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COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. Elisabeth Förster-Nietzsche's "Urabschriften" Nietzsche' sister made the petty forgeries of the following letters, supposedly to suggest that her brother was communicating with her on a monthly basis.1 These so-called "Urabschriften" (the oxymoronic, if not Orwellian, "original copies") are transcriptions of reconstructions, insertions and alterations that Elisabeth Förster-Nietzsche manufactured purportedly from letters that were either stolen or ones that were allegedly destroyed by her mother. It's difficult to ascertain her exact mindset here, considering that many unflattering references to her were not destroyed, other than to say that she wished to elevate not only her brother, but more importantly her own place in his life — despite the mountain of disparaging evidence. In addition, her motivations stem from: her indiscriminate acceptance of finances for the Nietzsche Archive; a justification for her marriage to Bernhard Förster, and thus her anti-Semitism; and fodder for the vicious legal wranglings against anyone who crossed her, especially Franz Overbeck, who refused to relinquish his correspondence with Nietzsche. Her machinations knew no bounds and devolved into blaming any patsy she could come up with, even casting aspersions on Fritz Koegel's widow in a letter to Josef Hofmiller:
What can be said for certain is that whatever she writes cannot be taken at face value and has to be read with the most skeptical eye, if it is to be read at all.3 1. Cf. Carol Diethe. Nietzsche's Sister and The Will to Power: a Biography of Elisabeth Förster-Nietzsche. Urbana: Univ. of Illinois Press, 2003:70-71. Reference Key: KGB = Nietzsche, Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe. Berlin; New York: de Gruyter, 1975 ff. Basel, d. 22. Januar 1875: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine liebe Schwester. Es war gut, daß Du gleich noch einen Brief dem Brief unsrer Mutter nachfolgen ließest, denn ich war ganz außer mir u. hatte bereits bittere Dinge niedergeschrieben. Ich sehe jetzt ein, daß ich sie falsch verstanden habe. [— — — —] Aber wie kommt es nur, daß sie mich so mißverstehen und eine mir unbegreifliche Feindseligkeit gegen beide Wagners bisher verbergen konnte. Bin ich so schwer zu erkennen, so leicht in allen meinen Absichten, Plänen und Freundschaften zu verkennen? Ach wir Einsamen und Freien im Geist — wir sehen, daß wir fortwährend irgend worin anders scheinen als wir denken: während wir nichts als Wahrheit und Ehrlichkeit wollen, ist rings um uns ein Netz von Mißverständnissen; und unser heftiges Begehren kann es nicht verhindern, daß doch auf unserem Tun ein Dunst von falschen Meinungen, von Anpassung, von halben Zugeständnissen, von schonendem Verschweigen, von irrtümlicher Ausdeutung liegen bleibt. Das sammelt eine Wolke von Melancholie auf unserer Stirne: denn daß das Scheinen Notwendigkeit ist, hassen wir mehr als den Tod; und eine solche andauernde Erbitterung darüber macht uns vulkanisch und bedrohlich. Von Zeit zu Zeit rächen wir uns für unser gewaltsames Verbergen, für unsere erzwungene Zurückhaltung. Wir kommen aus unserer Köhle heraus mit schrecklichen Mienen, unsere Worte und Taten sind dann Explosionen, und es ist möglich, daß wir an uns selbst zu Grunde zehn. So gefährlich lebe ich! Gerade wir Einsamen bedürfen Liebe, brauchen Genossen, vor denen wir wie vor uns selbst offen und einfach sein dürfen, in deren Gegenwart der Kampf des Verschweigens und des Verstellens aufhört. Ja ich bin froh, daß ich mich vor Dir offen und ehrlich geben kann denn Du bist ein solch guter Freund und Genosse und wirst sicherlich je älter Du wirst und je mehr Du aus der Naumburger Atmosphäre herauskommst, desto mehr in alle meine Ansichten und Bestrebungen hineinwachsen. In Liebe und Treue Basel, d. 3. Februar 1879: Brief von Friedrich Nietzsche. [In GSA: Original mir unsere Mutter verbrannt.] Meine liebe gute Schwester Ich bin leider mit meinen Glückwünschen zu spät gekommen, hoffentlich nimmt es unsre gute Mutter nicht übel. Bitte beschwichtige wenn es nöthig sein sollte. Aber ein mehrtägiger Anfall hatte meine Absichten durchkreuzt. — Blühen und duften die Hyacinthen? Overbeck hat mich bestimmt, die ganze nächste Woche die Collegien auszusetzen. Ich richte mich wirklich sonst zu Grunde. Die letzte Zeit war fürchterlich. Auch an guten Tagen verliere [ich] noch öfters zwei Stunden mit Unbehagen aller Art. Bitte die gute Mutter, daß sie nicht mit andern Menschen darüber redet, daß es mir schlecht geht. Bitte dringend! Mein Buch hat nichts damit zu thun. Es entstand im August, 7200 Fuß über dem Meere und wurde im September von Frau Baumgartner fertig abgeschrieben. Die Correktur besorgt Köselitz. Meine Seele ist bei Alledem geduldiger als je, das ist das Beste. Herzlich der Deine Naumburg, d. 31. December 1879: Brief von Friedrich Nietzsche. Das Jahr geht zu Ende, das furchtbarste meines Lebens — aber wenn es auch mein letztes sein sollte, so scheide ich doch ohne Bitterkeit und ungebeugt. Lebe wohl, meine herzensliebe Schwester! Ich habe nur das eine Wort für Dich: innigen Dank! Dein Bruder. Naumburg, d. 16. Januar 1880: Brief von Friedrich Nietzsche. Nur einen innigen Gruß, meine geliebte Schwester — die ersten Zeilen, die ich wieder schreiben kann. Es gieng sehr schlecht, die Anfälle seit Weihnachten sind in der fürchterlichsten Art gewesen, — schlimmer denn je. So war es mir, als müßte ich Abschied nehmen ehe es Nacht wird, und Allen, die mir Liebes und Gutes erwiesen haben von Herzen danken. Und wem mehr als Dir, meine liebe liebe Schwester, Dir, meiner Trösterin und Helferin in allen Nöthen! — Ich glaube mein Lebenswerk gethan zu haben, freilich wie Einer, dem man nicht Zeit genug gelassen hat. Ich hätte noch so viel zu sagen und in jeder schmerzensfreien Stunde fühle ich mich so reich! So muß ich wohl die qualvollen Leiden noch weiter tragen und doch noch auf Besserung hoffen? Ach nur Aushaltenkönnen, das ist schon viel! — Sobald als möglich will ich nach einer Gegend fort, wo ich meine unmöglich gewordene Spaziergehn-Existenz wieder aufnehmen kann, wahrscheinlich Gardasee. Ich denke Deiner immer auf das Dankbarste. Dein Bruder. Warum bin ich nur nach diesem entsetzlichen düstern Norden gegangen? Wie hat sich seit den guten frohen Tagen in Chur meine Gesundheit verschlechtert! — trotz der sorgsamen Pflege unsrer lieben Mutter. Genua, 29. November 1881: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine liebe liebe Schwester, den besten Dank für die ausführlichen Mittheilungen über den Tod und Begräbniß der Frau v. Wöhrmann. Ich bedaure tief, dieser ausgezeichneten Frau nicht näher getreten zu sein (im Grunde hatte ich ihr ein längeres Leben zugetraut: — ich selber mußte so handeln, wie ich gehandelt habe, und einige Rücksichten der Delikatesse streng durchführen: es war nicht immer leicht). Ich denke, auch ohne Worte wirst Du mein Benehmen verstanden haben. — Du erräthst so Vieles, was mir schwer wird auszusprechen. Elisabeth Nietzsche. Ca. 1882. From b/w photo by: Louis Held, Weimar. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Mit einigem Kummer dachte ich heute daran, daß ich Dir diesen Sommer zweimal recht unfreundlich geschrieben habe (nach dem Ermahnungsbrief unsrer Mutter und als Rée kommen wollte) und beide Male warst Du ganz unschuldig an meiner Verstimmung. Da unsre Mutter verreist ist, so kommt dieser Brief sicher ungelesen in Deine Hände und soll Dich heute deshalb um Verzeihung bitten. Wegen Rée schrieb ich schon — es ist sehr fein eingerichtet, daß er jetzt erst hierher kommt! — — Der erwähnte Brief unsrer guten Mutter war gewiß gut gemeint, aber mit seinen langen, ermüdenden und ungerechtfertigten Ermahnungen recht kränkend. (Natürlich bin ich mit diesen kurzen Gesundheits-Kärtchen selbst daran schuld, daß eine falsche Vorstellung entsteht: ich schreibe nur von den schlechten Tagen, aber nichts von all den guten Stunden, die mir die höchsten Gedanken und Gefühle bringen.) Um sie nun meinerseits nicht wieder zu kränken, verallgemeinerte ich meine Antwort und sagte anstatt "Du," "Ihr" und so bekam das arme Lama einen Theil jener ungeduldigen Entrüstungsrede mit auf den Kopf, ohne es irgendwie verdient zu haben. Im Gegentheil! Du hattest gerade so wohlthuend und verständnißvoll geschrieben (ich habe sonst wenig Gutes über mein Buch gehört!), daß meine Antwort gar keine Antwort darauf war, sondern wie die berühmte Faust auf's Auge paßte. Du weißt es, daß meine Leiden mich nicht der Schmerzen wegen ungeduldig machen, sondern nur weil ich immer befürchte, daß ich mit der ungeheuren Aufgabe, die sich von Jahr zu Jahr mir immer deutlicher zeigt, nicht fertig werde. Ich kann nur denken und schreiben bei vollster Freudigkeit des Geistes und Leibes! — ich traue keinem Gedanken, der bei bedrückter Seele und betrübten Eingeweiden entstanden ist, und was nun gar bei Kopfschmerzen geschrieben sein sollte, wird sicherlich vernichtet. Daß mir nun diese verwünschten Schmerzen so viel Zeit wegnehmen, bringt mich hie und da zur Verzweiflung! Andrerseits weiß ich wohl, daß ich diesem wechselvollen Zustand meiner Gesundheit Ungeheures verdanke: schon dieses häufige Gesundwerden und dieses bezaubernde Gefühl der Genesung!—ein wundervoller Zustand und die Ursache der erhabensten und muthigsten Empfindungen. Du kennst ja auch Migraine (das einzige Leiden, was das gesunde Lama kennt!) und sagtest einmal, als isie gerade vor einem Spaziergang verschwand: "heute erscheint mir die Welt verklärt." Ach wie oft habe ich nun schon diese Verklärung empfunden — vielleicht zu oft! — Hier in Genua bin ich stolz und glücklich, ganz principe Doris,! — oder Columbus? Ich wandre wie im Engadin mit einem Jauchzen des Glücks über die Höhen und mit einem Blick in die Zukunft, wie ihn vor mir noch Niemand gewagt hat. Es hängt von Zuständen ab, die nicht bei mir stehen, sondern beim "Wesen der Dinge," ob es mir gelingt meine große Aufgabe zu lösen. Glaube mir: bei mir ist jetzt die Spitze alles moralischen Nachdenkens und Arbeitens in Europa und noch von manchem Anderen. Es wird vielleicht einmal noch die Zeit kommen, wo auch die Adler scheu zu mir aufblicken müssen, wie auf jenem Bilde des heiligen Johannes, das wir als Kinder so sehr liebten.— Und manchmal kommt auch etwas Gutes von Außen zu mir: vorgestern hörte ich eine Oper "Carmen" von einem Franzosen Bizet und war erschüttert. So stark, so leidenschaftlich, so anmuthig und so füdlich. Hast Du zufällig davon gehört? — Seit dem 23ten November Umschlag des Wetters: Regen, Tag und Nacht und strömend wie deutsche Gewitterregen. Dafür war der ganze November bis zum genannten Tage wunderschön — ganz wolkenrein. — Dr. Rée war so gütig, mir ein paar Chemikalien zu schicken; schickt nie etwas! Diese zwei Fläschchen kosteten 5 frs. Porto und Zoll, ½ Tag Herumlaufen und Unannehmlichkeiten aller Art. Sage Dr. Rée nichts davon, bitte! In Liebe Deiner gedenkend F. N. Genua, d. 22. Januar 1882: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes Lama, Also ich soll Dir genau sagen wie es mit mir und meiner Gesundheit steht — Du bist mit meinen kurzen Notizen nicht zufrieden. Ich machte mit Deinem Brief in der Tasche einen langen Spaziergang und dachte nach. — Wir werden uns des eigentlichen Sinnes einer Lebensperiode selten bewußt, so lange wir in ihr stehen, — als ich aber heute hoch über Genua dahin schritt und bei dem himmlischsten Wetter weit über Stadt und Meer hinausschaute, da sah ich die letzten zwei Jahre mit ihren Leiden und langsamen Vorwärtsschreiten zum Besseren so deutlich vor mir — und ein seltsames Gefühl von Seligkeit quoll in mir empor, die Seligkeit des Genesenden! Wie melancholisch wanderte ich sonst durch diese Gassen und Gäßchen, wie fremd sah ich auf diese lärmende Menschheit mit ihrer Ungeduld des Begehrens und Genießens — als wäre ich nur ein Schatten unter Lebenden. Aber jetzt höre ich aus all dem Geschrei und Jauchzen dieser Lebensdurstigen einen Klang, einen Ton heraus, bei welchem auch meine Seele miterklingt. Ja, meine Schwester, ich habe Kraft, Muth und Gesundheit wieder gewonnen! Es ist nicht jene Bärengesundheit von damals, als ich, ohne die geringste Beschwerde, in drei Tagen und zwei Nächten meine lateinische Preisarbeit niederschrieb, sondern eine feinere Gesundheit, die sich täglich neu erobern lassen will. Es fehlt ihr noch Manches, jedenfalls die Zuverlässigkeit; ich werde wohl immer wie Tante Riekchen von sich sagte "anfällig" bleiben, d. h. mein Anfall wird mich jeden Monat mindestens ein Mal anfallen, — aber in der Zwischenzeit bin ich voller Lebenskraft und Lebensmuth, zuweilen sogar voller Uebermuth wie Einer, der dem Tode glücklich entronnen ist. Was ich Dir heute schreibe, bleibt unter uns— daß ich es thue, ist der Dank für Deine nimmermüde Güte. Ich bitte Dich aber, mit einiger Vorsicht an Overbeck zu schreiben. Sonderbar! er scheint anzunehmen, daß mir die Basler die Pension zum Kranksein und nicht zum Gesundwerden geben; es fehlt nicht an Andeutungen, als ob ich im letzten Falle sogleich wieder ein Amt zu suchen hätte. Damit wäre aber Alles verloren, was jetzt erreicht ist. Also Vorsicht, bitte! Ich schreibe an Overbeck nur an meinen schlechten Tagen — übrigens wie auch sonst und an Andre; — deshalb kommt viel Geseufze in meine Briefe. An guten Tagen verliere ich meine Zeit nicht mit Briefe-schreiben. Heute mache ich eine Ausnahme! Bist Du zufrieden, meine liebe liebe Schwester? Dein getreuer und gesunder Bruder. Könntest Du mich nicht hier besuchen? Was hat denn unsre liebe Mutter gegen die "Umherreiserei"? Ich würde Dir so gern mein neues