sich dem Gang der Ereignisse anschließen und einen durchgängig einigen Charakter tragen. Zweitens liegt ein Nachtheil in der viel zu künstlichen, altvaterischen Behandlungsweise, die mehr in die Studirstube paßt, als in unsre Kirchen und Säle und die dem Ungebildeten in der Musik das Verständniß erschwert, ja unmöglich macht. Nun ist zwar richtig: Ein solches Werk kann und soll nicht bei einmaliger Anhörung durchdacht und auserkannt, sondern empfunden werden. Und daß eine Fuge auch von Ungebildeten empfunden werden kann, wird Niemand leugnen, besonders wenn sie knapp und kräftig ist und nicht durch unzählige Takte, mißlautend und langweilig durchgeführt wird. Der Hauptgrund aber, daß das Oratorium zu wenig populär, ist wohl darin zu suchen, daß die Musik oft zu unheilig mit Weltlichen gemischt ist. Und das ist das Haupterforderniß, daß sie in allen Theilen das Heilige, Göttliche auf der Stirn trägt. Also muß ein jedes Oratorium diesen drei Forderungen genügen, nämlich überall einen einigen zusammenhängenden Charakter zeigen, dann tief zu Gemüth dringen und endlich stets streng religiös und erhebend sein. Dazu tritt nun noch ein Erforderniß, das aber wirklich nothwendig und unumgänglich ist. Ich meine nämlich die Ausstoßung des Recitativ und einen entsprechenden Ersatz. Es läßt sich nun einmal eine rein unpoetische Erzählung schlechterdings nicht absingen, ohne einen störenden und trennenden Eindruck hervorzubringen. Als entsprechender Ersatz läßt sich auch so eigentlich kein andres Musikstück erdenken. Wenn die Erzählung aber unumgänglich nothwendig ist, so müßten nach meiner Meinung die Worte zu der begleitenden Musik gesprochen werden. So träte dann ein neues Element nämlich das melodramatische zu dem Oratorium. Sonst muß aber so viel nur irgend möglich ist alles Unsingbare vermieden werden und lieber die etwa fehlenden Zwischenglieder, die sich bei bekannten Erzählungen der Zuhörer so leicht ergänzen kann, durch musikalische Zwischensätze von ähnlichen Charakter als die Erzählung ausgefüllt werden. — Da ich hoffe, in den nächsten Briefen5 meine weitern Gedanken darüber gegen euch auszusprechen, und mich meine Zeit drängt, muß ich jetzt wohl schließen. Sind denn die Noten angekommen? Ich bin sehr gespannt darauf. Nächstens werden wir ja uns auch gegenseitig unsre Januarsendungen6 schicken, von Wilhelm empfange ich vielleicht auch noch eine verspätete Dezemberlieferung. Schreibt mir doch recht bald einmal: ich sehne mich so nach einem Brief, da ich so abgeschlossen und getrennt von euch bin. Sonst wünsche ich, daß es euch immer recht wohl geht und ihr auch mitunter an euren Freund in Pforta denkt. Semper nostra mane[t amicitia!]7 [+] 1. Gustav Krug (1844-1902) and Wilhelm Pinder (1844-1928): Nietzsche's friends in Naumburg since childhood.
Pforta 2. Februar 1861: Liebe Mamma! Einige Worte, liebe Mamma, muß ich dir doch heut schreiben; entschuldige aber im Voraus, wenn mein Brief sehr kurz und meine Schrift schlecht ist. Zuerst also meine innigsten Wünsche zu Deinem lieben Geburtstag.2 Möge der liebe Gott im ganzen Jahre mit dir sein und dich mit Segnungen überschütten. Möge er dir stete Gesundheit verleihn, daß du das neue Jahr im vollen Wohlbefinden verleben mögest. Wir aber wollen uns immer auch in dem neuen Jahre bemühn, uns in Wort und That dankbar zu bezeigen und dir deine große Liebe gegen uns zu lohnen. — Daß ich heute nicht in Naumburg sein kann, thut mir herzlich leid, aber ich liege noch immer im Bette3 und soll noch nicht aufstehn. Es geht aber viel besser; die Kopfschmerzen haben sehr nachgelassen; auch der Appetit ist besser, kurz, es ist doch sicher auf dem Weg der Besserung. die Bratäpfel haben mir ganz gut geschmeckt. Ich danke vielemal dafür; auch die Wäsche habe ich richtig bekommen. Hattest Du mir denn geschrieben? Ich habe den Brief nicht gefunden. Grüße Lisbeth viele mal von mir und verlebt den Tag in rechter Freude! Grüßt den Onkel Theobald4 viele mal! Nun lebe recht, recht wohl! Dein dich innig liebender Mein Geburtstagsgedicht und eine kleine Composition5 sind noch nicht ganz vollendet; das thut mir sehr leid. Ich werde aber alles später vollenden. — 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
Naumburg, Mitte März 1861: Mein lieber Sohn, gestern wollte ich Dir schon Bilder3 und Brausepulver schicken, aber Hr. Schulze [sic]4 war noch nicht fertig und hat Dir nun, ohne daß wir die Dir nun, ohne daß wir die Bilder gesehen haben, dieselben geschickt, ist es Dir möglich, so schicke uns doch heute eins. Wir sind fortan im Geiste bei Dir und morgen erwarten wir, Dich persönlich zu sehen, sobald das Wetter gut ist. Weiße Hemden und Westen bekommts Du morgen. Lebe wohl mein theures liebes Kind. Elisabeth trägt mir besondere herzliche Grüße auf, ebenso grüßt Dich5 Deine 1. Gustav Schultze (1825-1897): German portraitist and photographer with a studio at Lindenstrasse 4, Naumburg. Schultze took seven photographs of Nietzsche from 1861-1882. His son, Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), became an infamous Nazi architect responsible for the design and building of a Nietzsche Memorial Hall in 1938.
