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Berlin, Januar 13, 1889: Hochverehrter Herr Doktor! Es ist grauenhaft! Nietzsche ist wahnsinnig
geworden! Am letzten Montag hat ihn Overbeck aus
Turin geholt und in Baseler Irrenspital untergebracht! Nun, für Den, welcher Nietzsches Ziele nicht kannte,
mußte das Crescendo seines Selbstgefühls etwas
Bedenkliches, ja Unheimliches haben. Aber Nietzsche hatte
das Recht zum "Größenwahn." Das schauerliche
Faktum ist nur, daß Nietzsches Gehirn im letzten
Halbjahr so über alle menschlichen Begriffe arbeitete,
daß jedenfalls eine Erschöpfung der Vernunft
eingetreten ist, und große Empfindung und regulierende
Vernunft nun einander nicht mehr die Wage halten. Die Vehemenz von Nietzsches Denkkraft, die Rapidität
im Verbrauch von Gehirnmasse schon in den ruhigsten
Zeiten mußte Jedem auffallen, der mit diesem ganz
außergewöhnlichen Manne in Berührung kam. Er brauchte
fortwährend Jemand, der ihn abzieht, zerstreut,
aufhält, ein verlangsamendes Princip in seiner Nähe.
Das fehlte in seiner seit anderthalb Jahren beinahe
absoluten Einsamkeit. Er erlebte Dinge in dieser
Einsamkeit, die wahrscheinlich noch kein Sterblicher
erlebt hat. Mich, einen ganz ruhigen Eingeweihten,
befremdet die Empfindung an ihm, ein Typus hoch über
Christus z. B. zu sein, gar nicht, Er ist es für Jeden,
der hier unterscheiden kann. Das Schauerlichste an der
ganzen Sache ist, daß nun die Philister kommen werden
und sagen: Seht, da habt ihr's! So muß es Jedem gehen,
der u. s. w. Overbeck schreibt, die Aerzte hätten den Ausbruch des
ungemessensten Größenwahns constatiert. Ich, wie
gesagt, gestehe Nietzsche das Recht auf diesen Wahn zu.
Die treibende Kraft in einem solchen Geiste ist
Größenwahn, gehalten und maskiert durch eine ungeheure
Kraft der Vernunft. Was an Nietzsche jetzt zu constatiren
sein wird, ist wahrscheinlich ein Defekt, eine
Erschöpfung der Vernunft. In Verehrung * * * Berlin, Januar 15, 1889: Hochverehrter Freund! Von dem Rechte, Sie so nennen zu dürfen, mache ich sofort Gebrauch, obwohl es mir, meiner Jugend und Unerfahrenheit halber, kaum zusteht. Wir Freund Nietzsches sind mitverant-wortlich für Alles, was jetzt mit ihm geschieht! Ich bin wirklich im Ungewissen, ob nicht ein Verbrechen an Nietzsche verübt wird, so wie es mit Robert Mayer u. A. geschah. Ein Irrenarzt, der N. in Behandlung bekommt und keine Idee von der Richtung seines Geistes hat, muß ihn ohne Frage für verrückt erklären. Körperliche Abmagerung und Ermüdung beweist bei Nietzsche gar nichts, ich habe ihn öfter so gesehen, in Baden-Baden, am Gardasee, in Venedig, in Leipzig. Ob Overbeck selber göttlichen Wahnsinn genug hat, um Nietzsche in seiner jetzigen Phase zu verstehen, möchte ich fast bezweifeln. Ich bin eigentlich ungehalten über ihn. Wie kann man mir, dem genauesten Kenner aller Intima Nietzsches, das Faktum von dessen angeblicher Geistesstörung in lauter allgemeinen, künstlich gedrechselten Sätzen mitteilen, die einem auch nicht ein einziges Detail dieses Faktums anschaulich nahe bringen! Anstatt dieser zwei Seiten schönen Stils hätte er die Geschichte erzählen sollen wie ein Bauer: lauter kurze Brocken, Worte Nietzsches, Grimassen, Scenen, kurz Tatsachen, aus denen sich unsereins seinen Text schon selber zurechtliest. Ob ferner die "Umwerthung aller Werthe" fertig ist, weiß ich nicht; es scheint jedoch so nach letzten brieflichen Aeußerungen Nietzsches. Die letzte an mich ist vom 4. Januar enthusiastisch, hymnisch, aber nicht verrückt, wenigstens für mich nicht. Wenn dieses Werk fertig ist, so bin ich wirklich froh so frivol dieses Wort augenblicklich klingen mag. Denn dann ist Alles gut. Dann ist es beinahe unwürdig, über den Zusammenbruch der ersten Inkarnation dieser Gedanken zu klagen. Nietzsche