Manuscript vorlesen oder mir von Dir vorlesen lassen. Genua, d. 3. Februar 1882: Brief von Friedrich Nietzsche. Nur wenige Zeilen, meine geliebte Schwester, um Dir für Deine guten Worte über Wagner und Bayreuth zu danken. Gewiß, es sind die schönsten Tage meines Lebens gewesen, die ich mit ihm in Tribschen und durch ihn in Bayreuth (1872, nicht 1876) verlebt habe. Aber die allmächtige Gewalt unsrer Aufgaben trieb uns auseinander und jetzt können wir nicht mehr zueinander, wir find uns zu fremd geworden. Ich bin damals, als ich Wagner fand, unbeschreiblich glücklich gewesen! Ich hatte so lange nach dem Menschen gesucht, der höher war als ich und der mich wirklich übersah. In Wagner glaubte ich, ihn gefunden zu haben. Es war ein Irrthnm. Jetzt darf ich mich nicht einmal mehr mit ihm vergleichen — ich gehöre einem andern Rang an. Im Uebrigen habe ich meine Wagner-Schwärmerei theuer bezahlen müssen. Hat mir diese nervenzerrüttende Musik nicht meine Gesundheit verdorben? Und die Enttäuschung und der Abschied von Wagner — war das nicht lebensgefährlich? Habe ich nicht fast sechs Jahre gebraucht, um mich von diesem Schmerz zu erholen? Nein, Bayreuth ist für mich unmöglich! Es war nur ein Scherz, was ich neulich schrieb. Aber Du mußt jedenfalls nach Bayreuth gehn. Es ist mir von großem Werth. Treulich Dein Bruder. Rom, Ende April 1882: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine liebe Schwester, Falle nicht um vor Erstaunen, der Brief ist von mir und aus Rom. Ich hat Frl. von Meysenbug, die Adresse und auch noch "privat" darauf zu schreiben, damit der Brief wirklich nur in Deine Hände kommt. Du wirst begreifen warum. Also Dein Wunsch ist erfüllt! Die verehrte Freundin (eigentlich wohl Dr. Rée) hat wirklich Jemand gefunden, der mir zu Hilfe kommen soll, — aber es ist kein "begeisterter Jüngling," überhaupt kein junger Mann, sondern eine junge Dame!! Aufrichtig gesagt, mir wäre ein ernster junger Mann und noch viel mehr ein Mann in meinem Alter (also kein junger Grünschnabel) bedeutend lieber — aber der Fall ist ungewöhnlich. Fräulein von Meysenbug und Dr. Rée bombardirten mich nämlich mit Briefen und Beschwörungen: ich müsse nach Rom kommen, sie hätten ein junges Mädchen gefunden, die für meine Philosophie geboren sei; sie und Rée wollten mir in allen möglichen Dingen helfen. Gerade jetzt, wo Gast sehr stark mit seinen eignen Sachen beschäftigt ist und deshalb nicht mehr bereit war, mir im gleichen Umfang wie früher beizustehen, schien mir das Anerbieten sehr wichtig. Ich reiste also hierher. Nun — um die Wahrheit zu sagen, ich glaube es ist ein Irrthum! Ich sehe bis jetzt nur, daß das junge Mädchen einen guten Kopf besitzt und sehr viel von Dr. Rée gelernt hat. Um mir aber ein richtiges Urtheil zu bilden, müßte ich sie ohne Rée studieren. Er soufflirte beständig, sodaß ich noch keinen eignen Gedanken entdecken konnte. Könntest Du nicht nach der Schweiz kommen und die junge Dame einladen? Malwida hat dies vorgeschlagen — am liebsten reiste ich nach Messina zurück, ich komme mir nur so haarsträubend undankbar gegen Frl. von Meysenbug und Dr. Rée vor, die so eifrig bemüht sind, mir Gutes und Freundschaftliches zu erweisen. Uebrigens ist sie 24 Jahre alt, unschön, ganz gelb; aber wie alle unschönen Mädchen hat sie, um anziehend zu werden, ihren Geist kultivirt. Rée behauptet, dieser Geist sei außerordentlich, — jedenfalls ist er ganz begeistert und versucht auch mich zu begeistern. Schreib mir jetzt nicht bis Du wieder von mir Nachricht hast. Dein Bruder. Der Brief ist liegen geblieben. Inzwischen erzählte mir Malwida, das junge Mädchen habe ihr anvertraut: "sie hätte von frühster Jugend an nur nach Erkenntniß gestrebt und ihr jedes Opfer gebracht." Das hat mich ganz erschüttert. Malwida hatte Thränen, als sie mir es mittheilte, und glaubt Frl. S. sei mir innerlich tief verwandt. — Mir schien es zunächst, als hätte es keinen rechten Grund gehabt, mich nach Rom zu locken. Jetzt denke ich anders! Betrachte diesen Brief als Erzeugniß einer üblen Laune; hätte ich Zeit, so schriebe ich einen andern mit andern Eindrücken. [The following passage is omitted in GBr: Verberg ihn jedenfalls vor unsrer Mutter, die ein Talent besitzt mich und meine Handlungsweise mißzuverstehen und hier jedenfalls an Liebschaft oder dergleichen denken würde. Wir müssen uns wohl wiedersehen und sprechen um ihr die Pläne der ausgezeichneten Frl. von Meysenbug und Dr. Rée begreifbar zu machen.] [Sils-Maria, Anfang August 1883]: Brief von Friedrich Nietzsche. Aber natürlich! ich habe sehr "ziemlich" und artig geantwortet — das schrieb ich Dir schon. Gräßlich ist mir ihr Geschwätz über Lou. Rée hatte Recht, daß Niemand ungeeigneter als Frau Overbeck gewesen ist, um Lou über mich "aufzuklären." Nun giebt sie sich die größte Mühe, andern Leuten die Schuld aufzubürden, vorzüglich Dir. Mit ihrem verkleinernden Auge sieht sie Alles falsch: Gutes und Böses, Alles kleinlich und säuerlich. Ihre Ermahnungen waren, von aller Unbescheidenheit abgesehn, einfach lächerlich: als ob man den alten Laokoon auffordere, er möge doch seine Schlangen überwinden. Uebrigens ist es wohl Frauenart, überall Liebesgeschichten zu wittern und deshalb von Lou's "Einfluß" zu fabeln. Wie wohl that mir Dein Brief in dieser Hinsicht. Du hast begriffen, wie fürchterlich das Erlebniß mit Rse ist, — ungleich schlimmer als die Lou-Affäre. Ueber einen Menschen, mit dem man Jahre lang Liebe und Vertrauen gemein hatte, den ich für einen meiner besten Freunde hielt, umlernen zu müssen — das kann ich nie überwinden. Deshalb leide ich Höllenqualen Tag und Nacht u. weiß nicht, wo ich Trost finden soll. Und doch glaube ich, daß es besser gewesen wäre, Du hättest es mich früher wissen lassen. Du bist in Tautenburg zu schonend gegen mich gewesen. Gewißheit war besser, als dieses Mißtrauen, mit welchem ich mich während meines langen Aufenthaltes in Leipzig gequält habe. Ich glaubte, Rée damit Unrecht zu thun, u. litt unter diesem immer neu auftauchenden Mißtrauen. Du glaubst ja heute noch nicht an Rée's Schuld und machst Lou allein für all die Widerlichkeiten verantwortlich: aber er hatte in Leipzig so ganz die Miene des schlechten Gewissens, wenn ich allein mit ihm sprach. Ich kann mir jetzt so Manches erklären: widerliche Dinge, die Jedermann verborgen bleiben sollen, die ich mir selbst am liebsten verbergen möchte. Wäre es nur möglich! Rée hat mich schamlos belogen, in jeder Hinsicht! vor Allem über Lou. Und nun weiß ich mich vor Ekel nicht zu lassen, daß ich durch solchen Schlamm waten muß! Gerade ich, der ich nur in einer Atmosphäre extremer Reinheit und Lauterkeit existiren kann. Ich komme um! ich leide unbeschreiblich! Das Dasein ist mir verleidet! Aber ich habe ein Ziel, welches mich nöthigt, noch zu leben, und dessentwegen ich auch mit den schmerzhaftesten Dingen fertig werden muß: ohne diesen Zwang, der über mir steht, würde ich es leichter nehmen — nämlich längst nicht mehr leben. Und nicht nur hätte ein Jeder, der in diesem Winter meinen Zustand aus der Nähe gesehen und begriffen hätte, sagen dürfen: mach Dir's leichter! Stirb!, sondern auch schon in der furchtbaren Zeit 1879-80 stand es so mit mir. Selbst noch meine Genueser Jahre — Genesungs-Jahre — sind eine lange Kette von Selbst-Ueberwindungen und nicht im Geschmacke irgend eines Menschen, den ich kenne. Also, meine liebe Schwester, der Tyrann in mir, der unerbittliche, wird mich auch [sie] diesmal triumphiren lassen u. mich zum Siege führen. Und wie meine Denkweise ist, so verlangt sie sogar einen absoluten Sieg: nämlich die Wandlung der Erlebnisse in Gold u. Nutzen höchsten Ranges. Das versteht Niemand, am wenigsten meine Freunde, z. B. Overbecks. Verzeih, meine liebe Schwester, daß ich immer wieder von diesen alten Geschichten anfange: aber wem soll ich sonst klagen? Du sahst aus meinem letzten Briefe, wie mir es schadet, wenn ich es andern Leuten gegenüber thue: dann fallen sie mit Ermahnungen über mich her und lassen ihr Machtgefühl an mir aus. Nimm meine Klagen, bitte, nicht als Vorwürfe! Du konntest nicht anders handeln als Du gehandelt hast, Du wolltest ein Duell verhindern, das nun doch wohl noch kommt. Ein einziger Vorwurf ist berechtigt: Du hättest unsere Mutter außer Spiel lassen sollen. Sie und wir sind zu verschieden. [The following passage is omitted in GBr: Es war mir unmöglich sie darüber sprechen zu hören oder ihre Briefe zu lesen. Ich habe mir niemals Deine Briefe verbeten! Das weißt Du doch wenn ich "Angehörige" sage, so meine ich unsre gute Mutter, bei dieser Pluralform bist Du nicht mitgemeint.] — Bei Alledem bin ich jetzt auch noch fleißig gewesen u. habe diesem kalten sonnenlosen Sommer hier oben merkwürdig viel abgerungen. Aber heute nichts mehr. Dein Fritz. Sils-Maria, 2. September 1883: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes Lama. Ich las Deinen Brief unterwegs und brach in lautes Lachen aus. Das erste befreiende Lachen seit Mailand! Auch ich hatte gestern ähnliche Nachrichten und meinen ganzen Sommer bereits in die von uns so beliebten Verse gebracht. Also die ganze Sache verläuft im Sande und alle tragischen Attitüden erscheinen nachträglich etwas lächerlich. Übrigens bin ich nicht verblendet u. sehe jetzt deutlich das Wirrsal dieser letzten Monate. Erst klage ich über meine Freunde, daß mich alle im Stich gelassen hätten; darauf schreibt das tapfere Lama den guten Brief an Frau Rée (ein Frauenzimmermeisterstück!) u. schickt mir die Copie. Zu gleicher Zeit kommen die Mittheilungen von Malwida. Ich hörte soviel Neues und Schlimmes — stürzte mich wild in den Kampf — u. verdarb dem armen Lama den ganzen Feldzugsplan. Du hattest, wie ich nun sehe, nichts weniger als meine Antheilnahme an dem Kampf gewünscht. Immerhin ist das Resultat nicht nutzlos. Ich machte gleich zu meinen gestrigen Versen noch einen vorletzten hinzu. Der Schluß heißt nun so: Der fröhliche Krieg. Das Lama wollt' besiegen Wir hätten mit oder ohne Malwida den Sommer bei einander bleiben sollen, das wäre viel vernünftiger gewesen. Wenn das Lama mit fröhlichen Gebärden erscheint, fliehen alle Nachtgespenster und sonstiges Gelichter, das uns entzweien will. Es giebt mehr dergleichen, als Du ahnst. Nun aber, meine liebe Schwester, giebts kein Zögern mehr. Nächsten Mittwoch reise ich von hier ab und will nunmehr, falls es Euch recht ist, eine kleine Zeit in Naumburg zubringen. Ich habe einige Dinge in Deutschland abzumachen. Vorerst aber bedarf ich im höchsten Grade: der Heiterkeit, schönen Obstes und alles dessen was sonst der Seele wohlthut. Nicht wahr, ich brauche nicht zu erinnern, welche Art von Gesprächen unsrer lieben Mutter u. mir nicht zuträglich sind? Bitte beschwöre sie in dieser Beziehung mich zu schonen. Mit dem Gedanken, in Leipzig über griechische Cultur Vorlesungen zu halten, ist es lange vorbei, und ich bin froh, von einer neuen Halbheit so schnell erlöst worden zu sein. Heinze schrieb mir mit der dankenswerthesten Offenheit, daß mein Gesuch in Leipzig jedenfalls scheitern werde und daß die Fakultät es nicht wagen könne, mich dem Ministerium zu empfehlen, in Hinsicht auf jene Ansichten, die nun einmal mit meinem Namen verknüpft sind. Meine Bücher will ich einstweilen hier oben lassen. Nun sieh zu, meine Liebe Gute, daß es hübsch heiter u. hell um mich ist. Ich habe noch Viel zu thun und muß sogar in den nächsten Jahren gerade mein Schwerstes thun: darnach sollte sich Alles ordnen und einrichten. Grüße unsre liebe Mutter mit innigem Dank für den letzten Brief. Mit den herzlichsten Wünschen [The following postscript is omitted in GBr: Ich weiß noch nicht wann ich komme] Genua, 10. November 1883: Brief von Friedrich Nietzsche. [In KGB: Original von unsrer guten Mutter verbrannt. Meine liebe Schwester Sende mir doch, was an Briefen noch eingelaufen ist und umgehend, da ich Genua verlassen will. Auch wollen wir es von jetzt an so halten, daß die Briefe gleich uneröffnet weiter geschickt werden. Der Inhalt der Briefe ist nicht immer für unsre gute Mutter geeignet und Du wirst sie ihr nicht vorenthalten können. Ich vertrage Genua nicht mehr, es ist viel zu viel Lärm und die Spazier-geh-Möglichkeit zu fern. Ich habe die Lebensweise noch nicht finden können bei der sich's aushält. Mein Nervensystem ist durch die Vorgänge des letzten Jahres alterirt u. geschwächt, das Mißbehagen ist schrecklich! Das fühlte ich selbst in Naumburg fortwährend, — trotz aller Eurer Liebe und Herzlichkeit. Möchte mir doch Jemand Etwas erfinden daß [sie] mich erhebt u. erquickt daß ich endlich das Gedächtniß für die Beschimpfungen und Verkennungen der letzten Jahre verliere! Aber es stellt sich Nichts dazwischen! Mit Deutschland habe ich abgeschlossen, — was hätte ich mir erspart wenn ich dies früher gethan hätte! Meine Gesundheit meine Ehre mein Verstand mein Leben — Alles ist mit diesem unseligen Aufenthalt vom vorigen Jahr in Gefahr gebracht worden Ungefähr zur selben Zeit vor einem Jahr hat mir unsre Mutter in Leipzig die unglaublichsten Vorwürfe gemacht — ganz als ob ich durch diese Ree-Lou-Geschichte nicht schon genug gelitten hätte u. erniedrigt worden wäre! Meine nächste Adresse ist Villafranca près de Nizza (France) poste restante. Ich habe viel nachgedacht über gute Orte, Breiting ist mit dieser Wahl sehr einverstanden. Es giebt da im Jahre c. 220 vollkommen reine Tage: daraufhin will ich's versuchen. Bleib mir gut und erinnere mich nicht mehr an die letzte Vergangenheit. Denk Dir etwas Heiteres u. Gutes aus! Dein F. N.] Genua, Ende November 1883: Brief von Friedrich Nietzsche. Morgen geht es fort meine Herzenslieben, ich will etwas Neues, nämlich Nizza, versuchen, denn Genua hat mir dieses Mal nicht gut gethan. Auch war ich inzwischen hier zu bekannt geworden — ich konnte nicht