Pforta, Mitte März 1861: Liebe Mamma! Es hat mir sehr leid gethan, daß ich in diesen Tagen dir wegen vieler Arbeiten nicht, habe schreiben können. Diese Zeit ist so mit Repetition angefüllt und außerdem muß ich noch so vieles nachholen. Wie schön war es doch, daß ihr mit mir den heiligen und wichtigen Confirmationstag2 feiertet! Ich habe mit großer Rührung die schönen Briefe gelesen; ich gedenke auch, wenn ich wieder Zeit habe, hoffentlich noch vor den Ferien darauf zu antworten.3 — Der Brief an Prof. Buddensieg ist richtig besorgt.4 — Die Photographie5 gefällt mir ganz gut, wenn auch die Stellung etwas bucklig, die Füße etwas krumm sind, und die Hand eine Art Kloß ist. An wen willst du sie alle verschenken? — Das Geld habe ich richtig empfangen; ich danke dir vielemal dafür. Schreib mir doch recht bald, da ich so gern eure Briefe lese, und wir uns Sonntag6 doch nicht sehen können. Viele Grüße an Lisbeth. Lebe recht wohl! Dein FWN. 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
Pforta, 20. August 1861: † Liebe Mamma! Hr. Prof. Buddensieg ist todt! Diese Nacht um zwei Uhr ist er gestorben.1 Ach du glaubst nicht, wie mir traurig zu Muthe ist! Wir haben ihn alle so sehr geliebt; wir alle sind außerordentlich ergriffen; überall ist es todtenstill. Wir wußten es gestern genau, daß er die Nacht nicht mehr überleben würde. Der Doktor2 hatte es vorausgesagt. Näheres über sein Ende weiß ich gar nicht; man kann auch nicht fragen. Ach, es ist zu schmerzlich! Doch — was Gott thut, das ist wohlgethan! — — Ihr kommt doch wohl zu seinem Begräbniß heraus; ich muß nun einen neuen Tutor haben und werde H. D. Heinse [sic]3 heute oder morgen darum ansprechen. Wenn du damit einverstanden bist oder etwas dagegen hast, so schreib mir nur auf das eiligste. Denn sonst kommen wir zu spät; Heinse wird viele neue Empfohlne bekommen. Willst Du ihm nicht auch schreiben? — Lebt recht wohl und weinet mit mir, liebe Mamma und Lisbeth! Dein sehr betrübter Fritz. (Sendet mir ja weiße Wäsche zum Begräbniß.4) † Soeben erfahre ich auch, daß der alte Commissionsrath Teichmann5 gestern in Kosen gestorben ist. Das thut mir auch von Herzen leid; er war auch mit Prof. Buddensieg so befreundet. Der liebe Hr. Prof. soll übrigens ein sehr schweres Ende gehabt und in einem zweistündlichen Todeskampf gelegen haben. — Heute schreiben die Abiturienten[.] 1. Robert Buddensieg (1817-1861): Nietzsche's tutor and advisor at Schulpforta from September 1858 until his death on 08-20-1861.