hat die Katastrophe geahnt und öfter angedeutet. Ungeheuerste Ueberwindung und Opferung das war sein Fatum, sein "Wille." Es wäre nicht nur gemein, es wäre lächerlich, ihn hierin anders gewünscht zu haben. Ich wette, in diesem letzten Werk ist für uns Beide Alles logisch strikt. Was Nietzsche aus der Fassung gebracht hat, ist der Jubel über ! gräßlich, N. in Basel zu wissen. wäre wünschend, daß ich mit alledem schrecklich Unrecht habe. Jedenfalls aber dürfen wir bei diesem ganz außerordentlichen Falle, der auch außerordentliche Beurteiler heischt, nicht gleich an die Kompetenz alltäglicher Aerzte glauben; ihre Psychologie reicht da nicht aus, selbst die Overbecks nicht. Aber um's Himmelswillen: Discretion, verehrter Herr Doktor! Verbrennen Sie diese Zeilen. Vielleicht lassen auch Sie gegen Overbeck von auftauchenden Zweifeln etwas merken. Ihr ergebener * * * Berlin, Januar 18, 1889: Hochverehrter Freund! Ihr Telegramm ist wahrscheinlich vor Eintreffen meines Briefes abgegangen. "Mein Brief ist Unsinn" sollte heißen: "mein Verdacht gegen Overbecks ist Unsinn." Es ist kein Zweifel, daß Nietzsche geistesgestört ist. Overbecks genauer Bericht läßt gar keinen Zweifel darüber. Sie erhalten den Bericht ehebaldigst; augenblicklich brauche ich das Dokument noch. Morgen früh fahre ich nach Leipzig, um hauptsächlich das Manuskript von "Ecce Homo" einzusehen. Dessen Druck hängt aber doch schließlich von dem Umstand ab, wie weit die "Umwerthung aller Werthe" fertig ist. Kennen Sie die "Götzendämmerung"? Die Schrift "Nietzsche contra Wagner" ist im Satz fertig; ich denke 50 Exemplare für die Freunde herstellen zu lassen. Ich fühle mich juridisch in der Sache sehr engagiert. Bewahren Sie mir Ihr unschätzbares Wohlwollen. Ihr * * * Berlin, Januar 22, 1889: Lieber Freund! Ohne anständiges Briefpapier kann ich Ihnen nur auf diesem Reste schreiben. Ich will Ihnen ja auch nur Ihr Eigentum, die Briefe Nietzsches und Overbecks mit vielem Dank zurückerstatten. Den Bericht Overbecks konnte ich nicht eher senden, ich hatte ihn mit nach Leipzig genommen. Hier folgt er denn. Ich las in Leipzig das Manuskript zu "Ecce Homo oder wie man wird, was man ist" (nicht identisch mit der "Umwerthung" sondern Autobiographie und Entstehungsgeschichte seiner Bücher) wirklich eine feuerspeiende Vorrede zu seinem Hauptwerk. Auf alle Fälle muß diese Schrift gedruckt werden, wenn auch wahrscheinlich nicht gleich. Ich will eine Abschrift davon machen uns sie Ihnen wie Overbecken vorlegen (das Manuskript ist noch ein Wenig zu redigieren). Die "Götzendämmerung" haben Sie wohl erhalten? Naumann war eben dahinter, die Auflage in die Welt zu schicken. Das Heft "Nietzsche contra Wagner," das im Grunde nur Varianten älterer Stellen über Wagner enthält, aber höchst interessante Varianten, wird möglicherweise gedruckt, da es einmal gesetzt ist. Was Sie sich als "Musik über Musik" denken, ist nicht Musik in Noten, sondern in Worten. Zuletzt kommt ein Gedicht "Von der Armut des Reichsten" ganz aus dem Reich der Empfindungen, in die nur der größte Mensch, den die Liebe nicht mehr erreicht, gerathen kann. Diese Empfindungen sind noch von keinem Dichter ausgesprochen, weil Dichter wohl kaum in eine so paradoxe Stellung kommen, wie Nietzsche es mußte. Dante ist etwas ganz Anderes, wirklich Geringeres dagegen. Manuskripte hat Overbeck aus Turin nicht mitgenommen! sondern nur Briefe, sodaß ich wegen des Manuskripts der "Umwerthung" wirklich beängstigt bin. Das Ganze war auf 3 Bände angelegt. In "Ecce Homo" wird es als fertig hingestellt, doch wohl aber nur dem Inhalt nach, während litterarisch wahrscheinlich noch viel daran zu thun war. Nun, hoffentlich haben die Leute, die mit dem Einpacken betraut sind, keine Ahnung von dem Werth der Sachen, sodaß Alles in seiner Integrität in Basel eintrifft. Gegessen hat Nietzsche gut, darüber brauchen Sie nicht in Zweifel zu sein. Seine Philosophie fängt ja immer bei der Physiologie des Leibes an! In "Ecce Homo" kommen mehrere Stellen über Essen und Trinken vor. Aber je mehr Nietzsche seine Maschine heizte, desto rasender verbrannte sie sich. Er muß diesen Sommer und Herbst unbändig gefund gewesen sein; er war es schon, als ich ihn das letzte Mal 4 Wochen in Venedig hatte (20. Sept.