mehr leben wie ich wollte. Genua ist mir eine ausgezeichnete Schule harter einfacher Lebensweise gewesen; ich weiß jetzt, daß ich wie ein Arbeiter und Mönch leben kann. So habe ich nämlich in all den Jahren hier gelebt (ohne irgendwelche Entbehrung zu empfinden) und meine Gesundheit dabei erobert. Genua ist heute, wie zum Abschied, rührend-schön in ihrem herbstlichen leuchtenden Glanze, so recht die Stadt für Menschen des Columbus. Das ist sie mir immer gewesen! Nun habe ich selbst ein neues Land entdeckt — glaubt mir das nur meine Lieben! — Sobald ich mich fest für Nizza entschlossen habe, schreibe ich. Euer F. Nizza, Winter 1883/1884: Brief von Friedrich Nietzsche. Nur einige bestimmte Worte, meine Schwester, um etwas Klarheit in diese verworrenen Vorgänge zu bringen. Ich habe nichts gegen die ehrenwerte Persönlichkeit Försters einzuwenden, nur daß mir seine Ansichten so fremd wie möglich sind. Was mich so erbittert ist die Art wie er sich in meine Angelegenheiten gemischt hat z. B. mit seiner hochmoralischen Wagnerbegeisterung und seinem Antisemitismus in der Rée-Lou-Geschichte. Dabei sind aber Wagners Perfidien gegen mich bei weitem über die Leistungen dieser beiden hinausgegangen. Und nun muß ich auch noch durch Fremde hören, daß sich Förster mit den schärfsten Worten über meine Rücksichtslosigkeit Dir gegenüber beklagt, während ich mein ganzes Leben lang niemandem mehr Zärtlichkeit und Schonung bewiesen habe, als gerade Dir! Wie kommt Förster zu dieser mich wahrhaft empörenden Bemerkung?! Es mag sein, daß mit Deinem Namen Unfug getrieben wird und Du die Hälfte von dem nicht kennst, was mir in Deinem Namen als Deine Ansicht vorgeworfen wird — aber schließlich zeigst Du durch den extravaganten, weithin sichtbaren Schritt, Deiner Verlobung mit Förster, zu deutlich, daß Du nicht meinen höchsten Zielen, sondern jenen "Idealen," die ich überwunden habe und jetzt bekämpfen muß (Christenthum, Wagner, Schopenhauerisches Mitleid etc.), Dein Leben opfern willst. Du bist zu meinen Antipoden übergegangen! Davor hätte Dich der Instinkt Deiner Liebe bewahren müssen. Es ist kein Zweifel, daß ich viele Zeichen der Liebe und Aufopferung von Dir erfahren habe — jetzt wäre es nun an der Zeit gewesen, das beste zu thun, nämlich Menschen zu suchen, die sich zur Mitarbeit an dem großen Aufbau meiner Philosophie eignen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß solche Menschen zu finden wären. Aber Du sagst: "man habe Dir den Glauben genommen, daß Du mir noch nützen könntest." Wie ich alle diese Zwischenträger mit ihren "Freundschaftsdiensten" hasse, — ich habe sie hundertmal verflucht. Du verweisest mich auf "meine Freunde, die mich verstehen," — ich möchte mit einem Hohngelächter der Hölle antworten, denn ich habe Niemanden, Niemand, der auch nur den entferntesten Geruch von meiner Aufgabe hätte oder der wüßte, warum ich so lange Jahre krank gewesen bin. Dagegen hat sich Jedermann bemüht, meine Genesung immer wieder durch Mißhandlungen und Beleidigungen in Frage zu stellen. Nun, ich will es nicht verhehlen, daß ich auch diese Verlobung als Beleidigung empfinde — oder als eine Dummheit, die Dir ebenso schaden wird wie mir. F. Venedig, Ende Winter 1884: Brief von Friedrich Nietzsche. [Parts lifted from Nietzsche's Mid-June 1884 letter to Malwida von Meysenbug, KGB 3.1, 499-502 Nr. 509.] Liebe Schwester. Unsre Mutter schreibt mir, daß Du von dem III. Theil des Zarathustra so erfüllt wärest und keine Worte fändest, den Dank für das Geschenk auszudrücken. Es sollte schon längst in Deinen Händen sein, wenigstens habe ich dem Verleger schon lange den Auftrag dazu gegeben. Das ist aber auch kein Geschenk, für das man so ohne Weiteres zu danken hätte — ich verlange ein Umlernen in Betreff der liebsten und verehrtesten Empfindungen, und viel mehr als ein Umlernen! Wer weiß wie viele Generationen erst vorüber gehen müssen, um einige Menschen hervorzubringen, die es in seiner ganzen Tiefe nachfühlen, was ich gethan habe! Und selbst dann macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden. Aber das ist die Qual jedes großen Lehrers der Menschheit: er weiß, daß er, unter Umständen und Unfällen, der Menschheit zum Verhängniß werden kann, so gut als zum Segen. Nun, ich selber will Alles thun, um zum Mindesten keinen allzugroben Mißverständniß Vorschub zu leisten, und jetzt, nachdem ich mir diese Vorhalle meiner Philosophie gebaut habe, muß ich die Hand wieder anlegen und nicht müde werden, bis auch der Haupt-Bau fertig vor mir steht. Menschen, die nur die Sprache der Ambition verstehen, mögen mir nachsagen, daß ich nach der höchsten Krone griffe, welche die Menschheit zu vergeben hat. Wohlan! Also das Gerüste zu meinem Haupt-Bau soll in diesem Sommer aufgerichtet werden; oder anders ausgedrückt: ich will das Schema zu meiner Philosophie und den Plan für die nächsten sechs Jahre in diesen nächsten Monaten aufzeichnen. Möchte meine Gesundheit dazu ausreichen! Dein Bruder. Mentone, Mittwoch. [vermutlich 26.11.1884]: Brief von Friedrich Nietzsche. [Allegedly the lost part of the beginning of KGB 3.2, Nr. 558: Meine Lieben, Es geht mir nicht gut, die Schmeitzner'sche Geschichte bedrückt mich; er hat sich auf eine sehr fatale Weise geäußert. Es war mir gräßlich und peinlich, — schließlich nehme ich das alte Mittel. — Ich schlafe gut, aber es folgt darauf "Menschenhaß und Reue" — und ich bin doch sonst der Mensch der wohlwollendsten Gesinnung. Also heute nichts weiter über Schmeitzner, und seine Gemeinheiten. Stellt Euch vor: inzwischen hat Herr Lanzky eine Woche in der pension de Genève (Nizza) auf mich gewartet: ich erfuhr es 2 Tage zu spät. Dann ist er nach Ajaccio abgereist. Ein rührender Brief von ihm kam heute in meine Hände.] [The rest of KGB 3.2, Nr. 558:] Zugleich schrieb Frau Dr. Müller, die Inhaberin der "Schweizer Pension" in Ajaccio, an mich, meine ihr gemachten Vorschläge acceptirend. Zugleich noch ein langer Brief von Frl. Resa aus Paris, welche, wie ich denke, mich in Corsica besuchen will. Trotzalledem — ist Euer Prinz so caput. daß er sich noch nicht zu dieser Reise (12 Stunden Nachtfahrt) entschließen kann. Aber ich meine, diese absonderliche Gelegenheit für Corsica darf ich nicht schlüpfen lassen. Zunächst will ich nach Nizza und experimentiren, ob es wieder so heilsam wirkt. Bin ich erst wieder hergestellt, dann wollen wir zusehn. Es muß heitere Menschen um mich geben. Schade, daß ich nicht nach Paris gegangen bin. — Habt mich lieb und seid guter Dinge. (Mein Brief über Schmeitznerische Angelegenheiten wird in Euren Händen sein?) Euer Fritz. Elisabeth Förster-Nietzsche. Ca. 1895. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Nizza, Januar 1885: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine liebe Schwester, ich antworte sofort auf Deine besorgte Karte, um Dich zu beruhigen. Es geht gerade heute nicht gut, ein schlimmes Wetter zieht seit gestern Abend herauf. Sonst aber hat sich mein Zustand in den zwei letzten Wochen verbessert, abgerechnet die Augen: welche ich nicht in dem Maße schone, als ich sollte. Aber ohne meine Arbeiten ist das Leben hier unerträglich. Nizza ist kein Spaziergehe-Ort für mich, die Landschaft widersteht mir, ebenso wie der Mensch in dieser Landschaft (ich meine den Fremden eben so sehr, als die Franzosen von heute). Zuletzt ist ein Wagen- und Karrenlärm in Nizza und weit und breit herum, wie ich es mir anderswo gar nicht vorstellen kann. — Im Geiste bin ich viel in Venedig: das wäre für mich der rechte Ort, wenn er nicht gerade die umgekehrten klimatischen Verhältnisse besäße. — Genua hat sich, nachträglich, nach vielen gesammelten meteorologischen Daten, als eine glänzende und merkwürdige Wahl meines Instinkts herausgestellt: worüber viel zu sagen wäre. Es ist immer noch nicht unmöglich, daß ich Genua wieder aufsuche: da die Bewohnbarkeit meiner Halbinsel St. Jean für mich allein nicht leicht möglich ist. Es müßte denn sein, daß ich eine ausgezeichnete Wirthschafterin und Köchin fände. An Villen, die ganz oder theilweise vermiethbar sind, fehlt es dort nicht. Für nächsten Winter übrigens glaube ich, daß die beiden Sarasins, meine alten Schüler, die jetzt in Ceylon sind, zurückkommen und sich bei ihrem Aquarium in Villefranche (½ Stunde von Beaulieu und St. Jean) niederlassen, zusammen mit dem Würzburger Professor Semper; da bekomme ich Naturforscher nach meinem Geschmack in die Nähe von St. Jean. Auch wäre ein Zusammenleben zu Dreien (nämlich Gast, Lanzky und ich) in einer solchen kleinen Villa ausführbar, selbst pekuniär. Wenn Jeder für sein Theil jeden Tag auf 5 frs. rechnet, so könnten wir mit diesen täglichen 15 frs. alles haben, auch die Wirthschafterin. — Noch rationeller wäre vielleicht eine gute wirthfchaftliche Gattin für mich, welche ihre Aufgabe darin sähe, mich in dem Zustand zu erhalten, in dem ich meiner überschweren Lebens-Aufgabe am besten nachkomme. Aber alles, was ich von Weibern kennen gelernt habe, ist mir, auf diese Mission angesehn, als unzureichend erschienen: so daß ich eigentlich in diesem Punkte keinen Glauben mehr habe. Sie müßte jung sein, sehr heiter, sehr rüstig und wenig oder gar nicht "gebildet"! und außerdem eine gute Wirthschafterin aus eigener Neigung. Voilà! hier hast Du zu lachen! In Betreff des Geburtstags bin ich sehr einverstanden: die Bismarck-Fortsetzung aber jetzt nicht! sondern vielleicht, s'il vous plaît, zum 15. October! Von Herzen Dein F. Nizza, Anfang März 1885: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine liebe Schwester. Als ich Deinen Brief las, kam mir wieder einmal zum Bewußtsein, weshalb mich einige feinere Köpfe für unsinnig halten, oder erzählen, ich sei im Irrenhaus gestorben. Glaubst Du wirklich, daß Stein's Arbeiten, die ich nicht einmal zur Zeit meiner schlimmsten Wagnerei und Schopenhauerei gemacht haben würde, von einer ähnlichen Wichtigkeit sind wie die ungeheure Aufgabe, die auf mir liegt? (Ich begreife überhaupt nicht, wie Du mir seinen Brief schicken konntest!) Oder hältst Du es meiner Würde gemäß, mich um seine Freundschaft zu bewerben? Ich bin viel zu stolz um je zu glauben, daß ein Mensch mich lieben könne. Dies würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig glaube ich daran, daß ich je Jemanden lieben werde: dies würde voraussetzen, daß ich einmal — Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände. — Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Richard Wagner und A. Schopenhauer, um einiger persönlicher Dinge willen, eben so sehr verachte als tief bedaure und daß ich selbst den Stifter des Christenthums in mancher Hinsicht als oberflächlich empfinde. Ich habe sie Alle geliebt, als ich noch nicht begriff, was der Mensch ist und sein kann. Was mich beschäftigt, bekümmert, erhebt, dafür habe ich nie einen Mitwisser und Freund gehabt: es ist Schade, daß es keinen Gott giebt, damit es doch Einer wüßte. — So lange ich gesund bin, habe ich guten Humor genug, um meine Rolle zu spielen und mich vor aller Welt darunter zu verstecken, z. B. als Basler Professor oder hier als heitrer Gesellschaftsmensch. Aber leider bin ich oft krank und nehme das alte Mittel — und dann hasse ich alle Menschen, die ich kennen gelernt habe, unsäglich — mich eingerechnet. Meine liebe Schwester, das Wort unter uns — und Du darfst den Brief hinterher verbrennen — ich bitte Dich sogar darum — wenn ich mich nicht bemühte, ein gutes Stück Schauspieler zu sein, so hielte ich's nicht eine Stunde aus zu leben, wenigstens hier nicht in der Stadt der Heerdenthiere. Auch die Heiratsprojekte unsrer Mutter haben mich tief verletzt: [The following passage is omitted in GBr: Ich fand sie ohne jedes Nachdenken über das, was mir wohlthut.] Es gehört zu den Räthseln, über die ich einige Male nachgedacht habe, wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt sind. Für Menschen, wie ich bin, giebt es keine Ehe, es sei denn im Stil unsres Goethe. Ich denke nicht daran, je geliebt zu werden. Die letzten Jahre haben es zu sehr bewiesen, wie sehr ich auf Liebe und Freundschaft verzichten muß. Die von Dir gerühmten "alten Freunde" sind mir so ferne, auch schreiben sie langweilige Briefe — Gast ausgenommen —, und ihre Rathschläge machen mich ungeduldig. Es scheint mir, daß ein Mensch, bei dem allerbesten Willen, unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbefcheiden genug ist, Denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist. Um ein Beispiel zu nehmen: Die gute Malwida hat ihr ganzes Leben nichts als Unheil angestiftet, Dank jener eben genannten Unbescheidenheit. Wenn ich Dir einmal sehr gezürnt habe, so war es, weil Du mich zwangst, die letzten Menschen aufzugeben, mit denen ich ohne Maske von den Dingen reden konnte, die mich interessiren. Was sie von mir dachten und hielten, war mir sehr gleichgültig. — Dir aber nicht, und ich hoffe auch nicht meinen Freunden. — Jetzt bin ich allein und langweile mich. Sei mir eines solchen Briefes wegen nicht böse! Es liegt mehr Artigkeit darin, als wenn ich, wie sonst so oft, eine Komödie spiele. Verbirg den Brief vor unserer Mutter. Dein F. N. Soeben entdecke ich, daß Du mir Stein's Brief geschlossen geschickt hast, daß Du also gar nicht wissen kannst, was er mir vorschlägt. Auch seinen Brief vom Herbst, der den gleichen thörichten Vorschlag enthielt, kennst Du nicht. Verzeih! Ich habe mich ohne jeden Grund gegen Dich aufgeregt! Aber wie sagtest Du so hübsch in Zürich? "Wenn es Dir gut thut, so schimpfe nur ein wenig!" Von dieser gütigen Erlaubniß machte ich soeben Gebrauch. An Stein will ich selbst schreiben. Nizza, 15. November 1885 [Mitte März 1885]: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine geliebte Schwester. Als ich Deinen herzbewegenden Brief las, meine herzliebe Schwester, verdunkelten