Pforta, 21. August 1861: Lieber Wilhelm! Meinen innigsten Dank für deinen lieben, ausführlichen und interessanten Brief3 aus Tegernsee; führwahr, du hast eine wunderschöne Reise gemacht und werdet nun, indem ich dies schreibe, glücklich wieder heimgekehrt sein. Vielleicht hast du auch schon meinen Brief4 vom 3 August gelesen, vielleicht auch sind deine Stimmungen ähnliche, wie ich damals am Ende der Ferien hatte. Sei recht herzlich wieder willkommen, ich habe mich sehr nach dir gesehnt. — Wie aber wirst du erschrocken sein, als du von den unendlichen Verlust gehört hast, den wir in diesen Tagen erlitten haben, daß unser lieber Prof. Buddensieg5 nach schmerzlichen Leiden gestorben ist. Du kannst mir nachfühlen, wie schmerzlich, wie tief mich das getroffen hat; denn du kanntest und liebtest ihn ja auch, den lieben, ausgezeichneten Mann. Ist es nicht möglich, daß Du, lieber Wilhelm mit Deinem lieben Vater6 und Gustav7 zum Begräbniß herauskämt? Es ist Donnerstag8 früh um 8 Uhr. Ich habe nun meinen Tutor verloren und mich deshalb an Heinse [sic]9 empfehlen lassen. Der arme Mann ist auch so sehr betrübt, da er mit Pr. Buddensieg so befreundet war. Mündlich will ich dir mehr über das Ende und die Krankheit des Hr. Prof., die man zuletzt als Typhus bezeichnete, erzählen. Lebe jetzt recht wohl, schreibe mir bald! Ich hoffe, wir sehen uns Donnerstag früh! Dein Fritz[.] Grüße Gustav10 recht schön von mir! S.N.M.A.!11 1. See GSA 101/376 (unavailable). Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and reproduced a photo taken at the 1871 Leipzig Book Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
Pforta, Ende September—Anfang Oktober 1861: Liebe Mutter! Ich habe mich gestern ungemein über Deine Sendung, liebe Mamma, gefreut wo ich alles fand was ich erwartete und mehr fand, als ich erwartete. Herzlichen Dank für das schöne Gebäck und die Menge Pflaumen, die wirklich sehr schön sind. Ich gedenke euch für alles nächsten Mittwoch2 mündlich zu danken, wo von nach Tisch bis 3 großer Spaziergang ist. Wir müssen uns aber zu Hause sehn, da ich eine Anzahl Bücher mitnehmen muß. Der kleine Italiäner3 scheint mir sehr praktisch eingerichtet zu sein. Hat Lisbeth nicht Lust bekommen, auch italienisch zu treiben? Ich will euch nur auch gleich meine Wünsche4 schreiben; sie sind wahrlich nicht groß, und streng genommen ist es ja blos ein Hauptwunsch; das ist nemlich R. Schumann op. 98[b] Requiem für Mignon Außerdem wünsche ich, daß zwei Notenhefte eingebunden werden, die ich euch nächsten Mittwoch bezeichnen werde. Bei der Bestellung des ersten Wunsches ist aber nicht zu zaudern, da Domrich5 sehr langweilig ist. Ich lege euch diese beiden Wünsche zu Füßen und erwarte oder hoffe vielmehr, daß du sie nicht verwerfen wirst. Nicht wahr, liebe Mutter, es ist nicht zu viel gewünscht? Meinen ersten Wunsch, den ich dir neulich auf den Saalhäußern6 sagte, habe ich auf[ge]geben da er zu kostspielig ist. Aber diese beiden — nun, ich hoffe. Beiläufig gesagt bin ich jetzt also Obersecundaner;7 ich theile dir meine Censur8 hier mit; sie ist erstaunlich schön[:]
Damit kannst du wirklich zufrieden sein. Nun lebe schön wohl, liebe Mamma, noch vielen Dank von Deinem Lisbeth viele Grüße! Einen Brief habe ich nicht in den Kästchen gefunden. War einer darin? Ich glaube nicht. Doch, ich habe ihn soeben erst gefunden. Ich danke dir recht vielemal dafür. 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13.