-21. Oct. 87). Keine Anfälle von Kopfschmerz und Erbrechen, während früher auf 5 Tage leidlichen Wohlbefindens immer 3 Tage jammervollen Leidens kamen. Nietzsche war jenes letzte Mal unseres Wiedersehens rüstig und sah blühend aus, herrlicher Humor, es wurde in den ernstesten Angelegenheiten fast immer nur gelacht! Die rasche Abmagerung und Selbstverzehrung muß seit seinem letzten Geburtstag eingetreten sein. Hier hätte die Nähe eines Menschen, wie ich bin, viel thun können: zerstreuen, abziehen! Leider ersehe ich aus Overbeck, daß Nietzsche ein Klavier in seiner Wohnung hatte das war Gift für ihn! Musik regte ihn in fast unglaublicher Weise auf. Mit ergebenem Gruß * * * Berlin, Februar 9, 1889: Lieber verehrter Herr Doktor! Ihre Karte, namentlich aber das Programm des Hauskonzerts erinnerten mich wieder daran, welche unverzeihliche Dummheit es war, die Gelegenheit, Sie zu besuchen, im letzten Herbst vorbeigelassen zu haben. Noch mehr aber erinnere ich mich daran bei der Lektüre eines Buches, auf dessen Titel von Ihrer gütigen Hand geschrieben steht "Friedrich Nietzsche in steter Dankbarkeit C. Fuchs," Ihres Buches "Die Freiheit des musikalischen Vortrages." Ich kann nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen für den Reichtum an Aufschlüssen bin, die nur Sie auf Grund Ihrer exquisiten geistigen Kultur zu geben vermögen! Mit dem Problem der Phrasierung wurde ich zuerst durch Ihre Bücher bekannt. Das war vor mehreren Jahren in Zürich Nietzsche und ich ließen uns dort ein paar meiner Orchestersachen privatissime vorspielen und bei dieser Gelegenheit zeigte mir Nietzsche Ihre Zusendung. Wir waren voll Entzücken über die Menge Finessen (ich entsinne mich noch Ihrer Erfassung des psychologischen Problems Taussig); zu einem wirklichen Studium Ihrer Schrift kam es aber nicht, denn Nietzsche nahm sie bald darnach wieder mit nach Nizza. Wir interessierten uns für Ihren Esprit und erst in zweiter Linie für Riemann. Nun hätte ich so gerne den Genuß Ihres Spiels! Aber ich kann von Berlin nicht fort! Doch nicht nur Sie hören wollte ich ich selber wollte Ihnen vorspielen! Der einzige Mensch, der mit bisher sein Ohr lieh, war Nietzsche. Dieser einzige Zuhörer ist mir genommen. Was das für mich heißt, will ich nicht ausdenken. Nietzsche, obgleich ungeheuer streng in Fragen des künstlerischen Annehmens und Ablehnens, mischte doch in sein Urteil über meine Musik gewiß etwas von der persönlichen Gewogenheit, deren ich mich erfreuen durfte. (In der Brochüre "Nietzsche contra Wagner," von der ich 100 Exemplare abziehen ließ und von der Sie nächstens einige Exemplare erhalten, kommen einige Worte über mich vor, und einige Verse, mit einer Frage schließend, die mich immer erschüttert, wenn ich sie lese.) Es liegt mir fern, deshalb, weil Nietzschen meine Musiziererei schmeckte, zu glauben, sie könne auch Anderen Vergnügen machen. Vor dem dummen, bangen Ernst, der heut durch die Welt geht, habe ich mich lange zurückgezogen auf das schwimmende Schiff, welches Venedig heißt, und in die heitere Gesellschaft eines Petronius, Horaz, Ariost und der vorrevolutionären Franzosen. Vielleicht schilt man mich deswegen zurückgeblieben, oder doch retrocessiv. Gewiß ist, daß ich nur wenige Menschen fand, die für mein fast scherzendes Verhältniß zur Musik Sinn