sich meine Augen immer wieder; Thränen kamen mir bei den Vorschlägen Deiner liebevollen mütterlichen Fürsorge, mit welcher Du immer wieder versuchst, Alles für mich zum Besten zu wenden. Aber die Thränen kamen mir auch bei dem Gedanken, daß ich diese treue beständige Fürsorge verlieren soll, — durch eigene Schuld, das ist das Bitterste. Ich sehe jetzt ganz klar, daß meine Dir unverständlich erscheinenden Vorwürfe Dich immer fester an Förster gekettet haben. Erlaube mir indessen zu sagen, daß, wenn Förster sich nicht in diese Angelegenheit gemischt hätte oder hinein gemischt worden wäre, es niemals zwischen Dir und mir zu einer solchen Entfremdung, die Du mit Recht "absolut unbegreiflich" nennst, gekommen sein würde. Du kennst nicht die Hintergründe der ganzen Angelegenheit, auch nicht die Briefe, mit denen ich bombardirt worden bin, von welchen jeder eine Handvoll großer und kleiner Bosheiten enthielt, die mir im Namen meines zukünftigen Schwagers und sogar meiner Schwester an den Kopf geworfen wurden. Auch unsre Mutter schürte das Feuer der Zwietracht, um den unwillkommnen Schwiegersohn los zu werden — sie wurde aber nur ihre Tochter los und nahm mir den treusten angeborenen Jünger. Uebrigens schlimmer als alle Anderen hat Frau Overbeck mit ihren beständigen Verdächtigungen gewirkt, — auch Overbeck hatte sie aufgereizt. Was hat sie nur gegen Dich? Eifersucht? — Und dazu kam Lou!.. Aber dreißig Jahre treuer ungetrübtester Freundschaft konnte nicht lange Zeit durch solche Erlebnisse erschüttert werden. Schließlich aber kam auch noch "Mathilde." — Du fragst vielleicht: wer ist das? Frage nur Deinen Bernhard, — er wird es noch besser als ich wissen. Gewiß es war Unrecht, daß ich jenen drei [The following word is omitted in GBr: verwünschten] Weibern Glauben schenkte und mich dermaßen gegen Dich aufreizen ließ, — wer aber so viel mit sich allein ist und sich Tag und Nacht allerhand Gedanken macht, dazu alle Dinge nicht nur von zwei, sondern drei, vier Seiten sieht und (vermöge einer nicht ganz gewöhnlichen Eigenart) auch sehen kann, der beurtheilt auch seine Erlebnisse ganz verschieden. So schwankte ich in meinem Zorn (nach dem Standpunkt, den ich einnahm) zwischen Malwida und Dir hin und her. Daß mir Malwida ein solches Wesen wie Lou als Jüngerin empfehlen konnte, ist und bleibt unbegreiflich und unverzeihlich! Aber schließlich hatte ich mir aus dieser "Jüngerin" mit ihren übeln, ja [The following word is omitted in GBr: widerlichen] Eigenschaften gewissermaßen ein "anatomisches Präparat" zu meinem persönlichen Studium zurecht gemacht, das mir viel nützte, gerade weil diese Eigenschaften meiner Natur so fremd sind. Und da wandte sich zuweilen mein Zorn gegen Dich, weil ich schließlich doch Deinetwegen dieses "anatomische Präparat" aus den Händen geben mußte. Es trifft Dich keine Schuld — das sagte ich mir auch immer, wenn ich die Sache von der richtigen Seite ansah. Vielleicht hättest Du mir sogleich die volle, freilich für mich sehr ekelhafte Wahrheit sagen sollen: aber ich verstehe, daß Du aus Rücksicht auf mich und Rée geschwiegen hast (ich hätte ihn ja sogleich fordern müssen!). Dagegen haben "Andere" geredet und Alles verdorben! Ich danke Dir, daß Du meine unfreundlichen Briefe über Malwida schicktest. Du hast Recht, daß es besser ist sie zu vernichten, das ist ganz meine Meinung. Ich habe auch Malwida gebeten, mir den häßlichen Brief zu senden, den ich über Dich geschrieben habe. Ich möchte nicht, daß mich die Nachwelt so ungerecht sähe gegen die beiden einzigen Wesen, die sich wirklich Gedanken machen, wie mir am besten wohlzuthun wäre, und mir jedenfalls nur Gutes erweisen wollten. — Hier, wo ich Niemand zum Unterhalten habe, schreibe ich Dir lange, fast rhetorische Briefe und dazu will ich Dir auch etwas schenken. Du weißt, daß ich von den Franzosen dieses Jahrhunderts Henry Beyle (Stendhal) am liebsten habe. Von seinen Schülern ist bei weitem der einflußreichste: Taine; um Dir einen Begriff von ihm zu geben, sende ich Dir seinen Mr. Graindorge, ein Buch, das für meinen Geschmack etwas zu harmlos ist, aber vielleicht um so mehr geeignet ist, Dir einen günstigen Begriff von dem Verfasser zu geben. In herzlicher Liebe Leipzig, d. 14. Juni 1886: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine geliebte Schwester. In diesen Tagen kam mir unsere gemeinsame Wanderung zu Credner im letzten Herbst in den Sinn, die zunächst so aussichtsvolle Folgen zu haben schien, schließlich aber doch erfolglos geblieben ist. Wenn ich nun auch über meine letzte Schrift, wie ich Dir schon schrieb, anderweitig verfügt habe (es sind schon fünf Bogen im Druck fertig), so bleibt doch immer die Schwierigkeit bestehen, von Schmeitzner loszukommen. Es ist jetzt Aussicht dazu vorhanden, aber es ist hart, Verlegern gegenüber die tausendfachen Irrthümer und Dummheiten, die sich wie ein dicker Nebel um alle meine Schriften gelegt haben, selbst zerreißen zu sollen, — und noch härter, daß sich keiner meiner alten Freunde bemüht, mir dies abzunehmen. Die Einzige die es, seit ich kein Amt und deshalb auch keine Autorität mehr habe, versucht hat, mir meine Verlegersorgen abzunehmen, bist Du und Heinze — das soll Euch nie vergessen werden! — Jedenfalls muß ich mich jetzt selbst vertheidigen. Glaubst Du vielleicht, daß es einer der alten Freunde thut, z. B. Overbeck? Er denkt nicht daran! Gewiß, es wäre Ehrensache meiner Freunde, für meinen Namen und weltliche Sicherheit thätig zu sein und mir eine Burg zu bauen, wo ich gegen grobe Verkennung bewahrt wäre: ich selbst dürfte keinen Finger mehr dafür rühren, — aber sie fühlen dies nicht! Weder Rohde noch Overbeck haben die blasseste Vorstellung, worum es sich bei mir handelt, geschweige ein Gefühl der Pflicht gegen mich. In dieser Universitäts-Luft entarten die besten; ich fühle fortwährend als Hintergrund und letzte Instanz, selbst bei solchen Naturen wie Rohde und Overbeck, die allgemeine verfluchte "Wurschtigkeit" und den vollkommenen Mangel an Glauben. Dafür, daß Einer wie ich von Kindheit an zwischen Problemen lebt, über die man schweigt und denen man gern entlaufen möchte — wer hätte dafür ein Mitgefühl? — Wagner hatte es; und deshalb war Tribschen eine solche Erholung für mich, während ich jetzt keinen Ort, keinen Menschen habe, der zu meiner Erholung taugte. Deine Pläne, Vorlesungen an einer Universität zu halten, habe ich aufgegeben, — aufgeben müssen, angesichts meiner hiesigen Erlebnisse. Es ist hart, ja geradezu verrückt, daß ein Mensch, der für die reichste und umfänglichste Wirksamkeit geboren ist und sein Bestes in ausgesuchten Seelen niederlegen und einpflanzen könnte, dazu verurtheilt wird, mit seinen halbblinden Augen Litteratur zu machen — nur um überhaupt wirken zu können. Aber es ist hier unmöglich, an irgendwelche persönliche Wirksamkeit zu denken. Rohde giebt mir merkwürdige Einblicke in die Interna der Leipziger Universität. Er ist äußerst unzufrieden und hat bereits einen Ruf nach Heidelberg angenommen. Unsre Unterhaltungen sind nicht erfreulicher Art, es fehlt der innerste Zusammenklang. — Um Dir einen Begriff zu geben: das Einzige, worin die vollste Uebereinstimmung zwischen uns herrscht, ist unsre gemeinsame Abneigung gegen Frau Overbeck; doch drückt sich Rohde viel stärker darüber aus, während ich, wie Du weißt, von Anfang an daran festgehalten habe: sie Overbeck's wegen zu ertragen. Es war nicht leicht. Rohde meint, daß sie auf den armen Overbeck den ungünstigsten Einfluß ausübe, was mir bei meinem letzten schrecklichen Aufenthalt in Basel auch so erschien. Rohde läßt Dich vielmals grüßen! Du hättest ihn sollen schimpfen hören, als ich ihm erzählte: wie es Frau Overbeck versucht hat, Dich und mich, unter dem Deckmantel von "Freundesdiensten," zu entzweien!! Auf Overbeck hält er große Stücke, — ich auch! sehr große Stücke! Aber ich möchte doch, daß mich Rohde nicht mit Overbeck's Augen sähe. Wenn mich Overbeck nicht versteht, trotzdem er sich redliche Mühe giebt (wofür ich ihm immer dankbar sein werde), so darf ich mich nicht beklagen: er kann es nicht, es liegt nicht in seiner Art. Aber wenn Rohde Overbeck's Anschauungen über mich annimmt, so ist das sehr bitter: er könnte anders Ich will Geduld haben! "Einst wird kommen der Tag!" Vielleicht?! Im Uebrigen klage nicht, daß ich Leipzig aufgebe; in einem falschen Milieu leben, richtet mich physisch unfehlbar zu Grunde. Hier ist aber das geistige Klima, ebenso wie das wirkliche, für mich unmöglich; unausstehlich lähmend! Ich bin unlustig zum Arbeiten oder Besuche zu machen. Es ist aber Geduld bis Ende der Woche nöthig, da ich eine Orchester-Aufführung Köselitzscher Musik bis dahm im Werke habe. Auch Widemann hat mich, von Dresden aus, besucht und läßt schön grüßen. Von der Gesundheit im Allgemeinen sage ich nichts — oder wenn ich jetzt sage: ich bin krank, so meine ich etwas Anderes, Schwereres (die Gesundheit ist ganz "ordentlich," wie man in Basel sagt), zum Beispiel das Gefühl der ungeheuren Verantwortung, die auf mir liegt, oder auch, daß ich Niemand mehr von den alten Freunden habe, auf den sich mein Herz verlassen kann. — Und das Lama lief davon! Ich bin allein! In alter Liebe Sils-Maria, d. 8. Juli 1886: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes, liebes Lama. Wie sehr hat mich Alles gefreut, was Du bisher geschrieben hast und daß Du bei all dem Fremden, Neuen nicht Deinen alten Bruder vergissest, der aber doch wohl ein guter Europäer bleibt — oder bleiben muß — trotz aller verführerischen Schilderungen Deines dortigen Winters und Klima's. Nur daß ich mich nicht wieder in solchen klimatischen Gegensätzen bewegen darf, wie dieses Jahr. Der Sprung aus dem dumpfen, heißen Naumburg, wo während meiner Anwesenheit ein ganz verfrühter Sommer eintrat, in diese ziemlich winterliche Luft, hat mich bis jetzt abscheulich nervös gemacht, sodaß ich von der schönen Landschaft noch wenig genießen konnte. Doch merke ich mit Freuden, daß ich an dieser Natur immer noch Genuß und Ueberraschung habe. Nur ist es etwas zu hell hier im Freien und im Zimmer zu düster. Die Augen sind schlimm daran: und die bösen vielen vielen Bücher um mich. — Im Ganzen glaube ich, daß das Engadin zu hoch ist: andere Jahre muß ich etwas Anderes versuchen. Aber um des Himmels willen nicht in Deutschland! Es war nicht nur das Klima, was mich in Naumburg und Leipzig so bedrückte; wenn ich nicht mit dieser Frühlingsreise nach dem Norden die wichtigen buchhändlerischen Besprechungen verbunden hätte, so würde ich es nicht zwei Tage dort ausgehalten haben. Du wirst auch noch durch unsre Mutter von den Verlegernöthen gehört haben, mit denen sie selbst noch (leider!) nach meiner Abreise arg gequält worden ist. Es hat mir sehr leid gethan, weil sie solchen Situationen nicht ganz gewachsen ist; aber im Ganzen war es gut, daß ich selbst nicht mehr dort war: denn unzweifelhaft wären die zudringlichen Herren [In KGB: Sch[meitzner]; in GBr: X] und [In KGB: Ehrl[ecke]; in GBr: Y] mir persönlich auf den Leib gerückt, was vermieden werden mußte. Wenn es noch mit Fritzsch gerüth, so bin ich ganz zufrieden; es ist ein guter Hafen für meine Litteratur, und der Musik so benachbart, wie es nun einmal Dein Bruder selber ist. [The following passage is omitted in GBr: Auch wie ich persönlich mit den beiden Naumanns stehe, ist recht befriedigend, ebenso daß ich zur rechten Zeit noch mit beiden gebrochen habe. Von den Naumanns habe ich bei verschiedenen Erkundigungen Gutes gehört, aber freilich könnte ich mir wohl noch einen vornehmeren Verlag und vornehmere Verleger wünschen! Doch bin ich ja nicht an sie gebunden und meine Bücher kann ich jeder Zeit aus diesem Verlag zurückziehen. Wie ich schon schrieb: es ist eine Verabredung, wie ihr sie mit H. Fock getroffen habt. Übrigens der Sohn oder Neffe — ein breitmäuliger unangenehner Bursche — will mein "verständnißvoller Verehrer" sein! Gräßlich!] Inzwischen ist mir der Gedanke, in Leipzig oder München dauernd zu leben, wieder ganz fremd geworden: ich muß zu viel von meinem Stolze zusetzen, um in solchen Kreisen leben zu können; und zuletzt, wenn ich mich noch so sehr "erniedrige," so erreiche ich damit nicht den heiteren getrosten Muth und das Selbstvertrauen, welches mir zur Fortsetzung meines Lebenswegs nöthig ist und immer noch eher in Sils und in Nizza wächst, als in den genannten Orten. Was habe ich bei meinem letzten Aufenthalte in Deutschland wieder für Demüthigungen und Dummheiten herunter schlucken müssen, ohne daß es die "Freunde" auch nur ahnten! Nein, sie sind mir allesammt "wohlgesinnt." Ich habe Stunden einer seelischen Depression erlebt, die mir in wahrhaft schauerlicher Erinnerung find. Die demüthigenden Erlebnisse des Herbstes 1882, die ich beinah vergessen hatte, kamen mir wieder in den Sinn und die beschämende Erinnerung, welche Art Menschheit ich schon als meinesgleichen behandelt habe! — [KGB explains the omission as: nicht herstellbare Auslassung] Auf Schritt und Tritt begegnete ich entgegengesetzten Empfindungen, — zu meiner Verwunderung nicht über Richard Wagner. Auch Rohde lehnt den Parsival ab. — Wo sind jene alten Freunde, mit denen ich mich ehemals so eng verbunden fühlte? Es ist jetzt, als ob wir verschiedenen Welten angehörten und nicht mehr dieselbe Sprache redeten! Wie ein Fremder, Ausgestoßener wandle ich unter ihnen, kein Wort, kein Blick erreicht mich mehr. Ich verstumme —, denn Niemand versteht meine Worte — ach sie haben mich wohl nie verstanden! — oder trägt das gleiche Schicksal, die gleiche Last auf der Seele. Es ist furchtbar, zum Schweigen verurtheilt zu sein, wenn man so viel zu sagen hat [KGB explains the omission as: nicht herstellbare Auslassung] Bin ich zur Einsamkeit geschaffen oder dazu, Niemanden zu haben, dem