Pforta, 12. Oktober 1861: Liebe Mutter. Ich danke dir für den allerdings ein wenig kurzen Brief; es ist doch keine hübsche Einrichtung mit dem Sonnabendkistenschicken; denn dadurch werden die Briefe sehr kurz. Ich bedarf der Hefte sehr nothwendig, bis zum Dienstag1 sende sie mir ja, die Kiste brauchst du dazu doch nicht. Wie steht es denn mit dem Taschengeld? Du hast mir gar nicht geantwortet. — Ich schreibe jetzt übrigens wieder mit Gänsefedern; es ist das aller bequemste und ich habe mich jetzt völlig daran gewöhnt; du könntest mir ein paar mitsenden. — Morgen gehe ich, wie du weißt zum heiligen Abendmahl und kann euch also nicht sehen, so sehr ich es wünschte. Nun aber der schöne, langersehnte Freitag2 wird schon herankommen. die Kiste brauche ich dir vor Donnerstag doch nicht zu senden du wirst sie doch wahrscheinlich erst heute über 8 Tage brauchen. Ich freue mich übrigens ungemein auf den Freitag; wir sehen uns doch in unsrer Wohnung oder wollt ihr zu den Tanten3 kommen? Am liebsten wäre mir doch zu Hause. — Wenn ich den Onkel Oscar4 gesehen hätte, würde ich mich sehr gefreut haben; seine Ferien sind nun auch in ein paar Wochen zu Ende. Da du übrigens nach Maßnitz reist,5 so grüße und glückwünsche in meinem Namen recht schön; es thut mir doch sehr leid, daß ich nicht mit hinkommen kann. Auch alle sonstigen lieben Anverwandte grüße recht herzlich von mir; es wäre doch so schön, wenn auch ich und Lisbeth mit hinreisen könnten. — Vielleicht kannst du mir meinen Don Juan6 mitbringen, wenn es dir möglich ist. — Hast du übrigens an Max Heinse [sic]7 geschrieben? Es wäre doch vielleicht wünschenswerth gewesen. Nun noch ein spezieller Auftrag für Lisbeth, der aber die höchste Eile hat. Ich bedarf zu einer deutschen Arbeit über Hölderlin8 nothwendig seine Biographie,9 sie liegt in meinem Bücherkasten. die Kamera obscura10 habt ihr mir auch nicht gesendet. Alles erwarte ich spätestens Dienstag, wo ich übrigens durchaus keine Gratulation11 haben will, aber auch mit keiner Sylbe. Denn mein Geburtstag ist erst Freitag. Es wird übrigens Zeit sein, aufzuhören; es geht mir ganz wohl, mag es euch immer auch so gehn. Also immer noch keine Besserung? Das ist schlimm. Grüß den Onkel12 recht schön von mir, Lisbeth gleichfalls, die mir vielleicht Dienstag das Betreffende besorgt. So lebt recht wohl! Euer Fritz. Die Kiste ist etwas defeckt, du wirst es bemerken. 1. 10-15-1861.
Pforta, Ende November 1861: von deinem Bruder Liebe Liese. Da ich dir lange schon einen Brief schuldig war, will ich dir jetzt einen recht feinen schreiben, wenn nicht meine globige Feder mich daran hindern sollte. Ich werde dich wahrscheinlich von weiter nichts als von — Weihnachten unterhalten können. Es ist ja auch jetzt unser Lieblingsgedanke und ist es alle Jahre um diese Zeit gewesen. Stelle dir nun recht gemüthlich einen meiner ersten Ferienabende vor, wie wir in warmer Stube, mit oder ohne Lampe dasitzen und uns gegenseitig unsre Wünsche vorzählen. Währenddem bereitet drüben Mamma und Tante Rosalie2 geheimnißvolle Werke und
Ich hoffe, du wirst mit deinen Wünschen noch nicht so entschlossen sein, daß ich dir nicht wenigstens einige Vorschläge zur Güte machen könnte. Ich habe eine ziemliche Anzahl wünschenswerther Bücher und Musikalien aufgeschrieben und will dir so einiges mittheilen. Von letztern z. B. scheint mir sehr passend für dich ein Werk Schumanns, desselben, der die zerbrochne Fensterscheibe3 componirt hat. Und zwar sind es seine schönsten Lieder überhaupt; es ist "Frauenliebe und Leben" Gedichte von Chamisso4 und muß so ungefähr 20 Srg. kosten. Der Text ist gleichfalls wunderschön. Von Büchern kann ich dir zuerst zwei theologische Werke anempfehlen, die dich und mich sehr interessieren werden. Ich habe sie selbst aus dem Munde Wenkels loben gehört, für dich sicherlich bedeutungsvoll. Beide sind von Hase, dem berühmten in Jena lebenden Professor, den ich selbst beinahe einmal gehört hätte, der nämlich der geistvollste Verfechter des idealen Rationalismus. "Das Leben Jesu" (1,6) ist das eine und Kirchengeschichte (2 Th. 6) das andre. Beide oder vielmehr jedes einzeln ungefähr 1 |
Elisabeth Nietzsche as a young girl.
From tinted photo by Ferdinand Henning, Naumburg, undated.1
Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.
Pforta, Ende November 1861:
Brief an Elisabeth Nietzsche.