bezeigten. Die heitere Musik und die strengen Principien gehören zusammen — so paradox das augenblicklich klingt, so ist es doch wahr, und vielleicht wird es durch die Kleinheit der Zahl noblerer komischer Opern einigermaßen bewiesen. Nun, um es nicht lang zu machen: an Ihnen, verehrter Herr Doktor, hoffte ich immer einen Zuhörer zu bekommen. Die Vorfälle mit Nietzsche verhinderten mich jetzt, Ihnen mit der Zusendung von Partitur und Clavierauszug lästig zu fallen. Wenn Sie nichts dagegen haben, sende ich Ihnen demnächst die zum "Löwen von Venedig," meiner dritten Oper. (Die erste praehistorisch, wagnerish; die zweite hieß "Scherz, List und Rache" und gab Anlaß zu dem Titel der Knittelverse in der "fröhlichen Wissenschaft.") In Betreff der komischen Oper muß ich Ihnen im Voraus sagen, daß sie italienisch komponiert ist; nur der Clavierauszug hat die deutsche, von mir angefertigte Uebersetzung. Ferner: daß ihre Charakterisierung nicht wie auf dem Titel durch "italienische komische Oper" sondern eher durch "Rokokko-Oper" geschehen müßte. Ferner — und darin bin ich nun ganz Italiener — daß sie eine Neukomposition des "Matrimonio segreto" von Cimarosa ist! Mir ist diese Oper ans Herz gewachsen, wie nur wenige Dinge — und gleichwohl habe ich sie nochmals komponiert. Zur Ouverture habe ich die Stimmen (sie sind Nietzsches Eigentum), sodaß Sie sich dieses Stück gleich im Original anhören könnten. Aber, um Alles in der Welt, richtige Tempi! Ausgelassenheit! Grazia! Brio! Gentilezza! Eleganza! Es kommt kein einziges Stück in dem Werk vor, das parsifaliter zu nehmen wäre. Lauter Anticonstipativmusik! Nun leben Sie wohl, liebster Herr Doktor, seien sie herzlichst bedankt für die Aufmerksamkeit, die Sie mir bereits schenkten, und lassen Sie mich bald wissen, ob ich dazu noch einige für besagte Oper in Anspruch nehmen darf. — Zu der Kopie des "Ecce Homo" bin ich noch nicht gekommen: ich mußte mir die Beschäftigung mit diesem Buche untersagen, es machte mich unter dem Eindruck der letzten Ereignisse schwindlig. Mit vielen Grüßen * * * Berlin, Februar 14, 1889: Verehrter Freund! Diesen Morgen erhielt ich Ihre Karte, dazu Overbecks Briefe vom 11. und 15. Januar. Versprochenerweise sende ich Ihnen hier 3 Briefe, den 4ten behalte ich hier, da er nur meinen Muthwillen, "Ecce Homo" gerade jetzt und unter meiner Verantwortung herauszugeben bekämpft, für Sie also keine Neuigkeiten enthält. Am meisten wird Sie der vom 4. Februar interessieren, da er die Sachlage von Nietzsches Nachlaß betrifft. Entzückt war ich von dem allein fertig vorliegenden Buche der "Umwerthung": "Der Antichrist" Overbeck stößt sich daran! Aber Nietzsche will ja diesem lebensgefährlichen Aberglauben ein Ende machen, will ich von der Erdoberfläche vertilgen: — also muß er auch bis zum Aeußersten gehen und weit über alle Gelehrten-Liberalität und -Objektivität hinaus. Daß sich Nietzsche damit Gewalt angethan hat, ist eine andere Frage. In Nietzsche kamen die zwei Typen Christus und Dionysos in einer Incarnation zusammen. Eine Psychologie des Christen, des christlichen Priesters, wie sie die "Genealogie der Moral" giebt, konnte nur Nietzsche schreiben. Zuletzt freilich prallten die zwei Typen aufeinander. Dionysos ist der Gott des Werdens: durch den Zarathustra und den ganzen Nietzsche geht eine fortwährende Kampflust gegen Alles, was Sein, Substanz, Materie und so fort heißt, — gegen Alles, was Dauer, Zeitlosigkeit, Unzerstörbarkeit u. s. w. haben will. Nietzsche findet in all diesen Unveränderlichkeiten den lieben Gott wieder. Dasselbe Bedürfniß, das den Gott schuf, schuf auch im Physischen das Bleibende. Hören Sie, wie Nietzsche sich Heraklits annimmt? — Ein solcher Mann fand sich aber zuletzt in einer Welt, in der Alles schwankt, außer er selber! Zar. II. 