ich mich mittheilen kann? — Die Unmittheilbarkeit ist in Wahrheit die furchtbarste aller Vereinsamungen, die Verschiedenheit ist die Maske, welche eiserner ist als jede eiserne Maske —; und es giebt nur inter pares vollkommene Freundschaft. Inter pares! Ein Wort, das trunken macht: so viel Trost, Hoffnung, Würze, Seligkeit schließt es für den in sich, welcher immer nothwendig allein war; für Einen, der "verschieden" ist — der Niemandem begegnet ist, welcher gerade ihm gehörte, ob er schon ein guter Sucher war, der auf vielerlei Wegen gesucht hat, der im Verkehr immer der Mensch der wohlwollenden und heiteren Verstellung, der gesuchten und oft gefundenen Anähnlichung sein mußte und jene gute Miene zum bösen Spiele aus allzulanger Erfahrung kennt, die Leutseligkeit heißt, — mitunter freilich auch jene gefährlichen, herzzerreißenden Ausbrüche aller verhehlten Unseligkeit, aller nicht erstickten Begierde, aller aufgestauten und wildgewordenen Ströme der Liebe, — den plötzlichen Wahnsinn jener Stunden, wo der Einsame einen Beliebigen umarmt und als Freund und Zuwurf des Himmels und kostbarstes Geschenk behandelt, um ihn eine Stunde später mit Ekel von sich zu stoßen, mit Ekel nunmehr vor sich selbst, wie beschmutzt, wie erniedrigt, wie sich selbst entfremdet, wie an seiner eigenen Gesellschaft krank. Ein tiefer Mensch braucht Freunde: es wäre denn, daß er seinen Gott noch hat. — Und ich habe weder Gott noch Freunde! Ach meine Schwester, was Du so nennst, das waren wohl einmal Freunde — aber jetzt?! z. B. [KGB explains the omission as: nicht herstellbare Auslassung] Verzeih diesen Ausbruch der Leidenschaft, aber daran ist nur mein Aufenthalt in Deutschland schuld, von welchem ich jedes Mal mit Erbitterung in mir zuträglichere Gegenden zurückkehre. (Uebrigens [in GBr: das gegenwärtige] Basel und vorzüglich [in KGB: Overbeck; in GBr: ***]s gehören durchaus zu diesem Begriff "Deutschland.") — Nun sollte ich mir einmal wieder etwas Ruhe gönnen: denn die seelische und geistige Spannung der letzten Jahre war zu stark, und mein Temperament hat sich verschärft und verdüstert. Meine Gesundheit ist in Wahrheit ganz normal — nur die arme Seele ist so verletzlich und so sehnfüchtig nach guten Freunden, nach Menschen, "die mir gleich sind." Verschaff mir einen kleinen Kreis Menschen, die mich hören und verstehen wollen — und ich bin gesund! Hier ist Alles beim Alten: die beiden Engländerinnen und die musikalische alte Russin sind wieder hier, letztere dies Mal sehr leidend. Für den Oktober ist das Zusammenkommen mit [in KGB: Lanzky; in GBr: X] verabredet. Inzwischen wird darauf losgedruckt: was mich doch aufrecht hält, und unterhält, wie sehr ich auch bisher noch bei unleidlicher Verfassung und Stimmung gewesen bin, was Du, mein gutes Lama, wohl gemerkt haben wirst. Verbrenne diesen Brief, wie Du schon manchen anderen verbrannt hast. Das Engadin wird mir aber meine gute Laune sicher bald wieder zurück geben und dann sollst Du einen ganz lieblichen und holdseligen Brief haben von Deinem Fritz. Nizza, 22. Februar 1887: Brief von Friedrich Nietzsche. (Einen Tag vor dem großen Erdbeben.) Mein liebes Lama. Soeben fand ich eine Notiz, die besagt, daß ich in meinem letzten Brief vergessen hatte, Dir Etwas über die Musik des Parsifal zu schreiben. Du staunst? Ja ich habe das Vorspiel gehört, — und wo? In Monte Carlo! Sehr sonderbar, nicht wahr? Ich kann nur mit Erschütterung daran denken, so erhoben, so ergriffen fühlte ich mich. Wie als ob seit vielen Jahren endlich einmal Jemand zu mir über die Probleme redete, die mich bekümmern, nicht natürlich mit den Antworten, die i ch etwa dafür bereit halte, sondern mit der christlichen — welche zuletzt die Antwort stärkerer Seelen gewesen ist, als unsere letzten beiden Jahrhunderte hervorgebracht haben. Man legt allerdings beim Hören dieser Musik den Protestantismus wie ein Mißverständniß bei Seite; aber auch, wie ich nicht leugnen will, andere recht gute Musik, die ich sonst gehört und geliebt habe, erscheint dabei als ein Mißverständniß. Sonderbar ! Als Knabe hatte ich mir die Mission zugedacht, das Mysterium auf die Bühne zu bringen. Du erinnerst Dich gewiß meiner damaligen Compositionen? Wir haben sie das letzte Mal an jenem Sonntag, ehe Du nach Bayreuth fuhrst, hervorgekramt und mit Erstaunen die tiefe Verwandtschaft mit der Parsifalmusik constatirt. Weißt Du noch? — War es nicht der letzte Tag unseres ungetrübten geschwisterlichen Zusammenseins, ehe all das Fremde und die dummen Unfriedenstifter dazwischen kamen? Seitdem ist Alles schief gegangen — wenigstens für mich. Das Lama aber sprang davon — und nun fehlt mir in allen Erholungszeiten meine beste Erholung. — — Den 24. Febr. — Der Brief blieb liegen und war beinahe vergessen in den Erschütterungen unserer Küste und unseres Hauses. Nizza glich einem Tollhause — ich selbst bin merkwürdig ruhig dabei geblieben. Anbei ein Zeitungsausschnitt, der Dir Näheres über das Erdbeben erzählt; man hat schrecklich übertrieben! Jetzt ist keine Beunruhigung mehr nöthig, mein liebes Lama! Dein Bruder, NB. Der Verlust an Menschenleben stellt sich nach eingetretener Beruhigung, als unerheblicher heraus: an der ganzen Riviera ungefähr 1000 Personen. Die ersten Ziffern waren viel höher. Nizza. Mittwoch d. 23. März 1887: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes Lama, es ist mir jetzt schlecht zu helfen: wenn man sich mit aller Mühe ein halbes Leben lang fast unbedingte Unabhängigkeit erkämpft hat, wie ich es nöthig fand, so muß man auch die Nachtheile einer solchen Situation mit in den Kauf nehmen — man hat das Eine nicht ohne das Andere. Zu diesen Nachtheilen gehört, daß von außen her Niemand leicht erräth, was Einem abgeht. Ich wünschte etwas mehr Geld zu haben, so daß ich zum Beispiel bloß im Interesse meiner schwankenden Gesundheit und um die unzähligen Diätfehler zu vermeiden, denen ich in Restaurants und Hôtels ausgesetzt bin, eine eigene Küche haben könnte. Es ist auch eine Sache des Stolzes: ich möchte ein Leben führen, das wirklich mir gemäß ist und nicht derartig schablonenmäßig erscheint, wie das Leben "eines Gelehrten auf Reisen." — Aber seblst die fünf Bedingungen, die mir das Leben erträglich machen könnten und wirklich nicht unbescheiden sind, scheinen nicht erfüllbar. Ich brauche 1) Jemanden, der meinen Magen überwacht, 2) Jemanden, der mit mir lachen kann und einen heiteren Sinn hat, 3) Jemanden, der stolz auf meine Gesellschaft ist und die "Anderen" im richtigen Respect mir gegenüber erhält, 4) Jemanden, der mir vorliest, ohne ein Buch zu verdummen. Es gäbe schon noch ein Fünftes, aber davon will ich gar nicht reden. Mich zu verheirathen wäre jetzt vielleicht eine einfache Dummheit, bei der mir meine blutig erworbene Unabhängigkeit sofort wieder flöten gienge. Ich hätte dabei ja wieder nöthig, in irgend einem Staate Europa's mich zum Bürger zu machen, mitzuwählen, ich würde Rücksicht auf Weib, Kind, Familie des Weibes, den Ort, wo ich lebte, die Menschen mit denen wir verkehrten, zu nehmen haben: aber mir dergestalt die Zunge zu binden wäre mein Untergang. Lieber elend, krank, gefürchtet, in irgend einem Winkel leben, als "arrangirt" und eingereiht in die moderne Mittelmäßigkeit! Es fehlt mir weder an Muth noch an guter Laune. Beides ist mir geblieben, weil ich keine Feigheiten und falschen Compromisse auf dem Gewissen habe. Beiläufig gesagt, ein weibliches Wesen, das sich zum Verkehr mit mir eignete, dessen Nähe mich nicht langweilte und nervös machte, habe ich bis jetzt noch nicht wieder gefunden. (Das Lama war ein guter Hausgenosse, dafür finde ich keinen Ersatz, aber es wollte seine Energie austoben und sich aufopfern. Für wen? für eine jämmerliche fremde Menschheit, von welcher es niemals Dank erfährt — und nicht für mich. Und ich wäre ein so dankbares Thier und immer bereit zu einem fröhlichen Gelächter. Kannst Du denn überhaupt noch lachen? Ich fürchte bei diesen verbitterten Menschen da drüben wirst Du es ganz verlernen —). Uebrigens, ich kenne halb Europa in Hinsicht auf Weiblichkeit und überall, wo ich die Einwirkung der Frauen auf ihre Männer beobachten konnte, bemerkte ich eine Art langsamen Herunterkommens als Resultat, z. B. bei dem armen [in KGB: Overbeck; in GBr: **]. Wenig ermuthigend, nicht wahr? Anfang nächsten Monats verlasse ich Nizza, um eine stille Zurückgezogenhcit am Logo Maggiore zn suchen, wo es Wald und Schatten giebt und nicht diese blendend weiße und beständige Sonne des Nizzaer Frühlings! Die Adresse ist: Villa Badia Cannobio (Lago Maggiore); aber ehe Dich dieser Brief erreicht, wer weiß wo ich dann schon wieder bin. In Liebe Cannobio, 20. April 1887: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes Lama. Hier bin ich an einem herrlichen Ort und jeder Morgen überrascht mich durch seine Farbenpracht. Auch das Vornehm-Klösterliche seiner Lage und Einrichtung thut mir wohl — und trotzdem fühle ich mich so mißgestimmt, als ob ich mich über Nichts mehr von Herzen freuen könnte. Nichts tritt mehr von Außen an mich heran, um mich zu ermuthigen und zu erquicken. Die Mitpensionäre sind von unvergleichlicher Langeweile! Darin habe ich es dieses Jahr in Nizza besser gehabt. Es gab ein paar Menschen, die mich interessirten. Unsere liebe Mutter wird Dir Näheres geschrieben haben. Ich kann meine Mißstimmung nicht einmal auf meine Gesundheit schieben, denn die großen Anfälle sind in der That selten geworden. Ich fand soeben eine "statistische" Aufzeichnung darüber, daß ich in den letzten 5 Jahren fünf bis vierzehn große Anfälle im Jahre gehabt habe. Doch sind die Zeiten der Influenza-artigen Erkältungen, denen ich im Winter und Sommer durch meine eisigen Zimmer ausgesetzt bin, nicht mit eingerechnet. Also die Gesundheit geht vorwärts — aber die innere Vereinsamung und die Gleichgültigkeit meiner "Freunde" gegen mich und meine Schriften nimmt zu. Ich weiß mir jetzt gar nicht mehr zu rathen und zu helfen und sehe mit Trübsal dem zu, was werden soll. Das Beste ist, daß ich wieder die alten Knochen schwinge und fleißig herumlaufe (täglich 4-6 Stunden): aber seit einem Jahr zum Allermindesten habe ich keinen "guten Tag" mehr gehabt, "gut," das heißt einen Tag, wo ich mich frisch, stark, fröhlich und voller Geist und Unternehmungslust fühle. Dabei ist doch Vielerlei fertig gemacht worden, trotz dem Widerstande der Gesundheit oder der Stimmung, und es giebt gute Gründe mit dem ganzen Jahre zusrieden zu sein. In Hinsicht aber auf Das, was ich nunmehr vor mir habe, bin ich jetzt voller Sorge: das kann man nur mit der allertüchtigsten Frische der Gesundheit leisten — nur mit "Frohgemüth"! Und nun zu Dir, mein liebes Lama! Der Ankauf dieses mächtigen Stück Landes "größer als manches deutsche Fürstenthum" hat mir sehr imponirt. Ich bekenne im Uebrigen meine vollständige Unklarheit über die ganze Sache. Der Vers, den ich mir gemacht habe, ist, daß der wirkliche Besitzer jenes ungeheuren Landcomplexes jener reiche Paraguayer ist, der mit Förster so befreundet ist. Dies würde ihn nicht hindern, mit dieser "deutschen Colonie" sein eignes Interesse im Auge zu haben; er denkt sicherlich, dabei seinen Gewinn zu mehren. Nun scheint mir die Hauptsache zu beweisen: nicht daß die Colonie bewohnt ist, sondern daß sie Geschäfte macht, Holz verkauft u. s. w. Denn ohne das sehe ich schlechterdings nicht, wie eine solche große Capital-Anlage sich irgendwie verzinsen soll. Förster versprach einen Theil Deines Vermögens in Deutschland oder Paraguay sicher zu stellen, aber wie ich meine Schwester kenne, so wird dieser letzte Theil wohl nächstens in der Tasche jener vielen mittellosen Leute stecken. Ich gestehe, sie sind mir ein Schrecken: weißt Du, wenn Etwas schief geht, so sind das die unangenehmsten Elemente. Sie glauben dann immer, man habe sie unrechter Weise zur Sache verführt: während das Gelingen und Mißlingen oft an Zufällen hängt. Deine Briefe, mein gutes tapferes Lama, beruhigen mich, aufrichtig gesagt, gar nicht; wir würden alle, wenn wir in Deiner Lage wären, lauter solche zufriedene und hoffnungsreiche Briefe in die Welt, namentlich zu Verwandten, schicken. Ich schrieb Dir bisher nichts darüber, aber ich bin nicht erbaut von Eurer ganzen Sache. Ich sehe im Geist diese mittellosen, auf Euer Mitleid angewiesenen Leute sich gierig an Dich drängen, Deine Schwäche: die allzugroße Freigebigkeit, auszubeuten. Mit solchen Elementen kann keine Colonie gedeihen, täusche Dich doch nicht. Es wäre etwas ganz Anderes, wenn es Bauern wären! Auch erlaube ich mir durchaus zu bezweifeln, daß Du Dich so gut zum Colonisiren eignest, wie mein Herr Schwager so oft behaupten soll. Ich sprach kürzlich mit einem Deiner ehemaligen Freunde; er meinte: wir wüßten wohl gar nicht, was Colonisiren sei? Es wäre ein beständiger Kampf mit den allergemeinsten Elementen - - - und Du eignetest Dich so gut dazu, "als wenn man mit Lilien und Rosenzweigen einen Schornstein ausfegen wolle." Ein hübsches Bild! aber sehr traurig, nämlich für's Lama. Verzeih diesen traurigen Brief, aber die Beunruhigungen der guten Mutter haben auch mich angesteckt; ich glaube, sie ist krank vom schlechten deutschen Wetter, aber das Lama in der füdlichen Luft und Sonne behält den Kopf oben. In Liebe und Besorgniß Chur, 28. Mai 1887: Brief von Friedrich Nietzsche. [In GBr: Meine geliebte Schwester.] Dein guter Brief ist gestern bei mir angelangt, bei Deinem einsiedlerischen Bruder, dem von Außen her selten etwas Gutes kommt und der im Allgemeinen eine kleine Furcht vor der Post hat. Umsomehr freut er sich, wenn Etwas kommt, was so viel Güte des Herzens verräth. Sonderbar: aber es scheint mir, daß in den letzten Jahren mein Mißtrauen dergestalt überhand genommen hat, daß es wie eine Krankheit ist. Auch wird mir Jahr für Jahr