Menzel, | Geschichte der letzten vierzig Jahre 1816-56. |
2 Bände | |
Stuttgart 1859 / 1 Th. 28 Srg.2 | |
Barrau, | Geschichte der französischen Revolution 1789-99, |
2 Bände | |
Brandenburg 1859. / 1 Th. 6 Srg.3 | |
Beides Berlin, Gsellius. |
Liebe Lisbeth.
Das sind meine Wünsche, die sich seit gestern in so weit geändert haben, daß ich mir überhaupt nichts musikalisches wünsche. Diese geschichtlichen Werke sind für mich aber außerordentlich wünschenswerth, Du mußt wissen, daß ich mich jetzt sehr für Geschichte interessire.4 Außerdem habe ich gar keine Wünsche; wenn du mir etwas schenken willst, so schenke mir ein Stück Streichpomade, die für meine Haare mir lieb wäre. Daß du dir Frauenliebe und Leben5 nicht schenken lassen wünscht, ist mir unlieb zu hören, erstens da die Opposition doch aus einem Munde herrührt, der mir überhaupt über solche Schönheiten kein Urtheil zu haben scheint, und zweitens, weil ich weniger an das Singen als an das Vorspielen gedacht habe. Zum Singen freilich möchte es jetzt für dich zu schwer sein, einzelnes wenigstens. Wenn du also nicht wünscht, da könnte ich dir andere Sachen von Schubert z.B. vorschlagen. Freust du dich nicht ganz entsetzlich auf Weihnachten? Es ist freilich schade, daß ich mir nichts musikalisches wünschen kann. Ich werde mir aber in den Ferien meheres abschreiben und es euch dann vorspielen. So ist es doch viel billiger. Wir wollen recht schöne Ferien verleben. Du kannst mir übrigens einen schleunigen Gefallen thun. Morgen brauche ich ganz unbedingt den Bettüberzug, sende ihn mir in der Kiste und außerdem den Band von Beckers Weltgeschichte, der die Reformation enthält, und den letzten Band der neusten Geschichte desselben Werkes.6 Bitte vergiß es ja nicht! Sonst habe ich nichts weiter zu schreiben. Mein erster Wunschzettel gilt also nicht mehr. Mache die Tanten7 aber mit dem neuen noch nicht vor Donnerstag bekannt. Bei der Bestellung achte ja auf dieselben Worte, wie ich aufgeschrieben habe. Lebe recht schön wohl! Grüße Mamma vielmahl wenn sie wieder kommt.
Dein Fritz.
Nochmals anders entschlossen, aber auch nun fest. Ich habe die obigen Wünsche verworfen und wünsche mir
Arnd, Geschichte der französischen Revolution 1789-99.
6 Bände. Braunschweig. 1851. gebunden. Berlin, Gsellius 3 Thl.8
weiter nichts. Sag es den Tanten.
1. See GSA 101/158, which is a reproduced detail from another photo (GSA 101/182). Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Friedrich Nietzsche from 1862-1868, and also reproduced two photos: a photo taken at the 1871 Leipzig Trade Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche; and a photo taken in Basel in 1871 by Friedrich Hermann Hartmann. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
2. Wolfgang Menzel (1798-1873), Geschichte der letzten vierzig Jahre 1816-56. In zwei Bänden. Stuttgart: Krabbe, 1857-1859.
3. Théodore Henri Barrau (1794-1865), Geschichte der französischen Revolution — 1789 bis 1799 —. Aus dem Französischen übersetzt von E. Doehler. Brandenburg: Müller, 1859. Bd. 1; Bd. 2.
4. At Schulpforta in WS1861-62, an Obersecunda class taught by Wilhelm Corssen (1820-1875) included "Recent history, from the beginning of the 18th century."
5. Robert Schumann, Frauenliebe und Leben von Adalbert von Chamisso. Acht Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Seinem freunde Oswald Lorenz zugeeignet von Robert Schumann. Op. 42. Leipzig: Whistling, 1843. Cf. Pforta, late-November 1861: Letter to Elisabeth Nietzsche in Naumburg.
6. Karl Friedrich Becker (1777-1806), Weltgeschichte. Fünfzehnter Band. Geschichte der letzten vierzig Jahre als Supplement zu allen Ausgaben. Herausgegeben von Eduard Arnd. Abtheilung. Berlin: Duncker und Humblot, 1854-1855.
7. Friederike Dächsel (1793-1873): the step-sister of Nietzsche's father, and the wife of Carl August Dächsel (1790-1858) in Naumburg; and her sister, Lina Nietzsche (1802-1862).
8. See the entry for Karl Eduard Arnd in Nietzsche's Library.
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