6. unten wird mit furchtbarem Hohn gegen die ägyptischen Gewohnheiten des Menschen gesprochen. Einstweilen scheint die Menschheit noch nicht reif zu sein für ein Erkennen, welches nur Kräfte kennt (unsere Sinne können nur durch Kräfte affiziert werden) und welches sich des Setzens von Substraten enthält. Nietzsche, dieser unglaublich machtvolle Geist ging schließlich selbst an dieser Art Erkenntniß zu Grunde. Consequent durchgeführt langt der dionysische Mensch wahrscheinlich schließlich beim Wahnsinn an. Herzlich grüßend * * * Venedig, März 29, 1889: Lieber verehrter Herr Doktor! Erst heute, und auch nur auf einen kurzen Augenblick, komme ich dazu, Ihnen für die Ehre und den Genuß zu danken, den Sie mir mit Ihrem Kommen nach Berlin, mit Ihrem Spiel, Ihrer Unterhaltung bereitet haben. An Ihren Vortrag der Appassionata z. B. werde ich danken! Ich vergegenwärtige mir schon, welche sprechenden Wirkungen zu erzielen sein würden, wenn die Künstler der wirklich ausdrucksfähigen Instrumente, die Geiger und Bläser, sich Ihrer Vortragsweise befleißigen wollten. Daß bis dahin noch viel Wasser ins Meer laufen, noch mancher Virtuos und Dirigent wir absterben müssen, ist gewiß. Ich freue mich, daß Sie und Dr. Riemann sich aber durch diese Wahrnehmung nicht irre machen lassen; nach und nach wird Ihnen doch Der und Jener zufallen und eine langsam wachsende Sekte sich bilden, gegen die die langweilig Vortragenden nicht mehr aufkommen können. — Von meiner Reise hierher kann ich Ihnen nichts erzählen, so unruhig und freudig erregt bin ich noch. Ich fühle den gewaltigen Unterschied zwischen Berlin und Venedig. Dieser eigentümliche Klang, den die Stadt von sich giebt! Dieses Läuten über den Wassern und aus weiter Ferne über den Inseln! Das Sprechen der Menschen auf Gassen und Kanälen, das Klatschen der Ruder u. s. w. — ich weiß nicht, ich kenne so etwas nirgends wieder. Gondel- und Bootfahren, das sieht mir anderwärts wie nachgemacht aus; in Venedig ist es Original. Wetter himmlisch. Die Alpen leuchten herüber (ich sehe sie, wenn ich den Kopf zum Fenster hinausbeuge, über einer kühn und weitgespannten Marmorbrücke). Heute früh ordnete ich meine Briefe Nietzsches. Ach, welche Empfindungen liefen da über mich hin! Ich glaube, daß N. gegen Niemanden sich so tagebuchartig geäußert hat. 282 postalische Dokumente sind es, die größere Hälfte meist 4 seitige Briefe, die andere vollgeschriebene Correspondenzkarten. Von einigen Karten aus Sorrent und Meiningen (Berner Oberland) abgesehen, beginnt der fortlaufende Verkehr im Jahre 79. Ich empfinde all das Glück nach, das damals aus Nietzsche in mich überfloß. "Mit Ihnen zusammen — schreibt er am 5. April 79 — mit Ihrer Hülfe möchte ich noch manche sittliche und geistige Stufe erklimmen. Einstweilen hier die Devise meiner Wünsche (sogar die landschaftlichen sind eingeschlossen): R G S; das bedeutet: Ruhe, Größe, Sonnenlicht — Alles im Sittlichen und Geistigen, ach womöglich auch Leiblichen." Die Stelle ist im I. Anhang zu "Menschliches, Allzumenschliches" zu einem Aphorismus erweitert. — Fahren Sie fort, verehrter Herr Doktor, mich Ihrer unschätzbaren Freundschaft für werth zu halten, und seien Sie, samt Ihrer lieben Familie, recht herzlich gegrüßt von Ihrem dankbar ergebenem * * * Jena, Januar 21, 1890: Lieber Herr Doktor! Ihre beiden Postkarten vom 18. und 19. Jan. kamen mir erst hier zu Jena in die Hände, — Sie können sich vorstellen, unter welchen Empfindungen. Nietzsche sah ich nach 2¼ Jahr zum ersten Mal wieder; seine Mutter führte mich ihm zu. Er sah nicht schlecht aus. Ich möchte fast sagen, daß seine Geistesstörung nur in einer Accentuierung seiner, im intimen Verkehr auch früher gezeigten humoristischen Seite besteht. Er erkannte mich sofort, umarmte und küßte mich