schwerer; und die schlimmsten und schmerzhaftesten Zeiten meiner Gesundheit erschienen mir nicht so drückend und hoffnungsarm wie meine jetzige Gegenwart. Was ist denn geschehen? Nichts als was nothwendig war, — meine Differenz mit allen Menschen, von denen ich bis dahin Vertrauen empfangen hatte, ist an's Licht gekommen: man merkt gegenseitig, daß man sich eigentlich verrechnet hat. Der Eine schwenkt hierhin ab, der Andere dorthin, jeder findet seine kleine Heerde und Gemeinschaft, nur gerade der Unabhängigste nicht, der allein übrig bleibt und vielleicht, wie in meinem Fall, gerade schlecht zu dieser radikalen Vereinsamung taugt, — hier in Chur habe ich noch keinen guten Tag gehabt, das Wetter hat seinen Antheil daran, aber leider nicht den wesentlichsten. So oft gedachte ich der frohen Tage, die wir damals hier verlebten — der Contrast mit jetzt ist ungeheuer: Himmel! was bin ich jetzt einsam! Ich habe Niemand mehr mit dem ich lachen kann, der mit mir Thee trinkt und mich liebreich tröstet. — Ich denke mit Mißtrauen an den Sommer im Engadin, in Erinnerung der langen Strapaze und Selbstüberwindung, welche bisher jeder dieser Aufenthalte gewesen ist. Wäre ich wenigstens bei dem trefflichen Köselitz [In GBr: Gast]! Aber der sitzt auch trübselig und enttäuscht in seinem Venedig; ich gestehe, ich selbst würde mich erleichtert fühlen, wenn von ihm sich Gutes hören ließe. Zuletzt bin ich etwas an seinem Schicksal schuld, nämlich an seinem Geschmack und der Selbstständigkeit, mit der er sich aufrecht erhalten hat. Auch Du, mein Lama, bist mir mit diesen excentrischen Unternehmungen da drüben ganz fremd geworden, — es liegt ja auf der Hand, daß man mehr Mittel nöthig hat, einen solchen Landbesitz rentiren zu machen, mindestens das Doppelte, als was der Ankauf gekostet hat. Vor allem Arbeitskräfte: wie viel Menschen sind eigentlich nöthig, um diese Quadratmeilen Waldland ertragsfähig zu machen?? — Wenn mein Herr Schwager 300 Bauernfamilien zur sichern Disposition hätte, so wäre das der einzig sichre Fond, auf dem man bauen könnte, besser als große Capitalien. — — Gestern ist auch die erste Andeutung des Ostermeß-Berichts von einem meiner Leipziger Verleger gekommen, er lautet sehr ungünstig. Es herrscht eben gegen meine Litteratur eine solche Fremdheit, daß sie nicht einmal Abneigung ist, sondern einfach Gleichgültigkeit, absolute "Wurschtigkeit," mit Bismarck zu reden, Das Erträgniß übrigens geht darauf und kommt gar nicht in meine Hände, insofern ich Herrn E. W. Fritzsch viel Druckerei zu bezahlen habe, die die theilweise Umarbeitung und Umgestaltung meiner alten Litteratur nöthig gemacht hat. Hoffentlich decken sich die beiden Summen! sodaß ich wenigstens nicht noch Geld neu aufnehmen muß. — Den Frühling in Naumburg zu verleben will ich nach den vorjährigen Erfahrungen nicht wieder versuchen, obgleich es ein wahres Vergnügen ist, unsre liebe Mutter so guter Dinge in ihrem behaglichen Nest zu sehen. Laß ihr nur den Spaß mit der Vermietherei! Was soll sie denn sonst, allein wie sie ist, mit dem Hause anfangen? Nach Naumburg komme ich also so bald nicht wieder — überhaupt nicht nach Deutschland oder zu den "Freunden"! ... Wie viel Gram, Frost und Verwunderung gab es bei jedem Wiedersehen! Mit Schaudern denke ich an meinen letzten längeren Aufenthalt in Basel. Wie viel heimliche Bitterkeit muß ein Mensch der Tiefe herunterschlucken, bis er die Kunst und den guten Willen hinzulernt, seine nächsten Freunde nun auch nicht mehr zu "enttäuschen": das heißt, bis man sich entschließt, seine Noth und sein Glück immer erst in die Oberfläche, in die Maske zu übersetzen, um ihnen verständlich zu werden, um etwas von sich überhaupt noch mittheilen zu können. Auch in Leipzig erfuhr ich, einige Lichtblicke ausgenommen, nichts als Demüthigungen. Naumburg ist leider meine Abneigung par excellence. Die kleine Stadt und gedrückte Seelen! Du und ich sind nicht Naumburgisch gerathen: viel zu unabhängig und vielleicht auch zu leicht zufrieden und in uns zufrieden: was diesen Raths- und Staats-Menschen nicht so leicht begegnet. Es ist so schlimm, daß ich gar keine Menschen mehr habe, die es verstünden, mich zu erholen — so gut wie Du und Gersdorff hat es Niemand wieder verstanden. Ja die guten alten Zeiten! Wie wohl thäte es mir, im Grunde nichts wohler, als mich von meinem guten Lama pflegen zu lassen. [....] Du sagst, Neu-Germania habe nichts mit dem Antisemitismus zu thun, aber ich weiß es ganz sicher, daß das Colonisationsprojekt wesentlich antisemitischen Charakter hat, aus jenem "Correspondenzblatt," das nur im Geheimen verschickt wird und nur an die zuverlässigsten Mitglieder der Partei. (Hoffentlich giebt es Dir mein Herr Schwager nicht zu lesen! es wird immer unangenehmer.) Es scheint mir aber sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß die Partei zwar darüber redet, aber nichts thut ... Ach mein gutes Lama, wie bist Du nur dazu gekommen, Dich in solche Abenteuer zu stürzen? Wenn es nur gut endet! Immer wenn ich bedrückt bin, quälen mich allerhand Besorgnisse; denn wie ich meine liebe Schwester kenne, so wird sie lieber sterben als ihre Sache im Stich lassen. Aber das ist Nietzschisch! Dein Fritz. Dazu scheinst Du Dich durchaus zum "freiwilligen Opferthier" auszubilden und alle Unannehmlichkeiten auf Dich zu nehmen. Und mein Herr Schwager läßt sich diesen Blitzableiter gefallen? (Siehe Menschliches, Allzumenschliches! — Beian gesagt, warum hat Frau Wagner gerade diesen Aphorismus damals so übel genommen? Wagner's wegen? Oder ihretwegen? Das war mir immer ein Räthsel.) Sils-Maria, Juli 1887: Brief von Friedrich Nietzsche. [In KGB: Meine liebe Schwester, Ich bin seit mehr als einer Woche wieder im Engadin und möchte Dir gerne melden, daß mein Gesundheits-Zustand sich inzwischen gehoben hat. Leider ist es nicht der Fall und ich weiß jetzt nicht, was ich thun oder lassen soll. Die Luft in dieser Höhe ist in den Jahren immer das Mittel gewesen um meine ermüdeten Lebensgeister wieder zu stärken und zu erhärten! Dies Mal nicht, oder noch nicht! Ich bin auch hier oben müde und noch nicht zu meiner großen Arbeit aufgelegt. Da sieht sich die Welt trübe an; und aufrichtig; es bedurfte nicht erst dieser schlaflosen Gesundheit, um meine jetzige Lage ziemlich hart und isolirt erscheinen zu lassen. Auch fange ich mich an um mein Auskommen zu sorgen und vielmehr um den Druck und die Veröffentlichung meiner Bücher. Nach der Rechnung des Herrn Kürbitz ergiebt sich, zu meinem Schrecken, daß ich in den letzten 3 Jahren gegen 400 frs von meinem kleinen Vermögen ausgegeben habe! Dazu giebt es auch mit den Freunden nichts als Enttäuschungen und Fatalitäten aller Art! Z.B. mit Rohde.] Du weißt es, daß ich, um den Aengsten der Vereinsamung zu entgehen, mir oft irgendeine Freundschaft oder wissenschaftliche Gleichartigkeit zurecht gedichtet habe — dadurch ist in mein Leben so viel Enttäuschung und Widerspruchsvolles hineingekommen, — allerdings auch viel Glück und Verklärung, z.B. das Glück jener Tage in Tribschen, das auf mancher Illusion und auf allerhand Irrthum beruhte. — Die Antinomie meiner Existenz liegt darin, daß alles Das, was ich als radikaler Philosoph radikaliter nöthig habe — Freiheit von Beruf, Weib und Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimath, Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß — ich als ebenso viel Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und kein bloßer Abstraktions-Apparat bin. Ich muß hinzufügen, daß mir in jedem Falle die solide Gesundheit fehlt — und daß ich nur in Zeiten der Gesundheit die Last jener Entbehrungen weniger hart fühle. Auch weiß ich immer noch nicht die fünf Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen ein erträgliches Gleichgewicht meiner labilen Gesundheit sich basiren ließe. Trotzdem wäre es ein verhängnißvoller Fehler, wenn ich, um mir die fünf Bedingungen zu schaffen, mich jener acht Freiheiten beraubte: das ist eine objektive Ansicht meiner Lage. — Die Sache complizirt sich, insofern ich außerdem Dichter bin, wie billig mit den Bedürfnissen aller Dichter: wozu starke Sympathien, glänzender Haushalt und dergl. gehören (in Bezug auf welche Bedürfnisse ich für mein Leben keine andere Bezeichnung habe als Hundestall-Existenz). Die Sache complizirt sich noch einmal, insofern ich außerdem Musiker bin: so daß mir eigentlich nichts im Leben so viel Freude gemacht hat wie Musik, selbst meine eigne nicht ausgenommen, und jedenfalls die Musik meines trefflichen maëstro Pietro Gasti. — Ich bedaure übrigens, daß ich mich neulich über den Mangel an Lesern beklagt habe. Es giebt deren mehr und bessere als ich oder mein Verleger ahnt. Hie und da kommt eine überraschende Nachricht zu mir, die es beweist. lm Grunde gefällt mir diese langsame, gleichsam unterirdische Wirkung meiner Schriften bei weitem am besten: ich würde jede andre plötzliche Wirkung mit Mißtrauen betrachten und sogar im Widerspruch zu meiner Denkweise finden, zu welcher sich schwer und erst spät ein "Publikum" finden kann. In Liebe Mit Fritzsch ist es jetzt glücklicher Weise zu Ende: d.h. die ganze Arbeit, die bei meinem vorjährigen Aufenthalt hierselbst in Angriff genommen wurde, ist zum Abschluß gebracht: — so daß meine bisherige gesammte Litteratur nunmehr auf festen Beinen steht und ihren Weg für sich machen kann, ohne daß ich nöthig hätte, mich weiter nach ihr umzusehn. Nizza, 24. Oktober 1887: Postkarte von Friedrich Nietzsche. [In KGB: Eben, heute am zweiten Morgen meines Nizzaer Winters, kommt das erste fertige Exemplar meines "Hymnus auf das Leben" an: Er ist für gemischten Chor und Orchester; es ist wahrscheinlich, daß er diesen Winter in mehreren Städten Deutschlands und der Schweiz aufgeführt wird. Weißt Du, Naumburg muß ihn aufführen: schreibe mir, wer der jetzige Kapellmeister ist, — ich will ein paar Worte an ihn schreiben. So bekommst Du ihn zu hören, und wer sonst in Naumburg oder Pforta mir zugethan ist. Man sagt mir, daß er "großartig" ist. Eigentlich ist er dazu bestimmt, 10 einmal zu meinem Gedächtniß gesungen zu werden: denn — man wird an Deinen Sohn einmal denken. In Liebe Dein F.] Nizza, 26. Dezember 1887: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes altes Lama, wirklich kam Dein Weihnachts-Gruß ganz zur rechten Zeit in meine Hände — bei dieser Entfernung ein wahres Wunder —, aber er fand mich nicht in der von Dir so sehr gewünschten "Heiterkeit." Ich könnte fast sagen: im Gegentheil! Trotzdem mache ich mir immer klar, daß meine jetzt etwas vereinsamte Existenz, selbst wenn sie ein Uebel sein sollte, doch das geringere von zwei Uebeln ist, — und daß ich mich sehr viel schlimmer mache ich mir klar, daß meine jetzt etwas vereinsamte Existenz, selbst wenn sie ein Uebel sein sollte, doch das geringere von zwei Uebeln ist, — und daß ich mich sehr viel schlimmer befinden würde, wenn ich jetzt Versuche machte, wieder mitten unter alten Bekannten und Freunden zu leben. Meine Aufgabe ist jetzt, mich so tief wie möglich zu sammeln und allen Störungen aus dem Wege zu gehen, die das Gleichgewicht meines Geistes zu schädigen im Stande wären, damit die Frucht meines Lebens langsam reif und süß wird und nichts Saures und Verbittertes in sie kommt. Niemand kennt mich genügend; und meine Geschichte dieser letzten 15 Jahre ist Jedermann ein Räthsel. Keiner meiner "Freunde" weiß, womit man mir wohl und womit wehe thut; und nachdem ich Malheurs aller Art durch die wohlwollende Voraussetzung erlebt habe, daß man ungefähr wisse, worum es sich bei mir handle, bin ich endlich klug genug geworden, mich von dieser Voraussetzung loszumachen. Mögen sie's treiben, wie sie Lust haben: ich treibe es nunmehr auf eigne Faust und will von Denen nichts mehr, welche mir nichts zu geben haben. Später wird sich das Urtheil über mich schon wieder berichtigen. — Eine der größten Dummheiten hast Du mein armes Lama gemacht — für Dich und für mich! Deine Verbindung mit einem antisemitischen Chef drückt eine Fremdheit gegen meine ganze Art zu sein aus, die mich immer von Neuem mit Groll oder Melancholie erfüllt. Du sagst zwar, Du habest den Colonisator Förster und nicht den Antisemiten geheirathet und dies ist auch richtig; aber in den Augen der Welt wird Förster bis an sein Lebensende der Antisemitenchef bleiben. Also um des Himmels willen kein "Friedrichsland" oder "Friedrichshof"! Ich habe Dich doch ausdrücklich um den Namen "Lamaland" gebeten. Weißt Du, mein gutes Lama, es ist eine Ehrensache für mich, nach Seiten des Antisemitismus hin absolut reinlich und unzweideutig zu sein, nämlich ablehnend, wie ich es in meinen Schriften thue. Man hat mich in den letzten Zeiten mit Briefen und antisemitischen Korrespondenzblättern heimgesucht; mein Widerwille vor dieser Partei (die gar zu gern ihren Vortheil von meinem Namen haben möchte!) ist so ausgesprochen wie möglich, aber die Verwandtschaft mit Förster, ebenso wie die Nachwirkung meines ehemaligen antisemitischen Verlegers Schmeitzner, bringen immer wieder die Anhänger dieser unangenehmen Partei auf die Vorstellung, ich müsse wohl zu ihnen gehören. Wie sehr mir das schadet und geschadet hat, kannst Du Dir kaum vorstellen. Die gesummte deutsche Presse schweigt meine Schriften todt — seitdem! sagt Overbeck! Es erweckt vor Allem Mißtrauen gegen meinen Charakter, wie als ob ich öffentlich etwas ablehne, was ich im Geheimen begünstige, — und daß ich nichts dagegen zu thun vermag, daß in jedem antisemitischen Korrespondenzblatt der Name "Zarathustra" gebraucht wird, hat mich schon mehrere Male beinahe krank gemacht. — Verzeihung! es ist unrecht Dir das zu sagen und unbillig das arme Lama für die Gesinnungen dieser Partei verantwortlich zu machen. Aber ich bin nicht immer "billig" gesinnt. Malwida schrieb mir