und freute sich ungeheuer des Wiedersehens, gab mir immer wieder die Hand, als könne er gar nicht glauben, daß ich wirklich da sei. Viel sprachen wir von Venedig und es war ganz merkwürdig, was er sich gerade eingeprägt hatte: nämlich viele meiner burlesken Bemerkungen. Bei jeder Kirchenische, jedem venezianischen Sottoportico, auf die wir zu sprechen kamen, erinnerte er sich, mehr als ich, solcher Aeußerungen. Ich werde täglich einige Stunden mit Nietzsche gehen. Auf den Erfolg bin ich gespannt. P. G. * * * Jena, Januar 24, 1890: Lieber Herr Doktor! Naumann schickte heute die ersten Notenbeispiele (scil. zu C. Fuchs' Thematikon zu P. Gasts Oper "Die heimliche Ehe"). Ich zeigte sie Nietzschen. Er war außer sich über Sie und Ihr unvergleichliches Mitwirken! Dann fragt er gleich — gar nicht vom früheren N. zu unterscheiden — in seiner tiefen nachdenklichen Art nach Riemann. Er fragte, ob ich ihn nicht einmal besucht hätte! ob er nicht bedeutende Sachen komponierte. Mit Freunden hörte er, das mir Riemann phrasierte Ausgaben zusende; und als ich sagte, daß ich Undankbarer ihm noch nicht einmal gedankt hätte, meinte er, ich solle es doch bald thun. Die Notenbeispiele (4 lange Zettel) nahm er immer wieder zu Hand, sang Alles ganz richtig und dirigierte und jauchzte und lachte dazu und griff nach meiner Hand, wie ein Ertrinkender nach der Hand seines Retters greift. Zuletzt sagte er oft: "Grüßen Sie Fuchs, wenn Sie schreiben. Nein, das hat er aber gut gemacht! Daß Sie mir ihn grüßen!" Er war heute viel besser und ernster als gestern, wo er so rasend und leise, zuweilen vor sich hin, sprach. Nach einer Stunde Zusammensseins ist er aber bereits still und abgespannt. P. G. * * * Jena, Februar 1, 1890: Heut, liebster Freund, bin ich in meiner Zuversicht, daß wir unseren Nietzsche wieder haben werden, außerordentlich befestigt worden. Heut und gestern war er vorzüglich! Gestern war ich oben im Saal unter lauter Irren, wo N. gewöhnlich sitzt (der Eintritt ist eigentlich strengstens verboten); von da gingen wir ins Musikzimmer. Ich wollte mich ans Klavier setzen und gab N'n die Düte mit 6 Pfannkuchen, die ich ihm täglich bringe; aber er sagte: "Nein, lieber Freund, ich will mir die Finger jetzt nicht klebrig machen; denn erst werde ich ein wenig spielen." Und nun setzte er sich ans Instrument und phantasierte. O, wenn Sie dies gehört hätten! Nicht eine Verkehrtheit! Stimmengewebe von tristanischer Feinheit! Pianissimi und dann wieder Posaunenchöre und Trompetenfanfaren und Beethovenischer Grimm und jauchzendes Hineinsingen und wieder Sinnen, Träumen — es läßt sich nicht schildern. Einen Phonograph her! Die Wirkung danach auf sein Cerebralsystem war ganz gewaltig; er war wie umgewandelt danach. Vorzüglich! Heute hat er in einem Buche gelesen, das Naumann mir schickte und in welchem Nietzsche oft citiert ist: auch das brachte ihn merkwürdig zur Raison. Nächsten Sonntag kommt die Mutter: wir berathen übers Herausnehmen, das unter allen Umständen bald geschehen muß. Er selbst fragt: "Nun, wann fahren wir nach Naumburg?" Herzlichst * * * Jena, Februar 21, 22 und 24, 1890: Liebster Herr Doktor! Seit Montag ist die Mutter Nietzsches da. Wir speisen zu Dreien (N., Mutter und ich) im "Wirtshaus zum Stern." Es geht leidlich und ohne Aufsehen. Aber, ach, Nietzsche ist doch ein Spott auf sich selber! Die Augen werden mir feucht, wenn ich's bedanke. Overbeck der heute (24. II.) auf meine Veranlassung kam, findet N. (leiblich) viel gesünder als vor einem Jahr, da er ihn in Turin abholte, aber viel abgestumpfter, trotzdem N. fortwährend zusammenhängend und zwar sehr feine Sachen sprach. Auch Overbeck ist ohne Hoffnung. Herzlichst * * * Leipzig, März 3, 1890: Lieber Herr Doktor! [....] Nietzsche war betrübt als ich fortging, es standen ihm die Thränen im Auge; er war an dem Tage wieder ausnahmsweise gut und klar. "Grüßen Sie Fuchs, wenn Sie nach Danzig kommen! — Ihnen weiß ich nicht, was ich sagen soll: aber, was ich Ihnen wünsche, ist alles Gute!" sagte er ganz in seiner früheren Haltung. Der Abschied ging mir sehr nahe. Diesen Mann, diesen Titanos zerbrochen zu sehen, weil seine geistigen Kräfte gleichsam über seine körperlichen hinausgingen, — der Edelste [...] zertrümmert, weil Alles zu göttlich an ihm war! Jetzt ein Spott auf sich selber, dem Erbarmen der Menschen anheimgegeben, jener Menschen, über die er sein Scepter schwingen sollte! Herzlich grüßt Sie, mein alter Gönner und Wohltäter. Ihr ewig dankbarer * * * Naumburg, Februar 5, 1891: Liebster einziger Freund! Seit heute Mittag hier sehr freundlich aufgenommen von Frau Pastor Nietzsche und Frau Dr. Förster, in deren Gegenwart ich Ihnen sogar schreibe, so gut oder schlecht dies eben geht. Nietzsche sieht leiblich famos aus, vom Sonnenschein gebräunt — aber geistig ist er weniger werth als im vorigen Jahr. Vielleicht ist er noch zu frappiert von meiner Ankunst. Ich glaube jedoch, nach den Aeußerungen der Frau Dr. Förster zu schließen, daß er jetzt, wenn auch langsam, immer mehr in Apathie versinkt. Anstatt einer Antwort erhält man ein Lachen oder bloßes Kopfnicken — sehr eigentümlich. Diesen Nachmittag waren wir zu Wagen in Schulpforta: Nietzsche, der ein Schüler der Anstalt ist, wollte nicht den Fuß über die Schwelle setzen — wenn ich recht in seinem Antlitz las, hatte er in diesem Moment eine Ahnung seines jetzigen Zustandes: es war, als schäme er sich im Anblick der für ihn so wichtigen Lehranstalt dieses Zustandes. — Die herzlichsten Grüße von Frau Pastor Nietzsche und Frau Dr. Förster, die Beide sich Ihrer lebhaft und mit den angenehmsten Erinnerungen entsinnen. Recht herzlich * * * Annaberg, Oktober 20, 1891: Lieber Freund! Uebermorgen ist Ihr Geburtstag. Den werde ich mit ganz besonderer Ehrfurcht und Freude begehen. Was Sie für mich gethan haben und was Sie mir durch das bloße bewußte und unbewußte Gefühl, daß ich Sie zum Freunde habe, sind und gelten — dies giebt mir gerade jetzt wieder neue Kraft und neue Hoffnungen. Ich erwache, gestärkt auch durch die Herrlichkeit des diesjährigen Herbstes, wie aus einem Winterschlaf und denke, das Abbrechen meiner italienischen Existenz war das Gescheidteste, was ich thun konnte. So sehr mir Italien zu meiner Natur zurückverholfen hat (in den Jahren, da ich es mir nach meinem Bilde schuf), so sehr nahm mit der immer gründlichen Kenntniß des Landes sein guter Einfluß auf mich ab. Meine Figuren, die ich noch schaffen wollte, waren mir nicht mehr so gewogen wie früher: statt ihrer drängte sich die bunte und allzu sorgenlos heitere Realität an mich, welcher entronnen zu sein mich moralisch tief befriedigt. Jetzt kommen in diesen Bergen, in denen ich zuerst sehen und alle Sinne üben und aus diesen Sinneseindrücken das ganze Weltbild konstruieren lernte, auch meine Lieblinge wieder zu mir und eine Freude habe ich dabei wie der Vater des verlorenen Sohnes. Da denke ich in meiner Arbeit auch Ihrer oft mit Enthusiasmus, denn Freunde wie Sie, die man sich als Zeugen seiner Tätigkeit denkt, erhölen einem das ganze Niveau der eigenen Geistigkeit. Wie herzlich ich wünschen muß, Sie, meinen wahrsten, geistvollsten und feinsinnigsten Freund noch recht lange, und zwar unter den gedeihlichsten Bedingungen mir erhalten zu sehen, brauche ich nach dem soeben aufgezeichneten Gedankengang kaum auszusprechen, Wünsche ich doch nur Gutes, indem ich es Ihnen wünsche! In dieser Art Gemeinwohl liegt aber gewiß der höchste Grad von Aufrichtigkeit, und so brauche ich Sie der Wahrhaftigkeit meiner heutigen Glückwünsche nicht noch besonders zu