einmal, daß ich gegen Zwei ungerecht wäre: gegen Wagner und gegen Dich meine Schwester. Warum wohl? Vielleicht weil ich Euch Beide am meisten geliebt habe und den Groll nicht überwinden kann, daß Ihr mich verlassen habt? — Deshalb lies aus all meinen schlimmen Gedanken und scharfen Worten den Schmerz heraus, daß ich Dich verloren habe und daß Dein Name mit einer Partei in Verbindung gebracht wird, mit der Dich kein einziger gemeinschaftlicher Gedanke verbindet, mit welcher Du nichts zu thun hast. Ich weiß es wohl, daß sich seit Jahren verschiedene Leute bemüht haben, Dir und mir begreiflich zu machen, daß Du nicht zu mir und zu meiner Philosophie paßtest. Wir armen impressionabeln Menschen sind zuweilen schwach und fremden Einflüssen zugänglich, aber glaube mir: ich habe mich nie durch Deine "kindliche Außenseite" täuschen lassen! Das ist "Dein Vordergrund," hinter dem sich ein Charakter verbirgt, der der besten und tapfersten Handlungen fähig ist. Ich hätte Dir das öfter sagen sollen, aber ein alter Einsiedler und Philosoph verlernt es ganz, Liebe und Werthschätzung zu zeigen. Erst seit Du so weit davon gelaufen, fühle ich, wieviel Du mir gewesen bist. Du warst meine Erholung, die Brücke zu den "Andern"! Jetzt sitze ich einsam auf ödem Gestein, dunkle Fluthen trennen mich von den andern Ufern, — kein Laut, kein Wort der Liebe erreicht mich mehr. Dein F. N. Nizza, d. 25 Januar 1888: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein altes liebes Lama. Mit großer Genugthuung las ich den Päan meines Herrn Schwagers auf seine "unvergleichliche Frau. Ich bin stolz, Dich erzogen zu haben — nur wenige Frauen würden mit solcher Tapferkeit, Anspruchslosigkeit und Heiterkeit diese außerordentlichen Schwierigkeiten überwinden. Aber bitte! etwas weniger Bescheidenheit! Vergiß doch nicht, daß die Heerde nach pittoresken Menschen verlangt, d. h. nach solchen, die aus ihren Begabungen, Absichten, Erfolgen ein Bild mit so groben aufdringlichen Zügen machen, daß sie auch das blödeste Auge erkennt. Die Heerde verehrt die Pose, die feierliche Attitüde, die uns Beiden so zuwider ist. Nur die feinen Geister verstehn die Scham des Edeln, der sein Höchstes und Bestes in schlichter Umhüllung verbirgt. Ich bin sicher, daß unter dieser Menschheit da drüben nur Wenige ahnen, mit welcher Rücksichtslosigkeit gegen Dich selbst, mit welcher leidenschaftlichen Entschlossenheit Du Deine Ideale zu verwirklichen suchst. Ich frage mich nur: find diese Ideale so viel Aufopferung werth? Ich fürchte, ich fürchte, Du wirst noch viele bittere Enttäuschungen in Deinem Leben zu überwinden haben. Schließlich wirst Du ein skeptisches altes Weibchen werden — ohne Deine Tapferkeit verloren zu haben und gut zu Deinem alten skeptischen Bruder passen. Wie wollen wir dann über den verfluchten Idealismus unserer Jugend lachen — vielleicht mit Thränen. — — — Nun muß ich Dir aber ein kleines Erlebniß erzählen: als ich gestern meinen gewohnten Spaziergang machte, hörte ich plötzlich auf einem Nebenwege Jemand sprechen und warm und herzlich lachen (es klang fast, als ob Du es wärest); und als dann der Jemand zum Vorschein kam, war es ein reizendes braunäugiges Mädchen, das mich sanft wie ein Reh anschaute. Da wurde es mir einsamen Philosophen ganz warm um's Herz — ich gedachte Deiner Heirathspläne und konnte mich auf dem ganzen Spaziergange nicht von dem Gedanken an das liebliche junge Mädchen losreißen. Gewiß, es würde mir wohlthun, etwas so Holdes um mich herum zu haben — aber würde es ihr wohlthun? Würden sie meine Ansichten nicht unglücklich machen? und würde es mir nicht das Herz brechen (vorausgefetzt, daß ich sie liebte) ein so liebliches Wesen leiden zu sehen? ... Nein, nichts von Heirathen! — Aber Du denkst auch mehr an einen guten Kameraden [.....] Meinst Du wirklich, daß eine solche Emanzipirte mit ihrer flötengegangenen Weiblichkeit ein guter Kamerad oder als Ehegattin überhaupt nur erträglich sein könnte? Du vergißt, daß ich trotz meiner schlechten Augen einen stark entwickelte Schönheitssinn habe, ganz abgesehen davon, daß mir solche verbitterte Frauenzimmer "zuwider" sind und mir die Laune und die ganze Atmosphäre verderben. Viel Geist bei einer Frau ist für mich immer noch sehr wenig und meistens ist dieser sogenannte "Geist," von dem sich nur oberflächliche Männer düpiren lassen, nichts als die lächerlichste Anmaßung. Nichts ermüdender als solche geistreiche Gans, die nicht einmal weiß, wie langweilig sie ist. Denke an Frau O.! wobei ich aber zugeben muß, daß Frl. X. ungleich angenehmer ist — aber trotzdem! Du glaubst, daß sie die Liebe verändern würde, aber ich glaube nicht an irgendwelche Veränderung durch "Liebe." Uebrigens Du hast sie viele Jahre nicht gesehen, offenbar hat sie sich nach der häßlichen, unweiblichen Seite hin entwickelt; — glaube mir, wenn Du sie jetzt sähest — der Gedanke an Liebe und Ehe würde Dir bei ihrem Anblick ebenso absurd erscheinen wie mir. Glaube mir, für Menschen wie ich bin, würde immer noch eine Heirath im Stil unseres Goethe das Beste sein, d. h. eine gute Haushälterin heirathen! Aber auch diese Vorstellung macht mich schaudern! Nein sicherlich, eine Frau fehlt mir nicht, eher schon eine junge lustige Tochter, für die ich ein Gegenstand der Verehrung und Fürsorge wäre. Das Beste aber wäre, ich hätte mein altes gutes Lama wieder. Eine Schwester ist für einen Philosophen eine sehr wohlthätige Einrichtung, vorzüglich wenn sie heiter, tapfer und liebevoll ist (kein alter Sauertopf wie die Schwester von G. Keller!) — aber solche Wahrheiten erkennt man meistens erst, wenn es zu spät ist. So, das war eine schöne Heirathkplauderei mit dem Lama. Mit vielen warmen Wünschen und Grüßen an Dich und Deinen Bernhard. Treulich Dein F. Nizza, 31. März 1888: Brief von Friedrich Nietzsche. Meine geliebte Schwester. Diesmal muß ich meinem armen Lama einen recht freundlichen und lieblichen Brief schreiben, nachdem ich es das letzte, eigentlich vorletzte Mal, so arg erschreckt habe; aber es steht wirklich diesen Winter schlimm mit mir, und wenn Du es aus der Nähe sähest, würdest Du mir gewiß einen solchen schmerzlichen Schrei, wie es jener Brief war, verzeihen. Ich verliere mich mitunter ganz aus der Gewalt; ich bin beinahe die Beute der düstersten Entschließungen. Leide ich etwa an der Galle? Ich habe jahraus, jahrein zu viel Schlimmes hinunterschlucken müssen und sehe mich, rückwärts blickend, vergebens nach auch nur Einem guten Erlebniß um. Das hat eine ganz und gar lächerliche und erbärmliche Verwundbarkeit schließlich hervorgebracht, Dank der beinahe Alles, was von Außen an mich herankommt, mich krank macht und das Kleinste zum Unthier heranwächst. Eine unerträgliche Spannung liegt auf mir, Tag und Nacht, hervorgebracht durch die Aufgabe, die mir gestellt ist, und die absolute Ungunst aller sonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: hier steckt jedenfalls die Hauptnoth. Das Gefühl allein zu fein, der Mangel an Liebe, die allgemeine Undankbarkeit und selbst Schnödigkeit gegen mich [.....]. Aber ich will nicht in dieser Tonart fortfahren. Die Gegenrechnung ist, daß Dein Bruder ein tapferes Thier ist, daß er Erstaunliches auch wieder in dem letzten Jahre durchgesetzt hat: aber warum muß jede meiner Thaten hinterher zur Niederlage werden? Warum fehlt mir jeder Zuspruch, jede tiefe Theilnahme, jede herzliche Verehrung? — Meine Gesundheit hat sich unter der Gunst eines außerordentlich schönen Winters, guter Nahrung und starken Spazierengehens ziemlich aufrecht erhalten. Nichts ist krank, nur die liebe Seele. Auch will ich nicht verschweigen, daß der Winter an geistigem Gewinn für meine Hauptsache sehr reich gewesen ist: also auch der Geist ist nicht krank, nichts ist krank, nur die liebe Seele. — Ich fürchte mich geradezu vor dem Frühling, der ist immer meine schwache Zeit. Andrerseits weiß ich keine Stelle mehr, wo ich Menschen hätte, die mir jetzt nütze wären. Rede mir nicht von "Freunden"! Sie werden allesammt, ohne Ausnahme, von Jahr zu Jahr immer mehr zu einem Gänsefuß-Begriff. Oder darf ich Seydlitz, Gersdorff und Gast ausnehmen ? Ich möchte Dich um einen kleinen Dienst bitten. Schreib ein paar Worte an meinen Leipziger höchst abgeschmackten Verleger, mit dem ich beinahe am Ende bin, Herrn E. W. Fritzsch (Leipzig, Königsstr. 6). Sage ungefähr, daß ich Dir beunruhigt geschrieben habe, daß ich nichts von den Verlagsangelegenheiten hörte. Sodann gieb ihm Auskunft, wie er Dir die neuaufgelegten Werke schicken soll; schreib ihm Alles ganz genau und deutlich, er scheint sehr ungeschickt zu sein. Wenn Dir so viel an den Vorreden liegt, könntest Du Dich auch an Euren erfahrenen Buchhändler wenden, wenigstens gehen sie dann nicht verloren, wie bei Fritzsch. Ich will Dir ja gewiß nicht meine Bücher verbieten, ich möchte Dir nur nicht das Herz damit schwer machen, da meine Schriften so feindlich gegen das Christenthum find und besagtes Christenthum sehr vortheilhaft zur Begründung von Kolonien scheint. Siehe Nordamerika und die Puritaner! Aber vielleicht ist meine Vorsicht übertrieben? Die zweite Hälfte Deines Briefes hat mich sehr überrascht: Du sagst das Beste, was wir bisher über meine "neuen Ideen" gesagt worden ist, und Du schreibst es in Deiner eigenen Weise, als etwas von Dir Erlebtes, nicht als etwas dem Studium meiner Bücher Nachempfundenes. Wie stark fühle ich bei Allem, was Du sagst und thust, daß wir derselben Rasse angehören: Du verstehst mehr von mir als die Andern, weil Du dieselbe Herkunft im Leibe hast. Das paßt sehr gut zu meiner "Philosophie." Du darfst aber nicht über meine Briefe weinen, mein altes gutes Lama. Du weißt doch, wie schnell meine Stimmungen wechseln. Ich dachte schon, daß Dich mein Decemberbrief, mitten aus dem Winter meines Mißvergnügens, betrüben würde — dafür habe ich Dir auch vor einigen Wochen desto heiterer geschrieben, heiterer auch als heute. Denke mein liebes Lama in Liebe an Deinen Bruder. Laß den Brief an Fritzsch, oder erwähne nur Deine Wünsche. Unsere Mutter hat schon vor einigen Wochen an ihn geschrieben, es hat sich aber nichts gebessert. Turin, d. 3. Mai 1888: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes liebes Lama. Unsere gute Mutter schreibt mir einen besorgtenv Brief, daß ihre und meine Ansichten über den Antisemitismus zu den Ohren Deines Herrn Gemahls kommen und Dich dadurch betrüben könnten. Einer meiner Briefe zu ihrem Geburtstag geschrieben, bei schlechtem düstern Wetter und noch düstrerer Laune, scheint in die Hände Deiner verehrungswürdigen Schwiegermutter gerathen zu fein — durch irgendeine, von unserer Mutter jedenfalls nicht gewollten Verwechselung. Aber nicht wahr, mein liebes Lama, ich habe Dir doch viel hübsche Briefe geschrieben? Und wir haben uns doch lieb — sehr lieb, wenn wir auch einander wehe gethan haben: Du mir durch Deine antisemitische Heirath und ich Dir durch mancherlei ungerechte und unbillige Vorwürfe über diese Heirath? — Der Anti-Antisemitismus unserer lieben Mutter ist sehr harmlos; er hat nur den einen Grund, daß dessentwegen unser "einziges Lamm" oder Lama etwas übereilt über's Meer geschleppt worden ist, denn jetzt gäbe es für Förster vielleicht keinen rechten Grund mehr, Deutschland zu verlassen. Trotzdem mag es so besser sein, daß er auf eine ganz bestimmte positive Arbeit angewiesen ist und nicht auf's Streiten und Negiren. Und hiermit berühre ich nochmals meine Stellung zum Antisemitismus oder zu den Antisemiten, für welche ich, da es unter ihnen so achtbare, tüchtige, willensstarke Charaktere giebt, manches Günstige geltend machen kann. Das hindert aber nicht, nein das bedingt vielmehr sogar, daß ich dem Antisemitismus, der soviel tüchtige Kraft vergeudet und vergiftet, den Krieg mache. — Aber bemerke wohl: wo ich geringschätze, mache ich keinen Krieg! Hier komme ich zu meiner augenblicklichen Beschäftigung, einer kleinen Schrift, die sich zu einem Pamphlet über Musik entwickelt und gegen Wagner wendet. Auch hier mache ich Krieg und zwar, wie es fich von selbst versteht, den leidenschaftlichsten Krieg, da ich nichts in der Welt so wie Wagner und seine Musik geliebt und bewundert habe und mit Tribschen die erquicklichsten und erhabensten Erinnerungen verbinde. (Weißt Du noch? ... den Mondscheinabend im Borkenhäuschen?) Jetzt aber hat die Wagnerei ihre Zeit gehabt, sie wirkt verderblich. Das sollte sich ihre Gefolgschaft sagen. Sie sagt es sich aber nicht! Im Gegentheil, sie wird immer fanatischer, verworrener, christlicher und verdüsterter — wie das gesammte Europa. Die Wagnerei ist nur ein Einzelfall. — Wie hat sich Alles gegen die Jahre 1869-72 verändert! Damals war ich Wagnerianer wegen des guten Stücks Antichrist, das Wagner mit seiner Kunst und Art vertrat. Ich bin der Enttäuschteste aller Wagnerianer, denn in dem Augenblick, wo es anständiger als je war Heide zu sein, wurde Wagner Christ. Wir Deutschen, gesetzt, daß wir es je mit ernsten Dingen ernst genommen haben, sind allesammt Spötter und Atheisten! Wagner war es auch! — Frau Wagner nennt man jetzt die "Markgräfin von Bayreuth" — ein hübscher Scherz, doch habe ich allerhand wehmüthige Hintergedanken dabei. Wie hat man seit Tribschen den armen Wagner zu gleicher Zeit verweltlicht und verchristlicht. Ja, ja die Frauen! Inzwischen ist eine flüchtige Kunde von einem "wahrhaft fürstlichen Einzug" in Eure Kolonie zu mir gedrungen. Ich warte jeden Tag auf mehr, d. h. ausführlichere Nachricht. Auch habe ich Ursache mich ein wenig stolz zu gebärden. Was hast Du dazu gesagt, daß Brandes Vorlesungen an der Universität Kopenhagen "om den tyske filosof Friedrich Nietzsche" hält? Sie nehmen einen glänzenden Verlauf. Der Saal zum Bersten voll. Mehr als 300 Zuhörer Die großen Zeitungen geben Berichte. Wenn ich mich nur mehr darüber freuen könnte! Aber ich denke mit Bitterkeit an meine Freunde in Deutschland und Basel, die mich seit sechzehn Jahren im Stich gelassen haben, nicht nur in meiner Philosophie, sondern in meiner Ehre. Keiner vertheidigt mich mehr. Aber denken wir an angenehmere Dinge! — Du kannst Dir kaum vorstellen, wie ich mich über Eure guten Nachrichten freue! Und nicht wahr mein altes Lama? Nein, es wird so leicht kein Grund Unsre Seelen trennen? Es umarmt Dich Dein Bruder. Sils-Maria, Juli 1888: Brief von Friedrich Nietzsche. [In KGB: Ich habe mich auch gegrämt Dir einen so wenig erquicklichen Brief geschrieben zu haben, aber es war so gewitterhaftes trübes Wetter. Seit vorgestern regnet es wieder: was für die Wiesen sehr erwünscht sein soll. lch wünsche, ich wäre eine Wiese. Bis jetzt habe ich noch Niemand zum Gespräch hier oben und lange- weile mich aschgrau. Von außen [kommen] dringen spärliche Nachrichten zu mir. Overbeck zieht in diesen Tagen in ein eignes Haus in Basel. Köselitz ist eben nach München abgereist, um später nach Hause zu gehen. Er hat mir sein letztes Werk, ein Quartett, von dem ich die allerhöchste Meinung habe, gewidmet. Du siehst, daß ich mich Etwas im Gespräch mit Dir erholt habe.] Sils-Maria, 17.9.1888: Brief von Friedrich Nietzsche. Mein liebes liebes Lama, mir schien es, als hätte ich Dir vor einigen Tagen recht kurz geschrieben; da mich nun die höhere Naturgewalt, nachdem sie mich den ganzen Sommer hin- durch maltraitirt hat, auch jetzt noch hier oben festhält, so will ich zu dem kurzen Brief noch eine Fortsetzung schreiben. Draußen plätschert's, so will ich auch plätschern und plaudern. Es war ein schauderhafter Sommer, wie es scheint in der ganzen Schweiz. Ich war die ganze erste Zeit in schlechter Verfassung, hatte einen tiefliegenden Augen- und Kopfschmerz, keine Lust zum Spazierengehn, Widerwillen gegen meine eignen Gedanken und Werke und gar keinen Glauben, daß es besser würde. Dazu kam der Tod des Kaisers Friedrich, der auf mich einen tiefen Eindruck machte. Ich glaube, der Fall ist unerhört, daß eine Regierung von drei Monaten in dem Maße die Gemüther der ganzen Welt bewegt hat. Man war im Grunde noch keinem preußischen Fürsten sympathischer gesinnt. Selbst die Franzosen schwärmten für ihn. Schließlich war mein Uebelbefinden das, was man jetzt Influenza nennt, verschlimmert durch das miserable Wetter jener Monate. Es sprang herum zwischen tiefem Schnee, eisigen Winden und heißen schwülen Tagen, wie sie im Engadin nur möglich sind. Dann besserte es sich auf einmal: das Wetter und meine Gesundheit, so daß ich dem Schluß dieses im Ganzen arg mißrathenen Sommers doch noch, wie ich Dir schon schrieb, etwas Wesentliches abgewonnen habe. Aber freilich mit Hilfe von etwas Chloral! Ich bin sehr vorsichtig, ängstige Dich nicht! Denke aber auch daran, daß ich solche ungeheure Pläne auszuführen habe und deshalb keinen Tag unnöthig verlieren darf. Chloral ist übrigens nicht so gefährlich wie Du immer fürchtest, das sagen alle Aerzte. Ich bin mit der zweiten Hälfte meines Aufenthaltes in Hinsicht auf Gesundheit und Arbeitsleistung recht zufrieden. Die Gesellschaft war diesen Sommer nicht übel; zwar fehlte mein liebes Trio, aber andrerseits gab es angenehme musikalische Beziehungen und ebensolche zu einigen deutschen Professoren. Mit Frl. v. Salis verlebte ich gute Stunden, auch hat sie mir einen großen Beweis ihres Vertrauens gegeben. Du bist doch kein so schlechter Menschenkenner, wie unsre gute Mutter immer meint, jedenfalls hast Du mit Deiner warmen Anerkennung des Charakters und der Begabung von Frl. v. S. vollkommen Recht gehabt. Ich wurde übrigens von allen Seiten sehr höflich behandelt, mit einer gewissen achtungsvollen Vorsicht, als ob der Einsiedler von Sils-Maria etwas Verborgenes, Verkleidetes, Räthselhaftes sei (ein Prinz oder Dynamit), das sich plötzlich in strahlendem Glanze oder mit furchtbaren Detonationen offenbaren könnte. Ein Einsiedler, ja — wer aber den geringsten Begriff von mir hat, setzt voraus, daß ich mehr erlebt habe, als irgend Jemand. Das Zeugniß davon ist sogar in meinen Büchern geschrieben: die Zeile für Zeile aus neuen Reichen des Lebens sind und damit, als Substanz, einen wirklichen Zuwachs, ein Mehr zum Begriff des Lebens selber darstellen. Ein Gefühl, das mich oft genug überkam und nicht nur im Verkehr mit irgend einem deutschen Gelehrten, der mir mit liebenswürdigem Ernste von sich und seinen kleinen Dingen sprach: jeder Tag bringt Dir mehr, als dem sein ganzes Leben bringt! Auch Schlimmeres, es ist kein Zweifel: aber das ist die höchste Auszeichnung des Lebens, daß es uns seine höchste Gegnerschaft entgegenstellt! Unsre Feinde, meine liebe Schwester, sind unser Maß: meine Feinde sind das Christenthum, die Moral, die "Wahrheit" .... Habe ich ein Recht, stolz auf diese Feinde zu sein? — Mit einiger Besorgniß constatire ich, daß in diesen Tagen Euch jenes kürzlich erwähnte Stück Musiker-Psychologie zugesendet worden ist. Ich befürchte, es thut Euch weh, insbesondere dem Lama, das treu in Liebe und Verehrung ist und sich einst den 22. Mai zu ihrem Hochzeitstage aussuchte. Aber versteh mich recht, meine liebe Schwester: Wagner ist und bleibt ein capitales Factum in der Geschichte des europäischen Geistes und der "modernen Seele": wie Heinrich Heine ein solches Factum war. Wagner und Heine sind unsre letzten Großen, mit denen Deutschland Europa beschenkt hat. Aber was wird Dem Bernhard zu dieser Nebeneinanderstellung sagen? — In alter Liebe Dein Fritz. Turin, d. 9 Oct. 1888: Brief von Friedrich Nietzsche. [In KGB: Auszug aus einem Brief an unsre Mutter d. 9 Oct. 1888 über seine Art, in Turin zu leben, von ihr selbst in einen an meinen Mann gerichteten Brief eingelegt. ... ich glaube, man hält mich für einen Pariser Gelehrten — in den Cafées bringt man mir ungewollt die ersten Pariser Zeitungen, die zum Allermindesten etwas geistreicher sind als die Deutschen. — Dem Raum nach ist Paris nicht weit: wenn ich Abends hier fortreise, wäre ich Nachmittags in Paris. — Wir haben heute den ersten Tag, der etwas winterlich für das Gefühl ist. lm Grunde scheint überall der Herbst schon ziemlich zu Ende zu sein. Die großen Überschwemmungen in Frankreich, Italien u. Schweiz dauern fort: Es ist ein Glück, daß ich aus dem Engadin entwischt bin, jetzt wäre es kaum möglich, aus ihm den Weg nach ltalien zu machen. Wie genieße ich diese goldnen Herbsttage im Gegensatz zu diesem schauderhaften Engadin! Das Erstaunlichste bleibt aber bei diesem Wechsel die Verbesserung der Gesundheit! Es ist ein wahres Unglück daß ich nicht vor zehn Jahren die Entdeckung von Turin gemacht habe. — Auch lebt es sich für mich entschieden hier billiger als irgendwo, obwohl ich grundsätzlich und weil es an der Zeit ist, mir selber die Ehre anzuthun, die ich verdiene, nur das Allererste und Beste mir zugestehe. lch habe einen der ersten Schneider von Turin, ebenso einen der ersten Schuster (der mir etwas Wunderbares von feinstem Kalbsleder-Stiefel mit Schnüren gemacht hat); ich besuche das erste Café und bekomme in meiner trattoria unzweifelhaft den ersten guten Bissen und honneurs, die man zu geben hat. Gehe ich in's Theater, so sitze ich neben Garde-Offizieren; u. da hier viel auf gute Theater u. billige Preise gehalten wird, so habe ich es zehn Mal besser und ½ mal wohlfeiler als in einer deutschen Großstadt. Es giebt zwei ganz große deutsche Buchhandlungen hier, man ist für die neusten wissenschaftlichen Lectüren Frankreichs und Deutschlands vorzüglich bedient. Die erstaunliche Hornvieh-Cultur im lieben Vaterland ist mir etwas aus den Augen gerückt; mit deutschen Zeitungen u. Zeitschriften werde ich nicht gequält. — Vielleicht bleibe ich den ganzen Winter hier. lch habe vergessen, mich für Deinen lieben und reichen Brief zu bedanken. lch schreibe heute noch nach Dresden, an Hr. Nieske den Fabrikanten der Natron-Carbon-Öfen, um zu wissen, ob er hier Vertreter hat. Es umarmt Dich auf das Allerherzlichste Dein altes Geschöpf jetzt das größte Thier auf der Erde.] Turin, Ende Oktober 1888: Brief von Friedrich Nietzsche. [In KGB: Original auf Wunsch meiner Mutter verbrannt. Ende 1896 Letzter Brief vertraulicher Natur von meinem Bruder] Mein liebes Lama! Herzlichen Dank für Deine genauen Anweisungen, mit deren Hülfe die Bücher und Hefte sich gefunden haben. Es lebe das Lama und sein ausgezeichnetes Gedächtniß! Unsre gute Mutter war etwas gekränkt, daß Du in dem kleinen Haus am Weingarten besser Bescheid wußtest als sie selbst — doch hat ihr schließlich die Bestimmtheit und Richtigkeit Deiner Angaben so imponirt, daß sie das Gekränktsein darüber vergaß. Auch Deine Zweifel in der anderen Angelegenheit haben sich Punkt für Punkt bewahrheitet. [— — —] Seltsam! Du bist der einzige Mensch, dem ich unbedingt, gleichsam instinctiv, Glauben schenke, wenn auch die Dinge erst den Anschein gegen sich haben. Deine bescheidene Art, Behauptungen aufzustellen, verführt oberflächliche Menschen zu der Annahme, daß Du Deiner Sache nicht ganz sicher bist; dazu scheinst Du zu stolz oder ungeschickt zu sein, Dich und Deine Behauptungen zu vertheidigen — vielleicht weil Du von der Wahrheit dessen, was Du sagst, so überzeugt bist, daß Du gar nicht begreifst, wie man daran zweifeln kann. Zuletzt war es auch jetzt wieder wie immer: jedes Deiner Worte war wahr, jeder Deiner Zweifel berechtigt ...... Elisabeth Förster-Nietzsche. Weimar, ca. 1904. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Ich bin also wieder in meiner guten Stadt Turin, diese Stadt, welche auch Gobineau so sehr geliebt hat — wahrscheinlich gleicht sie uns Beiden. Auch mir thut die vornehme und etwas stolze Art dieser alten Turiner sehr wohl. Es giebt gar keine größere Verschiedenheit, als das gutmüthige, aber gründlich vulgäre Leipzig und dies Turin. Dazu haben wir in allen Hauptsachen eine curiose Geschmacks-Aehnlichkeit — der Turiner und ich —, nicht nur im Bau der Häuser und in der Anlage von Straßen, auch in der Küche. Alles schmeckt mir, Alles bekommt mir hier ausgezeichnet, sodaß meine Kräfte zum Erstaunen zugenommen haben. Es ist ein wahres Unglück, daß ich nicht vor zehn Jahren diese Entdeckung gemacht habe. Nachträglich beklage ich über die Maßen, den Sommer allerbösesten Angedenkens nicht hier verbracht zu haben, statt in dem über alle Begriffe schauderhaften Engadin! Es ist ein Glück, daß ich dort noch zur rechten Zeit entwischt bin: jetzt wäre es kaum möglich, aus ihm den Weg nach Italien zu machen, denn die großen Ueberschwemmungen in Italien, der Schweiz und in Frankreich dauern fort. Hier in Turin ist es, im Vergleich zu sonstigen Sommern natürlich, kühl gewesen; aber das wäre ja kein Grund dagegen, sondern dafür gewesen, da ein kühler Sommer in Turin für meinen Fall immer noch eine sehr angenehme mittlere Temperatur bedeuten will. Eigentlich ist alle Welt hier sehr zufrieden mit dem Jahr: dies habe ich nirgendswo sonst in Europa gehört. Zur Zeit, wo wir im Engadin entsetzlich daran waren, feierte man hier, unter unglaublich schönem Wetter, die großen Feste der Hochzeit des Prinzen Amadeo mit der Tochter Jérôme Napoleon's, Laetitia. Dies Mal, wo ich nicht mehr ganz fremd bin, hat sich Vieles für mich hierselbst verbessert: sodaß einfach zwischen meiner miserablen-deplorablen Existenz in Nizza und der in Turin ein Gegensatz zum Borschein gekommen ist. Ueberall werde ich auf das Distinguirteste behandelt: Du solltest nur sehen, wie alle Welt hier, wenn ich komme, sich freut, und in allen Ständen, wie unwillkürlich jeder seinen besten und taktvollsten Theil der Natur herauskehrt, seine höflichsten und liebenswürdigsten Manieren annimmt. Aber das ist schließlich nicht nur hier so, sondern Jahr aus Jahr ein wo ich nur bin. Ich nehme Deutschland aus; nur dort habe ich häßliche Dinge erlebt, [In KGB: weil — ich schrieb Dir es schon oft — die Deutschen das gemeinste Volk sind!] — Wenn man später einmal meine Geschichte schreibt, so soll es heißen: "er ist nur unter Deutschen schlecht behandelt worden." Himmel wie wunderlich sind diese Deutschen und ach! wie langweilig. Kein kluges Wort dringt mehr von dort zu mir. — Unser neuer Kaiser aber gefällt mir immer mehr: sein Neuestes ist, daß er sehr scharf Front gemacht hat gegen die Antisemiterei und die Kreuzzeitung. Mach' es ebenso, mein tapfres Lama! Der Wille zur Macht als Prinzip wäre ihm schon verständlich. Nun noch schnell ein paar Worte zum Schluß dieses überlangen Briefes, an dem Du, mein gutes Lama, den ganzen Winter zehren mußt, denn ich will keine Briefe mehr schreiben. Die Arbeit ist groß, das Maß meiner Augenkraft, wie bekannt, sehr beschränkt: so verbiete ich mir zunächst alles, was ich von Lesen und Schreiben ungefähr mir verbieten kann. Ich muß die Steigerung meiner Kräfte und dieses wundervolle Herbstwetter für meine große Mission ausnützen. Jetzt, wo mein Leben in seine höchste Höhe gekommen ist und Aufgaben zu leisten sind, wie sie vielleicht noch kein Mensch sich gestellt hat, ist diese fast plötzliche Rückkehr von Kraft und Selbstgefühl geradezu wunderbar! — Ich schreibe in diesem goldnen Herbst, dem schönsten, den ich je erlebt habe, einen Rückblick auf mein Leben, nur für mich selbst. Niemand soll es lesen mit Ausnahme eines gewissen guten Lama's, wenn es über's Meer kommt, den Bruder zu besuchen. Es ist nichts für deutsches Hornvieh, dessen Cultur im lieben Vaterland so erstaunlich zunimmt. Ich will das Manuskript vergraben und verstecken, es mag verschimmeln, und wenn wir allesammt schimmeln, mag es seine Auferstehung feiern. Vielleicht sind dann die Deutschen des großen Geschenks, das ich ihnen zu machen gedenke, würdiger. Es umarmt Dich auf das Allerherzlichste Dein Bruder, |
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