versichern. In Naumburg sah ich Wagners Briefe an Nietzsche durch. Da fand ich, aus dem Jahre 1874, auch eine Stelle über Sie, in der Wagner seine Freude über Ihre Grillparzer-Artikel ausdrückt. Dabei sagt er auch, daß er auf das von Ihnen angeführte herrliche Citat aus Overbecks "Christlichkeit der heutigen Theologie" hin (Musikal. Wochenblatt 1874 S. 163) diese Schrift wieder vorgenommen und mit seiner Frau durchgelesen habe. — Wagners Briefe an Nietzsche zumal aus der Tribschener Zeit sind vielleicht die herzlichsten, die er je geschrieben hat. Viele Gedanken darf man jedoch nicht darin suchen. Nun, beide Männer sahen sich eben fast jeden Sonntag am Vierwaldstätter See wieder; und daß zwischen zwei so bedeuten Menschen dann Manches zur Aussprache kam, was man nicht jeden Tag hört, läßt sich denken. Die meisten Briefe sind kurz, ein, zwei Seiten; nur ein paar sind vierseitig — und so ist's für einen so tätigen Mann, wie Wagner war, auch recht. Fritzsch, den ich in Leipzig besuchte, schenkte mir Glasenapps Wagner-Encyklopaedie, in welche ich ihn gebeten hatte, mir einen Einblick zu gestatten. Glasenapp wollte den urnietzischen Gedanken vom Apollinishen und Dionysischen Wagnern zuschreiben, weil er in der "Bestimmung der Oper" (Wagner Bd. IX. 167) vorkommt. Ich weiß aber bestimmt, daß Wagner hier Nietzschen bestohlen hat, aus der Abhandlung nämlich "Sokrates und die griechische Tragoedie," welche Wagner in der ersten Niederschrift bereits am 4. Februar 1870 (laut Wagners Brief) in Händen hatte. Aus jenem "Sokrates u. s. w." ging dann der Gedankenkreis der "Geburt der Tragoedie" hervor. Nietzsche erzählte mir vor Jahren bereits die Anekdote, wie sein Gedanke in Wagners "Ueber die Bestimmung der Oper" kam. "Freund, Freund, nehmen Sie Ihr Manuskript wieder mit, sonst schreibe ich noch mehr daraus ab!" sagte Wagner zu Nietzsche, als er an jene Stelle beim Vorlesen kam. — Uebermorgen werde ich Ihr Wohl trinken. Sie sind mit den verehrten Ihrigen auf's Herzlichste gegrüßt von Ihrem * * * Annaberg, Oktober 24, 1891: Lieber und verehrter Freund! Hier sende ich Ihnen das versprochene Bild Nietzsches. Sie bemerken, wie gesund er aussieht, — viel besser, als in den letzten Zeiten seiner Vernunft. In meinen italienischen Jahren sah ich ihn doch fast jährlich wenigstens 4 Wochen; er kam meist nach Venedig; da sah er denn einmal ganz abgemagert, von seiner unverwüstlichen Denkleidenschaft ordentlich aufgezehrt aus, das andere Mal wieder leidlicher, voller — ungefähr wie es Diderot von Rameaus Neffen erzählt. Jetzt erfreut er sich der blühendsten Gesundheit, bis auf — wie Lamettrie sagte — bis auf die Störung durch "jenes Nichts, jene kleine Fiber, jenes Etwas, das die subtilste Anatomie nicht entdecken kann und das aus Erasmus, Fontenelle Tölpel und Narren gemacht haben würde." In Nietzsches Gehirn muß irgend ein Knoten zersprengt und aufgegangen sein, jener Knoten, der ihm außer der ungeheuren Spannkraft seines Wesens zugleich auch jene Unsumme von Kopfschmerzen gab, die ihn jetzt gänzlich verlassen haben. Schauerlich ist es mir, vor diesem Schädel zu stehen und an die Dinge zu denken, die ihm noch hätten entquellen, entspringen, entlodern sollen! Diese ganze, von Niemanden zu rekonstruierende Reihe gedanklicher Phänomene für immer ausgelöscht, unmöglich gemacht! Es ist wirklich ein Unglück für die Menschheit, so überspannt dies klingen mag! Wenn Nietzsche auch in jedem Satze Etwas gesagt hätte, das sich der Zustimmung keines einzigen Menschen erfreute, so würde er doch als Feuerstein und Stein des Anstoßes noch für lange Zeiträume eine gewaltige Geltung behalten. Und auf diese Art Geltung läuft es doch bei allen, allen Philosophen hinaus. Es grüßt Sie von Herzen |
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